«Verteidigung des Menschen»
16. April 2024 ∙ Moritz Nestor
Ein dringend nötiges Buch erschien 2020: «Verteidigung des Menschen». Autor ist der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs, Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Dringend nötig ist es, wenn man sich vergegenwärtigt, was für einen geistigen Kahlschlag wir in den Humanwissenschaften seit den sechziger- und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erleben mussten. Aus manchen Bereichen unserer humanwissenschaftlichen Disziplinen scheint der Mensch heute verschwunden zu sein. Erst kürzlich äusserte sich zum Beispiel eine Schar junger Sozialarbeiter einer grossen deutschen sozialpsychiatrischen Einrichtung, die täglich mit schwersten psychiatrischen Problemen umzugehen lernen müssen, ehrlich erstaunt, sie hätten in ihrer Ausbildung nie etwas von «Beziehung» gehört. Natürlich war ihnen der Begriff «Beziehung» selbstverständlich. Doch in den wissenschaftlichen Grundlagen, die sie in ihrer Ausbildung für den Umgang mit ihren Patienten lernen mussten, kam das Wort Beziehung weder theoretisch noch praktisch vor. Sie kannten im wesentlichen nur noch ökologische, kybernetische und radikal konstruktivistische, systemische Ansätze, meist US-amerikanischen Ursprungs. Der riesige Bereich humanwissenschaftlicher Forschung vom Menschen als Kultur- und Beziehungswesen, vor allem auch europäischer Provenienz, war ihnen nicht mehr vermittelt worden. Was ist passiert?
Menschenfeindliche Irrläufer – Tiefenökologie und Transhumanismus
Es gebe, beginnt Thomas Fuchs sein Buch, eine lange Tradition,
«die Menschheit selbst auf die Anklagebank zu bringen, sie der Masslosigkeit, Gier, Hybris oder Niedertracht zu bezichtigen, ihr die Schrecken des Krieges oder die Zerstörung des Planeten anzulasten. Neuerdings häufen sich sogar Äusserungen, wonach es für die Erde das beste sei, wenn sie sich von ihrem ‹Schimmelüberzug› befreien könnte, wie Schopenhauer die Menschheit einmal titulierte.»
Fuchs nennt als Beispiele die 1991 von Les Knight gegründete, tiefenökologische Voluntary-Human-Extinction-Bewegung (Bewegung für das freiwillige Aussterben der Menschheit), die ein «Aussterben der Menschheit zur Rettung der Erde» verfolgt, und den Transhumanisten Robert Ettinger, der 1989 in seinem Buch «Man into Superman» schrieb, die Menschheit sei «selbst eine Krankheit». Man müsse «daran gehen, uns von ihr zu heilen». Unsere Gattung Homo sapiens sei «nur ein stümperhafter Anfang». Wenn der Mensch sich «klar als Irrtum erkennt», werde er «motiviert sein, sich selbst formen».
Der Mensch: ein lebendiges, leibliches Wesen im Beziehungsraum
Fuchs geht es in seinem Buch um die Verteidigung des Menschen gegen die Infragestellungen des humanistischen Menschenbildes und dessen Kern: die menschliche Person als freies, sich selbst bestimmendes und soziales, mit anderen verbundenes Wesen. Wir Menschen seien keine «blossen Geister» ohne Körperlichkeit, so Fuchs, sondern «lebendige Wesen» in «einem gemeinsamen Beziehungsraum» und mit einem Anspruch auf Achtung seiner Würde, den der Mensch «durch sein leibliches Dasein und Mitsein erhebt».
Von der behavioristischen Dressur …
Fuchs nennt als relativ frühes Beispiel für die Infragestellung des humanistischen personalen Menschenbildes das 1971 erschienene Buch des US-amerikanischen Verhaltenspsychologen Burrhus Frederic Skinner, «Beyond Freedom and Dignity» – Jenseits von Freiheit und Würde. Es ist eine radikale Absage an die personale Auffassung vom Menschen.
«[D]er Glaube an so etwas wie freien Willen und moralische Autonomie sei das Relikt einer mythischen, vorwissenschaftlichen Sicht auf den Menschen. Die Zuschreibung von persönlicher Verantwortung und Würde behindere den wissenschaftlichen Fortschritt», sagt Skinner.
Skinner will durch Sozialtechnologien das menschliche Verhalten so konditionieren wie Pawlow seinen Hund, dessen Speichel nach einer Weile bereits dann lief, wenn nur schon das Glöcklein ertönt, welches das kommende Futter ankündigte. So sollte dem Menschen Überbevölkerung und Kriege ab- und Glück anerzogen werden.
… zum Wahn des Menschen als willenlosem Erfüllungsorgan von Biochemie und Kybernetik
Um Skinners erschreckende Sozialutopie sei es stiller geworden. Doch, so Fuchs, Skinners Grundgedanke sei aktueller denn je: «rationales Wissen vom Menschen und entsprechende Technologien an die Stelle unseres in Vorurteilen und Mythen befangenen Selbstverständnisses zu setzen». Zum Beispiel behaupte der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem 2017 erschienenen Buch «Homo Deus», die Künstliche Intelligenz mache das humanistische Menschenbild nach und nach überflüssig. Diese, auch «Posthumanismus» genannte Theorie Hararis, die sich auf Biologie und Kybernetik stützt, verkünde:
«Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend den eigenen Wünschen führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden.»
Unhaltbare Vorannahmen
Harari sage: Der freie Wille, die «Idee eines autonomen Selbst» und das «Ich» des Menschen seien in den letzten Jahrzehnten durch die Biowissenschaften ins Reich imaginärer Geschichten von Christentum, Nikolaus und Osterhase verwiesen worden. Der Homo sapiens sei «ein obsoleter Algorithmus». Hararis zynische dekonstruktivistische Theorie, so Fuchs, habe allerdings sehr reale politische Folgen: Weltweit würden mittels Künstlicher Intelligenz digitale Überwachungssysteme geschaffen. Damit werde «so etwas wie Skinners Sozialtechnologie realisiert», meint Fuchs. Autoren wie Harari übernähmen unkritisch Versatzstücke eines «scientistischen Menschenbildes». Dazu gehörten drei Annahmen:
1. Alles Belebte und Unbelebte sei für sie naturwissenschaftlich vollständig erklärbar. Subjektivität, Geist und Bewusstsein seien auf physikalische und physiologische Vorgänge zurückführen und Produkte von Nerventätigkeit. Subjektivität, Geist und Bewusstsein des Menschen hätten keine «eigenständige Wirksamkeit in der Welt».
2. Die Biowissenschaften sähen alle Organismen heute als biologische Maschinen, von genetischen Programmen gesteuert. Seelisches Erleben, Innerlichkeit – alles eine «Wirkung biochemischer oder evolutionärer Mechanismen». Das Lebendige werde so eliminiert.
3. Menschlicher Geist und Bewusstsein seien in diesem Denken «neuronale Informationsverarbeitung», die prinzipiell auf jeder Hardware laufen und durch Computer-Systeme simuliert werden könne.
So werde der Mensch zur «Summe seiner Daten», sagt Fuchs, und Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Verstehen, Selbstreflektion, Selbsterkenntnis würden überflüssig – die Algorithmen kennten uns besser.
«Der moderne Chorgesang der materialistischen Neurophilosophie verkündet, unsere subjektive Erfahrung sei nur die bunte Benutzeroberfläche eines Neurocomputers und somit eine «user illusion» (Slaby 2011) – real seien allein die neuronalen Rechenprozesse im Hintergrund».
Selbsterkenntnis, Verstehen, Selbstreflektion, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, kurz seelisch-geistiges Leben, seien für dieses materialistische Weltbild keine Realität mehr, sondern naiver nostalgischer Glaube.
Fasst man zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Der moderne «posthumane» Materialist sage, alles sei naturwissenschaftlich vollständig erforschbare Materie. Bewusstsein, Denken, Fühlen seien physikalisch-chemische Nerventätigkeit: «neuronale Datenverarbeitung». Wie ein Computer.
Menschliches Bewusstsein: an Körperlichkeit gebundenes Geschehen im zwischenmenschlichen Raum
Für Fuchs sind Bewusstsein, Denken und Fühlen keine physikalisch-chemischen Prozesse. Für den Laien in die Alltagssprache übertragen, sagt Fuchs sinngemäss: Wie eine Melodie nicht in der Materie der Tasten des Klaviers steckt oder durch diese Tasten erklärbar ist, wohl aber ohne Klavier nicht ertönen kann, so kann der Mensch Bewusstsein, Denken, Fühlen nicht ohne Gehirn und Körper äussern. Die Melodie ist nicht die Tastenfolge. Sie ertönt im geistigen Raum in und zwischen uns Menschen. So denken und fühlen wir immer in dem sozialen Raum der sozialen Beziehungen. Denken ist daher immer zwischenmenschliches Denken, und Fühlen ist immer zwischenmenschliches Fühlen. Ein Mensch ohne soziale Bezüge, was freilich undenkbar wäre, bräuchte nicht zu denken, zu fühlen oder gar zu sprechen.
Nicht mit dem Hirn – als ganze Wesen fühlen wir
Dem Materialismus könne man, so Fuchs, nicht wirklich argumentativ begegnen, indem man ihm einen abstrakten, körperlosen, reinen Geist entgegenhält. Es gehe vielmehr darum, so Fuchs, zu beschreiben, dass und wie die menschliche Person eine Leib-Seele-Einheit ist. Die humanistische Sicht auf den Menschen zeige, so Fuchs, «dass die Person in ihrem Leib selbst gegenwärtig ist, dass sie mit ihrem Leib fühlt, wahrnimmt, sich ausdrückt und handelt». Wenn wir Menschen uns begegnen, dann begegneten sich nicht Gehirne. So sei es bei jedem Lebensvorgang. Jede menschliche Person handle in der Realität nicht als Gehirn, sondern als selbstbestimmter Organismus, der eine untrennbare Einheit von Leib und Seele sei.
Zwischenmenschlichkeit, meint Fuchs, sei also auch nicht der Kontakt von Gehirnen, sondern sei «Zwischenleiblichkeit». In eigenen Worten will das heissen: Meine Hand ist nicht ein Stück Fleisch, sondern belebter Teil (m)eines lebenden Organismus’. Wir verstünden andere Menschen nicht «durch eine Theorie des Geistes», bemerkt Fuchs, sondern
«bereits intuitiv anhand ihres leiblichen Ausdrucks, ihrer Gesten und ihres Verhaltens. Bereits wenige Wochen nach der Geburt erkennen Babys die emotionalen Äusserungen der Mutter oder des Vaters, nämlich indem sie deren Melodik, Rhythmik und Dynamik in ihrem eigenen Leib mitvollziehen und mitspüren.» (S. 13)
So setze auch die digitale Online-Kommunikation immer voraus, dass wir es mit «einem lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut zu tun haben». Der «spürende Leib» nehme auch in virtuellen Räumen Anteil. Man versteht sofort, was Fuchs meint: Im Kino analysieren nicht nur die Neuronen meines Gehirns mittels einer «Theorie des Geistes», was da draussen ausserhalb der Höhle meines Kopfes auf der Leinwand vor sich geht. Stürzt der virtuelle Bergsteiger auf der Leinwand im Schneesturm an der Eigernordwand ab, reagieren wir mit unserem ganzen Leib.
Humanismus des lebendigen verkörperten Geistes
Diese Sicht des Menschen als Leib-Seele-Einheit – die weder materialistisch Geistiges als höhere Nerventätigkeit sieht, noch von einem abstrakten körperlosen Geist ausgeht – nennt Fuchs «verkörperte Anthropologie», einen «Humanismus des lebendigen verkörperten Geistes». Eigentlich eine Sicht, die schon Aristoteles gekannt habe: der erlebende und seiner selbst bewusste Organismus.
Fuchs stimmt mit dieser Sicht des Leib-Seele-Problems überein mit der «basalen Anthropologie» Adolf Portmanns, mit dem Menschenbild der Adlerschen Individualpsychologie – die schon in ihrem Namen die unteilbare Leib-Seele-Einheit betont – und mit der Neopsychoanalyse sowie mit der psychosomatischen Forschung von Franz Alexander, Thure von Üexküll und anderen, um nur einige Bedeutende zu nennen.
Von diesem Fixpunkt aus, von der Was-Frage aus, Was ist der Mensch?, stemmt sich Fuchs mit seiner Verteidigung des Menschen gegen den anhaltenden antihumanistischen Strom falscher Theorien, die nichts weniger als die Freiheit und das Weiterbestehen der Gattung Mensch radikal in Frage stellen. Keine theoretische Frage allein, sagt Fuchs, sondern eine ethische und vor allem eine eminent politische Frage.
Das Menschenbild – eine eminent politische Frage
«Denn wie Karl Jaspers schrieb, entscheidet das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, letztlich über unseren Umgang mit uns selbst und mit anderen – heute wäre zu ergänzen: und mit der Natur. Humanismus im ethischen Sinn bedeutet daher Widerstand gegen die Herrschaft technokratischer Systeme und Sachzwänge ebenso wie gegen die Verdinglichung und Technisierung des Menschen. Fassen wir uns selbst als Objekte auf, sei es als Algorithmus oder als neuronal determinierte Apparate, so liefern wir uns der Herrschaft derer aus, die solche Apparate zu manipulieren und sozialtechnologisch zu beherrschen suchen. ‹Denn die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet […] die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.› Die Verteidigung des Menschen ist insofern nicht nur eine theoretische Aufgabe, sondern auch eine ethische Pflicht.»
Ganz im Sinne von Karl Jaspers: Es «entscheidet das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, letztlich über unseren Umgang mit uns selbst und mit anderen» – heute wäre zu ergänzen: und mit der Natur.
Literatur
1 Schopenhauer, Arthur. Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 2, 1859. Zitiert nach Fuchs, S. 7
2 https://www.vhemt.org/dindex.htm (eingesehen am 3.10.2021)
3 Der Transhumanismus will die menschliche Natur durch Gentechnik, Nanotechnologie, Gehirn-Computer-Verdrahtung und ähnliches «verbessern». Der Biologe und Eugeniker Julian Huxley definierte 1957 in seinem Buch «New Bottles for New Wine» Transhumanismus: «Die menschliche Spezies kann, wenn sie es möchte, über sich selbst hinauswachsen – nicht nur sporadisch, ein Einzelner mal so, ein anderer mal so, sondern als Ganzes, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht passt Transhumanismus ganz gut: Mensch, der Mensch bleibt, aber sich selbst, durch Verwirklichung neuer Möglichkeiten, von seiner und für seine menschliche Natur, überwindet.»
4 Ettinger, Robert C. Man into Superman. New York 1989, S. 4, 8f., zitiert nach Fuchs, S. 8 [Übersetzung Thomas Fuchs]
5 Fuchs, S. 8ff.
6 Harari, J. N. Homo Deus. Eine Geschichte von morgen. München 2017, S. 445, zitiert nach Fuchs, S. 9
7 Harari, 2017, S. 381 und 392, zitiert nach Fuchs, S. 9f.
8 Harari, 2017, S. 516, zitiert nach Fuchs, S. 10
9 Lewis, C. S. Die Abschaffung des Menschen. Freiburg/Br. 2007 [Erstausgabe 1943], S. 63, zitiert nach Fuchs, S. 17
10 Fuchs, S. 16f.