Das Menschenbild der Pseudo–Erneuerer. Oder «Von der Person zur Amöbe»

Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM, Pädagogische Schulungswoche 1994 Moritz Nestor

1. Einleitung

2. Naturrechtstradition – der Mensch als Person

3. Marx: Abschaffung der Anthropologie

4. Freud: Triebwesen statt Beziehungswesen

5. Reich: Befreiung von der Religion durch Sexual–Therapie

6. Frankfurter Schule: die revolutionäre Triebnatur

7. Antipsychiatrie: Hilfe als «Befriedungsverbrechen»

8. Humanistische Psychologie und Gestalttherapie

9. Antipädagogik

10. Kinderrechtsbewegung

11. Antihumanismus, Postmoderne

12. Antiwissenschaftlichkeit

13. 90er Jahre – der Mensch als «Amöbe»

 

 


 

Das Menschenbild der Pseudo–Erneuerer. Oder «Von der Person zur Amöbe»

 


1. Einleitung

 

Der Präsident des Internationalen Fussballverbandes sagte unlängst in einem Interview – sinngemäss –, wir Menschen seien eben so aggressiv, weil unsere Gesellschaft so sei. Darauf angesprochen, ob er wisse, dass er damit einer der folgenschwersten Sätze der Marxschen Philosophie wiedergegeben habe, würde er sicher verneint haben. Viele Menschen kennen heute, ohne je eine Zeile Marx gelesen zu haben, ja ohne ihn zu kennen, intuitiv jenen Satz aus der Feuerbachthese, dass der Mensch das «Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse» sei. Oder in den Worten eines typischen Studenten unserer Zeit: «Aber Herr Professor, ich kann doch nicht moralischer sein als die Gesellschaft, in der ich lebe!» Das sind die Resultate eines langen gesellschaftlichen Umorientierungprozesses. Ähnliches ist im Bereich der Sexualität, der Drogen, der Aggression und allen neuralgischen Bereichen zwischenmenschlichen Zusammenlebens passiert.

In den letzten zweihundert Jahren – vor allem aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit Karl Marx – haben wir eine radikale Umwandlung der besten Teile unseres traditionellen Menschenbildes erlebt. Wir charakterisieren diese Entwicklung mit dem Bild: Von der Person zur Amöbe!

 

 

2. Naturrechtstradition – der Mensch als Person

 

Die personale Auffassung vom Menschen sieht den Menschen als soziales Wesens, das auf seine Mitmenschen angewiesen ist und dem eine unveräusserliche Würde innewohnt. Sie wurde in der Geschichte der letzten zweihundert Jahre zum tragfähigen Ausgangspunkt allgemeiner Natur- und Menschenrechte und zur Grundlage des gesamten sozialen Zusammenlebens. Hören Sie folgendes Zitat hierzu:

«Selbst manche Tiere mässigen die Sorge für ihren Nutzen durch die Rücksicht […] Dies mag bei ihnen aus einem Instinkt herrühren. […] Der reife Mensch aber […] verbindet … mit einem starken geselligen Trieb, für den er vor allen Geschöpfen das besondere Mittel der Sprache besitzt, auch die Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln. Dies alles hat der Mensch nicht mehr mit anderen Geschöpfen gemeinsam, sondern ist eine Eigenart der menschlichen Natur. Diese … Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man eigentlich mit der Bezeichnung Recht meint. […] Der Mensch hat vor den übrigen Lebewesen … auch die Urteilskraft, um das Angenehme und das Schädliche einzuschätzen, und zwar nicht bloss das Gegenwärtige … Es entspricht deshalb der menschlichen Natur, auch hierin nach dem Mass menschlicher Einsicht dem zu folgen, was für richtig erkannt wird, und sich dabei nicht durch Leidenschaft und Vorurteil hinreissen zu lassen. Was diesen Geboten entgegengesetzt ist, ist auch gegen das Recht der menschlichen Natur.»[1]

Diese Worte stammen von Hugo Grotius (1625), neben Samuel Pufendorf einer der geistigen Väter unserer Natur- und Menschenrechtstradition. Pufendorfs Gedanken flossen in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ein und wurden zur Vorlage der «Bill of Rights» des Staates Virginia von 1776[2] und später der Menschrechtsbestimmungen in der amerikanischen Verfassung. Hier wurde zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte das soziale Zusammenleben einer staatlichen Gemeinschaft unter das Naturrecht der Menschenwürde gestellt. In Artikel 1 der «Bill of Rights» von Virginia lesen wir: «Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachung berauben … können …: nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.»

Der juristische und psychologische Gedanke, dass der Mensch – weil er ein soziales Wesen ist und abhängig von seinen Mitmenschen – Regeln des Zusammenlebens braucht, hat seinen Ausgangspunkt in einem anthropologischen Sachverhalt: Pufendorf hat nämlich gesehen, dass am Anfang aller Menschenrechte die in der sozialen Natur des Menschen begründete allgemeine Menschenpflicht steht, zum Gedeihen der universellen Gemeinschaft beizutragen. Grundlage des Rechts sind also nach Pufendorf die Sollensforderungen, die der Sozialnatur innewohnen: Sie nennt er die natürlichen Pflichten des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen. Durch sie erst wird Recht möglich, ohne sie unmöglich.

Ausgangspunkt der Grundrechte ist nach Pufendorf die allen Menschen gleichermassen zukommende soziale Grundnatur: «Die Grundordnung des Gemeinschaftslebens, welche den Menschen lehrt, wie er sich als richtiges Glied menschlicher Verbände verhalten muss, wird [daher] Naturrecht genannt.»[3] «Jeder teilt mit allen die gleiche menschliche Natur. Niemand kann und will sich mit solchen zu einer Gemeinschaft zusam­menschliessen, die ihnen nicht wenigstens als Mensch und Träger der gleichen Natur gelten lassen.»[4] Weil allen Menschen die gleiche Sozialnatur zukommt, so dachte Pufendorf, haben alle Menschen von Natur aus Grundpflichten, die zu allen Zeiten und an allen Orten gelten, und hieraus resultieren die universellen Menschenrechte: Als die oberste und heiligste Pflicht des Menschen nennt er: «Keiner schädige den anderen»[5] Dies ist die umfassendste aller Gemeinschaftspflichten, ohne deren Beachtung für Pufendorf kein Zusammenleben möglich ist. Das Lebensrecht, das Menschenrecht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum fliessen für ihn hieraus. (siehe oben Virginia Verfassung)

Die zweite aller Grundpflichten des Gemeinschaftslebens ist nach Pufendorf: «Jeder beachte den anderen und behandele ihn als einen von Natur Gleichgearteten, nämlich als Menschen schlechthin.»[6] «Denn die Verpflichtung, das Gemeinschaftsleben aufrechtzuerhalten, bindet alle Menschen in gleicher Weise.“[7] Und die dritte Gemeinschftspflicht lautet, «soviel wie möglich den anderen zu nützen»[8]

Der etwas vor Pufendorf lebende Hugo Grotius hat dabei einmal bemerkt, die Regeln des Naturrechts «würden auch gelten, selbst wenn man annähme, […], dass es keinen Gott gebe».[9] Der Ungläubige, wollte er damit sagen, ist nicht aus der Moral entlassen. Er ist frei, nicht an Gott zu glauben. Aber aus dem Naturzusammenhang, auf den anderen Menschen angewiesen zu sein, und den Pflichten, die aus der natürlichen Geselligkeit des Menschen resultieren, ist er nie entlassen. Und zwar mit der gleichen eisernen Logik, wie jeder Mensch der Naturnotwendigkeit, essen zu müssen, unterworfen bleibt und höchstens zeitweise auf Speise verzichten kann. Die Abhängigkeit von der Gemeinschaftsbezogenheit kann man nicht durch Gedanken aufheben.

Als der absolutistische Staat abgeschafft wurde und nach und nach durch Verfassungsstaaten ersetzt wurde, geschah dies, weil man sich auf die aus dem Naturrecht stammenden Menschenrechte berief, unter die sich alle Mitglieder einer Gesellschaft stellen konnten, ohne willkürliche Einschränkung der Freiheit der Individuen. Dies bannte den Bürgerkrieg und sicherte das Zusammenleben aller. Kant nannte dies den «bürgerlichen Zustand» – ein heute zum Schimpfwort verkommener Begriff.

 

 

 

3. Marx: Abschaffung der Anthropologie

 

Urheber davon ist die Tradition der jakobinischen Diktatur und der hieran anknüpfenden Marxistischen Doktrin. Danach sei die Demokratie ein Mäntelchen von Scheinfreiheit, das der Kapitalismus sich umhänge, wenn es ihm gut gehe und die Profite flössen. Der Faschismus aber sei die Staatsform, die sich der Kapitalismus schaffe, wenn es den Profiten schlecht gehe.

So haben die sowjetischen Marxisten Hitler ausdrücklich begrüsst und gesagt, dies zeige, wie schlecht es dem Kapitalismus gehe, dass er bald zusammenbreche, die proletarische Revolution und damit die kommunistische Machtübernahme mit Naturnotwendigkeit komme. Ziel der Revolutionsbewegung müsse daher die Zerschlagung des – von Marxisten wie Nationalsozialisten übrigens gleichermassen gehassten – «bürgerlichen Staates» sein, das heisst der modernen Demokratie. Freiheit und Menschenrechte seien, so Marx, nur der «zum Gesetz erhobene Wille»[10] der sogenannten ‚herrschenden Klasse’. «Daher haben Sozialisten das Gesetz nur so lange zu beachten, wie es ihnen tunlich erscheint»,[11] oder nach Marx: «Gesetzlichkeit so lange und so weit sie uns passt.»[12] Bereits für Marx waren Humanismus, Milde und Menschlichkeit eine «Phrase»,[13] eine «Sentimentalität», die er als «antirevolutionäre Untugend»[14] hasste.

Zwei Grundirrtümer der Marxschen Philosophie sind bedeutend geworden. Der erste ist, dass er dem Menschen eine allgemeine feste Natur abspricht, ihn also nicht als Person versteht. Für Marx ist der Mensch nur ein arbeitendes Wesen. Liebe und Gemeinschaft sind keine Wesensbestimmungen des Menschen. Marx sieht zu Recht, dass der Mensch sich im Unterschied zum Tier seine Mittel zum Leben selbst schaffen muss. Durch Arbeit verändere der Mensch die Natur, um sie sich zu Diensten zu machen.[15] Marx nimmt aber dann – gegen jede Anthropologie – an, der Mensch kultiviere im Arbeitsprozess nicht nur die äussere Natur, sondern auch seine eigene Menschennatur. Der Mensch werde danach immer natürlicher, je mehr er Natur kultiviere und die Natur werde angeblich immer menschlicher. Marx kennt daher keinen Menschen, sondern nur «die» Menschen. Denn die Ethik der Menschen, ihre Gedanken und Traditionen seien immer abhängig vom Stand der Bearbeitung der Natur durch den Menschen. Und diesen Stand könne man am Entwicklungsgrad von Wissenschaft und Technik ablesen. Wie die Menschen produzierten, so dächten sie. Sie seien das «Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse». Hierin will Marx ein Naturgesetz erkannt haben, das die Menschheitsgeschichte lenke.

Die Propagierung dieser Marxschen Ideen hatte zur Folge, dass heutzutage schon der Mann auf der Strasse beginnt, davon zu reden, dass die Menschen ‚eben’ so seien, weil diese Gesellschaft so sei. So behauptete vor einiger Zeit etwa Jean Ziegler in einem «Ziischtigsclub» des Schweizer Fernsehens, dass wir heutigen Menschen überhaupt noch nicht Mensch seien, dass wir das erst in einer zukünftigen Gesellschaft würden.[16]

Subjekt sein können sei, so Marx, nur eine bürgerliche Kategorie. Nach der marxschen Theorie entwickelt sich der Mensch also nur innerhalb der Grenzen, die ihm durch die Gesellschaftsklasse, in welche er hineingeboren wurde, gesetzt sind. Er kann darüberhinaus keine selbstgewählten Ziele verfolgen. In der gegenwärtigen Gesellschaft sei der Mensch zur Menschlichkeit noch gar nicht fähig, weil seine Natur noch zu wenig kultiviert sei. Persönlichkeiten, die mit entwickeltem Gemeinschaftsgefühl als «Werdende und Wirkende in der Kultur» (Alfered Adler) wirken, würden nach Marx keine Rolle bei der Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen spielen, denn menschliche Werte könnten erst in einer noch zu schaffenden menschlichen Gesellschaftsordnung entstehen. Um diese Ordnung zu erreichen, müssten die bestehenden Verhältnisse zerschlagen werden. Erst im klassenlosen Kommunismus, am «Ende der Geschichte», gebe es dann «wahre Menschen». Bei heutigen Menschen von Individualität zu sprechen, sei bürgerliche Ideologie.

Der zweite Gundirrtum der Marxschen Philosophie resultiert eigentlich aus dem ersten: Weil die Menschen nach Marx nur immer das denken könnten, was dem Stand der Ökonomie ihrer Gesellschaft entspreche, dann könnten sie nicht selbständig denken, sondern dächten immer von Interessen geleitet. Was sie für Interessen hätten, das hänge dann immer davon ab, ob sie zur Arbeiter– oder Kapitalistenklasse gehören würden. Der Bürger habe also kein objektives Wissen, sondern betreibe nur bürgerliche Wissenschaft. Wenn die Bürger sagen würden, sie betrieben objektive Wissenschaft, sei dies Ideologie. Wirkliches Wissen könne nur der erlangen, der die richtigen Interessen habe, und das ist der von bürgerlicher Ideologie befreite Arbeiter. So kommt Marx zu dem folgenschweren Satz, alle bisherigen Philosophen hätten die Welt nur immer interpretiert, es käme aber darauf an, sie zu verändern. Alle vor ihm seien von falschen Interessen geleitete Denker, die gar nicht an wahrem Wissen interessiert waren, weil sie als Bürger immer am Bestehen des Gegenwärtigen interessiert waren. Wahres Wissen aber sei Wissen, das die Revolution herbeiführe. «Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats».[17] schreibt Marx. Damit ist alle Forschung dem Dienste an der Vorantreibung des Klassenkampfes, der zur radikalen Revolution und zum gesellschaftlichen Umsturz führen soll, unterstellt. Und so formulierte Marx jenen berühmte Feuerbachthese, die heute noch an der Berliner Humbold Universität prangt: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.»[18] Denken ist daher im Marxschen Sinn nicht mehr Mittel zur Wahrheitsfindung, sondern «eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will»[19] Kritik sei «die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürdiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen»[20]

Von den Exponenten der 68er Revolte wurde dies dann – so Dutschke – «gesellschaftliche Erkenntnis ist gesellschaftliche Veränderung»[21] getauft. In Anlehnung an die Frankfurter Schule wurden die empirischen Wissenschaften als «Herrschaftswissenschaften» oder «Wissenschaftsfetischismus», wissenschaftlich arbei­tende Professoren als «Fachidioten» verleumdet und bekämpft. Fortschrittlich sei die «Aufklärung durch Aktion», «jeder Sieg die Vietkong [sei] ein Sieg für unsere Demokratie»,[22] um «den Machtapparat der einzelnen Staaten zu Gegenmassnahmen und Stellungnahmen zu zwingen».[23]

Noch deutlicher wurde Amendt 1968 in seinem Buch, das bezeichnenderweise den Titel «Kinderkreuzzug» trägt. Für ihn ist «Militanz» eine «Produktivkraft»[24] Und bei «richtiger politischer Zielsetzung» würden aus bundesdeutschen Kindern «Revolutionäre … wie die fünfzehnjährigen Kinder Vietnams …, die mit der Waffe als Vietkong kämpfen».[25] So kommt Amendt zu dem Schluss: «Jugend und Terror sind synonym.»[26]

 

 

 

4. Freud: Triebwesen statt Beziehungswesen

 

Mit Freud kam der zweite folgenschwere Irrtum im Menschenbild, der zu weiteren Auflösung der Person führte: Hatte Marx an die Stelle der festen Menschennatur die historische Natur gesetzt, so setzt Freud an die Stelle des sozialen Beziehungswesens das von Natur aus antisoziale und polymorph-perverse Triebwesen. Ist der Mensch in der personalen Auffassung bei Adler ein von Geburt an aktiv und individuell auf den Mitmenschen ausgerichtetes Wesen, das von Anfang an beziehungsbedürftig und beziehungsfähig ist, so kommt der Mensch für Freud antisozial zur Welt, und wird nur zwangsweise sozial, weil er einsieht, dass er gar nichts mehr bekommt, wenn er egoistisch bleibt. Das Wichtigste aber ist: Für Freud entsteht Beziehung und Mitmenschlichkeit nicht aufgrund einer Disposition, die das Kind mitbringt und von der Mutter richtig beantwortet werden muss. Sondern indem die Mutter die körperlichen Bedürfnisse des Kindes befriedige, richtet sich der Sexualtrieb des Kindes auf die Mutter als erstes Lust-«Objekt» und «besetze» sie. Die gepflegten Körperteile würden zu Lustzentren, und es entstehe sekundär – sozusagen als Nebenprodukt – Liebesgefühle und eine emotionale Beziehung zur Mutter. Der Mensch sei dafür nach Freud mit einem programmierten Trieb ausgestattet, der sich nach und nach an verschiedene Körperregionen hefte und verschiedene «Objekte» – sprich Menschen – besetze. Werde dieser biologisch vorgegebene Fahrplan eingehalten, entstehe der sogenannte «genitale Charakter», das sei der zur gegengeschlechtlichen Liebe und zur Arbeit fähige Erwachsene. Für Freud sind alle sexuellen Perversionen «Vorlustverhalten», neurotisch und sollten durch Therapie behoben werden.

Das mitmenschliche Zusammenleben spiele sich gemäss diueser Auffassung nicht in Beziehungen, sondern zwischen Objekten ab. Abstossung/Aggression oder Anziehung/Sexuaität seien dabei die beiden Grundbewegungen. Besonders folgenschwer wirkte sich die Freudsche Annahme eines zweiten Grundtriebes aus, der Aggression. Für Freud konnte ein verdrängter Aggressionstrieb zu Neurosen führen. Er suchte nicht im blossen «Herauslassen» der Aggressionen sein Heil. Dieses blieb Späteren überlassen.

Freud bleibt trotz seiner Annahme, der Mensch sei ein Triebwesen, beim Gewissen. Wenn er es auch als sekundär begreift, nicht als Disposition. Moralloses Leben ist ihm ein Graus. Entwicklungsziel der Persönlichkeit könne keine Perversion sein. Die heutige libertäre Promiskuität wäre für Freud keine «Lebensform», sondern eine Perversion. Das unterscheidet ihn von den historisch späteren Freudomarxisten und noch späteren Antihumanisten, die sich auf Freud berufen, aber nur noch die absolute Relativität aller «Lebensformen» behaupten.

 

 

 

5. Reich: Befreiung von der Religion durch Sexual–Therapie

 

Freud hatte zwei Grundtriebe angenommen, Libido und Aggression. Wilhelm Reich nur noch «sexuelle Energie».[27] Neurosen entstünden durch eine «Stauung» dieser Energie, wenn die «Abfuhr hoher sexueller Erregung des Organismus» nicht gelinge. «Die Behebung der Sexualstauung durch orgastische Entladung der biologischen Erregung beseitigt jede Art neurotischer Wucherung.» Hier haben wir das Programm der Gestalttherapie und der heutigen Sexualisierungskampagne vorgezeichnet. Sexualität sei, so Reich, kein Trieb, sondern die Funktion des Orgasmus lasse sich «durch den Viertakt: Spannung – Ladung – Entladung – Entspannung beschreiben. … Herz, Darm, Harnblase, Lunge (Atmung) funktionieren in diesem Rhythmus. … auch die Zellteilung gehorcht diesem Viertakt. … Ein Grundgesetzt scheint also den Organismus … zu beherrschen. … Die Orgasmusformel entpuppt sich als Lebensformel schlechthin. … ´Der Sexualitätsprozeß ist der produktive Prozeß schlechthin´, in Fortpflanzung, Arbeitsleistung, geistiger Profuktion etc.» «´Energie´ ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten.»[28]

Reich suchte nach einer Erklärung dafür, warum so viele Menschen Hitler wählten. Als Marxist wollte er dazu eine «dialektisch-materialistischen Psychologie.» schaffen, und die Psychoanalyse sollte «die Grundlage» sein. Hitlers Erfolge liessen sich nach Reich nicht mehr mit dem Historischen Materialismus von Marx erklären, sondern nur mit der Psychoanalyse. Hitler sei seiner Meinung nach nur möglich gewesen, weil Hitlers Persönlichkeit in der «durchschnittlichen Struktur einer breiten Schicht von Massenindividuen anklingt.» Die religiöse Sexualunterdrückung sei das Mittel, um die Menschen schon in der Familie zum Untertanen zu erziehen: «Die moralischen Hemmungen der natürlichen Geschlchtlichkeit des Kindes» sagte Reich «macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist». Der liebes- und arbeitsfähige Mensch war für Freud der gesunde Erwachsene. Reich deutet diese Vorstellung Freuds um in den «bürgerlichen Charakter», der nur darum lieben und arbeiten könne, weil er durch Sexualunterdrückung an die (faschistischen) Herrschaftsverhältnisse angepasst sei. Dieser «Charakterpanzer» müsse (weg)gesprengt werden, damit der Mensch «wirklich frei» werde. Der liebes- und arbeitsfähige Mensch entstand bei Freud noch durch Anpassung an die Kultur. Reich behauptet, die Kultur sei grundsätzlich repressiv und abzuschaffen. Wieder findet man hier alle wesentlichen Gedanken der heutigen Gestaltideologen und der Sexualisierungskampagne.

Der Marxist Reich zog hieraus die Konsequenzen. Hatte Marx noch gelehrt, die Revolution entstehe dort automatisch, wo die Menschen am meisten verelendet seien, so erkannte Reich, dass dies kein Naturgesetz sei und es zur Revolution noch etwas anderes geben müsse, nämlich die «Aktivierung der passiven Mehrheit», und zwar durch die «Beseitigung derjenigen Hemmungen, die der Entwicklung des … Klassenbewußtseins entgegenwirken.» Dies könne nur durch tiefe Eingriffe in die Persönlichkeit des Menschen geschehen. Nach Reich entspringe «die» Religion «gehemmter Sexualität», daher sei «die natürliche Geschlechtlichkeit der Todfeind der Religion» und die sexuelle Befreiung sei daher «das Ende der Religion». In Reichs Worten spiegelt sich, was wir heute erleben. Der zu entwurzelnde Bürger und typische Christ reagiere nach Reich auf den Versuch, ihn sexuell befreien zu wollen, mit «Gottesfürchtigkeit». Reich ist daher bereit, jede ethische Grenze zu überschreiten. Dass die Religion durch Sexualtherapie stirbt «wird nur derjenige Analytiker nicht bestätigen können, der …  der Ansicht ist, dass man die Sonde der Psychoanalyse nur so tief ins Unbewusste senken dürfe, wie es die Ethik erlaube. Mit derlei ´unpolitischer´, ´objektiver´ Wissenschaft wollen wir … [nichts] zu tun haben».

 

 

 

6. Frankfurter Schule: die revolutionäre Triebnatur

 

Auch die Theoretiker der «Frankfurter Schule», Horkheimer, Adorno, Marcuse versuchten, Freud so umzudeuten, dass er in das bereits von Reich geprägte Muster passte. Hatte Freud gegenüber Politik und Philosophie Abstinenz geübt, um nicht in seinen psychologischen Gedanken gehindert zu werden, so führte dies dazu, dass er gesellschaftliche Katastrophen wie den Krieg hervorgerufen sah durch Triebkräfte, die in der menschlichen Natur lägen und die er Aggressiontrieb nannte. Im Wechselspiel zwischen den beiden Grundtrieben Libido und Aggression entfaltet sich nach Freud der menschliche Charakter.

Gerade aber diese Triebtheorie – eigentlich der grosse Rückschritt Freuds – gefällt den Frankfurtern. In seiner Theorie, dass im Menschen zwei gegensätzliche Triebe stritten und Antriebskraft des Seelenlebens seien, habe Freud (sagen die Frankfurter), ohne es zu wissen, etwas Revolutionäres formuliert: Der Gegensatz, der in der Gesellschaft zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse herrsche, sei in jedem Menschen durch den Gegensatz zwischen Sexualtreib und Aggressionstrieb verkörpert. Dieser Widerspruch im Individuum sei eigentlich nichts anderes als der gesamtgesellschaftliche Widerspruch. Aggressionen psychotherapeutisch aufzulösen, lehnen sie daher ab, weil damit der mögliche Widerstand gegen diese Gesellschaft eingeebnet und das Individuum an die abzuschaffende Gesellschaft noch stärker angepasst werde.

Die Frankfurter setzen am gleichen Punkt wie Reich an: Marx hatte geglaubt, dass das grösste revolutionäre Potential dort in der Gesellschaft zu finden sei, wo die Unterdrückung am stärksten sei – in der Arbeiterklasse. Deshalb sah er das Proletariat als die im Grunde fortschrittliche Klasse an, die dazu berufen sei, die Revolution zu machen. Adorno, Horkheimer und Marcuse nun vermischten dies mit der Freudschen Triebtheorie und sahen plötzlich in den gehemmten Aggressionen des Individuums dessen unterdrückte ‚innere Arbeiterklasse’, das heisst also, das eigentliche revolutionäre Potential, welches freigesetzt werden müsse, damit der Einzelne sich gegen das wehren könne, was ihn unterdrücke: Das Freisetzen und Ausleben von Aggressionen wurde so zur revolutionären Tat hochstilisiert. Auflösung der inneren Konflikte, die in Wirklichkeit hinter destruktiven Affekten stehen, wurde seither von linken Kreisen als anpasserischer Rückzug in die Innerlichkeit, als «neue Religion» abqualifiziert. Adorno beispielsweise bezeichnete die Tiefenpsychologie schlicht als «bürgerliche Ideologie».

Anders als Freud hatten Adler und viele Neoanalytiker erkannt, dass die Freudsche Trieblehre und die darauf aufbauende Theoriesprache den Grundstein aller Missdeutungen in der Psychoanalyse bildeten. Im der Sozialnatur des Menschen sahen sie die natürliche Disposition zur Mitmenschlichkeit. Sie erkannten damit die natürliche Erziehungsbedürftigkeit und Erziehbarkeit des Menschen. Und damit erkannten sie auch die zentrale Bedeutung ethischer Werte für den Werdegang des Individuums und der Gemeinschaft. Gerade dies aber war der Frankfurter Schule ein Greuel, denn Werte waren für sie lediglich Ausdruck eines «falschen Bewusstseins». Lebensprobleme nicht triebtheoretisch zu begründen – wie Adler dies tat –  war in ihren Augen die Preisgabe der einzigen Möglichkeit, den an der Gesellschaft leidenden Menschen zu befreien. Adler und die Neoanalyse sind daher in diesen Kreisen mehr verschrieen als die bürgerlichen «Klassenfeinde», liess in ihren Augen doch angeblich die bürgerliche Gesellschaft wenigstens noch diesen inneren Zwiespalt zwischen Sexualität und Aggression im Menschen unangetastet, den Adler und die Neoanalytiker durch psychotherapeutische Behandlung auch auflösen möchten. Adler, Horney, Sullivan, um nur einige zu nennen, werden daher als Revisionisten eingestuft, die die Freudsche Theorie ihres wahrhaft revolutionären Kerns – der Triebtheorie nämlich – beraubt hätten.

In der 68er Revolte erhoben sich Intellektuelle und Jugendliche, mit den Ideen der Frankfurter und Wilhelm Reichs gewappnet, gegen alle staatlichen und ethischen Autoritäten.

Daniel Cohn–Bendit, einer der Anführer der Pariser Studentenunruhen vom Mai 1968, hatte schon in der damaligen Zeit programmatisch festgehalten, auf welchem Gebiet die politische Auseinandersetzung geführt werden sollte. In der sogenannten «Schlafzimmerrevolte» von Nanterre zum Beispiel besetzten «revolutionäre Studenten» 1967 an der Universität von Nanterre das Studentinnenwohnheim und setzten die Hausordnung «in jenem Heiligtum jungfräulicher Reinheit und Keuschheit [wie Cohn–Bendit es nennt]»[29] ausser Kraft. «Die ständigen Provokationen gegenüber der Hochschulverwaltung», immer nach Cohn–Bendit zitiert, «entlarvten den repressiven und ‚barbarischen’ Charakter der intellektuellen Hexenküche, die die Universität darstellt [. . .] mit Berufung auf die sehr wichtigen, weil politisch und gesellschaftlich revolutionären Thesen von Wilhelm Reich». Die mit dem Marxschen Klassenkampfdenken verbundene Freudsche Triebtheorie wurde so als revolutionäre Strategie politisch umgesetzt.

Man ging getreu nach Reich vor: Wenn die Gesellschaft durch Sexualunterdrückung Herrschaft aufrecht erhalte, so müsse, um die Herrschaft zu stürzen, die Sexualität befreit werden. Sexualität müsse also radikal «enttabuisiert» werden. Dazu wollte man den «Charakterpanzer» – unter anderem durch Drogen! – der Menschen aufbrechen, um die anerzogenen Hemmungen zu lösen. In diesem Sinne verstand man unter «sexueller Befreiung» nicht die psychologische Aufklärung in sexuellen Dingen, sondern die «Befreiung» einer Sexualität, die man im Freudschen Sinne «polymorph» verstand. Heute nennt sich das «sexuelle Vielfalt». Alle Facetten dieser «polymorph-perversen» (Freud) Sexualität müsse «gleichberechtigt» zur Geltung kommen, egal ob es sich um sexuelle Perversionen oder um natürliche sexuelle Gefühle handelt. Die Unterscheidung sexueller Perversionen von natürlichen sexuellen Gefühlen wurde von der Frankfurter Schule als Repression der bürgerlichen Klasse gedeutet und bekämpft. Damit wurde auch die wissenschaftliche Erkenntnis einer menschlichen Natur ignoriert, was dem Marxschen Denken entsprach.

In der Drogenfrage wirkte sich diese Theorie besonders unheilvoll aus. Im Rausch, so die Idee linker Ideologen, müsste der Charakterpanzer leichter aufgeweicht werden und jene Kräfte frei werden können, die durch die gesellschaftliche Repression verdrängt worden seien: Die Aggressionen gegen den «Repressionsapparat». Drogen wurden plötzlich als Mittel der Bewusstseins«erweiterung» angesehen, statt als Rauschgifte, wobei die Führer (bzw. Vor-«Denker») – im Gegensatz zu den Geführten – weniger oder gar nicht Drogen konsumierten. Überhaupt werden Rauschgifte neuerdings als Mittel angepriesen, welche uns die Sicht auf eine künftige Gesellschaftsordnung erhellen sollen.

«Ist der wissenschaftliche Sozialismus im 19. Jahrhundert aus Utopien hervorgegangen, so wird die wirkliche Sozialisierung im 20. Jahrhundert vielleicht aus Erfahrungen hervorgehen», sagt Michel Foucault in den 70er Jahren und versteht dabei unter «Erfahrungen» vor allem auch Drogenkonsum. Drogenbekämpfung sei, sagt er, nur ein Vorwand der bürgerlichen Klasse, ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten. Foucaults Programm ist dabei «der politische Kampf als Klassenkampf … eine ‚kulturelle’ Attacke: Aufhebung der sexuellen Tabus, Einschränkungen und Aufteilungen; Praxis des gemeinschaftlichen Lebens; Aufhebung des Drogenverbots; Aufbrechung aller Verbote und Einschliessungen …».[30] Damit ist eine humane Erziehung als Anpassung per se diffamiert, Wertevermittlung als Verschleierung der wirklichen Verhältnisse abgelehnt, Bildung als «Kopflastigkeit» verpönt – denn im unkontrollierten Ausleben aller innerlichen Regungen, egal ob sie positiv oder negativ sind, liege angeblich die wahre Befreiung.

 

 

 

7. Antipsychiatrie: Hilfe als «Befriedungsverbrechen»

 

Eine weitere Verschmelzung von Psychoanalyse und Marxismus finden wir bei den sogenannten Antipsychiatern, zu denen neben Szasz, Basaglia, Cooper und Laing auch Foucault gehörte. Ihr Programm war die «Entpsychiatrisierung» der Geisteskrankheit. «Macht und Allmacht der Psychiatrie»[31] analysierten diese Psychiater und Soziologen mittels des Marxschen «wissenschaftlichen Sozialismus» und sprachen vom «Mythos der Psychotherapie». Eine «Kritische Medizin» entstand, die das uns geläufige Verständnis von Krankheit als «bürgerlichen Krankheitsbegriff» abtat. Das Krankenhaus dieser Gesellschaft wurde als Institution der Machterhaltung mit den Gefängnissen gleichgesetzt.

«Freiheit heilt»[32] verkündeten sie und verstanden darunter, dass die Psychiatriepatienten wie Verbrecher durch «Agenten»(23) – sprich Ärzte – eingesperrt würden. Foucault[33] propagierte, im Mittelalter und in der Renaissance sei der Wahn und die Unvernunft des Geisteskranken noch als «existentielle Entscheidung» derer toleriert worden, die nicht an der allgemeinen Ordnung teilnehmen wollten. Die nachfolgende bürgerlichen Periode sei die Zeit «administrativen Ausgrenzung der Unvernunft». Über die neue Grenze zwischen normal/Vernunft und abnormal/Wahn/Unvernunft wache nun die Psychiatrie, später die Psychologie. Schlussfolgerung der Antipsychiater war, dass Normalität eine historisch veränderliche Größe sei.

Fürsorge, Pflege und Schutz gegenüber den psychisch Kranken sei daher ebenso eine Ideologie wie Strafe und Rehabilitation die Ideologie gegenüber den Gefangenen in den Gefängnissen sei. Soziologen, Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter seien darauf getrimmt, «Konflikten vorzubeugen, Unruhe abzuwenden, Dissens zu entschärfen, kurz, die ´Normalisierung´der Verhältnisse voranzutreiben. Es ist grotesk und tragisch, dass Intellektuelle, indem sie sich an die Institutionen der Macht anbinden, unter dem Schein der Hilfeleistung die Opfer der Macht vollends entwaffnen: In der Pose des Samariters geben sie ihnen den tödlichen Kuss.» So charakterisierte das Ehepaar Basaglia im Jahre 1975 die barmherzige Zuwendung, die Hilfeleistung gegenüber dem Schwachen und Bedürftigen. Diese radikale Kampfansage galt allen, die versuchen, in dieser Gesellschaft zu wirken und «Stund für Stund» auf «altem Grund» heilend, fördern, aufbauend zu arbeiten. Sie – und merken Sie, dass wir damit auch wir gemeint sind! – seien nach Basaglia «Befriedungsverbrecher» einer «Gettoisierungsmaschine» (Basaglia, S. 24), denn sie würden friedliche Reform erstreben und den Kranken nur an die krankmachende Gesellschaft anpassen.

Freud sagte, in den Träumen und Phantasien tauche Verdrängtes wieder auf. Diese Idee benutzten die An­tipsychiater und behaupteten, in der «bürgerlichen Gesellschaft» würden die Menschen durch äussere Gewalt, Erziehung und Pädagogik gezwungen, alles, was gegen die versklavende Anpassung gerichtet sei, zu verdrängen. Der in unserern Augen normale, in den Augen der Antipsychiater aber versklavte Mensch sei derart verschüttet, dass er nichts mehr von dieser verdrängten Rebellion bemerke. Der Psychiatriepatient aber merke noch etwas davon. In seinem Wahn würde er das verdrängte «Freie» wieder zulassen. Er sei also eigentlich «normaler» als der «Normale». Jeder Wahn sei daher eigentlich – wie Cooper (1979) schreibt – politische Dissidenz, eine politische Aussage, Verrücktheit sei in Wirklichkeit Subversion. Die Psychiatrie aber lösche diese Subversivität systematisch aus.

 

 

 

8. Humanistische Psychologie und Gestalttherapie

 

Die etwa Mitte der 50er Jahre entstandene Humanistische Psychologie mit maslow als Begründer und Hauptphilosoph ist eigentlich mehr Bewegung als Theorie. Ihre Vertreter wollten über das Freudsche Triebmodell hinaus und schrieben dem Menschen eine angeborene Tendenz zur «Selbstverwirklichung» zu. Sie knüpfen nicht an Adler an, der teilweise von der Neoanalyse übernommen wurde, sondern sahen die menschliche Entwicklung als Entfaltung von angeborenen «Möglichkeiten». Das ist letztlich ein Biologismus, weil Zielstrebigkeit für sie keine sinnvolle Bewegung auf Ziele ist, die sich das Individuum eigenaktiv im Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen steckt. Der Erzieher solle nicht – wie bei adler-  die Entwicklungsbewegung des Individuums aufmerksam verfolgen und gegebenenfalls korrigierend eingreifen. «Gesundes Wachstum» heisse vielmehr ungehemmte Entfaltung des natürlichen «Potentials». – Diese Auffassung findet sich übrigens bei der Antipädagogik wieder. Rogers beispielsweise wollte das durch Erziehung, moralische Beschränkungen und Umwelteinflüsse verschüttete Gute im Menschen wieder freilegen. Die Vertreter der Humanistischen Psychologie wollten so «Dritter Weg» (Human Potential Movement) zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie sein und entwickelten dazu eine Reihe von Psychotechniken, um diese verschütteten Lebensmöglichkeiten/Potentiale des Menschen wieder «freizulegen». Diese Psychotechniken sind mehr oder weniger lenkend und überwiegend nonverbal und «körperzentriert» und sollen alle vermuteten ungelebten Möglichkeiten aufspüren und zur Entfaltung bringen.

Diese sich irreführenderweise ‚Humanistische Psychologie’ nennende Richtung entwickelte sich vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund einer immer schärfer werdenden Sinnkrise in den USA. Ihre Selbsterfahrungstechniken wurden immer mehr zu einem massenwirksamen Instrument der amerikanischen Counter–Culture–Bewegung, einer breiten, radikal gegen die westliche Zivilisation gerichteten Protestbewegung. Die ebenfalls von Vertretern der «Humanistischen Psychologie» praktizierte Gruppendynamik sollte Beziehungsstrukturen und Kommunikationsabläufen innerhalb einer Gruppe aufdecken und verändern, wurden schließlich aber von Esalen aufgenommen, ihrer zwischenmenschlichen, sprachlichen Anteile entledigt und zu Techniken subversiven Umgestaltung demokratischer Organisationen und Institutionen weiterentwickelt. Die «Humanistische Psychologie» wurden vom Sog der Counter–Culture–Bewegung erfaßt und hat lange verkannt, welch destruktives Potential sie damit zur Entfaltung brachte. Wie wir aus dem Referat von Dr. coulson, eines langjährigen engen Mitarbeiters von Carl Rogers, wissen, hegte der alte Rogers zeitweilig erhebliche Zweifel an der guten Auswirkung seines Lebenswerkes.

Die «Gestalttherapie» wird ebenfalls der «Humanistischen Psychologie» zugeordnet. Ihre Begründer be­dienten sich vieler Techniken und Begriffe, die in den verschiedenen sogenannten «Wachstumscentern» der Humanistischen Bewegung entwickelt worden waren. Die Begründer der Gestalttherapie, Perls & Goodman, verfolgten von Anfang an und ausschließlich politische Ziele und strebten offen den Umsturz der bestehenden Gesellschaft an: «Schon oberflächlich gesehen gibt es also Grund, die Dinge kurz und klein zu schlagen, nicht diesen oder jenen Teil des Systems zu zerstören (…), sondern das Ganze en bloc, (…).»[34] Die Begründer der Gestalttherapie befassten sich daher nicht mit wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen über die Natur des Menschen. Ihre Aussagen über den Menschen sind widersprüchlich, bruchstückhaft und wissenschaftlich unhaltbar. Aus allen irgendwie bekannten Ansätzen entnahmen sie Teile, um die subversive Zielsetzung übertünchen. Ihren Namen liehen sie sich bei der seriösen Gestaltpsychologie.

Perls & Goodman leugneten – wie Marx und gegen alle Anthropologie – eine feste menschliche Natur. Der Mensch sei vielmehr beliebig formbar. Seelische Erkrankung wird zu einer von vielen gleichberechtigten «Lebensformen». Der Menschen wird auf ein paar biologische Bedürfnisse reduziert sowie auf eine fälschlicherweise unterstellte natürliche Aggression.

Perls & Goodman bedienten sich der Methode der Persönlichkeitszersetzung. Die Seele des Menschen sollte als «Trojanisches Pferd» in die Gesellschaft gestoßen werden. Der einzelne wird innerlich gegen die Mitmenschen aufgebracht, zum Gegenspieler gemacht und damit kulturell entwurzelt. Ohne eine positive Ausrichtung auf die Mitmenschen, in welchem Gemeinwesen auch immer, kann man nicht Persönlichkeit sein. Genau dies ist, wie wir noch hören werden, auch die Zielvorstellung dieser «Antihumanisten». Der Abbau der Persönlichkeit wird in der Gestalttherapie mit besonderen Psychotechniken betrieben. An die Stelle normaler Umgangsweisen von Erwachsenen treten meist destruktive Phantasiespiele, Tastübungen und ein unmittelbares Ausleben aggressiver Regungen, die oft im Verlauf solcher Sitzungen erst einmal erzeugt werden. Denken und vernünftiges Handeln seien nach Perls «Mind-fucking». Der ideale Mensch sei für die Begründer der Gestalttherapie, wer möglichst wenig Charakter habe, wenig feste Wertmaßstäbe, Zielsetzungen und erlernte Verhaltensmuster. Man wolle die Persönlichkeitsstruktur «aufgebrechen» und zertrümmern, um den Menschen «offen» zu machen für jede mögliche Vorstellung und somit verfügbar für jegliche Form der Manipulation. Die Gestalttherapie greift hier die bereits dargelegte reichsche Idee auf, dass der sogenannte «Charakterpanzer» eines Menschen aufgebrochen werden müsse.

Alle Wünsche sind für perls & goodman eine Störung der sogenannten Homöostase. Homöostase ist normalerweise die biologische Regulierung des Gleichgewichts der Körperfunktionen. Eine Störung dieser Gleichgewichte ist lebensbedrohend und der Körper reagiert. Perls & Goodman machen nun das unge­hemmte Ausleben jedweder Gefühlsregung zur Gesundheitsfrage: Tauche ein Wunsch auf, störe er das Gleichgewicht des Körpers und müsse daher erfüllt werden, sonst drohe seelische Krankheit. Jede menschliche Gesellschaft lässt sich so als «krankmachend» beschuldigen, weil das Zusammenleben immer wieder den Aufschub von Wünschen verlangt. Perls spricht daher von der «Weisheit des Organismus». Der Körper wisse jederzeit, was ihm fehle und welche Stoffe er aufnehmen müsse. Diese Auffassung ist wissenschaftlich völlig haltlos, wirft aber ein Licht auf die Argumentation gewisser heutiger Drogenfachleute, jeder Mensch müsse selber herausfinden, welche Droge für ihn richtig sei und wann er sie am besten vertrage.

Die Begründer der Gestalttherapie sehen den Menschen nur noch als triebgesteuerten, vernunftlosen Organismus. Der Mensch strebe immer nur nach seiner unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Das steht in absolutem Widerspruch zur personalen Auffassung vom Menschen als sozialem Lebewesen. Dieses Menschenbild führt im Bereich Erziehung und Erzieherschulung zu schwerwiegenden Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen:

Die Gestalttherapie reduziert also den Menschen auf einen besinnungslosen Organismus, der nicht mehr kulturfähig ist. Ohne Denken könnte er keine geschichtliche Dimension erfassen und weder aus der Vergangenheit irgendwelche Schlüsse ziehen noch sein zukünftiges Leben planen. Nie könnte er nach ethischen Werten leben. Der Gestaltmensch wäre ein absoluter Widerspruch zur Sozialnatur.

Noch 1988 machten sich deutsche Gewerkschaftsmarxisten im «linken Streit um die rechte Gestalt» lustig über den «Gestalthokuspokus» von «angepassten Ringelpietzexperten», die die «armen SchülerInnen … auf Decken in der Aula zwangsmeditieren» liessen. Damals rechtfertigten die führenden deutschen Gestaltpädagogen Olaf Burow und Claudio Hoffmann, wieso die Gestaltideologie noch besser als die alleinige politische Aktion geeignet sei zur «emanzipatorischen Veränderung der Lebensformen und des politischen Handelns»[36]: Nützlich für die Revolutionsbestrebungen der Marxisten seien gerade «solche Fortbildungsveranstaltungen, in denen lebensgeschichtliche Aspekte mit der … gesellschaftlichen Situation so verknüpft werden, dass die eigenen Voraussetzungen, Begrenzungen und Blockierungen erkannt und aufgearbeitet werden können und so gemeinsam Neurorientierungen ermöglicht werden.»[37] «Die konsequente Anwendung der Ansichten der Gestaltpädagogik kann zu einer neuen Lebenshaltung führen, zu einer Haltung des radikalen Widerstandes gegen die alltägliche Vergewaltigung der Menschen durch unsere gesellschaftlich verordnete Lebensweise.»[38] Das ist ein Beispiel dafür, wie es den Gestaltideologen gelang, die einstige Abneigung der Marxisten/Leninisten gegenüber allem, was irgendwie nach Psychologie aussah, zu befrieden. Die Psychotechniken wurden so offiziell akzeptierte Strategie der Neuen Linken.

 

 

 

9. Antipädagogik

 

Die Antipädagogen leugnen ebenfalls, ganz im Geiste der Frankfurter Schule, die Existenz einer festen Natur des Menschen. Stattdessen führen sie die marxistische Betrachtungsweise ein und verstehen das Verhältnis von Erwachsenem und Kind nur noch in soziologischen Kategorien und als Klassengegensatz. So schreibt Schönebeck, der Lehrer sei der «Klassengegner des Kindes». Im übrigen ist das Menschenbild der Antipädagogik in sich so widersprüchlich, dass Sie, liebe Zuhörer, sich nicht weiter den Kopf zerbrechen müssen, wenn Ihnen offensichtliche Ungereimtheiten auffallen. Für die Antipädagogen ist der Mensch nichts anderes als ein Koffer, aus dem man nur herausnehmen könne, was man zuvor hineingetan habe. Der Mensch sei gleich einem beschriebenen Blatt gänzlich durch die Umwelt determiniert. Er sei nur das, was man von ihm denke, dass er sei. Aus ihm werde das, was man aus ihm mache. Gemäss dieser Theorie seien Kinder nur nach Meinung der Erwachsenen erziehungsbedürftig. Und weil die Erwachsenen sie als Erziehungsbedürftige behandelten, würden sie schliesslich auch erziehungsbedürftig. Damit öffnet die Antipädagogik der Willkür Tür und Tor. Nun kann man beliebige Behauptungen über den Menschen aufstellen und sich über psychologische und anthropologische Erkenntnisse einfach hinwegzusetzen, denn Kinder seien ja nicht erziehungsbedürftig. Die Entwicklungspsychologie ist für die Antipädagogik schlicht irrelevant.

Damit leugnet man aber die Grundbestimmung des Menschen – nämlich, dass er eine Kindheit hat, d.h., dass er unfertig und bedürftig zur Welt kommt und erst durch die Hilfe der sozialen Umwelt zur Persönlichkeit wird. Das Neugeborene ist von Natur aus auf Hilfe und Anleitung angewiesen. Die Antipädagogik aber will die Erziehung abschaffen. Ihr Vordenker Ekkehard v. Braunmühl setzt Erziehung gleich mit «listenreicher, unmerklicher Manipulation der Begierden, des Willens, mit anderen Worten: Gehirnwäsche, Dressur, letztendlich Psychoterror». Um dies zu rechtfertigen, behauptet man, das Kind sei von Geburt an «spontanautonom» und «selbstbestimmt», wisse daher vom ersten Tag an selbst am besten, was für es gut sei und könne seine Bedürfnisse selbst bestimmen. Lloyd de Mause schreibt: «Die Beziehungsform Unterstützung beruht auf der Auffassung, dass das Kind besser als seine Eltern weiss, was es in jedem Stadium seines Lebens braucht.» Und: «einem kleinen Kind dabei zu helfen, seine täglichen Ziele zu erreichen, bedeutet, ständig auf es einzugehen, mit ihm zu spielen, seine Regressionen zu tolerieren, ihm zu dienen, (…).» Dem Kind fehle zu Beginn seines Lebens nur die Kompetenz, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Und nur dafür brauche es die Erwachsenen, denn es lerne alles von selbst.

Der Mensch ist hier ein Wesen, das sich wie eine Pflanze aus sich heraus entwickelt. Der Erwachsene dürfe diese natürliche Entwicklung nicht stören. Trotz der Leugnung der Erziehungsbedürftigkeit des Kindes bezeichnen die Antipädagogen den Menschen als «soziales Wesen». Gemeint ist aber nicht die Sozialnatur, wie sie etwa Adler beschreibt. Für die Antipädagogik braucht der Mensch den Mitmenschen nur zur eigenen Bedürfnisbefriedigung, also als Mittel zum Zweck. Das Menschenkind wird nicht erfasst in seiner existentiellen Angewiesenheit auf Beziehung, auf Mitgefühl, auf Aufmerksamkeit, Einfühlsamkeit, Hilfe, Anleitung, Trost und Zuwendung. Stattdessen wird schon das Neugeborene zum autonomen, selbstbestimmten Ich stilisiert, dem die Erwachsenen gleich Dienern zur Bedürfnisbefriedigung gereichen sollen. Der Lehrer dürfe daher nicht mehr anleiten und Wissen vermitteln, sondern sei ein Diener, der Lernmaterialien vorbereite, zur Verfügung stelle, ansonsten aber im Hintergrund bleiben müsse. In dieser Vorstellung von «Nicht-Erziehung» muss der Mensch auch nicht in die Gepflogenheiten, Bräuche und sozialen Umgangsformen der Gesellschaft eingeführt werden.

Für die Antipädagogen ist der Mensch gleich einer Amöbe, ein sich selbst regulierender Organismus (wie übrigens für die Gestalttherapie auch), der nur auf Umweltreize reagiert und die Umwelt nur zur Aufrechterhaltung seines inneren Gleichgewichtes benutzt. Der Mensch müsse nur seine eigenen Interessen und Bedürfnisse verfolgen. Jeder sei dafür selbst verantwortlich und auch dafür, dass er seine Interessen durchsetzen könnde. Damit hat Verantwortung keine soziale Bezogenheit mehr und ist abgeschafft. Rücksichtsloses Verfolgen der eigenen Interessen, seine Interessen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen ist das Resultat – Für die Antipädagogen kein Problem: Das Zusammenleben reguliert sich für sie nach dem Gesetz des Stärkeren – das Faustrecht regiert. Die Antipädagogen deuten Aggression, Hass und Wut zu konstruktiven Ich-Äusserungen um, womit ein «konstruktiver Bezug zur menschlichen Aggressivität herstellt» werden soll. Der Mensch verwirkliche sich, indem er seine Aggressionen auslebe. Dieses Ausagieren jeglicher Gefühle ohne Rücksicht auf Verluste sei gesund, zum Erhalt des Energiehaushalts nötig und um sich selbst mit seinen «authentischen» Gefühlsäusserungen zu «realisieren». Moral und Gewissen würden hierbei hindern. Allgemeinverbindliche Werte werden geleugnet. Man will daher keine Gewissensbildung, denn eine Ethik sei Zwang und Einengung. Alleiniger Massstab sei das subjektive Bedürfnis, dem jeder gehorchen müsse.

Im antipädagogischen Weltbild wird die Existenz einer erkennbaren objektiven Wirklichkeit verneint. Es gebe nur noch subjektive «Wahrheiten». Wenn alles nur subjektiv gilt, muss man sich auch nicht mehr dem anderen verständlich machen, da er einen gar nicht verstehen kann. Sollte der andere sich meinen Interessen in den Weg stellen, könne ich ihn nur aus dem Weg räumen. Einsicht und Verstehen sei vom anderen nicht zu erwarten sind. Argumenten könnten nicht mehr überzeugen. Durchsetzen sei gefragt.

Durch dieses Welt– und Menschenbildes werden die Fundamente menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt. In Frage gestellt sind Wissenschaft und Wahrheitsfindung, eine allgemeinverbindliche Ethik für ein friedliches Zusammenleben und die Menschenrechte; ebenso wie der Rechtsstaat, der gerade an die Stelle des Faustrechts die allgemeinverbindliche Regelung des menschlichen Zusammenlebens auf der Grundlage des Respekts vor der Würde und Freiheit des anderen gesetzt hat.

Die antipädagogische Theorie hat einen politisch ausführenden Arm: die Kinderrechtsbewegung. John Holt, einer ihrer Protagonisten, wird von Schoenebeck, dem deutschen Antipädagogen, als «einer der Quellen der Antipädagogik»[39] genannt. Schoenebeck führte, nachdem er die Parallelen zwischen der amerikanischen Children´s Rights Movement und der deutschen Antipädagogik entdeckt hatte, in Deutschland den Begriff «Kinderechtsbewegung» ein und proklamierte im Mai 1980 im Namen seines Vereins «Freundschaft mit Kindern» das «Deutsche Kinderrechtsmanifest». Dieses sieht sich in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung und fordert für Kinder die gleichen Bürgerrechte wie für die Erwachsenen.

 

 

 

10. Kinderrechtsbewegung

 

John Holt sagt: «Ich schlage vor, die Kindheit zu ersetzen, indem wir jedem jungen Menschen, gleich welchen Alters, alle Rechte, Privilegien, Pflichten und Verantwortlichkeiten erwachsener Bürger zugänglich machen, damit er sich ihrer bedienen kann, wenn er möchte.»[40] John Holt, neben Goodman führender Anarchist und Agitator für eine föderalistische Weltregierung, gehört zu den Hauptvertretern US–amerikanischen Schulkritik. In seinem Buch «Zum Teufel mit der Kindheit» findet sich eine Liste von radikalen Kinderrechten, die zur ideologischen Grundlage der US–amerikanischen Kinderrechtsbewegung wurden, und ein Teil davon floss in die Kinderrechtskonvention der UNO ein. Für Holt geht es im Leben nur «körperliche, geistige und soziale Macht», um Selbstbehauptung gegenüber dem Mitmenschen und gesellschaftlichen Gruppen bis hin zum Kampf aller gegen alle, nicht zuletzt auch der Kampf zwischen Kind und Eltern. Sogar Kleinkindern seien nur an ständiger Machtausweitung interessiert und ihre Beziehung zu den Eltern sei ein gegenseitiges Ausbeutungsverhältnis. Zwischen Kind und Eltern finde nach Holt kein emotionales Wechselspiel statt, sondern ein «subtiler Machtkampf». Das Kind beginne «zu foppen und zu kokettieren». Es werde, so Holt, «selbstbewusst, verschlagen, berechnend, manipulierend.» Für Holts barbarisches Menschenbild sind Kinder «Tiere und Sensualisten zugleich; für sie ist gut, was sich gut anfühlt. Sie sind in sich selbst vertieft und selbstsüchtig. Es ist ihnen kaum möglich, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, sich vorzustellen, was er empfindet. Dies macht sie oft unüberlegt und zuweilen grausam, doch egal ob nett oder grausam, ob grosszügig oder engherzig – sie folgen stets ihrem Impuls, nicht einem Plan oder Prinzip. Sie sind Barbaren, Primitive, über die wir ja ebenfalls häufig sentimental denken.»

Das natürliche Stadium der Kindheit ist nach Holt eine menschliche Erfindung. bei «Kindheit, Mutterschaft, Zuhause, Familie- [handle es sich] im wesentlichen um örtlich begrenzte und junge Erfindungen». Wenn man nur an die tragischen Beobachtungen kranker und sterbender Kinder denkt, die an Entzug der Mutterliebe litten, wie Rene Spitz berichtet, dann macht einem die folgende Antwort Holts auf die Frage, ob man Kinder aussetzen solle, mehr als betroffen: «allen Ernstes … Warum nicht? Wenn niemand sie will oder wenn es keinen Ort gibt, zu dem sie wollen, warum können wir ihnen dann nicht das Geld, das sie zum Leben nötig hätten, was nur ein Bruchteil von dem ausmacht, was wir für ihre ‚Pflege‘ aufbringen müssten, in die Hand drücken und sie ihr Leben leben lassen?»

Familie oder ein Zuhause sind also Erfindungen, die allein der Machterhaltung der herrschenden Klasse dienen. «keine Mutter und kein Vater geben eine solche Fürsorge oder haben sie in der Geschichte der Menschheit jemals gegeben. Kein Kind (es sei denn, es liegt unter einer eisernen Lunge) hat eine solche Fürsorge nötig, würde es sie bekommen, hätte es allen Grund, wahnsinnig zu werden», schreibt Holt.

Letztendlich entspringen solche Anschauungen wie die von Holt einer absoluten Verrohung, einer völligen geistigen Verwahrlosung und Brutalität. Nach Holt sind Kinder bei uns «Belastung und Plage» für die Erwachsenen. Deshalb würden vor allem reiche Leute richtig handeln, wenn sie dem Schmerz und der Anstrengung, die die Erziehung mitbringt, ausweichen würden, indem sie ihre Kinder weggeben würden. Die moderne Kleinfamilie sei nach Holt «Mittel zur Beherrschung und Versklavung, … Diktatur in Miniaturformat (die zuweilen durch ‚Liebe‘ legitimiert wird)». Wie von den Anpipsychiatern wird der Helfende von Holt als «Anpassler» scharf bekämpft. Der Helfer ist für ihn ein Parasit und «lebt und zehrt von der Hilflosigkeit anderer; er produziert selber die Hilflosigkeit, auf die er angewiesen ist.» Eltern seien daher für Holt Sadisten. Ihnen verschaffe es angeblich «Genugtuung, ihre selbstgezüchteten Sklaven zu halten.»

Jetzt erstaunt es fast nicht mehr, dass Holt auch das Alter für unnütz hält. Es sei «eine vergeudete und nutzlose Zeit», sagt er «Niemand braucht dich, keiner hat ein Interesse an dir, du fällst allen zur Last und machst nur Scherereien, du kannst nichts mehr leisten, du weisst auch gar nichts mehr, oder das, was du weisst, ist völlig belanglos.» Es gibt die bösartige Geschichte von jenem Südseetamm, der ab einem bestimmten Alter seine Alten auf die Palmen jagt, schüttelt und die Herabstürzenden als zu schwach erschlägt. Bei Holt feiert sie Urstände.

In diesem Bild der gegenseitigen Ausbeutung aller gegen alle erhält auch die Sexualität eine brutale Note. Anstelle von Fürsorge der Eltern für ihre Kinder behauptet Holt einen «sexuellen Aspekt der Zuneigungen» der Erwachsenen und schon bei Kindern sexuelle Bedürfnisse. Pädophilie – so Holt – sei ebenso alltäglich wie der ewige Machtkampf. Wer dabei Ekel empfindet, dem hält er zynisch entgegen: «Aus diesen Befürchtungen klingt das Klischee vom unschuldigen jungen Mädchen, das sich in den Klauen des schmutzigen alten Mannes befindet. Kaum einer stört sich daran, wenn eine ältere Frau mit einem jungen Burschen schläft.(…) diesen Mythen zufolge ist jedes Mädchen, das mit einem älteren Mann sexuelle Beziehungen hat, notwendigerweise sein Opfer».

Die angeblich zur Kultur des Menschen gehörende Drogensucht darf im postmodernen Menschenbild Holts nicht fehlen. «In all seinen Kulturen und in seiner ganzen Geschichte scheint der Mensch immer ein Wesen gewesen zu sein, das Drogen ebenso wie Werkzeuge benutzt hat, und vielleicht wird das auch immer so bleiben.» Heroin ist gleich Kaffee, Tabak, Alkohol, Zucker oder Vitamin C. Heroin sei «in seiner reinen Form eine der ungefährlichsten Drogen» und «weniger das Heroin selbst, als vielmehr der Heroin-Lebensstil – d.h. die ausserordentlichen Schwierigkeiten und Kosten, die mit seiner Beschaffung verbunden sind – der lebenszerstörend wirke.»

11. Antihumanismus, Postmoderne
Kürzlich erschien ein Bücherprospekt, in dem eine Biographie über den französischen Antihumanisten Michel Foucault wie folgt empfohlen wird: «Mit Michel Foucault starb 1984 einer der bedeutendsten Philosophen Frankreichs. Wenigen wie ihm ist es gelungen, ihre Zeit nicht nur zu reflektieren, sondern ihr das Zeichen des eigenen Denkens aufzuprägen. Seit Foucault sehen wir ‚Sexualität‘, ‚Wahnsinn‘, ‚Gefängnis‘, ‚Macht‘ in einem anderen Licht.»[41] Das ist richtig – leider.

Zuerst nun zu Foucaults Menschenbild: Wie die anderen postmodernen Philosophen wendet er sich dezidiert gegen die Anthropologie als Wissenschaft von der Natur des Menschen. Es gebe keine universelle, allen Menschen gemeinsame Natur. Der Mensch sei nicht zu erfassen, da er von unbewussten, unberechenbaren Kräften getrieben werde, die ihn auch nicht in eine einheitliche Richtung lenkten. Ganz im Gegensatz zum personalen Menschenbild ist der postmoderne Mensch keine autonome Person mit einem eigenen Willen und einer Vernunft, der sich bewusst verhalten kann. Diese sogenannte Ich-Identität, behauptet er, sei nur das Resultat bürgerlicher Erziehung sowie verinnerlichter Wertmassstäbe und Zwänge. Es gelte, dieses Ich aufzulösen, wozu bei Foucault sogar die Geschichtsschreibung ( besser: Geschichts-Umschreibung) dient. Sie kann «der systematischen Auflösung unserer Identität dienen. Denn diese Identität, die wir unter einer Maske notdürftig wahren wollen ist selber nur eine Parodie: der Plural regiert sie, unzählige Seelen machen sie einander streitig».[42] Unsere Identität solle in alle Winde zerstreut werden. Der Mensch als Person sei nur eine Erfindung des Humanismus, der mit leeren Begriffen wie «Gewissen», «Individuum» oder «Freiheit» operiere. Eine linke Politik müsse ohne diese «konfusen humanistischen Mythen»[43] auskommen. Der Humanismus habe den Menschen eingeredet, sich zu unterwerfen und auf die Macht zu verzichten. Foucault propagiert deshalb die «kulturelle Attacke» zur Sprengung der Werte des Humanismus und die Zerstörung des Subjekts (der menschlichen Persönlichkeit): Mittel dazu sind die Aufhebung der sexuellen Grenzen, Aufhebung des Drogenverbots, Aufbrechung aller Verbote und die Zerstörung der Institutionen wie Recht, Gefängnisse, Kliniken und Schulen. Alle Regeln und Normen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens sollen aufgelöst werden. «Die revolutionäre Aktion (…) definiert sich als gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; dies setzt voraus, dass man zum Angriff auf die Machtverhältnisse übergeht, deren Instrumentarium Bewusstsein und Institution sind./Glauben Sie, dass man die Philosophie und ihren Moralkodex in derselben Weise wird lehren können, wenn das Strafrechtssystem eingestürzt ist?»,[44] fügt er an.

Foucaults Menschenbild und seine politische Zielsetzung sind untrennbar miteinander verknüpft und sind Ausdruck seines eigenen Lebensstils. Er tut sich hervor als Propagandist sexueller Perversionen als Lebensstil, besonders auch sadomasochistischer Praktiken. Daran fasziniert ihn das «Strategische» in der Beziehung, also die Macht.(5) Foucault sieht alle menschlichen Beziehungen von Macht durchsetzt und ruft dazu auf, auch bewusst die Macht zu wollen. Scharf rechnet er mit den Humanwissenschaften wie Medizin, Psychologie oder Pädagogik ab. Er unterstellt ihnen die Funktion, im Dienste der Macht die Menschen einer durch die Kultur vorgegebenen Norm zu unterwerfen, sie zu «normalisieren» und zu «disziplinieren».[45] So seien die Menschen unserer Kultur nichts anderes als Produkte der Unterwerfung, die gehorsam und angepasst funktionierten und die Bedingungen ihrer Unterwerfung brav weiter produzierten ohne es zu merken. Wenn Foucault über die Menschen schreibt, bezeichnet er sie gerne als «Körper». Die antihumanistische Gesinnung dringt eben auch in der Sprache durch. Dazu ein Zitat, es bezieht sich auf die Institutionen unserer demokratischen Gesellschaft, auch auf die Schule: «In dieser zentralen und zentralisierten Humanität, die Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehungen ist, sind Körper und Kräfte durch vielfältige ‚Einkerkerungs’anlagen unterworfen (…). In dieser Humanität ist das Donnerrollen der Schlacht nicht zu überhören.»(7) Foucault setzt die Schule mit dem Gefängnis gleich. Die Schule habe in unserer «Disziplinargesellschaft» die Aufgabe, die Kinder bis in ihr Innerstes zu kontrollieren und zu manipulieren. «Und aus diesem Grunde war eine wirkliche und tatsächliche ‚Verkörperung‘ der Macht notwendig, in dem Sinne, dass diese bis zum Körper der Individuen, bis zu ihren Gesten, bis zu ihren Einstellungen, bis zu ihren tagtäglichen Verhaltensweisen kommen musste; daher die Bedeutung von Methoden wie der schulischen Disziplinierung, der es gelungen ist, den Körper der Kinder zum Gegenstand höchst komplexer Manipulation und Konditionierung zu machen.»[46] Ich zitiere diese Stelle zur Schule so ausführlich, weil sie ein Argumentationsmuster enthält, das die Gestalter und Antipädagogen übernommen haben: Weil «die Macht» bis in unsere Verhaltensweisen, bis in die Mimik und Gestik eingedrungen sei, müsse mittels der Psychotechniken am Körper der Menschen angesetzt werden.  Hilarion Petzold, der führende deutsche Gestaltideologe, empfiehlt wärmstens, Foucault zu lesen. Er gehöre zur Pflichtlektüre jedes Therapeuten, Pädagogen und Humanwissenschaftlers. (Wir erinnern uns, dass Foucault die Humanwissenschaften radikal ablehnt!) So müsse sich «jeder Therapeut und Humanwissenschaftler erneut die Frage stellen, inwieweit er in den Prozess verflochten ist, ‚Disziplinarindividuen‘ zu schaffen und diszipliniert zu erhalten unter dem Banner einer Humanität, die bei genauerem Hinsehen doch recht fragwürdig wird.»[47] Alle postmodernen Antihumanisten wenden sich gegen allgemeinverbindliche Werte. So sind für einen anderen bekannten französischen Philosophen der Postmoderne, Jean-Francois Lyotard, wissenschaftliche Erkenntnisse oder geistesgeschichtliche Traditionen nur beliebige «Sprachspiele» oder «Erzählungen», die niemals Allgemeingültigkeit beanspruchen dürften. Die verschiedensten Meinungen, Ansichten und Lebensformen sollten nebeneinander her bestehen, und es gibt für Lyotard keinen Massstab der Orientierung dafür, was dem Menschen zuträglich sei. Die Vernunft wird beschuldigt, «totalitär» zu sein, wenn sie als Orientierungsmassstab gelte. Der Mensch als Person sei für ihn, wie für alle Antihumanisten, nur ein bürgerliches Konstrukt. Lyotard geht sogar so weit, dass er den gesellschaftlichen Konsens ablehnt und den «Dissens», also den unversöhnlichen Streit verschiedener Meinungen, propagiert. Den Menschen, die verantwortungsbewusst auf der Grundlage eines Wertekonsens handeln, unterstellt er in einer bewussten Verdrehung faschistische Motive: «Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen».[48] So verwundert es auch nicht, dass Lyotard den Menschen entmenschlicht, indem er zu seinen sog. «Bestandteilen» einen «cortikalen Computer» und «visuelle und auditive Greifer» zählt. In Lyotards menschenverachtender Gesinnung ist der Mensch «vielleicht nur ein besonders ausgeklügelter Knoten in der allgemeinen, das Universum konstituierenden Interaktion der Strahlungen.»[49]

 

 

 

12. Antiwissenschaftlichkeit

 

Nur kurz gestreift werden soll hier noch die Abschaffung der objektiven Wissenschaften, was zum zentralen Bestandteil des Menschenbildes der heutigen Pseudoerneuerer gehört. Kaum ein Philosoph hat mit Unsinn mehr Popularität erreicht als Karl Popper mit seiner Ablehnung des Prüfbarkeitskriteriums in den Wissenschaften. Für ihn gehören die bestehenden Naturwissenschaften zwar zum Besten, was wir Menschen besitzen, aber sicheres Wissen sei unmöglich. Ja noch mehr, wer etwas mit Sicherheit wissen wolle, der erhebe sich nach Popper damit bereits über den anderen Menschen. Das sei der Beginn eines Weges, der nach Popper direkt in den Krieg führe.

Noch krasser wurde darin Paul Feyerabend. Für ihn sind Wissenschaftler schlicht «Ratio-Faschisten». Nach ihm hätten die Wissenschaften «die ganze Welt wie eine ansteckende Krankheit infiziert» und es wäre «menschlicher», zur Wissensgewinnung wieder «nichtwissenschaftliche Ideen einzuführen», worunter er die «Weisheit von Zauberern und Hexen» versteht. Das wäre für Feyerabend der Beginn einer «neuen Aufklärung». Überhaupt hätten «Rationalisten und Wissenschaftler keine rationalen (wissenschaftlichen) Argumente für die ausgezeichnete Stellung ihrer Lieblingsiedologie», weshalb man es den Kindern freistellen solle, ob sie Mathematik oder Physik überhaupt lernen wollten. Am besten wäre es, die Menschheit in einer zweiten Aufklärung von der Wissenschaft zu befreien, wie einst in der ersten Aufklärung des 18. Jh. von der Religion.

 

 

 

13. 1990er Jahre – der Mensch als «Amöbe»

 

Wir haben nun einen historischen Bogen geschlagen von den Anfängen der systematischen Zerstückelung des Menschen durch Marx bis hin zur heutigen Situation. Alle diese vielfältigen Gedanken finden wir im heutigen Zeitgeist und den politischen Strategien der Pseudoerneuerer wieder, und wir wollen nun versuchen, diese kurz zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Im Kern aller Erneuerungsideologien finden wir die generelle Ablehnung einer festen Menschennatur. Der Mensch ist nicht mehr Person und Beziehungswesen, das schöpferisch planend und zielgerichtet sein Leben in Gemeinschaft führt, sondern nur noch vernunftoser Körper und – nach der alten Marxschen Idee – nur das, was seine Gesellschaft aus ihm mache. Damit wird der Mensch völlig auf seine Gesellschaft oder reine Sinnlichkeit reduziert. «Ohne jede Einheitlichkeit,» aber sagte Adler, «jede Physiognomie und jede persönliche Note glichen wir Lebewesen vom Rang einer Amöbe.»[50]

Dass der Mensch ein Beziehungswesen ist, das Gemeinschaftsgefühl hat, wird heute als Ideologie denunziert, Verantwortung wird abgelehnt, Pflichten sind suspekt geworden. Ideal der Gesellschaft ist nicht eine Gemeinschaft beziehungsfähiger Individuen. Gesellschaft, Kultur und ihre Institutionen – wie unter anderem die Schule – werden mit allen Mitteln angegriffen und zerstört, weil sie angeblich den Einzelnen grundsätzlich unterdrückten, kopflastig seien u.ä.m.

Strafvollzug und Recht werden verwässert. Täter werden zu Opfern stilisiert, die Verantwortung für die Folgen dann allerdings abgelehnt. An die Stelle der Verantwortung für das Gemeinwesen tritt ein hemmungsloses Machstreben unter dem Deckmäntelchen der sogenannten «Selbstbestimmung».

Damit zusammen hängt die Verteufelung objektiver Wissenschaft. «Objektivität ist ein männliches Vorur­teil.» predigen FeministInnen etwa. Nach Feyerabend gilt nur noch «anything goes» und die Gesellschaft müsse heute von der Wissenschaft befreit werden wie einst in der Aufklärung von der Religion.

Dadurch werden alle Unterscheidungen zwischen bekömmlich und nicht bekömmlich, krank und gesund, normal und anormal eingeebnet. Jenseits aller ethischen Mässtäbe werden sämtliche Irritationen und Perver­sionen – wie z.B. Aggressionen – zu gleichberechtigt nebeneinander stehenden «Bedürfnissen» – und gefördert. Unausgelebte Perversionen und Irritationen führen dann angeblich zu Schäden, «Blockierungen», «Stauungen» oder ähnlichem. Daher muss der Mensch von seinen angeblich verklemmten und verkümmerten Sexualvorstellungen zu angeblich «natürlicher» und «wahrer» «Lust» befreit werden. Sexualität wird zur «Lebensenergie» erklärt. Sie wird aus der personalen Begegnung zweier gegengeschlechtlicher Liebender herausgerissen und nur noch als die Technik betrachtet, mit der Menschen «Lust» erleben – anything goes! Sieht man sich die heutigen Volksbildungsanstalten wie RTL an, dann bleibt von dem sozialen Lebewesen, wie wir es kennen, nicht viel mehr übrig als ein Plasmahaufen, durchzuckt von spontanen, ja nicht zu bremsenden Energien sogenannter Lust.

Diese Sexualisierung dient dann einer angeblichen «Befreiung». Wie die Sexualität wird die Familie entwertet: Sie ist zum Beispiel nach Bundesrätin Dreifuss nur noch «ein Zusammenschluss von Menschen, die gegenseitig zueinander schauen, bedingt durch gemeinsame, gegenseitige Verantwortung.»[51] – anything goes! Drogen werden als Genussmittel verharmlost. Nach Modena gehören alle Arten von Rausch und Extase zu einer neuen «pluralistischen» Lebensform. Opium wird zur Religion des Volkes. Eine «touchy feely»-Kultur sucht das Lebensglück in starken Empfindungen und Reizen, losgelöst von sozialer Verantwortung.

Nur eine Kardinalsünde gibt es noch – die, normal sein zu wollen. Der Heterosexuelle muss sich zum Beispiel gegen den Vorwurf verteidigen, er zwinge dem «anderen» eine willkürliche Norm auf und «grenze» ihn aus. Man nennt sich daher «schwul» und nicht mehr homosexuell. Seine Meinung vertreten, einen Standpunkt haben zu wollen ist «fundamentalistisch» geworden oder man nennt es «fremdbestimmt». Wenn nur das Gesetz allgemein gelten würde, dass alle nur das machen würden, was ihnen gerade Spass macht, dann wäre die Welt glücklich. Gegen dieses Gesetz des Zeitgeistes verstösst, wer eine feste Meinung hat, einen objektiven Standpunkt einnimmt, etwas weiss. Er muss daher bekämpft werden, und die neuen Aufpasser wachen darüber, dass diese Moral – zum Wohle der Menschheit versteht sich! – eingehalten wird.

Typisch dafür auch ein Inserat der Stadtpolizei Amsterdam aus dem Sommer 1993: Gesucht würden Schwule, Farbige oder Lesben für den Polizeidienst, da diese die Delinquenten «besser» verstünden.

Angesichts all dieser Beliebigkeit wird Ethik – trotz (oder gerade wegen?) des vielen Geredes über Ethik – abgeschafft, beziehungsweise das Verständnis von Ethik ins unmenschliche umgewertet: Man sucht nicht mehr das «gute Leben». Allgemeinverbindliche Normen sind zu «Repressionen» geworden. Die Standpunktlosigkeit – Perls nennt sie die «Ethik des Augenblicks».– wird Ideal und neue Norm. Alles andere ist «fundamentalistisch», «sektiererisch», «konservativ», «faschistisch», «rechts» oder «rechtsextrem». Die «changing agents» in den Medien, aus den Schulungszentren für Psychotechniken, aus den Kontrollzentren für Weltanschauungsfragen bei den Grosskirchen, zusammen mit den bereits umerzogenen Professoren kontrollieren und führen den Menschen dorthin. Durch hemmungslose und völlig unkontrollierte Medienmacht wird die Gewaltenteilung ausgehebelt.

Der Toleranzbegriff des Humanismus’ wird aufgegeben und durch Marcuses «repressive Toleranz» ersetzt: «Befreiende Toleranz würde … Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links. Was die Reichweite dieser … Intoleranz angeht, … müsste sie sich ebenso auf die Ebene des Handelns erstrecken wie auf die der Diskussion und Propaganda, auf Worte wie auf Taten.»[52] Wenn die Linken, so Marcuse, Gewalt ausüben, dann beginnen sie «keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.»[53] Sollte einst Toleranz kategorisch für alle Menschen gelten, so gilt sie seit Marcuse nur noch gegenüber Linken, gegenüber denjenigen, die das richtige Parteibuch haben. Generationen von Intellektuellen haben diese Gedanken des Vordenkers der 68er Generation aufgenommen und weitergetragen, so dass heute weite Kreise «fortschrittlich gesinnter Menschen» gegenüber Gewalt und Unmenschlichkeit unempfindlich geworden sind, ja sie geradezu fordern gegenüber denjenigen, die sie als «Feinde» serviert bekommen. So erklärt sich die gegenwärtige Verfolgung unserer Lehrer, aber auch aller anderer, die nicht mit Drogenliberalisierung, Schul«reformen», Psychotechniken, Gewaltverherrlichung, Mediengewalt, Sexualisierung und so weiter einverstanden sind. Das marxistisch-leninistische Prizip des «der Zweck heiligt die Mittel» rechtfertigt mittlerweile jede Form der Gewalt und Strategie: vom «Hinrichtungsjournalismus» (Böhme) in den Medien, die als Staatsanwalt, Richter und Henker in einem auftreten; über den Terror der Strasse, die «klammheimliche Freude beim Abschuss des Buback» (Meskalero), Umerziehung durch menschenverachtende Psychotechniken, und so weiter und so fort …

Am Ende dieses Marsches durch die Institutionen und das Gewissen steht die letzte aller Verneinungen, dass nämlich das menschliche Leben in sich einen moralischen Wert habe und in jedem Fall schützenswert sei. Nach Anton Leist, einem Zürcher «Philosophen» und angeblichen Anwärter auf den Lehrstuhl für Medizinische Ethik, gebe es in der Arzt-Patient-Beziehung nur noch ein Gesetz: das Lust-Unlust-Prinzip! Tiere werden von solchen «Ethikern» zur Person erklärt, die mehr Wert haben können als ein Mensch. Ein Kind, Alter, Kranker könne nach Peter Singer nicht mehr ‚Person’ sein, so dass man ihn töten dürfe.

Damit sind wir am schwärzesten Punkt angekommen und müssen schliessen. Wir wollen aber noch das Zitat eines römischen Denkers anfügen, der bereits in seiner Zeit die menschliche Natur gut kannte:

«Besteht das höchste Gut, wie manche behaupten, in den Sinnenlust, dann sind die Tiere uns gegenüber gewaltig im Vorteil. Die Tiere haben für nichts Empfinden als für sinnliche Lust und werfen sich darauf mit allem Ungestüm. Der menschliche Geist dagegen findet seine Nahrung im Studium und in der Überlegung. Immer erforscht, immer unternimmt er etwas. Neues zu sehen und zu hören ist seine Freude. Der eine und andere mag dabei einen ausgesprochenen Hang zum sinnlichen Vergnügen haben. Solange er aber nicht gerade ein viehischer Wollüstling ist – manche sind ja nur dem Namen nach Menschen –, solange er, sage ich, seelisch noch einiger Erhebung fähig ist, sucht er aus sittlicher Scham diesen leidenschaftlichen Hang zum Genuss zu verbergen und zu verleugnen. … Nein, das höchste Gut ist etwas von der Sinnenlust Grundverschiedenes. Es muss naturgemäss sein, und zwar muss es seinen Sitz im höhern Teil unseres Wesens, in der Seele haben. Es besteht im sittlich Guten, in der Tugend. … Die Tugend ist nichts anderes als die in sich vollendete und zur harmonischen Reife gelangte Natur. … Das wahre Gesetz ist die gesunde Vernunft, die mit der Natur im Einklang steht. Es erstreckt sich auf alle Menschen, ist unwandelbar und ewig. … Das Gesetz ist nicht ein anderes in Rom, ein anderes in Athen; es ist nicht ein anderes heute, ein anderes morgen. … Wir haben es nicht gelernt, sondern von der Natur selbst empfangen.» Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v.Chr.)

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit


Anmerkungen

[1]                Grotius, Hugo. De Jure Belli ac Pacis, 1670, IIf. (Von Krieg und Frieden, 1625) Zitiert nach: Materialien zur Rechtsgeschichte 3. Schott, Clausdieter (Hrg.) Textbuch: Rechtsgeschichte. Forschungsstelle für Rechtsgeschichte. überarbeitete Auflage. Zürich 1992, S. 63.
[2]                Vgl. Randelzhofer, Albrecht. Die Pflichtenlehre bei Samuel von Pufendorf. Berlin/New York.1983, S. 8. Vgl. auch: Voigt. Alfred. Geschichte der Grundrechte. 1948, S. 192ff.
[3]                Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 16f.
[4]                Pufendorf, Samuel. Zit. nach: Randelzhofer, S. 18.
[5]                Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 17.
[6]                Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[7]                Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[8]                Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[9]                Grotius, Hugo. Zit. nach: Schott, S. 65.
[10]              Marx/Engels Werke, Band 4, S. 477; Zit. n. Löw, K. Marxismus-Quellenlexikon, S. 267.
[11]              Löw, K. Marxismus-Quellenlexikon, S. 267.
[12]              Marx/Engels Werke, Band 39, S. 426; Zit. n. Löw, K. Marxismus-Quellenlexikon, S. 268.
[13]              Marx/Engels Werke, Band 7, S. 21. Zit. n. Löw, K. Marxismus-Quellenlexikon, S. 187.
[14]              Marx/Engels Werke, Band 36, S. 176. Zit. n. Löw, K. Marxismus-Quellenlexikon, S. 187.
[15]              Marx, Karl. Das Kapital. Band 1. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1969, S. 148.
[16]              Jean Ziegler in: »ZiischtigsclubFehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.
[17]              Marx, Karl. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Marx, Karl. Die Frühschriften. Stuttgart 1971, S. 224.
[18]              Marx, Karl. Die Deutsche Ideologie. In: Marx, Karl. Die Frühschriften. Stuttgart 1971, S. 341.
[19]              Marx, Karl. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Marx, Karl. Die Frühschriften. Stuttgart 1971, S. 211.
[20]              Marx, Karl. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Marx, Karl. Die Frühschriften. Stuttgart 1971, S. 211.
[21]              Bergmann/Dutscheke/Lefevre/Rabehl. Rebellion der Studenten oder die Neue Opposition. S. 40.
[22]              Bergmann/Dutscheke/Lefevre/Rabehl. Rebellion der Studenten oder die Neue Opposition. Reinbeck 1968, S. 165.
[23]              Bergmann/Dutscheke/Lefevre/Rabehl. Rebellion der Studenten oder die Neue Opposition. S. 165.
[24]              Amendt, Günther. (Hrg.)  Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen? Reinbeck 1968. S. 20.
[25]              Amendt, Günther. (Hrg.)  Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen? Reinbeck 1968. S. 35.
[26]              Amendt, Günther. (Hrg.)  Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen? Reinbeck 1968. S. 29.
[27]              Wilhelm Reich. Die Entstehung des Orgons. Der Krebs. Frankfurt/Main 1976. S. 27. Wenn nicht anders vermerkt, stammen im folgenden alle Reichzitate aus dieser Quelle.
[28]              Wilhelm Reich. Die Entstehung des Orgons. Der Krebs. Frankfurt/Main 1976. S. 34.
[29]              Vgl. Eribon, D. Michel Foucault. Eine Biographie. FfM 1993, S. 456.
[30]              Foucault, M. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. FfM 1977, S. 397.
[31]              Szasz, Thomas. Macht und Allmacht der Psychiatrie. 1976.
[32]              Schmid, Sil. Freiheit heilt. Wagenbac. Berlin 1977.
[33]              In: „Psychologie und Geisteskrankheit» (1968) „Wahnsinn und Gesellschaft» (1969)
[34]              perls, f.s./hefferline, r.f./goodman, p.: Gestalttherapie, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. 135
[35]              perls, f.s./hefferline, r.f./goodman, p.: Gestalttherapie, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. 57
[36]              Hoffmann, Claudio. Verlogene Fronten. Berliner Lehrerzeitung. 11/1988, S. 28.
[37]              Hoffmann, Claudio. Verlogene Fronten. Berliner Lehrerzeitung. 11/1988, S. 28.
[38]              Burow, Olaf-Axel. „Tu nur, was du wirklich willst“. In: Betrifft Erziehung. September 1988, S. 60.
[39]              Schoenebeck, Hubertus von. Antipädagogik im Dialog. Eine Einführung in antipädagogisches Denken. Weinheim/Basel 1985, S. 84.
[40]              Holt, John. Zum Teufel mit der Kindheit. Wetzlar 1978, S. 13.
[41]              Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Neuerscheinungen. 199. S. 5.
[42]              Foucault, M. Von der Subversion des Wissens. FfM 1987, S. 86.
[43]              Foucault, M. in: Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault. In: Foucault, M. Von der Subversion des Wissens. FfM 1987, S. 24.
[44]              Foucault, M. Gespräch mit Studenten. In: Foucault, M. Von der Subversion des Wissens. FfM 1987, S. 100.
[45]              Vgl. Foucault, M. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. FfM 1977.
[46]              Foucault, M. Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. In: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 43.
[47]              Petzold, H. Buchbeschreibung von Foucaults „Überwachen und Strafen“. In: Integrative Therapie …..
[48]              Lyotard, J.-F. Postmoderne für Kinder. Wien 1987, S. 30f.
[49]              Lyotard, J.-F. Postmoderne für Kinder. Wien 1987, S. 37.
[50]              Adler, Alfred. Die Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und ihre Ergebnisse. In: Ders. Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Frankfurt/Main 1974, S. 21.
[51]              Dreifuss, Ruth. In: Schweizer Familie. Nr. 49 vom 9.12.93, S. 16.
[52]              Marcuse, Herbert. Repressive Toleranz. In: Wolff/Moore/Marcuse. Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/Main 1967, S. 120.
[53]              Marcuse, Herbert. Repressive Toleranz. In: Wolff/Moore/Marcuse. Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/Main 1967, S. 127f:

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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