«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde …» Teil 1. Zur Kritik der linken Menschenrechtskritik

1997 Joachim Hoefele


(1) Vortrag, gehalten 1997 an der Pädagogischen Schulungswoche des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM (2) Artikel in «Standpunkt», Nr. 11/97, Zeitung des Studenten Forums an der Universität Zürich
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In früheren Ausgaben des „Standpunkt“ wurde eine Reihe von Artikeln zum Thema Menschenrechte veröffentlicht. Angesichts der weltweiten Missachtung der Menschenrechte, der Globalisierung der Lebensverhältnisse durch Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Kultur, angesichts der Durchmischung von Kulturen durch Immigration gehört die Rückbesinnung auf die Menschenrechte zu einer der drängendsten Fragen unserer Zeit; dabei sind die Menschenrechte selbst aber Ziel politischer Attacken, insbesondere durch radikal-feministische, marxistische bzw. postmarxistische Gruppierungen und Strömungen. Der folgende Artikel, der in der nächsten Nummer fortgesetzt wird, ist eine philosophische Auseinandersetzung mit der Frage der Menschenrechte.

Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ aus dem Jahre 1948 lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren, sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Im allgemeinen ist man sich heutzutage zu wenig bewußt, daß in diesen wenigen Worten der gesamte Schatz der christlich-abendländischen Naturrechtsradition zusammengefaßt ist. Weil alle Menschen so geboren sind, wie da ausdrücklich steht, bringt der Mensch das mit auf die Welt, dann ist er von Natur aus so, nämlich frei und gleich an Würde und Rechten geboren, mit Vernunft und Gewissen begabt.

Die Begründung der Menschenrechte steht und fällt also mit der Frage: Was ist der Mensch von Natur? Und welche natürlichen Bedürfnisse und Ansprüche muss er naturnotwendig als Mensch an andere stellen, damit er als Mensch leben und sich entfalten kann. Das Naturrecht – und das galt von Platon und Aristoteles, Thomas von Aquin bis Pufendorf, Kant und anderen – begründet die Rechtmässigkeit dieser Ansprüche aus der menschlichen Natur. Die Menschenrechte, wie sie uns in der allgemeinen Erklärung von 1948 vorliegen, gründen in dieser anthropologischen Naturrechtstradition.

In den Formulierungen des Artikels 1 der Menschenrechtserklärung haben wir eigentlich das Wesentliche, was den Menschen von Natur aus charakterisiert: Vernunft, Freiheit, Würde, Gewissen, Mitgefühl und soziale Verantwortung.

Durch seine Vernunft kann der Mensch erkennen, was richtig und was falsch ist, und er kann dementsprechend handeln; er ist nicht der Sklave von Instinkten und Trieben, wie dies sogenannte Triebtheorien behaupten; er ist auch nicht Sklave von Umwelteinflüssen oder gesellschaftlichen, ökonomischen Faktoren, wie dies soziologische Milieutheorien oder marxistische bzw. neomarxistische Ideologien meinen, nein, er kann und muß sein Leben in eigener Entscheidung und Verantwortung führen. Insofern ist er frei. Das ist die Erkenntnis des Naturrechts seit der griechischen Antike.

Aber der Mensch ist nicht willkürlich frei; als leib-seelisch einheitliche Person ist er auch an seine Naturanlagen, an die Erfüllung natürlicher Bedürfnisse und Notwendigkeiten gebunden. Dazu gehören u.a. sogenannte physische Bedürfnisse, das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, aber auch das Bedürfnis, ein verlässliches Bild von der Wirklichkeit zu entwickeln, die Welt und den eigenen Platz darin zu deuten, das Bedürfnis nach Achtung und Wertschätzung durch andere und das Verlangen, dauerhafte Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Aber zu diesen natürlichen Bedürfnissen verhalten wir uns immer wertend, stellungnehmend – sei es durch Erziehung, Gewohnheit oder freie Überlegung.

Weil wir Vernunft und Selbstbewusstsein haben, können wir uns in Beziehung zu anderen Menschen setzen, können wir uns im voraus überlegen, welche Folgen unser Verhalten hat, für uns und andere. Wir können abschätzen, ob unser Verhalten angemessen, richtig oder falsch ist. Aufgrund von Mitgefühl und vernünftiger Überlegung können wir verantwortlich und frei entscheiden, was wir tun und was wir lassen wollen. Insofern sind wir Menschen frei, aber nur frei innerhalb der Bedingungen unserer Natur.

Jeder Mensch entwickelt in engen, vertrauten Beziehungen der Familie Wertungen und Stellungnahmen; je sicherer und geborgener diese Beziehungen sind, desto freier und sozial verantwortlicher entwickelt der einzelne seine Individualität und Identität. Diese Erkenntnis wird heute durch eine Vielzahl anthropologischer und entwicklungspsychologischer Untersuchungen gestützt.

Jeder Mensch ist von Anfang an Individuum, das eine eigene innere Welt aufbaut, und als solches einmalig, unwiederbringlich. Jeder Mensch ist deshalb einzigartige Person und absolut in ihrem Wert. Und das gilt für alle Menschen gleich und universell. Deshalb – so lesen wir in Art.1 der Menschenrechtserklärung – sind alle frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

Das ist der Beitrag des Naturrechts zur Grundlegung der Menschenwürde und der Menschenrechte. Es gibt Antwort auf die uralte Frage: Was ist der Mensch? Und es zeigt, welche Rahmenbedingungen im zwischenmenschlichen Zusammenleben erfüllt sein müssen, damit der Mensch seiner Natur entsprechend als Mensch leben und sich frei und – als soziales Wesen – verantwortlich für andere entfalten kann.

Die Menschenrechte gelten, weil sie in der menschlichen Natur gründen, für alle Menschen, eben weil sie Menschen sind, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion, sozialer und kultureller Herkunft. Sie sind deshalb universell gültig.

Nun gibt es in der Philosophie der Gegenwart breite Kreise, insbesondere marxistisch bzw. postmarxistisch inspirierte, die

1.     die universelle Gültigkeit ethischer Werte und Normen im allgemeinen und der Menschenrechte im besonderen bezweifeln bzw. negieren,

2.     die anthropologische Begründung der Menschenrechte, weil wir alle Menschen sind, in Frage stellen und sie als dogmatisch bzw. totalitär brandmarken.

Damit aber werden tragende Werte und Normen der freiheitlich demokratischen Verfassungsstaaten zersetzt und einer gefährlichen Subversion der Boden bereitet.

Weit verbreitet ist heutzutage die Meinung, die Menschenrechte exportierten das Menschenbild der christlich-abendländischen Kultur; sie würden anderen Ländern, insbesondere den Entwicklungsländern von außen aufgezwungen, zum Teil mit militärischer Macht und Gewalt. In erster Linie werden in diesem Zusammenhang die Vereinigten Staaten und ihre Außenpolitik angegriffen, die sich immer wieder auf die Menschenrechte berufen. In Wirklichkeit handle es sich – so ist aus linken Kreisen immer wieder zu hören – um Kulturimperialismus im Dienste wirtschaftlicher Interessen oder aber um Dogmatismus. Unschwer ist darin die marxistisch-leninistische Kritik an den Menschenrechten zu erkennen: Die Tradition der Menschenrechte sei eine Besonderheit der christlich-abendländischen Kulturentwick-lung und Ausdruck eines individualistischen, kleinbürgerlichen Menschenbildes, das der liberalistischen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung entspreche. Damit wird die Geltung der Menschenrechte historisch und kulturell relativiert. Allenfalls könnten sie als Konvention gelten, wie dies die Stellungnahme der ehemaligen Sowjetunion und des kommunistischen China zeigt, das sich bis heute weigert, die Menschenrechtserklärung zu unterzeichnen.

Im wesentlichen sind es heute sechs philosophische Richtungen, die die universelle Gültigkeit der Menschenrechte und ihre naturrechtliche bzw. anthropologische Begründung in Frage stellen:

1.) Die marxistische Richtung (vgl. Marx, Engels, Lukacs) bzw. freudo-marxistische Frankfurter Schule – hier allen voran Horkheimer und Adorno, die in der „Dialektik der Aufklärung“ die universellen Werte der Aufklärung und damit auch die Tradition der Menschenrechte als totalitär brandmarken. Adolf Muschg sagte in einem Interview – und darin offenbart sich sein neomarxistischer Geist: «… so pflanzt heute der Kapitalismus gewisse Grundannahmen der Aufklärung weiter, Universalien, die wir gern in Anspruch nehmen für alle Menschen auf diesem Planeten. Natürlich empöre ich mich auch gern über die Verletzung der Menschenrechte und weiss doch genau, dass die Chinesen zum Beispiel sich mit gleichem Recht über viele andere Dinge empören, die in ihrem System tabu sind, in unserem nicht. […] Seit ich aber weiss, wieviel Unheil im Namen dieser Werte angerichtet wird, bin ich vorsichtig geworden. […] Das ist Wunschdenken, ebenso wie das internationale Regelwerk, von dem Sie reden.» (Tages-Anzeiger, 7.3.1997, Kultur, 82-83), gemeint sind die Menschenrechte und das Völkerrecht!

Apropos „Unheil, das im Namen dieser Werte“ angerichtet wurde: Im Gefolge der Menschenrechtserklärung in der amerikanischen Verfassung wurde die Sklaverei in diesem Lande abgeschafft. Darüber hinaus sind die Menschenrechte Teil der Verfassungen der meisten modernen demokratischen Verfassungsstaaten geworden, die – bei allen Schwierigkeiten! – ein Leben in Freiheit ermöglichen. Was hat Muschg dagegen?

2.) Die Diskursethik von Habermas, einem ehemaligen Assistenten von Adorno und Mitbegründer der „Zweiten Frankfurter Schule“: Ethische Werte und Normen werden nach Habermas im Gespräch bzw. im Diskurs ermittelt, daher „Diskursethik“, also durch Argumentation, die den Konsens anstrebt. Dem Diskurs enthoben und nicht verhandelbar sind dabei zwei Grundrechte, das Grundrecht auf politische Teilnahme am Diskurs und das Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheit eines jeden. Das ist die Privatautonomie. Ethische Werte und Normen können dann theoretisch zwar universelle Gültigkeit erlangen, aber eben nur als zeitlich gültiger Konsens.

Niemals jedoch könnten universell gültige ethische Werte und Normen, so auch nicht die Menschenrechte, anthropologisch bzw. naturrechtlich begründet werden. Eine anthropologische Begründung, so schreibt Habermas: „… führt am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt.“ (Kultur und Politik, Ffm. 1973, 89-111) Eine klare Absage also an eine anthroplogische, naturrechtliche Begründung ethischer Werte und Normen, die für alle Menschen gelten, eben weil sie als Menschen so geboren sind, und damit eine Absage an Artikel 1 der Menschenrechte und deren universelle Geltung.

3.) Liberalistische Vertragsethiken (wie zum Beispiel Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“, auch sein Buch „Political liberalism“ u.a. ) gehen von einem hypothetischen Urzustand aus, wo sich die Menschen als gleiche und autonome Individuen begegnen und sich sozusagen per Vertrag auf Regeln, Normen und Gesetze einigen, die durch das Prinzip der Fairneß, das heisst der Unparteilichkeit, ethisch gerechtfertigt sind. Dabei geht es Rawls nicht um Regeln, Normen und Gesetze, die für alle Gesellschaften unabhängig von ihren sozialen und historischen Umständen angemessen wären.

Beide Theorien, Diskursethik und Vertragsethik, haben in Didaktik und Pädagogik Einzug gehalten und beherrschen heutzutage den Ethikunterricht in Schulen und Hochschulen: Der Lehrer darf im Unterricht nicht vorgeschriebene, pädagogisch begründete und somit wissenschaftlich anerkannte Bildungs- und Erziehungsziele verfolgen; das wäre unethisch. Er muß mit dem Schüler einen sogenannten Bildungsvertrag oder einen Lernvertrag abschließen und darf dann auf die Einhaltung des Vertrags pochen. Daß ein solches Verständnis von Ethik, auf Bildung und Erziehung angewandt, völlig fehlgeht, versteht sich von selbst: Denn solche Theorien mißachten die Bildungs- und Erziehungsbedürftigkeit des Schülers, insofern sie ihn als autonomen Vertragspartner des Lehrers ansehen.

4.) Der Kommunitarismus, eine Strömung der politischen Philosophie, hat sich seit den 70er Jahren in den USA zunächst als eine Kritik der liberalen Vertragstheorien entwickelt. Seit einigen Jahren wird das Gedankengut des Kommunitarismus auch in der Schweiz, und zwar vor allem in linken Kreisen, etwa von Andreas Gross, aufgenommen, wegen seiner Betonung scheinbar traditioneller Werte aber auch in bürgerlichen Kreisen. Ein trojanisches Pferd der politischen Philosophie! Mit dem Kommunitarismus bemächtigen sich linke Kreise der Wertediskussion und er dient ihnen als Mittel, eben wegen der scheinbaren Betonung traditioneller Werte, bürgerliche Kreise über den Tisch zu ziehen.

Hinter dem Etikett des Kommunitarismus verbergen sich sehr unterschiedliche philosophische und praktische Ansätze. Einig sind sich die Kommunitarier in ihrer Kritik am Liberalismus. Diesem werfen sie vor, seine Betonung der Rechte des Einzelnen fördere einen individualistischen Lebensstil und sei verantwortlich für den heute wahrnehmbaren Wertezerfall, für die mangelnde Verantwortung der Bürger für das Gemeinwohl usw. Die Konzepte, die die Kommunitaristen dem entgegenhalten, bleiben denn auch häufig sehr diffus, und wo sie konkreter formuliert werden, versteckt sich dahinter nicht selten die Forderung nach basisnaher Bürgerbeteiligung und Graswurzel“demokratie“.

Unverblümt offen äussert sich Richard Rorty, ehemaliger 68er und Foucault-Adept, der von einigen Kritikern ebenfalls zu den Kommunitariern gerechnet wird. Rorty gilt neben Habermas als der einflussreiche politische Philosoph der Gegenwart. Was Habermas für Europa, sei Rorty für Nordamerika. Auch er ist ein entschiedener Gegner einer anthropologischen, naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte. Wahrheit und objektive Begründung interessieren ihn nicht. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, wie sie durch die Menschenrechte garantiert werden, sind für ihn bloss nützliche (pragmatische) Begriffe im politischen Kampf. Und dieser Kampf soll und muss in der Zukunft wieder „Klassenkampf“ im marxistischen Sinne sein. (Die Zeit 30/1997, 39) Das ist die grosse Gefahr der Zukunft: die (pragmatische) Instrumentalisierung der Menschenrechte für eine neomarxistische Klassenpolitik.

Die Linke, so fährt Rorty fort, habe in den vergangenen Jahrzehnten Politik vor allem als „Kulturkampf“ betrieben, genährt von Foucaults Verdacht gegen alle Normen und Institutionen. Dieser sogenannten „kulturellen Linken“ bescheinigt Rorty grosse Erfolge. Er nennt in erster Linie den radikalen Feminismus, die politisierte Schwulen- und Lesbenbewegung, die linke Minderheitenpolitik im allgemeinen. Aber angesichts der Globalisierung der Wirtschaft und der Bedrohung des Mittelstandes in den westlichen Industrienationen müsse die Linke zur Marxschen Klassenpolitik zurückfinden.

Wohin das Land steuert, wird sich auf dem Feld der Ökonomie entscheiden. Es ist eine sehr heikle Angelegenheit, dass wir nun jenen verdienstvollen Leuten, die ihr politisches Leben der Minderheitenpolitik gewidmet haben, sagen müssen: Macht mal Pause. Interessiert euch jetzt bitte einmal wieder für die Probleme weisser heterosexueller Männer, die keine Arbeit finden und ihre Familie nicht versorgen können. Arme weisse Heterosexuelle interessieren sich nicht für die theoretischen Haarspaltereien der Mittelschichtintellektuellen der kulturellen Linken.“ (Die Zeit 30/1997, 39)

Und weiter: „Das Beste, was der amerikanischen Linken passieren könnte, wäre eine Rückkehr der Akademiker in den Klassenkampf und auf seiten der Gewerkschafter ein Vergeben und Vergessen der dummen und sinnlosen antiamerikanischen Rhetorik, die die Universitäten in den späten sechziger Jahren erfüllt hatte.“ (Die Zeit 30/1997, 40)

Also: Zurück zum Klassenkampf! Im Namen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit! Wir sehen, welche Sprengkraft in der Instrumentalisierung der Menschenrechte für eine linke Klassenpolitik liegt.

5.) Die postmoderne Strömung hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die Anthropologie und eine naturrechtlich-allgemeingültige Begründung der Menschenrechte für alle Menschen in der heutigen Philosophie zum grossen Teil abgelehnt wird. Bondolfi, Leiter der Societas Ethica in Zürich, zum Beispiel schreibt, dass wir heute in einer „postmodernen Atmosphäre“ leben (Ethik in der Schweiz. Zürich 1996, 10), das heisst in einer Situation des radikalen Pluralismus, in der keine allgemeingültigen ethischen Aussagen mehr gemacht werden könnten. Die Menschen hätten heute die unterschiedlichsten Werte und Lebensformen, die alle gleich ‘gut’ seien. Kein Wert sei als allgemeingültig zu definieren. Postmodernes Denken lehnt alles Allgemeingültige und Allgemeinverbindliche als Zwang ab. Dies gilt auch für die allen Menschen gemeinsame menschliche Natur: Diese wird ebenfalls geleugnet. So gibt es postmoderne Theorien, die besagen, dass jeder sich seine eigene Identität beliebig erschaffen könne und solle, am besten innerhalb seiner eigenen Person verschiedene Identitäten annehme. Vom Feminismus her wird unter dem Begriff „gender“ oder „Geschlecht als soziales Konstrukt“ die Auflösung der Geschlechtsidentität angestrebt: Eine ‘Frau’ oder ein ‘Mann’ zu sein, seien nur patriarchalisch konstruierte, künstliche Kategorien, die es aufzulösen gelte. Solche Konzepte werden von der Philosophie her in die Pädagogik eingespeist, wo der Lehrer dann mit Psychotechniken und Rollenspielen daran arbeiten soll, die jungen Menschen in ihrem tiefsten Kern der Persönlichkeit, in ihrer persönlichen Identität, zu verunsichern und umzuerziehen. Der Schutz der Freiheit und Eigenständigkeit der menschlichen Person ist aber der Kern der Menschenrechte.

Das postmoderne Denken negiert auch die Vernunft des Menschen als eine anthropologische Gegebenheit und eines seiner vorzüglichen Wesensmerkmale. Die Vernunft sei eine „Zwangsinstanz“, die aufgrund verinnerlichter gesellschaftlicher Normen vorschreibe, wie man sich zu verhalten habe. Die Tradition der kalten und berechnenden Vernunft habe gar zum Totalitarismus geführt, wird behauptet. Was als vernünftig gelte, sei zu allen Zeiten und innerhalb der verschiedenen Kulturen ganz unterschiedlich gewesen. Gerade dieses Argument ist nicht schwer zu widerlegen, wie der Sozialphilosoph Höffe zeigt: In Wirklichkeit haben alle menschlichen Gesellschaften oder Kulturen vermöge der sozialen Vernunft des Menschen konstitutiv in einer Rechtsform gelebt, sonst hätten sie nicht überleben können. (Vernunft und Recht, Ffm. 1996, 7)

Höffe kommentiert aus der Sicht der Menschenrechte die postmoderne Abbruchmentalität wie folgt:

Das unter den sogenannten postmodernen Denkern beliebte Plädoyer zugunsten eines radikalen Pluralismus erscheint im Licht der Menschenrechte als leichtfertig. Denn wie soll lebensfähig sein, wofür votiert wird, die soziale Vielfalt, wenn es im Sozialen nichts anderes denn eine Vielfalt gibt? Gegen eine radikale Pluralisierung und eine ebenso radikale Historisierung erheben die Menschenrechte Einspruch und erklären gewisse Bedingungen für weder pluralisierbar noch historisierbar.“ (Vernunft und Recht. Ffm. 1996, 66)

6.) Bioethik (insbesondere in der utilitaristischen Ausformung durch Peter Singer). Eine Infragestellung der Menschenrechte, die man sich radikaler und fundamentaler gar nicht vorstellen kann, kommt heute aus dem Bereich der Bioethik, so von Peter Singer, teilweise auch von Leist und Bondolfi, beide Zürich. Der australische Bioethiker und radikale Tierschützer, Peter Singer, ein Verfechter des Utilitarismus, knüpft das fundamentalste aller Menschenrechte und damit der Menschenrechte überhaupt – das Lebensrecht – an das Selbstbewusstsein des Menschen. Nur der Mensch, weil er sich seiner selbst bewusst ist, kann sich in die Zukunft denken und den eigenen Tod antizipieren. Deshalb könne nur der Mensch ein Interesse am eigenen Weiterleben geltend machen und für sich ein Lebensrecht beanspruchen. Ein Tier könne das nicht. Säuglinge oder Patienten mit gewissen psychischen Störungen jedoch, die nicht über Selbstbewusstsein verfügen, stehen nach Singer auf der gleichen Stufe wie zum Beispiel Schweine und dürften deshalb getötet werden. Wir Menschen nähmen uns ja auch das Recht heraus, Schweine zu schlachten. Wenn der Mensch, wie wir das in den Menschenrechten finden, für sich ein unbedingtes und unveräusserliches Lebensrecht herausnehme, so sei das Speziezismus, eine nach Singer besondere Art des Rassismus. Die Terminologie der political correctness lässt grüssen!

Singer hat sich besonders in der sogenannten Euthanasie-Debatte starkgemacht; er will das Lebensrecht utilitaristisch vom Gesamtnutzen der Beteiligten, von Lust-Unlust-Abwägungen, abhängig machen und den Lebenswert nach dem zu erwartenden Ausmass an Lust beziehungsweise Leid bemessen.

Wir sehen, wie durch diese Auffassung das grundlegendste alle Menschenrechte – das Lebensrecht als unbedingtes und unveräusserliches Menschenrecht und damit die Menschenrechte überhaupt und die Demokratie – in Frage gestellt und abgelehnt wird.

 

Autor

Joachim Hoefele, Prof. Dr. phil., Dozent, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache

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