Moritz Nestor
Die Niederlande haben die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Deren Artikel zwei fordert kategorisch «Jedermanns Recht auf Leben ist durch Gesetz zu schützen.»
Wer die Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 29./30. Mai 1993 aufschlug, fand dort auf Seite neun die skandalöse Überschrift «Unerforschte Wege der Euthanasie in Holland». [1] Nota bene: Euthanasie ohne Anführungszeichen. Die NZZ weiss, dass es nach den Nürnberger Prozessen keine «unerforschten» Wege der «Euthanasie» gibt. [2] Zwischen 1939 und 1945 fielen etwa 200.000 Deutsche einem Mordprogramm zum Opfer, das auch noch heute den beschönigenden Namen «Euthanasie» – guter Tod – trägt, und das die Nationalsozialisten «Aktion Gnadentod» nannten.
Der NZZ-Artikel vom Mai 1993 erwies sich als Auftakt zur «Euthanasie»-Kampagne in der Schweiz. Ab dann wurde über das Töten von Patienten geredet, als wäre es eine Liebestat. Die «Tötung auf Verlangen» (Artikel 114 StGB) sollte «liberalisiert» werden. Nicht Artikel 115 StGB (Beihilfe zum Suizid), worauf sich die Schweizer «Sterbehilfe»-Gesellschaften berufen!
Das in dem NZZ-Artikel Geschriebene trifft schwer ins Gemüt. Man begreift nicht, wie öffentlich über das Töten von Patienten geredet werden kann, als wäre zwischen 1933 und 1945 nichts geschehen. Dass getötet wird, daran will man fast nicht glauben. Das Beispiel, über das der Artikel berichtet, wird grob verzerrt dargestellt:

Lt. Alexander J. Wedderburn, photographer with the 28th Infantry Division, First US Army, views the cemetery at the Hadamar Institute, where victims of the Nazi euthanasia program were buried in mass graves. Foto: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Rosanne Bass Fulton, Photograph Number: 05508
«Eine 50jährige [körperlich gesunde] Sozialarbeiterin hatte im September 1991 [in Holland] im Beisein von zwei Ärzten in ihrem eigenen Haus … tödliche Pillen geschluckt. Zuvor hatte sie den Haarlemer Psychiater Chabot … in insgesamt 30stündigen Gesprächen davon überzeugt, dass sie fest entschlossen war, nicht weiter zu leben.» Die Frau habe in äusserst tragischen Lebensumständen gelebt, sei jedoch nicht vereinsamt gewesen und habe noch enge Kontakte zu Verwandten und Bekannten gepflegt, habe aber dennoch «nach Überzeugung des Psychiaters, der sich mit insgesamt sieben Kollegen über den Fall beraten hatte, mit dem Leben abgeschlossen.»
Der niederländische Psychiater Chabot, so schildert der Artikel, sei angeklagt worden, aber Ende April 1993 von einem Gericht im niederländischen Assen freigesprochen worden. «Die Richter erkannten … eine auswegslose Notsituation an, in der die Ärzte keine andere Wahl hatten, als zu helfen.» Man hat richtig gelesen: «Die Richter erkannten … eine auswegslose Notsituation an, in der die Ärzte keine andere Wahl hatten, als zu helfen.»! Nota bene: Mit „helfen“ ist gemeint, dem bedauernswerten Opfer Gift zu geben. Aber dem nicht genug. Die Richter, berichtet die NZZ, hätten diesen Freispruch weiter damit gerechtfertigt, dass die Frau – hätte der Arzt ihr nicht Gift gegeben – «zu einer ‚grauenvollen‘ Art des Selbstmordes Zuflucht genommen hätte.» Welch Zynismus.
Der «Euthanasie»-Psychiater Chabot handelte aber gar nicht in einem «Entscheidungsnotstand». Das geht aus dem Artikel selbst hervor. Sondern äusserst überlegt. Er «hatte sich selbst bei der vor zwanzig Jahren errichteten ‚Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie‘ für besonders schwierige Fälle zur Verfügung gestellt.» Er habe nach eigenen Angaben «nicht stillschweigend durch das Ausschreiben der entsprechenden Rezepte … zur Selbsttötung beitragen [wollen]. Er habe bewußt den Entschluß gefasst, bei der Selbsttötung zu helfen»! Und um diese vorsätzliche Tat, zu der er das Leben dieser Frau als lebensunwertes einstufen musste, zu legitimieren, versetzt er sich in eine moralisch klingende Position: «wenn es gesellschaftlich akzeptiert werde, dass niemand gegen seinen Willen am Leben erhalten werden könne, so müsse auch diese Hilfe akzeptiert werden.» «Unsere Gesellschaft, so meinte er, habe den Schlüssel zum Arzneimittelschrank nun einmal den Ärzten in die Hand gegeben. Deshalb müsse der Patient den Doktor von seinem unumstösslichen Todeswunsch zu überzeugen wissen. … Der Psychiater … sieht in den rund 100 Selbstmorden, die in den Niederlanden pro Jahr von Menschen über 70 Jahre verübt werden, einen Beweis, dass viele alte Menschen, auch ohne ernste körperliche Leiden, einfach mit dem Leben abgeschlossen haben. Ohne Hilfe der Gesellschaft könnten sie jedoch keinen milden und würdigen Tod sterben, sondern würden dazu getrieben, sich vor den Zug zu werfen oder vom Dach zu stürzen.»
Seit geraumer Zeit beginnen Akteure wie Ernst Buschor das hervorragende Schweizer Gesundheitssystem mittels New Public Management zu privatisieren. Parallel dazu erlebte man die Eröffnung der Euthanasie»kampagne. Die bisherige Ausrichtung der Schweiz in juristischen Dingen war Deutschland. Jetzt tritt plötzlich das umstrittene «Reformlabor» Niederlande – vor allem auch im Leitmedium NZZ – in den Vordergrund. Motto: Der «mutige Kleinstaat» Holland geht neben Drogen und Schwulen auch in der «Euthanasie» voran.
Und so sah es mehr als 20 Jahren danach aus:
[1] Die folgenden Zitate sind diesem NZZ-Artikel entnommen.
[2] Schulte, Jan Erik. Die „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hadamar und die Ausdehnung der Mordaktionen 1942 bis 1945. In: Andreas Hedwig and Dirk Petter (Hg.), Auslese der Starken – „Ausmerzung“ der Schwachen. Eugenik und NS-„Euthanasie“ im 20. Jahrhundert, Marburg 2017, S. 117–135