14. Oktober 2024

Ausgabe Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main 1957

Gontran de Poncins
Kabluna
Büchergilde Gutenberg 1943, 1957

 

Ausgabe Büchergilde Gutenberg, Zürich 1943

«Kabluna» ist das Wort der Eskimos der Arktis für die «zivilisierten» Weissen. Der französische Völkerkundler Gontran de Poncins, ein Nachfahre von Michel de Montaigne, der eigentlich Jean-Pierre Gontran de Montaigne, vicomte de Poncins, hiess, schrieb den wunderbaren Reisebericht «Kabluna» 1938 auf. Er hatte zwei Jahre lang unter Eskimos gelebt. Wie einer der ihren.

«Kambluna» erzählt davon, wie es dem Franzosen gelingt, «in wenigen Monaten die zivilisatorischen Gewohnheiten von Jahrtausenden abzustreifen und mit den Polareingeborenen zu leben, bei einer normalen Temperatur von von vierzig Grad Kälte und einer Ernährung von Schneewasser, rohem vereisten Fischen und Robbenfleisch. Das Buch ist der packende Bericht einer Reise in die Eiszeit, die Geschichte des Zusammenstosses zweier Denkweisen. Gontran de Poncins verliert sich nicht in Vermutungen und Reflexionen: er stellt Tatsachen dar, zeichnet Erlebtes gewissenhaft auf und berichtet Beobachtungen und Erfahrungen aus dem Leben dieser Menschen».

Das Schwierigste, berichtet Gontran de Poncins, seien nicht die Entbehrungen bei vierzig Grad minus gewesen, sondern «die Denkweise der Eskimos. Man konnte mit ihnen nicht zurechtkommen, ausser man suchte sich mit ihnen in ihrer eigenen Ausdrucksweise zu verständigen; und ich war nicht ein Tourist, für den das nebensächliche Dinge sind, sondern ich war auf die Hilfe der Eskimos angewiesen. Ich musste mit ihnen auskommen.» (S. 10)

Englischsprachige Ausgaben 1941, 1942, 1965, 1971, 1980, 2005 (Audiobook CD)

Was könnte heute sein, denkt man unwillkürlich bei dieser Haltung des französischen Völkerkundlers Gontran de Poncins, die seinen Reisebericht wie ein roter Faden durchzieht, hätten wir Europäer diese mitmenschliche Grundhaltung leben können, während wir jahrhundertlang andere Kontinente, Kulturen und Völker «entdeckten», «christianisierten» und «zivilisierten»! Die  bewundernswerte Haltung dieses Völkerkundlers aus dem Jahr 1938 gilt doch eigentlich für die Begegnung mit einem jeden Menschen! Man kann doch mit jedem Menschen, mit jedem Volk und mit jeder Kultur, «nicht zurechtkommen, ausser man suchte sich mit ihnen in ihrer eigenen Ausdrucksweise zu verständigen»! Die Extrembedingungen der unwirtlichen Eiswüste in der Arktis üben einen besonders hohen Druck auf die Menschen aus, die in ihr (über)leben wollen. So dass, möchte man meinen, Gontran de Poncins nicht viel mehr übrig blieb als die Einsicht: «ich war auf die Hilfe der Eskimos angewiesen. Ich musste mit ihnen auskommen.» Doch es war nicht der äussere Druck der  unwirtlichen Eiswüste, der den französischen Völkerkundler zu dieser gleichwertigen friedlichen Haltung gegenüber einer fremden Kultur zwang. Gontran de Poncins beschreibt, dass das Entscheidende seine innere Haltung war. Für die Priester, Trapper und Jäger nämlich, die damals unter den gleichen klimatischen Extrembedingungen wie der Völkerkundler überleben müssen, sind  die Eskimos «ausnahmslos alle „nichts wert“». Diese sich zivilisiert nennenden Weissen «leben das Leben der Eskimos, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie reisen auf Schlitten, holen Fische unter dem Eis hervor, tragen Pelze und bauen, allerdings selten, Schneehäuser (Iglus). Aber in die geistige Eskimowelt dringen sie nie und nimmer ein.» Zwischen ihnen und dem Franzosen besteht «der wesentliche Unterschied, dass ich hierher gekommen war, um in eine Welt einzudringen, die ihnen gleichgültig war.» (S. 21f.) Damit ist dieses Buch viel mehr als der wirklich packend geschriebene Reisebericht eines Franzosen aus den Dreissigerjahren. Es enthält eine Fülle von Schilderungen, die das Buch gleichzeitig auch zu einem lebendigen Lehrbuch für die Verständigung der Kulturen werden lässt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ein kleines Friedenslicht in schwerer Zeit. Und eine Hommage an das Toleranzdenken seines berühmten Urahnen Michel de Montaigne (1533-1592), der sagte, dass die Introspektion den Menschen über die Entdeckung des eigenen Wesens auch das der anderen Menschen verstehen lasse.

Die englische Ausgabe «Kabloona» rangiert Ende 2020 auf Platz 84 der «100 Greatest Adventure Books of All Time», wie «National Geographic» schreibt.  Neuauflagen in deutscher Sprache wären lohnenswert.

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