Adolf Portmanns «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen», Teil II

Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM, Seminar für Entwicklungspsychologie, Freitag, 9. Juni 1989 Moritz Nestor

Der neugeborene Mensch

 

Verehrte Anwesende!

Bis jetzt habe ich Ihnen versucht, einen kleinen Überblick zu geben über die körperliche Entwicklung des Kindes von der Empfängnis an. Ich habe Ihnen dabei versucht vor Augen zu halten, dass Adolf Portmanns Befunde über das sogenannte „extrauterine Jahr“ ein wichtiger zoologischer-biologischer Beitrag ist zu einem wissenschaftlichen Bild vom Menschen.

Vor allem lag bis jetzt der Schwerpunkt auf den körperlichen Entwicklungen, die gerade im ersten Lebensjahr so bedeutend sind und mit wichtigen vorgeburtlichen Vorgängen zusammenhängen. Natürlich liess es sich dabei nicht vermeiden, verschiedene Ergebnisse Portmanns – auf die ich ausführlich erst heute und das nächste Mal zu sprechen komme – kurz vorweg zu nehmen.

Das bisherige Anliegen war also zunächst einmal, in die Materie einzuführen und Sie auf Adolf Portmann als einen Forscher aufmerksam zu machen, der heute – sehr zu unrecht und zu sehr – in Vergessenheit geraten ist. Darüber hinaus wollte ich Ihnen ein Bild der vor- und nachgeburtlichen körperlichen Entwicklung des Menschen geben als Grundlage für die nun folgenden Beiträge Adolf Portmanns hierzu.

So werde ich Ihnen heute die seinerzeit völlig neuen Portmannschen Befunde zum Geburtszustand des Menschen darlegen. Die Darstellung des menschlichen Geburtszustandes wird in den folgenden Ausführungen hinleiten auf die eigenständige Phylo- und Ontogenese, die den Menschen im Tierreich auszeichnet.

Das folgende Mal werden Sie dann die Bedeutung des ersten nachgeburtlichen Jahres – des sogenannten „extrauterinen Jahres – beim Menschen erfahren, welches sich hieraus ergibt. Daran anschliessend wird Ihnen Herr R. dann noch Portmanns Beitrag zur Aggressionsdebatte darstellen und herausarbeiten, in welchen hauptsächlichen Punkten Adolf  Portmann die Adlersche Individualpsychologie bestätigt. Heute also zum Geburtszustand des Menschen.

Die moderne Biologie untersucht unter anderem die Entwicklung des Individuums aus einem Keim, der alles enthält, was zur Ausbildung des Individuums nötig ist. Physik, Chemie, Bakteriologie und Genetik erforschen den Aufbau dieses Keimes. Diese Denkrichtung, die Entwicklung des Lebens in ihren natürlichen Beziehungen und nicht mehr als göttliche Schöpfung zu betrachten, wurde bereits im 19.Jahrhundert von Lamarck in die Biologie eingeführt und hat das Denken des Abendlandes nachhaltig geprägt. Der Keim kann allerdings nur das ausbilden, was in den Möglichkeiten seines Genmaterials liegt.

Die neue Idee der „Selbstentfaltung“ der Organismen hat die Embryologie als biologische Teilwissenschaft hervorgebracht. Will man den Menschen mit dieser Methode untersuchen, bietet sich vor allem ein Vergleich zwischen Mensch und Menschenaffen an. Sie sind die nächsten Verwandten des Menschen unter den Säugetieren, und es besteht daher berechtigte Hoffnung, durch einen Vergleich mit ihnen, über die typische menschliche Art der Entwicklung Auskunft zu erhalten.

Die Erforschung der dem Menschen am nächsten stehenden Affenarten, die sogenannte Primatenforschung, war vor und nach Portmann stark davon geprägt, dass man versuchte, den höher entwickelten Menschen direkt aus den Primaten – dem „evolutionär gesehen „Niederen heraus“  zu erklären. Höheres, war das zugrundeliegende Prinzip, müsse sich stets aus Niederem erklären lassen, weil aus ihm entstanden. Man realisierte zu Portmanns Zeiten zu wenig, dass der Mensch nicht direkt vom Affen abstammt, sondern eine eigenständige Entwicklung in der Evolution von einem gemeinsamen Übergangsfeld aus genommen hat. Man dachte oft fälschlicherweise deshalb, dass sich bei den Menschenaffen die Eigenschaften des Menschen typischer und unverfälschter zeigten, weil der Mensch sich aus den Menschenaffen heraus entwickelt habe  eben: Höheres aus Niederem. „Der Biologe“ schreibt Portmann, „wird zwar bedeutsame Vergleiche ermöglichen, durch die unsere Eigenart deutlicher hervortritt, aber das Erfassen dieses biologisch Besonderen wird nur ein Teil sein unseres Versuchs, aus den Tatsachen unseres eigenen Menschenlebens die Gesetze zu finden, nach denen wir die Führung unseres Lebens richten.“[i]

Es hat sich nun  auch im Lichte auch der neueren Forschungen der Paläoanthropologie  gezeigt, dass dieser Ansatz, Höheres linear aus Niederem ableiten zu wollen, nicht immer in der Evolution gilt und beim Menschen in die Irre führte. Erkannte man im 19. Jahrhundert, dass der Mensch ein Lebewesen ist, entstanden während Jahrmillionen in einer Welt von Milliarden von Arten, so sah man bald, dass der Mensch verglichen mit den Abläufen der Erdgeschichte ein Punkt und sein Bewusstsein gar nicht so gewaltig sei, wie die europäische Philosophie einst gedacht hatte. Viele Biologen entwerteten, wie Portmann bemerkt, deshalb das menschliche Bewusstsein zu stark. Immer mehr erschien das einst als frei und selbstständig gedachte Geistesleben als Produkt mechanischer Mächte, die aber nicht vom Himmel kommend gedacht waren, sondern in der organischen Struktur unserer Art gesucht wurden. Geistestätigkeit erschien gegen Ende des 19. Jahrhunderts vielerorts als beeinflusst von Blutstoffen, gelenkt von Erbfaktoren, gesteuert von Nervenorganisationen und auch von vorbestimmten Denkweisen.

So hat man dann schliesslich auf Erbfaktoren geschlossen, Rassenunterschiede herangezogen, Konstitutionstypen erfunden, alles um das Geistesleben des Organismus Mensch wissenschaftlich zu erklären. Eines Organismus, den man nicht mehr statisch verstand, sondern als Produkt eines sich selbst schaffenden Keimes. Aber eben nur als ein sich selbst schaffendes, aufrecht gehendes, denkendes Tier. Als Extrem dieser Abirrung erkannte Portmann die völkische Ideologie, dass die Rasse wertvoller sei als das Individuum.

Die Entwicklungstheorie, so betont Portmann, war seit ihrer Formulierung durch Darwin für die Betrachtung des Menschen ungeheuer bedeutungsvoll. Keine Idee der Neuzeit, so würdigt Portmann Darwin, hat stärker die Erforschung des Menschen vorangetrieben als die Entdeckung der organischen Entwicklung in der Natur. Die Evolutionstheorie steht nach Portmann unumstösslich fest. Sie hat den Menschen endgültig dem „Dunkel des Geheimnisses entrissen.“ (22)

Aber, so betont Portmann, auch  am „Fernziel der Erforschung der Wirklichkeit gemessen, ist die Evolutionstheorie ein kühner Wurf der Deutung gewaltiger Tatsachenmassen.“ (22)

In der Anwendung der Entwicklungslehre auf den Menschen besteht nämlich eine Gefahr, „die um so bedrohlicher ist, als sie wenig beachtet im mächtigen Schatten des Wortes „Entwicklung“ verborgen lauert.“ (22) Das Wort ‚Entwicklung‘, wie wir es ständig gebrauchen, erscheint uns als etwas Einheitliches. Verschiedene Dinge entwickeln sich. Ein Auto wird entwickelt, eine Pflanze entwickelt sich, wir sprechen von der Entwicklung eines Gedankens. Und uns erscheint auf eine Art klar, dass wir es jedes Mal mit dem gleichen Phänomen zu tun haben  mit „Entwicklung“. In Wirklichkeit“, sagt Portmann jedoch, „in Wirklichkeit “ bezeichnet „dieses Wort“, wenn wie den Menschen betrachten, „zwei sehr verschiedene geistige Werkzeuge […], die der forschende Mensch in zwei weit voneinander entlegenen Werkstätten geschmiedet hat.“ (22)

Die Natur entwickelt sich und die Kultur entwickelt sich. Was uns gleich erscheint, weil nicht durchdacht, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das erste ist „Naturgeschichte“. Hier herrscht der „Entwicklungsbegriff der organischen Naturforschung“. (22)

Das zweite und davon absolut verschiedene ist die „Menschheitsgeschichte“. Hier wird ein „Entwicklungsbegriff verwendet, der sich nur auf die Erzeugnisse des menschlichen Geisteslebens bezieht, auf alle Zusammenhänge, die sich […] als „Geschichte“ nachweisen lassen.“ (23)

Die Gleichheit beider Entwicklungsbegriffe ist lediglich eine sprachliche, wie wir etwa ein bestimmtes Sitzmöbel und ein Geldinstitut als „Bank“ bezeichnen. Auf beiden kann etwas ruhen. Das eine Mal ist es ein Mensch das andere Mal das Geld.

Gemeinsam ist beiden Entwicklungsbegriffen, auf die der Vergleich bezogen war, „die Grundidee von“ (wie Portmann sagt)“ im Zusammenhang vorgefundenen Veränderungen eines als Einheit aufgefassten Komplexes: der Einheit der Organismentypen einerseits“, also der Natur, „der Einheit […] der ganzen Menschheit“, also der Kultur, „andererseits.“ (23) Menschliche Geschichte und Naturgeschichte sind wesentlich verschieden, so dass ihre Verwechslung folgenschwere Verwirrungen anrichten muss.

Erst durch eine klare Trennung in der Verwendung dieser beiden Begriffe kann nach Portmann dem folgenschweren Irrtum begegnet werden, die menschliche Geschichte als organische Entwicklung wie die Naturgeschichte zu betrachten und dadurch misszuverstehen.“

Will die Biologie“, schreibt Portmann, „eine umfassende Lehre vom Menschen fördern helfen […] dann muss die Idee vom Menschen“ mehr umfassen, als das, was zu Portmanns Zeiten von Biologen unter dem Menschen verstanden wurde, nämlich: „das aufgerichtete Tier […] dessen Gehirn infolge der Erhebung des Körpers sich weiterentwickelt und schliesslich als Blüte den Geist hervorgetrieben hat […] Der Mensch muss auch dem Biologen vor Augen sein als das besondere Wesen mit Geschichte, als die Daseinsform mit einer ihr eigentümlichen zweiten Natur, der Kultur.“ (25)

Von dieser Voraussetzung her, wird die Biologie erst wirklich nach Portmann in der Lage sein, einen wirklichen Beitrag zu einem wissenschaftlichen Bild vom Menschen zu liefern. Sonst – so erkennt Portmann klar – wird die Biologie Beute von Politikern. Er schreibt im Jahr 1952: „So ist es nicht zu verwundern, dass die biologischen Schlagworte fast nur zu üblem Missbrauch im Tageskampf der Meinungen geführt haben: ob man bedenkenlos den Begriff des Daseinskampfes generalisiert […] ob man den Erfolg als Massstab des biologischen Wertes proklamiert, ob man kurzweg Völker oder Rassen, Sprachgemeinschaften wie Nationen kritiklos als ‚Organismen’ taxiert […] Man kann […] die Ausmerzung der Untüchtigen fordern, Lebensräume erfinden, einen biologischen Druck der Stärkeren proklamieren, das alles ist gleich anfechtbar und gleich gefährlich. […] Allen diesen Versuchen liegt die verhängnisvolle Verallgemeinerung zugrunde, welche es als erwiesen ansieht, dass die Vorgänge der menschlichen Geschichte die natürliche Fortsetzung der organischen Formevolution seien.“ (26)

Dies ist Portmanns fester Standpunkt, von dem aus er nun zur Untersuchung des Geburtszustandes des Menschen schreitet. In welchem Zustand, und das ist die Frage, der wir uns heute zuwenden wollen, finden wir den Menschen bei der Geburt vor und wie ist dies nach Portmann einzuschätzen? Beschreiben wir heute diesen Schritt in Portmanns Forschungen, so werden wir  darauf aufbauend  das nächste Mal dann zum Kern des Sache vorstossen und Verlauf und Bedeutung des menschlichen Erstjahres betrachten. Portmanns Methoden sind dabei, wie Sie sich sicher noch erinnern werden, die Methoden der vergleichenden Morphologie und Embryologie. Weit darüber hinaus – und dies ist Zentrum aller Aussagen – ahnt Portmann die geschichtliche Natur des Menschen voraus, und er setzt als Biologe seine fachlichen Methoden ein, um diese Tatsache der menschlichen Natur zu beweisen.

 

Säuger

 

Betrachten wir die Säugetiere. Allen Säugetieren gemeinsam ist eine liebevolle Brutpflege und das Milch trinken an der Mutterbrust. Das hat den Blick der Verhaltensforscher oft von den erstaunlichen Besonderheiten der menschlichen Entwicklung. So menschlich uns eine Tiermutter erscheint und bei aller Übereinstimmung tierischer und menschlicher Mutter-Kind-Beziehungen, kann darüber nicht vergessen werden, „wie ungewöhnlich die Art des kleinen Menschenkindes eigentlich ist.“ (29) Der Mensch weicht entscheidend ab von der Entwicklung, die Neugeborene anderer Säugetiere haben. Diese eigenständige Entwicklungsweise in der Natur, die dem Menschen typische spezielle Jungperiode, als Biologe herausgearbeitet zu haben, ist das Werk Adolf Portmanns.

Die Arten, wie sich Tiere in ihrer Jungperiode entwickeln, sind sehr verschieden und weisen enorme Gegensätze auf. Auch unter den Säugetieren. Junge Katzen werden blind und relativ hilflos geboren, ein junges Füllen ist bei Geburt schon sehr munter. „Welche Kontraste: die dumpfe Saugzeit eines Eichhörnchens oder des Iltisjungen, bei denen sich die Augen erst etwa am 30.Tag nach der Geburt öffnen, und die wache Regsamkeit des neugeborenen Elefanten, des Kälbchens, der Giraffe, die in der ersten Stunde bereits stehen und sogleich der Herde folgen können!“ (30) Es zeigen sich im Vergleich sehr verschiedene Geburtszustände im Tierreich, auch unter den Säugetieren, also den nächsten Verwandten des Menschen. Diese Unterschiede sind nun nicht zufällig über die Säugetieren verteilt.

Als erstes lässt sich, vergleicht man die unterschiedlichen Jungperioden aller Säuger, folgende Gesetzmässigkeit feststellen:

Ordnet man alle Tiere auf einer senkrechten Skala und beginnt dabei am unteren Ende mit den am niedrigsten entwickelten, also den Kriechtiere, und ordnet dann die höher entwickelten Tiere dem Kompliziertheitsgrad ihrer Körperbaues entsprechend nach oben steigend an, so gelangt man schliesslich zu den Säugetieren als den am höchsten entwickelten Tiere. Als höchst entwickeltes Säugetier finden wir dann den Menschen. Nun hat man das Tierreich, nach dem „Grad der Organisation“ des Körperbaus geordnet. Am unteren Ende finden wir also niedrige Organisationen des Körperbaus am oberen Ende den höchsten Grad an Körperorganisation. Dazwischen finden sich kontinuierliche Zwischenstufen im Aufbau der Organismen. Hoch und nieder – das ist klar – ist hier nicht ethisch wertend gemeint.

Parallel zu der Höherentwicklung der Organismen finden sich nun auch eine Höherentwicklung des Gehirns. Ein niederes Tier hat einen relativ unkomplizierten Körperbau und ein wenig entwickeltes Gehirn. Ein hoch entwickeltes Tier hat einen komplizierten Körperbau und ein reich ausgebildetes Gehirn. Der Grad der Hirnentwicklung steigt also mit dem Grad der Körperorganisation.

Es gibt nun unter den Säugetieren einen festen Zusammenhang zwischen dem Grad der Körperorganisation einer Tiergruppe und deren Entwicklungsweise in den ersten Jahren nach der Geburt. Mit anderen Worten, die Jungperiode einer Art hängt mit dem Grad ihrer Körperorganisation und dem Grad ihrer Gehirnentwicklung zusammen.

Um diesem Phänomen näher zu kommen, sagt Portmann, ist es zunächst einmal wichtig, zu erkennen, dass es im gesamten Tierreich grob gesagt zwei Typen von Geburtszuständen gibt. Tiere kommen entweder als Nesthocker oder als sogenannte Nestflüchter zur Welt. Wie stark eine Art mehr Nestflüchterverhalten oder Nesthockerverhalten nach der Geburt zeigt, hängt, wie wir jetzt nach dem oben Gesagten leicht schliessen können, mit dem Grad der Körperorganisation und der Gehirnentwicklung zusammen.

Betrachten wir zunächst den Unterschied zwischen Nesthockern und Nestflüchtern bei den Säugetieren.

 

Nesthocker

Säugetierarten „von wenig spezialisiertem Körperbau und geringer Entwicklung des Gehirns sind meist auch ausgezeichnet durch kurze Tragzeiten, durch hohe Nachkommenzahl in jedem Wurfe und durch den hilflosen Zustand des Jungtieres im Geburtsmomente.“ (29) Diese Jungtiere „sind unbehaart, ihre Sinnesorgane sind noch verschlossen, und die Temperatur ihres Körpers ist noch von äusserer Wärme völlig abhängig.“ (29) Man zählt hierunter Insektenfresser, viele Nager, Kleinraubtiere, besonders die Marder. Auch bei Vögeln  zum Beispiel bei Singvögeln, und beim Specht  kennt man solche „nackte Jungstadien mit geschlossenen Augen.“ Man hat für diese Art des Geburtszustandes den Begriff des „Nesthokkers“ geprägt, zuerst meinte man nur die Vögel damit, später verwendete man den Begriff auch für andere Tierarten, deren Junge ebenfalls einen derartigen Geburtszustand aufweisen.

 

Nestflüchter

„Ein ganz anderes Bild der Entwicklung zeigen die höheren […] Säuger, deren Körperbau spezialisierter ist, und deren Gehirn eine reichere Ausbildung aufweist.“ Wir haben es hier etwa mit den Huftieren, Robben, Walen, Halbaffen und Affen zu tun. „Bei ihnen dauert die Entwicklung im Mutterleib sehr lange, die Nachkommenzahl bei einem Wurf ist meist auf zwei oder eins reduziert, und die Neugeborenen sind weit entwickelt, den Alten in Gestalt und Gebaren schon recht ähnlich.“

Stellen sie sich zum Beispiel ein neugeborenes Pferd vor, das schon wenige Stunden nach der Geburt  der Mutter völlig gleich, nur kleiner  herumläuft, mit offenen Augen. Im Vergleich dazu ein Wurf Mäuse, der unbeholfen und blind sich um die Mutter drängt.

Ebenfalls finden wir in der Vogelwelt  etwa bei Hühnern, Enten, Schnepfen und anderen  diese Entwicklungsart, und man hat den für die Vögel ursprünglich geprägten Begriff der „Nestflüchter“ auf alle Säugetiere ausgedehnt, die diese charakteristische Entwicklungart aufweisen, „wo nun allerdings keine Nest vorkommt.“ Hier übernehmen soziale Verbände diese Funktion.

Zwischen diesen beiden typischen Formen bestehen bei den Säugetieren fliessende kontinuierliche Übergänge. „Katzen und Hunde nehmen eine Mittelstellung ein, die auch dem Grad ihrer Spezialisierung und Organisationshöhe (zwischen Mardern und Robben) entspricht: wohl sind ihre Jungen Nesthocker, doch sind sie im Geburtsmoment bereits viel weiter entwickelt als die von Ratten oder Igeln. Es ist kein Zufall, dass auch die Zahl der Jungen die Mitte hält zwischen den vorhin erwähnten Extremen.“ (30)

Es besteht also  wenn wir zusammenfassen  bei den Säugern ein bestimmter Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Jungperioden.

 

Nesthocker

niedere Organisationsstufe: zum Beispiel Eichhörnchen, Iltis,
typische Nesthocker: kurze Tragzeiten: 20-30 Tage, Augen öffnen sich beim Neugeborenen erst nach 22-30 Tagen, die Zahl der Jungen gross: 5-22

etwas höhere Organisationsstufe: zum Beispiel Katzen und Hunde
Nesthocker, aber ihre Neugeborene sind viel weiter entwickelt, weniger Junge

hohe Organisationsstufe: zum Beispiel Elefanten, Giraffe, das junge Kalb steht in der  ersten Stunde bereits und folgt der Herde
typische Nestflüchter: Tragzeit > 50 Tage, hochweniger Junge: 1 bis 2

Schauen wir uns nun die Verhältnisse bei der Geburt bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Menschenaffen, an.

 

Primaten

Menschenaffen sind die von der Evolution her gesehen die nächsten Verwandten des Menschen. Sind sie als Nestflüchter oder Nesthocker einzureihen?

Tragzeiten bei Menschenaffen:

Schimpansen: etwa 253 Tage (kommt also dem Menschen mit etwa 280 Tagen sehr nahe)
Oran-Utan:      etwa 275 Tage
Rhesusaffe:      etwa 167 Tage

Die Nachkommenzahl aller Primaten ist sehr gering. Im Allgemeinen sind es Verhältnisse wie beim Menschen. Neugeborene Primaten sind Nestflüchter. (Sie erinnern sich an den Zusammenhang: hohe Körperorganisation, hohe Gehirnentwicklung – Nestflüchter.)

„Sie werden alle mit offenen Augen und weit entwickelten Sinnesorganen geboren und sind vom ersten Lebenstage an zu vielerlei Bewegungen fähig. […] Der Name ist allerdings etwas irreführend, denn sie flüchten ja gerade nicht vom „Nest“, sondern sie stehen von der Geburt an unter einem besonderen Zwang, der sie nötigt, sich mit kräftigem Griff der Hände und Füsse im Pelz der Mutter festzuhalten.“

Portmann beschreibt die Affenmutter als den „ersten Baum“ des Affenjungen und fasst dabei zu wenig, dass hier bereits Mutter-Kind-Beziehungen stattfinden, wie wir sie beim Menschen am ausgeprägtesten vorfinden. Dies ist eine Lücke bei Portmann, die sich jedoch nicht verzerrend auf seine anderen Forschungsergebnisse auswirkt. Hier setzen  wie wir später sehen werden die Forschungen von Harlow an Menschenaffen an, der an ihnen das Wesen der Mutterliebe im Tierreich untersucht hat.

Das Affenjunge hat eine Hand, welche von einem stark ausgeprägten Klammerreflex beherrscht ist. Die Affenhand hat nach Portmann fast ausschliesslich nur diese Funktionsmöglichkeit. Das menschliche Neugeborene dagegen  wenn man einen ersten Vergleich anstellt  hat in seiner ganzen Hilflosigkeit eine Hand mit opponierendem Daumen und einen relativ schwach ausgeprägten Klammerreflex. Es ist eine Hand mit der Möglichkeit für das freie „Spiel, das dem menschlichen Säugling so viel reichhaltigere Möglichkeiten gibt, als sie dem neugeborenen Affen zu Gebote stehen.“ Das ist der erste wichtiger Hinweis, dass das menschliche Neugeborene „nicht einfach hilflos“ ist, sondern auch bedeutungsvolle Freiheiten zur Verfügung hat.

„Es ist schwer“ schreibt Portmann 1952, „sich ein Bild zu machen von […] jungen Menschenaffen; um so schwerer, als die wenigen ausführlichen Darstellungen von der Idee beherrscht sind, hier eine Vorstufe des Menschenkindes zu studieren, und darum in erster Linie das Entsprechende und nicht die Unterschiede herausheben.“ Tendenzen, wie wir sie auch letztes Jahr im Kommentar zu jenem Film über die Schimpansen aus dem Basler Zoos hörten. Eine Warnung Portmanns vor Anthropomorphismen, die zu seiner Zeit sicher noch sehr viel angebrachter war, aber auch heute noch ins Stammbuch mancher Zoologen gehört.

Primaten sind also Nestflüchter. Wie beim Menschen, kann man auch bei ihnen ein bedeutendes Phänomen beobachten: „Sie durchlaufen alle im Mutterleib ein für alle höheren Säugetierstufen kennzeichnendes Stadium des Verschlusses der äusseren Sinnespforten.“ Wie wir dies auch beim Menschen gesehen haben, dessen Lieder vom 3. bis zum 5. Schwangerschaftsmonat verwachsen.

Bei Nesthockern sind die bei Geburt verschlossenen Augen funktionell sinnvoll „als Vorbereitung auf einen frühen Geburtsmoment aufzufassen; sie verschaffen dem noch unentwickelten Sinnesorgan das notwendige feuchte Millieu und schützt es vor der Luft.“ (36) Alle Säugetiere – egal ob Nestflüchter oder Nesthocker – weisen nun diese Augenverschlüsse während der Schwangerschaft auf. Die niederen Säugetiere kommen noch mit geschlossenen Augen zur Welt. Sie sind Nesthocker. Die höheren Säugetiere durchlaufen diese Phase noch vor der Geburt und kommen mit geöffneten Augen zur Welt. Sie sind den Nestflüchtern zuzurechnen.

Alle Säugetiere durchlaufen diese Verschlussphase, die genetisch fest in ihrem Entwicklungsplan verankert ist. „Die Primaten durchlaufen also im Mutterleib ein Stadium, das dem Geburtszustand eines Nesthockers gestaltlich entspricht. Ihre Ausbildung hat also im Augenblick der Geburt eine weiter fortgeschrittene Entwicklungsstufe [als die Nesthocker] erreicht.“(37)

Ob dies ein Beweis für die Abstammung der höheren Säugetiere von den niederen ist, ist eine zweite, davon getrennte, Frage, die von Art zu Art verschieden ausfällt.

 

Der Mensch

 

„Auch der Mensch macht im Mutterschosse die für Nesthocker kennzeichnenden Veränderungen der Sinnesorgane durch.“ Als Säugetier hat er dies genetisch gegeben. Im dritten Schwangerschaftsmonat verwachsen Augen und Nase des Fötus, im 5. Monat öffnen sie sich wieder. „Zur gleichen Zeit sind auch die Nasenöffnungen“ vorübergehend geschlossen.

Würde der Mensch als ein einfacher Nesthocker zur Welt kommen  wie etwa ein hilfloses Eichhörnchenjunges  müsste er im 5. Monat spätestens zu Welt kommen. Er reift aber im Mutterleib zur Stufe des Nestflüchters heran. Der „hilflose neugeborene Mensch“ ist also „ganz heimlich eigentlich eine Art Nestflüchter“. Dass er mit geöffneten Augen zur Welt kommt, weist ihn als Nestflüchter aus. Hierin macht er dieselbe Entwicklung durch wie die anderen höheren Säuger. Was dabei jedoch auffällt, ist, dass alle anderen Nestflüchter unter den Säugern schon kurz nach der Geburt wach und munter hinter der Herde herrennen, und ein verkleinertes Ebenbild der Alttiere sind, lediglich mit einem im Vergleich zum Gesamtkörper etwas grösseren Kopf. Das alles hat der Mensch nicht, wenn er zur Welt kommt. Er kann noch nicht laufen, das lernt es erst nach einem Jahr etwa, er kann noch nicht die artgemässe Verständigung, auch diese lernt er erst nach einem Jahr, und er kann noch nicht denken, was er ebenfalls erst nach längerer Zeit erlernt. Es besteht also ein gewisser Widerspruch darin, dass wir es im Menschen mit einem evolutionär gesehen enorm hohen Entwicklungsstand zu tun haben, der jedoch  und das wird für später wichtig sein  im Gegensatz zu stehen scheint mit seiner trotzdem zu beobachtenden grossen Hilflosigkeit bei Geburt.

Das zeigt bereits in Ansätzen, dass die menschliche Entwicklungsart nach der Geburt eigenartig unter den Säugern ist. „Der Mensch ist nicht – wie man bis zu Portmann angenommen hatte – ein Nesthocker, sondern ein Nestflüchter, aber nicht so Nestflüchter, wie andere Säugetiere, sondern ein Nestflüchter ganz eigener Prägung.“ Dies erklärt nach PORTMANN einiges besser, was „in der Biologie vor“ seiner Zeit beim Menschen als paradoxe Kuriositäten im Körperbau eines Nesthockers betrachtet wurde:

Sie erinnern sich an den Vorgang der Myelinisierung: Damit Nerven leiten können, müssen ihnen Markscheiden wachsen, das sogenannte Myelin. Die Myelinisierung der Nerven, die für willkürliche Bewegungen zuständig sind – die sogenannten Pyramidenbahnen – beginnt beim Menschen etwa im 9. Schwangerschaftsmonat und ist bei Geburt weit fortgeschritten. Dies passte nicht in das Bild eines Nesthockers, als welchen man den Menschen bis zu Portmann beschrieb. Diese Entwicklung entspricht im Gegenteil der eines Nestflüchters, der seine Muskeln ja sofort zur Bewegung braucht.

Das gleiche gilt auch für die Anzahl ganz bestimmter Fasern des Rückenmarkes, den sogenannten „motorischen Fasern in den ventralen Wurzeln des Rückenmarks“, die für die bewussten Bewegungen von Armen und Beinen entscheidend sind, und die beim Menschen schon bei Geburt  dem Zustand des Erwachsenen entsprechend  fertig entwickelt sind. Ein Umstand, der ebenfalls bis Portmann nicht in das Bild eines reinen Nesthockers passte. Bei Nesthockern fängt die Myelinisierung der für die willkürlichen Bewegungen zuständigen Nerven erst nach der Geburt an.

Bei echten Nesthockern „eilt die kopfwärts gelegene Region dem“ schwanzwärts gelegenen „Körper in der Gestaltung deutlich voraus. Darum ist bei echten Nesthockern, die früh zur Welt kommen, die Ausbildung der Armnerven weiter gediehen als die der hinteren Gliedmassen“.

Der „Mensch verhält sich“ diesbezüglich aber „wie ein Nestflüchter“. Bei den Nestflüchtern haben Arme und Beine bei der Geburt den gleichen Ausbildungsstand erreicht. Arme und Beine und die dazugehörenden Nerven und das Rückenmark sind beim Menschen  im Gegensatz zum restlichen Körper  bei Geburt wie bei einem Erwachsenen entwickelt nur eben noch kleiner.

Ganz besonders aber muss das Bild vom dürftig entwickelten Nesthocker, der noch nichts wahrnimmt, ja der nach einigen Theorien noch zu gar keiner zwischenmenschlichen Beziehung fähig ist, nach Portmann revidiert werden, wenn man sich die seelischen Fähigkeiten des menschlichen Neugeborenen anschaut. Er erkennt, dass das Neugeborene sehr wohl zu Beziehungen zur Welt fähig ist, ja, dass dies das Wesen des Menschen beinhaltet.

Er wirft diese eigentlich an den Psychologen gerichtete Frage auf, ohne sie beantworten zu können. Er schreibt: „Es wäre zu wünschen, dass die Beobachter mehr als bisher sich für die feinen Anzeichen öffnen, die von der psychischen Entwicklungshöhe des neugeborenen Menschen zeugen. Unsere Einsicht““wird noch immer stark gehemmt durch die Meinung, man habe es eben mit einem dürftig entwickelten Nesthocker zu tun. Die vielseitigen und sorgfältigen Studien Stirnimanns widerlegen diese Ansicht und bahnen, wesentliche Aufschlüsse an.“ (18)

Stirnimann, auf den sich Portmann hier bezieht, ist ein Luzerner Kinderarzt, dessen umfangreiche Werke über frühkindliches seelisches Erleben er verarbeitet hat. Portmann erkennt, dass hier die Aufgabe der Psychologie beginnt, die auf die menschliche Sozietät gerichtete Beziehungsfähigkeit des Neugeborenen zu erforschen. Er nennt F. Stirnimanns „Psychologie des neugeborenen Kindes“ (1940) und „Das erste Erleben des Kindes“ (1933) sowie von J. Brock „Daten für den Kinderarzt“ (1931-1939).  Als wichtige Beiträge „zur Kenntnis der psychischen Entwicklung“ nennt Portmann – wir schreiben das Jahr 1951! – „die von der Psychoanalyse beeinflusste Psychologie“: Er nennt vor allem Hans Christoffels „Einige fötale und frühkindliche Verhaltensweisen“ (1940) und „Skizzen zur menschlichen Entwicklungspsychologie“ (1945). Schliesslich nennt er vor allem das umfangreiche Werk von Rene A. Spitz, das ihm bis 1951 zur Verfügung stand. Portmann erkannte, wo die sinnvollen Ansätze weiterer Forschungen auf anderen Gebieten der Humanwissenschaften anzusetzen hatten. Die Entwicklungspsychologie, wie wir sie besonders in den Autoren Bolwlby und Ainsworth kennen lernen werden, sollten in späteren Jahren hier ansetzen und Portmann bestätigen.

Doch wieder zurück zu Portmann. Bis anhin hat er den neugeborenen Menschen als eine „dem Nestflüchterzustand der Säuger zugeordnetes Wesen“ verstanden, und nicht, wie man einst angenommen hatte als dumpfen Nesthocker, der einige Anomalitäten aufweist.

Dies bestimmt Portmanns weitere Betrachtungen. „Über den ersten Sinneseindruck hinaus“, schreibt er, „kann die Beobachtung nicht ohne vorgefasste Einstellung in das verborgene Wesen der Dinge eindringen. Es wäre darum oft wertvoller, in wissenschaftlichen Darstellungen statt der Behauptung, der Vorurteilslosigkeit einen klaren Hinweis auf das ‚Vorurteil‘ zu finden, mit dessen Hilfe man in eine Neuland vorzustossen versucht.“ (38)

Der Mensch wird als Säugling also einmal dem Nestflüchterzustand der neugeborenen Säugetiere zugeordnet. Dies hilft nun, seine dem widersprechende grosse nachgeburtliche Hilflosigkeit nicht als somatische Unreife eines Nesthockers zu verstehen, sondern als ein „Ausnahmezustand in der Gruppe der Säuger“, eben als den „Zustand des Menschen“. Der Mensch hat eine spezielle Entwicklungsform als neugeborener Nesthocker unter den Säugetieren. Was das heisst werden Sie in der Folge erfahren:

 

 

Die Proportionen des Neugeborenen

 

Untersuchen wir einmal die Proportionen des Neugeborenen und Säuglings bei den Säugetieren. „Bereits das Studium der Körperproportionen hebt das Eigene an unserem Säugling klar hervor. Die Jungtiere der höheren Säuger stehen von Geburt an den Körperverhältnissen der Reifeformen nahe. So wie das Füllen, das Rehkitz, der junge Wal oder der kleine Seehund am ersten Lebenstag schon verkleinerte Abbilder ihrer Eltern sind.“ Auch die Menschenaffen folgen dieser Regel.

„Wie ganz anders ist der neugeborene Mensch gebaut! Wie verschieden sind bei uns die Gliedmassen vom endgültigen Zustande!“ Hier  in der nachgeburtlichen Veränderung der Körperproportionen  ist der wichtigste Unterschied zwischen Menschenaffen und Mensch zu finden:

Angenommen, die Gestalt Erwachsenen ist durch eine gleichmässige Vergrösserung der ursprünglichen Gestalt des neugeborenen entstanden, dann müsste auch jedes einzelne Glied gleichmässig gewachsen sein. Das trifft nun für den Schimpansen zu, für den Menschen aber nicht.

Vergleicht man das Längenwachstum von Körper, Armen und Beinen beim Menschen und beim Schimpansen, so zeigt sich ein auffallender Unterschied:

 

Schimpanse     Mensch

Rumpf 1:1.95             1:2.65
Arme   1:1.69             1:3.29
Beine   1:1.69             1:3.94

 

Man sieht also, dass Arme und Beine ganz verschiedenen Entwicklungsstrecken zurücklegen müssen, um das erwachsene Mass zu erreichen. Das heisst, dass beim Menschen die Körperproportionen des Säuglings ganz anders sind als die des Erwachsenen.

„Affen“, so folgert Portmann, „erreichen im Embryonalleben rascher die Proportionen des Erwachsenen und entsprechen damit nach der Geburt dem höheren Säugertypus einer Nestflüchterentwicklung, bei dem der Geburtszustand ein verkleinertes Abbild der Reifeform darstellt. Den Menschen dagegen halten erbliche Faktoren  die uns im einzelnen vorerst noch unbekannt sind  von solch frühem Erreichen der artgemässen Proportionen zurück; er erlangt […] in einer von allen Affenverhältnissen abweichenden Wachstumsart spät erst nach der Geburt die Körperproportionen der Reifegestalt.“ (42)

 

 

Geburtsgewicht und Gehirnbildung

 

„Die Hilflosigkeit des Menschen liesse erwarten, da₧ der Mensch im Vergleich zu den bei der Geburt so viel reiferen Kindern der Menschenaffen auch in der Massenentwicklung zurückstände, ganz besonders im Vergleich zu den Gorillas“, die doch so viel grösser und schwerer werden als der Mensch. „Das Gegenteil ist der Fall! Das eben geborene Menschenkind ist sehr viel schwerer“ – etwa 1500 bis 1900 Gramm – „als die Kinder der grossen Affen“. Was hat das für einen Sinn?

Zugang zu dieser Frage erhalten wir, wenn wir den Zusammenhang verstehen zwischen der Entwicklung des Körpergewichts und der Entwicklung des Gehirns.

Die echten Nesthocker, wie Ratten, Kaninchen, haben bei Geburt ein sehr wenig ausgebildetes Gehirn. Katzen haben bei Geburt ein Gehirn, das schon sehr viel mehr dem Gehirn einer erwachsenen Katze entspricht. Höhere Säugetiere als Nestflüchter bringen ein Gehirn auf die Welt, das bei Geburt dem Reifezustand schon recht nahe ist. Hier hinein passt auch der Mensch, der ebenfalls ein Gehirn zur Welt bringt, das dem des Erwachsenen schon recht nahe kommt.

Das Verhältnis von Hirngewicht zu Gesamtkörpergewicht im Zeitpunkt der Geburt ist bei Menschenaffen und beim Menschen sehr ähnlich. Bei Geburt hat also der Mensch ein grösseres Körpergewicht als die Menschenaffen, weil er auch ein grösseres Gehirn hat. Hat der Mensch bei Geburt ein grösseres Gewicht als ein neugeborener Menschenaffe und daher auch ein grösseres Gehirn, so ist dieser Zusammenhang beim erwachsenen Menschenaffen und Menschen nicht mehr gegeben. Das Verhältnis von Hirngewicht und Gesamtkörpergewicht ist bei einem ausgewachsenen Gorilla, wie sie sich leicht vorstellen können, sehr viel grösser als bei einem erwachsenen Menschen.

Diese „bedeutend gesteigerte Körpermasse des neugeborenen Menschen ist eine Angleichung des Gesamtkörpers an das bereits bei Geburt im Verhältnis der Reifeform über“ das Mass der Menschenaffen vermehrte Gehirn. „Das auffallend hohe Geburtsgewicht des Menschen steht in Korrelation zum hohen Anfangsgewicht des Gehirns; dieses wiederum steht in klarer Beziehung zur Ausnahmestellung des“ menschlichen Gehirns innerhalb der Säugetiere und Primaten.

„Die Feststellung, dass das hohe Geburtsgewicht des Menschen nur in der Angleichung des Körpers an die Massenentwicklung seines Gehirns zu verstehen ist, lenkt unseren Blick wieder zurück zu der vielbesprochenen Hilflosigkeit unseres Säuglings. Denn im Licht“ dieser Befunde muss die Frage genauer gestellt werden, was man eigentlich unter der Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings zu verstehen hat, wenn er doch ein so reiches Gehirn mit auf die Welt bringt.

Da der Mensch bei Geburt ein Verhältnis zwischen Körpergewicht und Gehirngewicht aufweist, das dem eines Menschenaffen in etwa entspricht, wäre die Voraussetzung für eine Nestflüchterentwicklung gegeben. Und doch ist dies nicht wie bei den Menschenaffen der Fall. Der neugeborene Mensch ist in Gestalt und Verhalten viel unfertiger als irgendein Menschenaffe.

Das führt uns zur menschlichen Entwicklung während des Ersten Lebensjahres, auf welches wir das nächste Mal genauer eingehen werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Adolf Portmanns «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen», Teil II

 

 


Anmerkung

[1] Adolf Portmann: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. S. 28. [ab hier werden die Zitate direkt im Text mit Seitenzahlen angegeben]

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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