Gertrud Schwing
Ein Weg zur Seele des Geisteskranken
Max Rascher. Zürich 1940
Leseprobe: «Patientin Alica, 30 Jahre als Katatonie. Zelle Nr. 4. Unheimliche Stille und Erstarrung erwarten uns. Kein Ton, keine Bewegung verraten, dass die eingerollte Gestalt unter der Decke noch lebt. Jede Beziehung zur Aussenwelt ist seit Monaten abgebrochen, die Augen geschlossen, der Mund verstummt. Die Kranke kann nur auf künstlichem Wege ernährt werden. Selbst das Minimum an Pflege erheischt viel Mühe. Ich setzte mich während einiger Tage immer zur selben Zeit (nach einem mündlichen Rat von Herrn Dr. Holos) eine halbe Stunde still neben das Bett. Drei, vier Tage bleibt es still in der Zelle. Doch dann hebt sich die Decke ganz wenig. Zwei dunkle Augen schauen sich vorsichtig um. Angst und ein tiefes Wundsein liegen darin. Langsam erscheint das ganze Gesicht. Leer, tot ist es, wie eine Maske. Ich verhalte mich völlig passiv und, dadurch sicher gemacht, richtet sie sich auf und beginnt mich zu beobachten. Und am nächsten Tag öffnet sich der Mund, der so lange verstummt war. „Bist du meine Schwester?“ fragt sie. Auf mein „Nein“ fährt sie weiter: „Aber jeden Tag bist du zu mir gekommen, heute gestern und vorgestern.“» [Seite 10]
[«Ein Weg zur Seele des Geisteskranken», Seiten 1-28]
Gertrud Schwing (1905-1993) Geboren in Zürich, arbeitete als Krankenschwester im Bircher-Benner Sanatorium in Zürich, ehe sie ein Charakter- und Lehranalyse bei Paul Federn in Wien machte. Zwischen 1935 und 1938 behandelte sie mit Paul Federn und Istvan Holos als Mentoren an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik in Wien psychotische Patientinnen und Patienten und wurde Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. 1938 kehrte sie in die Schweiz zurück. Sie ist eine Pionierin der Psychosentherapie. In Ein Weg zur Seele des Geisteskranken berichtet sie über ihre Wiener Erfahrungen mit schizophrenen Patientinnen. (Artikelanfang)