Heinrich Schipperges
Rudolf Virchow
Reinbeck bei Hamburg 1994
Karen und Moritz Nestor, 2003
Zu den grossen Gestalten des 19. Jahrhunderts, die ihr Leben der Lösung der sozialen Frage zur Sicherung des Friedens widmeten, zählt Rudolf Virchow, dessen Todestag sich 2002 zum hundertsten Male jährte. Ihm, dem Professor für Pathologie, verdanken wir die Begründung der Medizin als Wissenschaft. Eine systematische Bekämpfung der Krankheiten wurde durch das neue naturwissenschaftliche Verständnis von Krankheit erst möglich, und die Medizin nahm während der zweiten Hälfte des 19. Jh. einen derartigen Aufschwung, dass die Menschen heute im Schnitt etwa doppelt so alt werden wie vor hundert Jahren.
Virchow war aber nicht allein Wissenschaftler und Arzt im Dienste am kranken Menschen. Er war ein äusserst vielseitiger Mensch mit einer ungeheuren Schaffenskraft. „Der soziale Standpunkt,“ schreibt einer seiner Biographen, „ist zweifellos der Hauptnenner, der … es Virchow möglich machte, so viele Dinge zur gleichen Zeit zu tun.“[1] Mediziner, Naturforscher zu sein hiess für Virchow, nicht nur den Menschen und seine Krankheiten zu erforschen, um den einzelnen heilen zu können, sondern hiess für ihn immer, auch die sozialen Bedingungen einzubeziehen, die einen Menschen krankmachen können.
Prägend für diese Haltung schon des 26jährigen Virchow waren seine erschütternden Erfahrungen auf einer Reise im Auftrag des preussischen Kulturministeriums in das oberschlesische Typhusgebiet im Jahre 1848, von der er berichtet: „Eine verheerende Epidemie und eine furchtbare Hungersnot wüteten gleichzeitig unter einer armen, unwissenden und stumpfsinnigen Bevölkerung.“ Er beschreibt in seinen Unterlagen, wenn man die „grossen Reihen von Zahlen, von denen jede einzelne Not, grauenvolle Not ausdrückt, [sieht,] kann man diese ungeheuren Summen von Elend nicht mehr verleugnen, so darf man nicht mehr zögern, alle Konsequenzen aus so entsetzlichen Erfahrungen zu ziehen, welche sie zulassen.“[2] Virchow denkt weiter: „Die Medizin hat uns unmerklich in das soziale Gebiet geführt und uns in die Lage gebracht, jetzt selbst an die grossen Fragen unserer Zeit zu stossen. Bedenke man wohl, es handelt sich für uns nicht mehr um die Behandlung dieses oder jenes Typhuskranken durch Arzneimittel und Regulierung der Nahrung, Wohnung und Kleidung, nein, die Kultur von anderthalb Millionen unserer Mitbürger, die sich auf der untersten Stufe moralischer und physischer Gesunkenheit befinden, ist unsere Aufgabe geworden.“[3] „Ich selbst“, schrieb Virchow, „war mit meinen Konsequenzen fertig, als ich von Oberschlesien nach Haus zurückeilte …[sie] fassen sich in drei Worten zusammen: Volle und unumschränkte Demokratie.“ [4] Eine allgemeine „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“[5] müsse dazutreten. Die wissenschaftliche Auswertung seiner Reise hatte Virchow gelehrt, dass schlechte Lebensbedingungen ‑ Armut, mangelnde Bildung, Hunger und mangelnde Hygiene ‑ zur entscheidenden Ursache von Seuchen werden können. Krankheiten wie Typhus, Skorbut, Tuberkulose und „Geisteskrankheiten“ nannte er daher „künstlich“, weil durch von Menschen geschaffene soziale Missverhältnisse verursacht. „Sie sind“ – so Virchow – „Attribute der Gesellschaft, Produkte der falschen oder nicht auf alle Klassen verbreiteten Kultur.“[6]
Virchow war klarer Gegner des Marxismus´ und lehnte den Klassenkampf ab. Die volle Verwirklichung von Menschenrechten, Gewaltenteilung, Demokratie und allgemeiner Bildung waren für den Liberalen Virchow der einzig denkbare Ausweg aus der sozialen Frage. Virchow steht damit in der Tradition naturrechtlichen Denkens: „Die Aufgabe der Naturforschung ist es, die Eigenschaften der Naturkörper und die Geschichte der Naturerscheinungen zu verfolgen und so die Gesetze erkennbar zu machen, nach denen sich der Lauf der natürlichen Vorgänge regelt … dass es nicht der letzte Zweck sein kann, liegt auf der Hand … auf den Menschen angewendet, zeigt sich diese Auffassung in der Forderung des Humanismus, den Menschen seiner Natur nach zu erforschen und dem Einzelnen die Möglichkeit naturgemässer Entwicklung in so ausgedehntem Masse als möglich zu gewähren. Daraus ergeben sich bestimmte Konsequenzen für das öffentliche und private Leben.“[7]
Für das politische Leben fordert der Arzt Virchow: „Eine vernünftige Staatsverfassung muss das Recht des Einzelnen auf eine gesundheitsmässige Existenz unzweifelhaft feststellen.“[8] „Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die Verwirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich ausführbar.“[9]
Privat waren für Virchow weder der Ruhm des grossen wissenschaftlichen Werkes noch die Ehre des Abgeordnetensessels oder Ähnliches die treibende Kraft für sein gewaltiges Lebenswerk. Er riskierte mit seiner Sympathie für die Revolution von 1848 sogar seine Stelle. Arzt sein, wie er es verstand und ein langes und reiches Leben lang lebte, hiess (in seinen Worten) „Anwalt der Armen“ sein. Aus der Achtung vor der Würde eines jeden und dem Wissen, dass Friede in der Gesellschaft nicht auf den Bajonetten ruht, wollte er mit seinem politischen wie wissenschaftlichen Handeln die Lage der Menschen verbessern. Naturforscher und Arzt sein war für ihn untrennbar damit verbunden, die Welt auch als seine Welt zu sehen, die er bis ins hohe Alter politisch und wissenschaftlich humaner gestalten half.
Seiner republikanischen Auffassung folgend, suchte er das politische Engagement nicht auf der Barrikade, sondern in einer 41jährigen Parlamentstätigkeit. 1859 findet man ihn als Abgeordneten der Dritten Klasse im Preussischen Landtag und als Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. 1861 wird er ins preussische Abgeordnetenhaus gewählt. 1880 geht er als Abgeordneter der oppositionellen Fortschrittspartei in den Reichstag ein und ist dort einer der grossen Gegenspieler von Bismarck. 1893 wird er Rektor der Universität Berlin. Wohl die direktesten Erfolge erzielte er als Stadtverordneter von Berlin. Aufgrund der Steinschen Reformen boten die preussischen Gemeindeversammlungen – im Gegensatz zum Reichs- und Landtag ‑ relative grosse Handlungsfreiheiten, die Virchow nützte: „Rudolf Virchow hat sich in hingebungsvoller Arbeit des ihm von der Stadtverwaltung übertragenen Auftrags entledigt, den Bericht über die Vorarbeiten zur Durchführung der Wasserversorgung, der Schwemmkanalisation und der damit untrennbar verbundenen Rieselfeldwirtschaft zu erstatten. In Gemeinschaft mit dem Baurat Wieber hat der grosse Forscher und Volksmann seine ganze zähe ausdauernde Arbeitskraft daran gesetzt, um dieses grossartig erdachte Werk allen Widerständen und gehässigen Angriffen zum Trotz“ – Bodenspekulanten weigerten sich zum Beispiel lange, Wasserleitungen legen zu lassen – „zu einem gedeihlichen Ende zu bringen. … War die preussische Hauptstadt in dieser anfangs kanalisationslosen Zeit ein überall verrufenes Typhusnest gewesen, so wurde sie nach Durchführung dieser sinnvoll ineinandergreifenden Anlagen zu einer der gesundesten und saubersten, mit Schmuckplätzen versehenen Städte Europas.“[10] Sein politisches Credo bestand in dem in Ratsversammlungen ständig wiederholten einen Satz: „Licht, Luft, Wasser, Wohnung, Schule, Bildung, Wohlstand und Freiheit für jeden Bürger!“[11] Die Stadt Berlin ernannte ihn wegen seines Engagements und seiner Nähe zum Volk schon früh zum Ehrenbürger.
Seine langjährigen Vorträge in den Berliner Handwerksvereinen machen Virchow auch zum Pionier des Volkshochschulgedankens.[12] Er setzt sich für Volkshygiene ein und kämpft gegen das preussische Dreiklassenwahlrecht: „Die Gerechtigkeit erfordert es, dass wir ein Wahlsystem aufgeben, welches den Zensus in irgendeiner Form zur Masssgabe der Wahlberechtigungen macht. … In der Tat birgt das Dreiklassensystem grosse soziale Gefahren in sich. … Wenn die Meinung entsteht, dass da ein Wahlsystem existiert, welches andere Resultate gibt als das allgemeine gleiche Wahlrecht geben würde, wenn die Vorstellung entstehen kann, dass dieses Wahlsystem angetan sei, die öffentliche Stimme des Landes zu fälschen, da, meine Herren, hat man auch die Pflicht, die Sache zu ändern und der Gerechtigkeit nachzugeben. Und daher, meine Herren, sind wir der Überzeugung, dass es durchaus kein revolutionärer Akt wäre, sondern dass es ein in eminentem Masse konservativer Akt wäre, in friedlichen Zeiten, wo es möglich ist, in ruhiger Weise die Entwicklung des Volkes zu fördern, diesen Schritt zu tun.“[13] Jede gesellschaftliche Ungerechtigkeit beschäftigte ihn.
Vor allem seine Erlebnisse in Schlesien hatten ihn auf die ungelöste soziale Frage gestossen und empört: „Die Erde bringt viel mehr Nahrung hervor, als die Menschen verbrauchen; das Interesse der Menschheit erfordert es keineswegs, dass durch eine unsinnige Aufhäufung von Kapital und Grundbesitz in den Händen einzelner die Produktion in Kanäle abgleitet wird, welche den Gewinn immer wieder in dieselben Hände zurückfliessen lassen.“[14] Soziale Ungerechtigkeit bringt Not und Krankheit und damit Unfrieden hervor, war die Lehre aus Schlesien: „Denn zu dem Schrecken der Hungersnot und der Seuchen tritt sofort noch der dritte, der des Krieges. Diese drei sind verbrüdert, die drei apokalyptischen Reiter, welche die Kinder der Menschen würgen.“ [15] Der von Preussen gewonnen Krieg von 1870/71, in dem Virchow – zu einer Zeit, da das junge Rote Kreuz auf den Schlachtfeldern noch wenig verbreitet war ‑ zur Linderung der Kriegsnot Lazarettzüge und Liebesgaben an die Soldaten organisierte, sollte Virchow nur noch mehr in seiner Überzeugung stärken, dass die „Geschicke der Menschheit sich leichter und bequemer ordnen [lassen] als auf dem Schlachtfeld.“ [16] Und er gab der Hoffnung Ausdruck, „dass es einstmals möglich sein werde, das Band der Humanität um die getrennten Glieder des Menschengeschlechts zu schlingen.“[17] Als Parlamentarier kämpft er daher auch gegen Todesstrafe und Militarisierung.
Die intensive Beschäftigung mit Anthropologie, Menschheits- und Naturgeschichte und Ethnologie waren für Virchow daher kein Hobby, sondern – auch dies ein Vorbild – er betrachtete erweitertes Wissen und ausgewertete Erfahrungen auf allen Gebieten, die den Menschen betrafen, als unerlässlich für seinen Beruf – eine ständige Arbeit am Menschenbild. Virchow lehrt uns auch, dass man als Arzt auch frühere Entwicklungsstufen der Menschheit und die alte Geschichte studieren müsse, um die aktuellen Zuständen und Zeitströmungen verstehen zu können. Das macht doch den Menschen als geschichtliches Wesen aus, dass er mit seiner Vernunft die Fehler der Vergangenheit erkennen kann und – auf Bewährtem aufbauend – Neues bauen kann und die alten Fehler vermeiden lernen kann. Einer der entscheidenden Beiträge zum Frieden in einer Gesellschaft und in der Welt kann so von der Wissenschaft kommen. Virchows vielfältige vergleichende Untersuchungen machten ihn so auch zum entschiedenen Gegner des Rassenwahns.[18]
Es fehlt die Zeit, alles aufzuzählen, was dieses reiche Leben hervorgebracht hat. Virchows breites Lebenswerk zeigt, welche innere Kraft, Leistungsfähigkeit, Ausdauer und Mitgefühl entstehen können, wenn ein Mensch aus einem „sozialen Standpunkt“ heraus handelt.
Virchow ist mehr als der berühmte Vielarbeiter, leistungsfähige Wissenschaftler und engagierte Politiker. Er ist einer der Grossen des 19 Jahrhunderts. Wie sein Leben gestaltete, ist mitmenschliches Vorbild ethischer Massstab: Dafür nämlich, wie ein Mensch das verwirklichen kann, was man als Mensch ganz sein kann, wenn man sich bildet und engagiert und seine innere Zielsetzung auf das Gemeinwohl ausrichtet und nicht im einsamen Streben nach Macht und Ruhm (oder Besitz) endet. Denn Ursprung und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen waren für Virchow der Mensch als Person: „Staat und Stadt erhalten ihren Wert nur durch die Menschen und ihre Arbeit. Aller Reichtum, alle Bedeutung der Stadt wie des Staates beruht in letzter Instanz auf der Tätigkeit ihrer Bewohner.“[19] Und Virchow ist Massstab dafür, was ein Mensch tun kann, der seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, aus der er kommt, von der er alles, hat und ohne die er nichts wäre, voll wahrnimmt und sich seiner „Bringschuld“ bewusst ist. Eine Kraftquelle aber auch für jeden heutigen Arzt. Denn wie viele versacken heute nicht in aufreibenden Kostendiskussionen, Verwaltungsreformen etc. und verlieren dabei aus dem Auge, was das eigentliche Ziel der ärztlichen Tätigkeit ist: für den Menschen – nicht für die Obrigkeit und Macht – da zu sein, „Anwalt der Armen“ zu sein, wie Virchow sagte. Schiller ‑ einer von Virchows geistigen Mentoren ‑ drückte es einmal so aus: Lebe in deinem Jahrhundert, aber sein nicht sein Geschöpf! Gib den Menschen etwas, aber nicht, was sie wollen, sondern wessen sie bedürfen!
[1] Schipperges, 1994, S. 9
[2] Virchow, Rudolf (1879): Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre. Band 1. Berlin, S. 321.
[3] ebd., S. 325.
[4] ebd., S. 321f.
[5] ebd., S. 335.
[6] Virchow, Rudolf (1849): Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin. Berlin. S. 47.
[7] Virchow, Rudolf (1854): Empirie und Transcendenz. In: Arch. path. Anat. Physiol. klin. Med. Nr. 7. S. 28.
[8] Virchow, Rudolf, 1879, S. 330.
[9] Virchow, Rudolf: Brief vom 1. Mai 1848. In: Rabl, Marie (Hg.) (1906): Rudolf Virchow. Briefe an seine Eltern 1839-1864. Leipzig. S. 145.
[10] Kastan, Isidor (1919): Berlin, wie es war. In: Bauer. S. 91.
[11] Virchow, Rudolf. In: Bauer S. 89.
[12] Bauer, 92
[13] Bauer, S. 70
[14] Virchow, Rudolf: Arch. path. Anat. 2(1849), S. 315. In: Schipperges, S. 95.
[15] Bauer, S. 54
[16] Bauer, S. 69
[17] Bauer, S. 69
[18] Bauer, 101
[19] Virchow, Rudolf. Zit. n. Bauer, S. 123.