Befreiung durch Recht, statt Befreiung vom Recht Martin Krieles «Demokratische Weltrevolution»

1992, Ostern Moritz Nestor


   


Vortrag an der Pädagogische Schulungswoche des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM, fachliche Leitung Annemarie Buchholz-Kaiser

 

 

Ich möchte Ihnen einige Grundgedanken aus Martin Krieles «Demokratischer Weltrevolution» vorstellen. Er ist Professor für Allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht an der Universität zu Köln und Richter am Verfassungsgericht des Landes Nordrhein Westfalen.

«Die Geschichte Europas und Amerikas ist […] eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft.»[1] Mit diesen Worten charakterisiert Martin Kriele die Geschichte des Freiheitsgedankens seit den ersten griechischen Demokratien des 4. und 5. Jahrhundert v.Chr.

1992 jährt sich zum fünfhundertsten Mal die «Entdeckung» Amerikas durch Christoph Kolumbus. Die spanischen Eroberer nach ihm haben in der «neuen Welt» schrecklich gehaust. Der Mönch Bartolome de Las Casas schildert in einem erschütternden Bericht die schreckliche Ausplünderung, Versklavung und Vernichtung der Indianer, deren Augenzeuge er war.[2] – «Die Geschichte Europas und Amerikas ist eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt», betont Kriele zu recht. Und in unzähligen Beiträgen ist dieser Teil der europäischen Geschichte heute auch Anlass zu wüstesten Attacken gegen die «Kultur des weissen Mannes» schlechthin. Kaum einem jedoch ist dieses Jubiläum Anlass, die andere Seite der Geschichte zu berichten. Martin Kriele versucht es.

Anhand der damaligen Auseinandersetzungen innerhalb der katholischen Kirche, ob dieser Völkermord zu rechtfertigen sei, verdeutlicht Kriele dass auch ganz andere Strömungen in der Europäischen Geschichte zu finden sind, die Wertvolles geschaffen haben. Die spanischen Eroberer nach Kolumbus argumentierten, die Indianer seien Heiden, nicht getauft und daher keine Rechtssubjekte, mit denen man Verträge abschliessen könne. Ein persönlicher Freund von Las Casas, Francisco Vitoria (1492/93-1546), der von Las Casas über die Unmenschlichkeiten unterrichtet wurde, wurde von Karl V. beauftragt, Richtlinien für die Missionierung der Indianer zu erarbeiten. Vitoria gehörte zu den «Schule von Salamanca, die erste bedeutende Naturrechtsschule der frühen europäischen Neuzeit. Vitoria hielt den spanischen Eroberern in der Folge entgegen, «dass die Menschen in ihrer Natur prinzipiell gleich und frei seien.»[3] Er berief sich dabei unter anderem auch auf Ovid: «Non enim homini homo lupus est, sed homo».[4] Vitorias Schüler Suarez (1548-1617), ein weiterer Naturrechtslehrer aus der Schule von Salamanca, entwickelte diesen Ansatz einer Naturrechtslehre weiter.[5]

Aus der natürlichen Empörung gegen das Unrecht an den Indianern erwuchs also damals auch der erste neuzeitliche Ansatz einer Naturrechtslehre, einer Befreiung des Menschen durch Recht. Die Spanische Naturrechtslehre der «Schule von Salamanca» wurde zum Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung zu den modernen Demokratien, die Sklaverei und Leibeigenschaft überwanden. Daher sagt Kriele: «Die Geschichte Europas und Amerikas ist (…) eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft.» Das ist das Thema der «Demokratischen Weltrevolution».

Kriele nennt daher seinen geschichtlichen Abriss, wie das europäische Naturrecht 2’500 Jahre lang politische Mittel entwickelte, Unrecht und Gewalt aus «eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft» einzudämmen, eine Geschichte der «Befreiung durch Recht». Ihre Wurzeln reichen in die ersten griechischen Demokratien zurück.

«Ihre bürgerliche Freiheit und politische Selbstbestimmung wurden zur Keimzelle einer geistigen und politischen Weltrevolution, in der wir noch mitten drin stehen. In jenen Anfängen galten Freiheit und Selbstbestimmung noch nicht für alle; Sklaverei, der Ausschluss der Frauen, die Verachtung der Barbaren waren noch selbstverständlich. Aber griechische Denker fassten schon […] den Gedanken, dass dem Menschen als Menschen – und nicht nur als Bürger der polis – Rechte zustehen und dass das Ideal der Zukunft die Freiheit für alle sei.»[6]

Einen zweiten Anlauf zur Demokratie machte das republikanische Rom, ebenfalls Sklavenhaltergesellschaft, aber bereits mit Möglichkeiten der Volkswahl und der Gesetzgebung durch das Volk. Rom hinterliess, «Rechtsinstitutionen, die […] bis auf den heutigen Tag das geltende Recht in grossen Teilen Europas mitprägen.»[7]

«Der dritte Spiralkreis der weltgeschichtlichen Entwicklung zur Demokratie begann im 12. Jahrhundert […] und wurde in der Neuzeit zuerst in England[8] zur Lebensform eines grossen Territorialstaates. Das englische Vorbild von Rechtsinstitutionen der Gewaltenteilung und der judiziellen Freiheitsrechte verknüpfte sich in der amerikanischen und der Französischen Revolution mit der naturrechtlichen Idee der Menschenrechte und damit dem Prinzip von Freiheit und Gleichheit.[9] Aus dieser Verschmelzung von gewaltenteilendem Verfassungsstaat mit naturrechtlichen Impulsen entwickelte sich eine revolutionäre Dynamik, die die grössten Teile Europas und grosse Teile der übrigen Welt zu demokratischen Verfassungsstaaten umgewandelt hat.
Die Demokratien überwanden Sklaverei, Leibeigenschaft, Judendiskriminierung, führten zur Gleichstellung der Frauen, zu Sozialstaatlichkeit, allgemeiner Schulbildung, zur Verbesserung des Rechtssystems, zur sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung. […] Die Geschichte der demokratischen Revolution ist die Geschichte des Mündigwerdens des Menschen. An die Stelle des `Recht des Stärkeren` tritt die Achtung vor der Gleichberechtigung des anderen, an die Stelle von Parteilichkeit die Rechtsidee der Unparteilichkeit, an die Stelle von Willkür der Rechtszustand, an die Stelle von Vormundschaft die Selbstbestimmung an die Stelle der Despotie die rechtlich gesicherte Freiheit. […] Die Geschichte der Demokratischen Weltrevolution ist die Geschichte der allmählichen Durchdringung und Umgestaltung des Rechts durch das Naturrecht, das heisst durch das Recht, das der Natur des Menschen gemäss ist.»[10]

Dieses Naturrecht, das «der Natur des Menschen gemäss ist», fusst auf der unveräusserlichen natürlichen Würde des Menschen: Der Mensch darf nicht Mittel zum Zweck werden. Weil er von Natur aus Person ist und alle Möglichkeiten, Mensch werden zu können, in sich vereint, hat er das natürliche Recht auf Achtung dieses Menschentums – und die Pflicht, dieses im Mitmenschen zu achten. Hieraus leitet die Aufklärung die Liebe zu sich und die Liebe zu den Mitmenschen ab und sieht in dieser «gegenseitigen Menschenliebe» (Kant) die Basis sowohl für die Erziehung als auch für die Staatsverfassung. Kant spricht daher im Namen der ganzen Aufklärung das grosse Wort als natürliche moralische Grundüberzeugung aus: «Ich will in meiner eigenen Person nicht die Würde der Menschheit verletzen.»

Im Gegensatz dazu fehlt den Staaten, die auf dem Marxismus aller Schattierungen aufbauen, dieser natürliche ethische Ausgangspunkt. Wie weiter unten noch gezeigt werden soll, verspottet er ihn sogar und bekämpft ihn scharf.
Das auf der Menschenwürde basierende Naturecht aber,

«das den Menschen und den Völkern Freiheit zur Selbstgestaltung ihres Lebens gewährleistet und diese Freiheit zugleich so beschränkt, dass die anderen Menschen und Völker die gleiche Freiheit geniessen, ist die der Natur des Menschen allein gemässe Gestalt des Zusammenlebens.»[11]

Menschenrechte können also nicht in jedem politischen System verwirklicht werden.
Dass der Massenmörder Stalin während der grossen Säuberungen Menschenrechte verkündete, ist zynisch. Da sie nicht an reale Demokratie und Gewaltenteilung gekoppelt waren, waren sie toter Buchstabe. Man kann in der Frage der Menschenrechte international wie national nicht einen Standpunkt einnehmen der «jenseits des Gegensatzes von Demokratie und Despotismus»[12] im Niemandsland jenseits von Recht und Unrecht liegen soll. Es gibt heute westliche Stimmen, die verlangen, die Demokratie müsse gegenüber dem Kommunismus mehr «Vertrauen» entwickeln. Man müsse in sich «Feindbilder abbauen», ob begründet oder nicht. Damit ist aber nur das

«Bewusstsein der uns entgegengebrachten Feindschaft überwunden; diese selbst besteht freilich fort wie zuvor. In dem Masse, in dem uns diese Selbstmanipulation des Bewusstseins gelingt, werden die Feindbilder auf unsere westlichen Verbündeten projiziert […]: Der Freund steht in Moskau, der Feind in Washington. […] diejenigen, die sich der Drehung der Freund-Feind-Achse um 180 widersetzen, werden […] zum gehassten Feind.»[13]

Nach der Doktrin des «real existierenden Marxismus» sei die Demokratie ein Mäntelchen von Scheinfreiheit, das der Kapitalismus sich umhänge, wenn es ihm gutgehe – gemeint ist, wenn die Profite fliessen. Der Faschismus aber sei die Staatsform, die sich der Kapitalismus schaffe, wenn es den Profiten schlecht gehe. So haben die Kommunistischen Parteien Hitler begrüsst und gemeint, dies zeige, dass die der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen bald zusammenbrechen werde und damit die proletarische Revolution und die kommunistische Machtübernahme mit «historischer Notwendigkeit» komme. Ziel der sich auf Marx berufenden Revolutionsbewegungen ist daher die Zerschlagung des – von Marxisten wie Nationalsozialisten übrigens gleichermassen gehassten – «bürgerlichen Staates», das heisst des gewaltenteilenden, demokratischen Rechtsstaates.
Kriele hat recht. Es kommen einem heute, 20 Jahre nach den Studienjahren, als der Marxismus zum guten Ton eines «fortschrittlichen» Intellektuellen gehörte, die Texte von damals in den Sinn: Bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, las man damals bei Marx und Lenin, seien der «zum Gesetz erhobene Wille»[14] der «herrschenden Klasse», woraus geschlossen wurde: «Daher haben Sozialisten das Gesetz nur so lange zu beachten, wie es ihnen tunlich erscheint», so steht es bei Marx.[15] Oder, auch nach Marx: «Gesetzlichkeit so lange und so weit sie uns passt.»[16] Die Despoten jener kommunistischen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang, die jeweils Marx in ihrer eigenen Lesart zur Staatsdoktrin erhoben, zitierten gerne jene Marx-Stellen, gemäss denen Humanismus, Milde und Menschlichkeit als «Phrase»,[17] «Sentimentalität» oder als «antirevolutionäre Untugend»[18] verachtet werden.

Für die «gegenseitige Menschenliebe», die – wie zum Beispiel bei Kant – für die politische Aufklärung die anthropologische Basis des gerechten Zusammenlebens war, und die als Idee der Menschenwürde, zusammen mit Gewaltenteilung und Demokratie, die Basis unserer modernen Verfassungsstaaten bildet, für diese Liebe des Menschen zu sich und seinen Mitmenschen finden sich bei Marx wenig schmeichelhafte Worte: «Liebessabbelei» und «lumpige Sklavendemütigung».[19] «Bei uns ist eher Hass nötig als Liebe»,[20]empfiehlt Marx.

Ein natürliches Menschenrecht, also etwas natürlich Gerechtes kennt der Marxismus nicht, ja, lehnt es ausdrücklich und scharf ab. So liest man bei Marx und Engels:

«Wir weisen demnach eine jede Zumutung zurück, uns irgendwelche Moraldogmen als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehen. Wir behaupten dagegen, alle bisherige Moraltheorie sei das Erzeugnis […] der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslage. Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft.»[21]

Marx hiess «als Revolutionär jedes Mittel recht, das zum Ziele führt, das gewaltsamste, aber auch das scheinbar zahmste.»[22] Lenin auch: «Wir sagen, dass unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist».[23] Damit ist der Bruch mit den naturrechtlich begründeten Menschenrechten vollzogen. Der Zweck heiligt allein die Mittel.
Hatte die politische Aufklärung zur Befreiung vom absolutistischen Herrschaftssystem aufgerufen, indem sie verkündete, dass kein Mensch Mittel zum Zweck eines anderen sein dürfe, hatten sie eine politische Philosophie entwickelt, einen Rechtszustand einzurichten, in welchem der Bürger in Sicherheit und Freiheit leben kann und begann dadurch mühsam die Befreiung von Sklaverei, Leibeigenschaft, Absolutismus, von Folter und Todesstrafe und Arbeitszwang – die Staaten der «konkreten Marxisten» (Bloch) führten wieder zurück in den jetzt perfektionierten und mit den technischen Mitteln des 20. Jahrhunderts auf die Spitze getriebenen totalitären Absolutismus, indem sie die naturrechtlichen Fundamente wieder einrissen, auf denen sich die bisherige Befreiung des Menschen vollzogen hatte. So wurde der kommunistische Totalitarismus zur weltweiten Bedrohung der schon lange vor der Aufklärung einsetzenden «Demokratischen Weltrevolution».

Kaum etwas hat so grosse Bedeutung wie die Tatsache, dass der Marxismus – im Gegensatz zu anderen philosophischen Gedankengebäuden – keine moralische Basis hat. Schon Kant hatte diese Unmoralität charakterisiert: «Warum hat noch nie ein Herrscher gewagt, frei heraus zu sagen, dass er gar kein Recht des Volkes ihm gegenüber anerkenne»? Und er gab die Antwort: «weil eine solche öffentliche Erklärung alle Untertanen gegen ihn empören würde».[24] Der Marxismus leiht sich aus dem gleichen Grund seine Rechtfertigung von der politischen Aufklärung. Im Namen von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit geschehen Mord und Totschlag oder werden angestrebt. «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit», sagte Kant. «Die sogenannte ‘zweite Aufklärung’, als die sich der Marxismus versteht, ist der Rückgang des Menschen in die selbstverschuldete Unmündigkeit»,[25] sagt Kriele.

Marx erstrebte im Namen der Freiheit die bewusste und planmässige Errichtung der Diktatur: «Wir sind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen.»[26] «Wir haben es nie verheimlicht. Unser Boden ist nicht der Rechtsboden, es ist der revolutionäre Boden»,[27] so Marx. Die Idee der Gewaltenteilung, einer der drei Grundpfeiler des demokratischen Rechtstaats, ist für Marx eine «wurmstichige» Theorie «mit abgetragenen Phrasen und […] Fiktionen»[28] und er empfiehlt im Gegensatz zu allen Errungenschaften der politischen Aufklärung die Diktatur als Voraussetzung der dann angeblich einmal kommenden Freiheit, wenn er schreibt:
«Die Voraussetzung für eine ‚freie Regierung‘ ist nicht die Trennung, sondern die Einheit der Gewalten. Die Regierungsmaschinerie kann gar nicht einfach genug sein. Es ist immer die Kunst der Spitzbuben, sie kompliziert und geheimnisvoll zu machen.»[29]

Man halte sich vor Augen, was diese Ungeheuerlichkeit bedeutet: Die «Einheit der Gewalten», das ist der Herrscher, der zugleich Richter, Gesetzgeber und Polizist in einem ist. Das ist der Despot, der «legibus absolutus», nicht an Recht und Gesetz gebunden ist. Hier knüpft Marx an den Geist jenes berühmten Ausspruchs von Ludwig XIV. an: Der Staat, das bin ich. So führt Marx hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück ins Zeitalter des Absolutismus, eine wahre Gegenaufklärung oder eigentliche «Konterrevolution», wie Kriele es daher nennt.

Mit Gewalt und offen verkündetem Terror sollen die Bedingungen herbeigeschossen werden, die dann eines nimmer kommenden Tages den «neuen Menschen» entstehen lassen würden. «Es kann dies natürlich zunächst nur geschehn», schreiben Engels und Marx 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei, «vermittelst despotischer Eingriffe»:[30] «Gleicher Arbeitszwang (sic!) für alle. Errichtung industrieller Armeen (sic!), besonders für den Ackerbau.»[31] Trotzki und Lenin erweiterten dieses Terrorprogramm des «Kommunistischen Manifests» durch die Erfindung der «Konzentrationslager in ihrer bis heute gebräuchlichen Gestalt».[32] Lenin nennt in seinem harmlos klingenden Aufsatz «Wie soll man den Wettbewerb organisieren?»[33] den «alten Menschen» einen «Auswurf der Menschheit, diese rettungslos verfaulten und verkommenen Elemente, diese Seuche, diese Pest, diese Eiterbeule».[34] Für sie dürfe es «keine Schonung geben. Kampf auf Leben und Tod».[35] Es gehe um die «Ausrottung und Unschädlichmachung der Parasiten (Der Reichen und Gauner, der Tagediebe und Hysteriker unter der Intelligenz u.s.w. u.s.f.)».[36] Ziel sei die «Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen – den Gaunern, von den Wanzen -den Reichen».[37]

Am 5. September 1918 erlies der Rat der Volkskommissare das «Dekret über den roten Terror».
«Neben Massenerschiessungen gebot es auch ‘[…] Die Sowjetische Republik gegen Klassenfeinde mittels derer Isolierung in Konzentrationslager abzusichern’».[38]

«Der Stalinismus war nicht ein Abweichen von Lenins System,» sagt Kriele daher, «sondern seine konsequente Fortentwicklung. Der Nationalsozialismus hat das politische System in seinen Grundzügen kopiert […]. Er hat die Möglichkeiten, die die totalitäre Staatsstruktur bietet, im technisch perfekten Ethnozid bis zum äussersten ausgeschöpft.»[39]

Dienten die Konzentrationslager von Trotzki und Lenin dem Terror und der Sklavenarbeit, so hat sie Hitler «durch den Typus des Vernichtungslagers ergänzt und überboten.»[40] «Es ist aber die Staatstruktur [Allmacht des Staates und Rechtlosigkeit des Menschen], die das System der Konzentrationslager und der Vernichtungslager ermöglicht.», sagt Kriele.[41] Diese aber sei beim bolschewistischen wie beim nationalsozialistischen System «in ihren wesentlichen Grundzügen gleich»,[42] wie Kriele betont.

«Die Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens [aber] hängen entscheidend von Recht und Verfassung ab»,[43] sagt er. Deren lebensspendendes Fundament müsse nach Kant, auf den er sich beruft, eine auf der natürlichen Würde des Menschen basierende Ethik sein. Die sozialistische Gegenrevolution habe genau das Gegenteil zum zentralen Dogma erhoben. Seit Marx behaupte sie, «die Produktionsverhältnisse bildeten die Basis und Recht und Verfassung seien nur ihr `ideologischer Überbau`.»[44]

Das grösste und blutigste – allerdings für die Opfer unfreiwillige – Experiment, in welchem diese Behauptung mehr als schlagend widerlegt wurde, haben wir in der Geschichte der Sowjetunion erlebt. Mehr als drei Generationen Menschen hat die Geschichte dort nun Zeit gehabt, um einen «neuen Menschen» auf der Basis der «neuen Produktionsverhältnisse» entstehen zu lassen, wie dies Marx vorausgesagt hat. Stattdessen entstanden: Konzentrationslager, Sklavenarbeit, Massendeportationen, Spitzelsystem, Terror – ein Meer voll Blut und Tränen.

Angesichts dieses katastrophalen Scheiterns der Marxschen Strategien und denen seiner Schüler, verhalten sich viele «fortschrittliche» Intellektuelle in Ost und West wie der Kardinal im Galilei-Prozess: Sie wollen nicht durchs Fernrohr schauen: Die einen fordern Entstalinisierung, wenige gehen soweit, das Übel schon bei Lenin zu suchen, die wenigsten sehen den Beginn bei Marx, und selbst wenn einige halbherzig diesen kritisieren, so benutzen sie dazu auch nur Autoren wie Foucault, die Marx nur folgerichtig weiterdenken.

«Als Autorität gilt» diesen Intellektuellen, sagt Marin Kriele, «nur, wer `dazugehört`, wer links, progressiv, sozialistisch orientiert ist: das Kollektiv von `Meinungen` trägt sich selbst und schirmt gegen den Sachbezug des Denkens ab. Die sozialistische Gegenrevolution erzeugt den Glauben, im Einklang mit der Geschichte zu handeln und deshalb in einem höheren Sinn immer im Recht zu sein.»[45]

So sei ein «Drittel der Menschheit durch die sozialistische Despotie unterjocht»[46] und in der übrigen Welt gewährten ihr weite Bereiche des intellektuellen Lebens, der Medien, Literatur, Bildung Erziehung, und Theologie – wenn auch vielleicht zum Teil widerwillig – moralische Unterstützung.

Warum aber will der Marxismus die Demokratie abschaffen? Warum will er die mühsam errungenen Teile von Freiheit wieder einreissen? Die Antwort hierauf gibt uns die marxistische Interpretation der Geschichte, sagt Kriele. Die Französische Revolution bestand nämlich genaugenommen aus zwei Revolutionen, bemerkt er. In der ersten von 1789 sei die absolutistische Herrschaft gefallen, was zur ersten Verfassung Frankreichs mit Gewaltenteilung, Demokratie und Menschenrechten geführt habe. Sie brachte alle Ansätze, wie «Freiheit, Gleichheit Brüderlichkeit» dadurch hätten verwirklicht werden können, dass man einen Rechtszustand herstellte, der allen Bürgern Freiheit und Achtung ihrer Menschenwürde bot. Hier sei die Befreiung des Menschen von Gewalt und Despotie durch Recht angestrebt worden.

Die zweite Phase der Französischen Revolution, die in die Diktatur der Jakobiner führte, habe diesen mühsam erkämpften Rechtszustand wieder weggefegt: Die Jakobiner hoben die Gewaltenteilung, die vom Absolutismus weggeführt hatte, wieder auf, indem sie die Rechtspflege in die Hände des Konvents legten. Man habe eine allgemeine Kollektivierung vollzogen und alles zentralisiert: Regierung, Gesetzgebung, Verwaltung, Religion, Sprache und den gesetzlichen Mord in Gestalt des «revolutionären Schreckens». Die alten Gemeindeverwaltungen seien durch die Staatspräfektur ersetzt worden, die von Paris aus alles gelenkt und alle Initiative von unten gelähmt habe. Der Diktator Robespierre, der nun hieraus erwuchs, habe einst grosse Worte gegen die Einrichtung der Todesstrafe gesprochen; jetzt habe er die Guillotine zum «Altar des Vaterlandes» erhoben. Diese neu errichtete Diktatur habe sich ihren Berechtigungsausweis von der Aufklärung geliehen, betont Kriele: Man habe nun im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gemordet. Der Terror habe vorgegeben, noch «weitergehen» zu wollen und nicht nur die absolutistischen Autoritäten sondern alle Autoritäten abschaffen zu wollen, keine Vorschriften mehr gelten zu lassen. Im Namen von noch mehr Freiheit seien alle Freiheiten durch Diktatur wieder abgeschafft worden, um eine noch bessere künftige Freiheit anstreben zu können – habe man vorgegeben.

Marx habe in seiner Analyse der Geschichte an diese Ideen der zweiten Französischen Revolution angeknüpft. Wie für die Jakobiner sei für ihn die Revolution von 1789 ebenfalls zu wenig weit genug gegangen. Denn sie habe etwas hinterlassen, was Marx als Haupthindernis auf dem Weg zur «wirklichen» Freiheit, das heisst zum Kommunismus, ansah: den «bürgerlichen Staat».

Sie sei nur eine «bürgerliche» Revolution gewesen, sagt Marx über die erste Französische Revolution, die zwar soweit revolutionär gewesen sei, als sie den Absolutismus überwand. Als jedoch die Bürger selbst an der Macht gekommen seien, hätten sie, so Marx, mit dem «bürgerlichen» Staat lediglich die Herrschaft ihrer Klasse zementiert und darauf verzichtet, weiter in Richtung «wahre» Freiheit zu schreiten. So sei der «Bürger» zum Schimpfwort geworden, sagt Kriele. Für die politische Aufklärung jedoch sei «bürgerlich» etwas völlig anderes gewesen. Kant verstand darunter den Rechtszustand der unter der Verfassung lebenden Menschen und deren Rechtsgleichheit, und zwar als «Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.»[47]Die Verfassung sei nach Kant nichts anderes als praktische Ethik, also die Anwendung des höchsten Moralprinzips auf die konkreten Fragen des Zusammenlebens, oder mit Kant:

«Ein jeder Mensch hat rechtmässigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch gar von sich selbst) bloss als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit) […] Der Mensch ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.»[48]

Dass mit der ersten Französischen Revolution die ungerechten Eigentumsverhältnisse kaum angetastet worden sind, ja durch ein Naturrecht auf Eigentum scheinbar geheiligt wurden, wäre noch kein Grund gewesen, den «bürgerlichen Zustand», der, wie Kriele sagt, in Wirklichkeit der Beginn der praktischen Verwirklichung der Menschenwürde gewesen sei, wieder abzuschaffen, statt ihn weiter auszubauen

Marx aber argumentierte, die bürgerliche Klasse, die durch die Revolution an die Macht gekommen sei, habe die «Feudalbande, die den Menschen an seine natürlichen Vorgesetzten (sic!) knüpften, unbarmherzig zerrissen»,[49] habe «die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt»,[50] wie es im Kommunistischen Manifest heisst. Wie Marx angesichts des Absolutismus’ und der völligen Rechtlosigkeit vor der Französischen Revolution die «Würde» und «Freiheit» im Feudalismus habe zurückfordern können, sei fast unverständlich, wüsste man nicht, sagt Kriele, dass Marx gerade mittels der Diktatur den Menschen frei machen wollte. Wer allerdings feudale Rechtlosigkeit in «Freiheit» und «Würde» umdeutet, so Kriele, dem könne man kein Wort mehr glauben. Man müsse sich nur einmal klar machen, welche Rechtszustände vor der Französischen Revolution geherrscht hätten: Der absolute Herrscher sei über dem Recht gestanden, habe konnte «Toleranzen» gewähren und, wenn sie ihm nicht mehr gepasst hätten, wieder nehmen können. Das sei Despotie und nicht «Freiheit» und «Würde» gewesen. Mit dem Edikt von Nantes seien 1598 die Hugenotten in Frankreich offiziell toleriert worden. Jahrzehnte später sei diese «Toleranz» nicht mehr politisch opportun gewesen und der Despot habe mit dem Edikt von Fontainebleau im Jahr 1685 die Hugenotten zur Jagd freigegeben, was dazu geführt habe, dass ein Viertel Frankreichs entvölkert und die Wirtschaft ruiniert worden sei. Gegen solcherart «Toleranzen», die der Despot gab und nahm, wie es ihm «beliebte», sei die Aufklärung Sturm gelaufen. Sie wollte keine Toleranzen von Adels Gnaden, sondern den Rechtszustand und die Rechtsgleichheit. Deshalb habe sie eine gewaltenteilende Verfassung mit Menschenrechte als Schutz des Individuums vor dem Staat errichten wollen. Und die «Geschichte des modernen Verfassungsstaates ist eine Geschichte der Fortentwicklung dieses Ansatzes»,[51] resümiert Kriele.

Wenn die Aufklärer – nach Marxens Auffassung – zu wenig weit gegangen seien, um wirkliche Freiheit – Kommunismus – zu errichten, dann sei logischerweise der gewaltenteilende demokratische Verfassungsstaat das letzte Hindernis, das zerstört werden müsse, damit der Mensch «wirklich» frei werde für die «klassenlose Gesellschaft» des Kommunismus. Wie die Jakobiner habe auch Marx sich seinen Berechtigungsausweis für die Diktatur aus den Idealen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geliehen – das heisse aber, sagt Kriele, genau von der Demokratie, deren ärgster Feind er werden sollte. Dies mache die Verlogenheit des Freiheitsgeredes bei Marx aus, denn er argumentiere: Wir werden euch Freiheit dadurch geben, dass wir euch von der Freiheit befreien werden, die euch eigentlich – ihr wisst’s nur nicht – unterdrückt.

Kriele weist auf den System-Unterschied hin: «Die Machtansprüche des arischen Herrenmenschen sprachen einen anderen, anspruchsloseren Menschentypus an, der sich freute, durch kollektives Mitläufertum am ‘Recht des Stärkeren’ teilhaben zu dürfen.»[52] Das System von Marx und der «konkreten Marxisten» jedoch habe durch den verführerischen Zungenschlag gelockt, eine «höhere» Freiheit zu versprechen. Der Marxismus legitimiere sich, sagt Kriele, «aus den Zielvorstellungen der politischen Aufklärung selbst, die es zwar suspendiert und ins Gegenteil pervertieren, aber die es realistisch herbeizuführen verspricht. Es fand und findet deshalb auch `idealistische` Fürsprecher und Bundesgenossen vor allem unter den Intellektuellen in Ost und West.»[53]

Das bisher Gesagte ist ein kleiner Einblick in Martin Krieles «Demokratische Weltrevolution». Allerdings genau jener, der in der weltpolitischen Auseinandersetzung des Zwanzigsten Jahrhunderts das Zentrum bildet. Im Mittelpunkt stand immer der Gedanke, dass es ein Humanum gibt, die Würde des Menschen, etwas natürliches Gerechtes. Auf ihm ruhen die Ansätze der modernen gewaltenteilenden Verfassungsstaaten. Die kommunistischen Gesellschaftsauffassung aber ist im Gegensatz dazu unnatürlich, weil sie diese naturrechtliche Basis der Menscnenwürde nicht anerkennt.

Obwohl der Marxismus gerade jede moralische Begründung des menschlichen Zusammenlebens ablehnt, nehmen seine Vertreter der verschiedensten marxistischen Richtungen dennoch heftig für sich in Anspruch, die moralisch beste Sicht zu besitzen: die Vollendung des Endziels der Geschichte durch den «wissenschaftlichen Materialismus’» anzustreben. Der entscheidende Punkt, Kriele legt den Finger unerbittlich, ist aber ein unüberbrückbarer Widerspruch: Nach Marxistischer Doktrin müssen zuerst die -unbestreitbar vorhandenen, wenn auch vielleicht nicht dort, wo Kommunisten sie sehen – sozialen Ungerechtigkeiten beseitigt werden, ehe Freiheit gewährt werden könne. Und erst durch und nach der «Diktatur des Proletariats» könnten Freiheit, Menschsein, Menschenwürde entstehen. Dem roten Terror aber seien alle Mittel recht. Da die bestehende Gesellschaft die sozialen Ungerechtigkeiten hervorgebracht habe, brauche man sich an keine ihrer Spielregeln zu halten, auch nicht an die unverbrüchlichen Grund- und Menschenrechte, an Sittlichkeit, Anstand usw. – das alles sei nur bürgerliches Recht. Das aber laufe darauf hinaus, dass zuerst die sozialen Menschenrechte durch Terror «verwirklicht» werden müssten, während Freiheit und Würde zweitrangig seien. Im Namen der «sozialen Freiheit» werde so die Würde, Freiheit, und Gewaltenteilung in der bestehenden Gesellschaft abgeschafft und durch eine absolutistische Alleinherrschaft ersetzt, welche die «ökonomische Gerechtigkeit» durch Terror erzwingt. Daraus solle dann auch noch der «neue Mensch» entstehen.

Bleibt zuletzt noch, darauf hinzuweisen, dass Krieles Auseinandersetzung mit Marx sich nicht auf das philosophische Gesamtwerk von Marx bezieht. Es geht Kriele konkret um die Auseinandersetzung mit den weltweiten kommunistischen Staaten, mit der Sozialistischen Internationalen unter dem Diktat der autoritären Marxisten, vor allem der Moskauer Bolschewiki, und mit den kommunistischen Parteien. Sie alle hatten jeweils Marx in einer eigenen Lesart zur totalitären Dokrin erhoben und bekämpften sich scharf im Bruderkampf – jeweils unter Berufung auf Marxsche Orignalzitate. Ihre grundlegenden Theorien und Strategien waren alle eine konkrete Umsetzung der Marxsche Revolutionstheorie und seines «historischen Materialismus» zum Klassenkampf innerhalb der kapitalistischen Staaten und letztlich auch zur Herbeiführung der Weltrevolution, um das Lager der kapitalistischen Staaten zu zerschlagen. In Krieles «Demokratischer Weltrevolution» geht es also um die staatsrechtliche und politische Auseinandersetzung mit dieser weltweiten Bewegung «konkreter Marxisten» (Bloch), der zweifellos aus der Anwendung des historischen und dialektischeren Materialismus von Karl Marx bestand.

Es gab und gibt auch noch einen anderen Marx. Und es gab und gibt auch Marxisten und marxistische Parteien und Bewegungen, die sich nicht nacktem Nützlichkeitsdenken verschrieben, sondern eine Synthese aus Marxismus und Humanismus bzw. Naturrecht und Menschenwürde vollzogen, wie zum Beispiel die jugoslawischen Praxisphilosophen im Ostblock (Petrovic, Markovic und andere) oder Erich Fromm, Ernst Bloch und andere im Westen. Nur dass diese zahlenmässig eher kleine Marxismus-Strömung von der weltweiten Allianz der autoritären Marx-Epigonen heftig bekämpft, übel diffamiert und nicht selten ans Messer geliefert wurden. Im Schatten der weltweit dominanten autoritären und totalitären Marxisten und führten sie leider ein von Ost und West zu verantwortende Schattendasein. Von den westlichen Antikommunisten wurden sie, wenn überhaupt beachtet, höchstens als Kalter-Krieg-Propaganda willkommen.

Ernst Bloch, der dafür die autoritär marxistische DDR verlassen musste, hat nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder darauf hingewiesen, dass die «Haltung manch allweg konkreter Marxisten zum Naturrecht erstarrt, selbst vor seinem fortwirkenden revolutionären Gehalt. Nicht viele […] gaben dem Naturrecht, das doch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit setzte, die rechte Ehre».[54] Es gebe einen festen naturrechtlichen Boden, auf den auch Marx aufgebaut habe: Die «Intention auf aufrechten Gang, auf menschliche Würde». Marx sei mit dem «totalen Rechtsrelativismus und der historischen Schule» nicht einverstanden gewesen. An der Wiege des Marxismus, so Bloch,

«stand also nicht nur die ökonomische Parteilichkeit für die Mühseligen und Beladenen, sondern doch auch die naturrechtliche für die Erniedrigten und Beleidigten – als Parteilichkeit, die sich auf den Kampf menschlicher Würde, auf solch konstitutives Erbe aus dem klassischen Naturrecht, versteht und keiner Obrigkeit […] den angestammten den angestammten oder neureproduzierten Kamm schwellen liess.»Das klassische Naturrecht habe «seine individualistisch-demokratische Züge gewiss eng mit dem (damals progressiven) Privateigentum an Produktionsmitteln verbunden».[55]

Diese Verbindung von Recht und Privateigentum sei ein Irrtum. Aber Marxens Ablehnung der historischen Rechtsschule stamme aus einem «realen Humanismus»,[56] der auch Ausgangspunkt seiner späteren «ökonomischen fundierten Arbeit»[57] sei. Und er zitiert jene berühmte naturrechtliche Stelle bei Marx, alle Kritik der bestehenden ungerechten Verhältnisse ende «mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen sei.»[58] Hier stehe bei Marx der «Mensch im Mittelpunkt – ein Zentrum also des klassischen Naturrechts».[59] «Folglich wäre denkbar, vor solch Humanem, dass auch das […] allzu Individuelle, wie es manchesterlich-kapitalistisch bedingt war, nur die Eierschale am klassischen Naturrecht ausmacht».[60] Der Marxismus beerbe «gerade in Ansehung der Erniedrigten und Beleidigten manchen Reichtum […] im Naturrecht»,[61] ja er finde «streckenweise ein sehr Unabgegoltenes darin».[62]

Es gehe also, sagt Bloch mit den Worten von Marx in einem Brief an Ruge 1843, «nicht um einen grossen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft», sondern «um die Vollziehungder Gedanken der Vergangenheit». «Blochs Liebe gilt dem aufrührerischen, wider menschenunwürdige Verhältnisse protestierenden Aspekt, mit deutlichem Seitenhieb auch gegen dogmatisch-marxistische Herrschaftsverhärtungen. „Daß weder menschliche Würde ohne ökonomische Befreiung möglich ist noch diese, jenseits von Unternehmern und Unternommenen jeder Art, ohne die Sache Menschenrechte.“[63] Es ist das Pathos der Freiheit der Person, welches als Sprengkraft gegen Obrigkeiten wirkt, erfüllt von der Ahnung des wahrhaft Humanen. Mit dem Naturrecht von unten verbindet sich die Absage an die Gerechtigkeit von oben, die jedem austeilend seine Ration vorschreibt. Gerechtigkeit ist also wesentlich das Produkt eines historischen Kampfgeschehens als Antwort auf Rechtlosigkeit und Unterdrückung. […] „sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden“[64].»[65]

«Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch mit den Dingen zur Ware entfremdet ist und nicht nur zur Ware, sondern zur Nullität an Eigenwert. Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie, das ist die Formel».[66]
An anderer Stelle wird Bloch noch deutlicher: Dass der Marxismus die Freiheit und Würde der menschlichen Person aus dem Naturrecht nicht aufgenommen hat, hat zum totalitären Terror des Stalinismus geführt. Der Sozialdemokrat Kriele geht mit Blocks Zusammendenken von Marxismus und Naturrecht einig, wenn er den Finger darauf legt, dass die kommunistische Theorie, man müsse zuerst die sozialen Menschenrechte verwirklichen, ehe man Freiheitsrechte geben könne, noch immer überall auf der Welt dazu geführt habe, dass weder die sozialen Menschenrechte noch die Freiheitsrechte verwirklicht worden sei.
Ist dem noch etwas hinzuzufügen? Dass die «demokratische Weltrevolution» immer noch kaum eingelöst ist, ist eine andere Diskussion. Meine Ausführungen sollten dazu anregen, sich selbst mit Martin Kriele auseinanderzusetzen.

 

 

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Literatur

 

Bloch, Ernst. Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt/Main 1983

Ernst Bloch Zentrum. Wer ist Ernst Bloch. URL: https://www.bloch.de/wissenschaft/wer-ist-ernst-bloch/philosophie (eingesehen 1.8.2020)

Buhr, Manfred. Immanuel Kant. Leipzig 1989

Hanke, Lewis. The Spanish struggle for justice in the conquest of America. Philadelphia 1949

Kaminski, Andrzej J. Konzentrationslager 1869 bis heute. Zürich 1990

Kriele, Martin. Befreiung und politische Aufklärung. Freiburg/Basel/Wien 1980

Kriele, Martin. Die Demokratische Weltrevolution, München/Zürich 1988

Kriele, Martin. Einführung in die Staatslehre. Reinbek 1975

Lenin, Wladimir I. Staat und Revolution. In: Ders. Ausgewählte Werke. Band 2. Stuttgart 1952

Lenin, Wladimir I. Wie soll man den Wettbewerb organisieren? In: Ders. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band II. Berlin/Ost 1989

Löw, Konrad. Marxismus-Quellenlexikon, 2. ergänzte Auflage. Köln 1985

Marx, Karl & Engels, Friedrich. Marx-Engels-Werke (MEW)

Marx, Karl & Engels, Friedrich. Das Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin (Ost) 1973

 

 

Anmerkungen

 

[1]      Kriele, 1980, S. 7
[2]      Kriele verweist dazu auf Hanke, 1949
[3]      Kriele, 1988. S. 23
[4]      Zu Deutsch: «Der Mensch ist nämlich für den Menschen nicht Wolf, sondern Mensch.»
Vgl.:de Vitoria, F. De Indis. Sectionis tertia. De titulis legitimis, Nr. 3; Zitiert nach: Kriele, 1988, S. 23
[5]      Hugo Grotius (1583-1645), einer der bedeutendsten Repräsentanten des neuzeitlichen naturrechtlichen Denkens stützte sich der Sache nach und ausdrücklich auf die spanische Naturrechtslehre, insbesondere auf Vitoria und dessen Schüler, Vasques, Suarez und Covarruvias, die er weiterentwickeln wollte.
[6]      Kriele, 1988, S. 9
[7]      Kriele, 1988, S. 10
[8]      Zu den geschichtlichen Grundlagen des englischen Parlamentarismus siehe Kriele, 1975, insbes. §§ 26ff., 31f., 35f.
Vgl. auch: Kriele, 1988, S. 10
[9]      Vgl. Kriele, 1988, S. 11.
Eingehender in: 1975, §§ 37ff., 66ff.
[10]    Kriele, 1988, S. 11
[11]    Kriele, 1988, S. 11f.
[12]    Kriele, 1988, S. 168
[13]    Kriele, 1988, S. 169
[14]    MEW, Band 4, S. 477
[15]    Löw, 1985, S. 267
[16]    MEW, Band 39, S. 426
[17]    MEW, Band 7, S. 21
[18]    MEW, Band 36, S. 176
[19]    MEW, Band 4, S. 7
[20]    MEW, Band 34,
[21]    MEW, Band 20,
[22]    MEW, Band 37,
[23]    Lenin, 1952, S. 226.
Vgl. auch: Kriele, 1988, S. 65.
[24]    Kant, Immanuel. Der Streit der Fakultäten: Der Streit der Philosophischen Fakultät mit der juristischen. Band XI, S. 359f; Zitiert nach: Kriele, 1988, S. 43
[25]    Kriele, 1988, S. 14
[26]    MEW, Band 6, S. 505
[27]    MEW, Band 6, S. 102
[28]    MEW, Band 5, S. 401
[29]    MEW, Band 7, S. 498
[30]    MEW, 1973, S. 66f.
[31]    MEW, 1973, S. 67
[32]    Kaminski, 1990, S. 72
[33]    Lenin, 1989, S. 16
[34]    Lenin, 1989, S. 16
[35]    Lenin, 1989, S. 19
[36]    Lenin, zitiert nach: Kaminski, 1990, S. 74
[37]    Lenin, zitiert nach: Kaminski, 1990, S. 74
[38]    Kaminski, 1990, S. 73
[39]    Kriele, 1988, S. 67
[40]    Kriele, 1988, S. 67
[41]    Kriele, 1988, S. 67
[42]    Kriele, 1988, S. 67
[43]    Kriele, 1988, S. 13
[44]    Kriele, 1988, S. 13
[45]    Kriele, 1988, S. 74 (eigene Hervorhebung, MN)
[46]    Kriele, 1988, S. 74
[47]    Buhr, 1989, S. 141
[48]    Buhr, 1989, S. 140
[49]    MEW, 1973, S. 45
[50]    MEW, 1973, S. 45
[51]    Kriele, 1988, S. 35
[52]    Kriele, 1988, S. 67f.
[53]    Kriele, 1988, S. 68
[54]    Bloch, 1983, S. 212
[55]    Bloch, 1983, S. 213
[56]    Bloch, 1983, S. 214
[57]    ebd.
[58]    ebd.
[59]    ebd.
[60]    ebd.
[61]    ebd.
[62]    ebd.
[63]    Bloch, 1983, S.13
[64]    Bloch, 1983, S. 215
[65]    Ernst Bloch Zentrum, Wer ist Ernst Bloch?
[66]    Bloch, 1983, S. 232

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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