Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1969

1. Januar 1969

Portmann biologische Fragmente

Am 21. Juli 2010 schrieb ein Leser unter dem Pseudonym «Chieminko», der dieses „alte“ Buch wegwerfen wollte, folgende bemerkenswerte Rezension: «Auf der Rückseite des harten, blauen Buches ist gestempelt „Ausgeschieden am 23.5.1989 Goethe-Institut Kyoto Bibliothek“. Weitere 20 Jahre stand das Buch ungelesen in meinem Buecherregal. Soll es jetzt zum Muell kommen? Das antiquarische Buch schien es aber nicht zu wollen. Dann fasste ich Mut und wendete die erste Seite um. Im Vorwort steht : Erschien sind die Studien erstmals 1944. In der 2. Auflage wurde das Werk 1956 unter dem Titel „Zoologie und das neue Bild des Menschen“ neu herausgegeben, wodurch diese Vorarbeiten zu einer umfassenderen Anthropologie im letzten Jahrzehnt weiter verbreitet worden sind. Hiermit weiss man, dass Adolf Portmann ( 1897-1982) nicht nur Biologe, Zoologe, sondern auch Naturphilosoph sowie Anthropologe war. Nach der Einleitung kommt dann das Kapitel „Der neugeborene Mensch“. Schon ganz am Anfang des Kapitels treten zwei Begriffe „Nesthocker“ und „Nestfluechter“ auf, die man im Kopf behalten muss. Was bedeuten sie wohl? Nesthocker wird nicht nur fuer verwoehnte Jugendliche beim Elternhaus gebraucht. Urspruenglich stammt die Bezeichnung aus der Verhaltensforschung. Ein Nesthocker bedarf nach der Geburt noch besonderer Pflege im Nest, waehrend ein Nestfluechter in weit entwickeltem Zustand geboren wird, weil die Entwicklung im Mutterleib viel laenger dauert als bei Nesthockern. Man hat den eigentlich fuer Jungvoegel ueblichen Namen auf die Wirbeltiere ausgedehnt, wo nun allerdings kein Nest vorkommt. Nach Beispiel der Tabelle I (S.29) gehoeren viele Insectivoren, Nager u. marderartige Raubtiere zu den Nesthockern, und Huftiere, Robben, Wale, Affen sowie Halbaffen zu den Nestfluechtern. Zu welchem von beiden gehoert dann ein Menschenbaby? Es reift im Mutterleib zur Stufe des Nestfluechters mit offenen Sinnesorganen u. ausgebildeten Bewegungssystemen heran, aber es ist bei der Geburt ueberhaupt nicht faehig, sich fortzubewegen und angewiesen auf die Totalversorgung der Eltern. Wegen seiner offenen Augen u. Gehoergaenge sollte es eigentlich den Nestfluechtern zugeordnet werden aber durch seine Unfaehikeit zur selbstaendigen Fortbewegung aehnelt es einem Nesthocker. D.h. die Hilflosigkeit des menschlichen Saeuglings ist ein ganz besonderer Ausnahmezustand der Saeuger, die vollentwickelt zur Welt kommen und sich schon unmittelbar nach der Geburt artgerecht verhalten koennen. Durch vergleichende Untersuchung der Entwicklungsverhaeltnisse bei Saeuger kam Portmann zu dem Schluss, dass wir Menschen eigentlich viel zu frueh geboren werden und um den Reifezustand etwa eines Pferde- od. Elefantenbabys zu erreichen, muesste unsere Schwangerschaft etwa 21 Monate dauern, und er ueberzeugte sich, dass wir tatsaechlich es tun !! Er praegte dabei den Begriff der „physiologischer Fruehgeburt“. Wir verbringen ein Jahr nach der Geburt als extrauteriner Embryo. Wegen des „sozialen Uterus“ sei das Menschenkind offen fuer Umwelteinfluesse und koenne vieles lernen, mehr als wenn es Zeit im dunklen, reizarmen Mutterleib verbringe. Das Entscheidende ist, nach Portmann, dass die physiologische Fruehgeburt ermoegliche, das spezifisch Menschliche auszumachen. Das Buch setzt zwar keine eingehende Kenntnisse voraus. Aber wegen des streng wissenschaftlichen, trocknen Stils braucht man vielleicht etwas Geduld, oder schlaeft einfach ein. Ich persoenlich bin fuer das Buch sehr dankbar, weil mir bei der Lektuere eine alte Frage meiner Kindheit eingefallen ist; Immer wenn ich ein Tierprogramm im Fernsehen sah, bewunderte ich etwa wie Pferde-, oder Hirschenbabys, die mit ihren frischgebackenen Beinen aufstanden und nach ihren Muettern rannten. Ich wurde dann nachdenklich, wenn ich sie mit dem Menschenbaby verglich. Auch meine Familie wunderte sich darueber. Warum ist nur ein Menschenbaby so hilflos? Die naive Frage geriet aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit. Dank Portmann hat sich die jaemmerliche Hilflosigkeit unsres Babys zur unersetzbaren, wertvollen Phase unseres Lebens verwandelt, bei der wir erst faehig sind, das Menschliche wie Sprechen, Gehen nud Denken zu lernen. Das Buch ist zwar alt, aber mir kommt es nicht vor, als haetten Portmanns Auffassungen heute schon an Aktualitaet verloren. Es wird nach wie vor in meinem Regal bleiben.»

«Ernsthafte Erforschung von Adolf Portman. URL: http://www.amazon.de/Biologische-Fragmente-einer-Lehre-Menschen/dp/3796504884»Joachim Illies (1976): Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk des Biologen Adolf Portmann

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