Das «Minerva-Project» oder: «When Professors go to War»

2016 Moritz Nestor


  1. Rede vom 14. April 2008 von US-Verteidigungsminister Robert Gates
  2. Das «Minerva-Project» oder: «When Professors go to War»

 

 

Das Minerva-Projekt

 

In seiner Rede vom 14. April 2008 erklärte US-Verteidigungsminister Robert Gates in einer Rede vor der Association of American Universities (AAU) das neue Programm „Minerva“. [1] Im Kalten Krieg seien die USA mit einer geschlossenen Macht konfrontiert gewesen, der UdSSR, und mit einer Ideologie, dem Kommunismus. Die heutigen Bedrohungen stammten aus vielfältigen Quellen: „a new malignant form of terrorism inspired by jihadist extremism, ethnic strife, disease, poverty, climate change, failed and failing states, resurgent powers and so on.“

Die USA müssten daher “devote more resources to what has been called ´soft power´, the elements of national power beyond the guns and steel of the military – from diplomacy to economic development and assistance, institution building, strategic communications, and more.” Einer der Schlüssel dazu sei, “to find untapped resources outside of government – resources like those our universities can offer.

Es bestehe heute bereits eine starke Verbindung zwischen Regierung/US-Verteidigungsministerium und den amerikanischen Universitäten. Er, Robert Gates, habe gefordert, in den kommenden Jahren das Forschungsbudget des US-Verteidigungsministeriums zu erhöhen. Im derzeitigen Entwurf für das FY09 stünden 1,7 Mia $ für Grundlagenforschung bereit – 273 Mio $ mehr als 2007. Er habe für die nächsten fünf Jahre weitere 1 Mia $ für Grundlagenforschung gefordert.

Das US-Verteidigungsministerium unterstütze bereits alle Anstrengungen, die Ausbildung in Mathematik und Naturwissenschaften zu fördern, wie sie zum Beispiel in „Gathering Storm“ erwähnt würden. Das US-Verteidigungsministerium habe nun das „Minerva Consortia project“ ins Leben gerufen. Es befindet sich gegenwärtig noch in der Konzeptionsphase. Es baue bis zu einem gewissen Grad auf den Errungenschaften des Kalten Krieges auf. Damals sei die „intellektuelle Hauptstadt“ des US-Verteidigungsministerium und der Nation entstanden, und zwar in Form von neuen Forschungszentren wie RAND und mit neuen gesetzlichen Grundlagen wie zum Beispiel dem „National Defense Education Act“ aus dem Jahr 1958 (ein Jahr nach dem Sputnik“schock“).

Minerva solle ein Konsortium aus Universitäten werden, das Wissen aus verschiedenen Bereichen zur Verfügung stellen und Ort/Verwalter von „open-source documentary archieves“ sein solle. Das US-Verteidigungsministerium (eventuell zusammen mit anderen Regierungsstellen) könne solche Projekte finanzieren. Es wünscht und finanziert:

 

1.) „Chinese Military and Technology Studies“

Aufbau eines Archivs für die Entwicklung des chinesischen Militärs and der chinesischen Technologie. Das Naval War College der US-Marine habe so etwas schon für die chinesische Marine aufgebaut. So sollten es viele Fakultäten an vielen Universitäten für viele andere Bereiche tun, dann entstünde das Konsortium. Es könnte Kongresse veranstalten und Forschungsvorhaben vergeben. Ziel: Ziele und Motive einer bedeutenden Welt- und Militärmacht zu verstehen. Das hätte bedeutende Auswirkungen auf die Politik.

 

2.) „the Iraqi and Terrorist Perspectives Projects“

Das Institute for Defense Analysis, das mit Regierungsgeldern finanzierte Forschungszentrum des US-Verteidigungsministerium, habe bereits viele der in den letzten Jahren im Irak erbeuteten Dokumente untersucht, die sowohl die Regierung als auch die Arbeit von Terrornetzwerken beträfen. Diese Dokumentensammlung könne historisch nur mit dem Smolensker-Archiv verglichen werden, das Forscher wie Merle Fainsod untersuchten. Die Dokumente aus dem Irak könnten die USA lehren, Dritte-Welt-Diktaturen besser zu verstehen. Nur weniges davon sei allerdings bereits ausgewertet worden. An der National Defense University finanziere das Pentagon gerade die Eröffnung des Conflict Records Research Center. Sie vom Pentagon sähen es jedoch lieber, wenn dieses Conflict Records Research Center seine Heimat bei einem Konsortium von Universitäten hätte.

 

3.) „Religious and Ideological Studies“

Der Sieg im Krieg gegen den Jihad Extremismus wird weniger von der Kriegsführung der USA abhängen als vom allgemeinen ideologischen Klima in der islamischen Welt. Entscheidend wird sein, zu verstehen, wie und warum dieses Klima „is likely to evolve over time, and what factors – including U.S. actions – will affect it thus becomes one of the most significant intellectual challenge we face.” Solcherart religiöse Studien seien ein bedeutender intellektueller Beitrag für die Grundlegung der US-Strategie der kommenden Jahre und Jahrzehnte.

 

4.) „New Disciplines Project“

Während des Kalten Krieges waren die Universitäten – oft finanziert von der Regierung – lebendigen Zentren neuer Forschung, neuer Ideen und sogar neuer Forschungsgegenstände wie der Spieltheorie und der Kremlinology.“ In den letzten Jahren habe das Pentagon gemerkt, dass die USA für die „Herausforderungen der heutigen Welt“ ein „much broader conception and application of national power than just military powess“ benötige. US-Regierung und US-Verteidigungsministerium müssten daher mehr akademische Fakultäten mit einbeziehen, wie zum Beispiel: Geschichte, Anthropologie, Soziologie und evolutionäre Psychologie.

 

Dies nur ein kleine Teil der Ideen des Pentagon. Die Beziehung zwischen US-Verteidigungsministerium und den Sozialwissenschaften, vor allem den Humanwissenschaften, habe jahrzehntelang zwischen Kooperation und Feindschaft geschwankt. Ein empfindlicher Punkt sei gegenwärtig die Beziehung zwischen Militär und Anthropologen in Afghanistan und im Irak. „Let me be clear that the key principle of all components of the Minerva Consortia will be complete openness and rigid adherence to academic freedom and integrity. There will be no room for ´sensitive but unclassified,´ or other such restrictions in this project. We are interested in furthering our knowledge of these issues and in soliciting diverse points of view – regardless of whether those views are critical of the Department´s efforts. Too many mistakes have been made over the years because our government and military did nit understand – or even seek to understand – the countries or cultures we were dealing with.”

Wie ist der gegenwärtige Zustand der Beziehung zwischen US-Verteidigungsministerium und der Akademikerschaft? Vor allem zwischen Naturwissenschaften (hard sciences) und US-Verteidigungsministerium bestehe bis heute eine gute Zusammenarbeit. Er fürchte, in der Öffentlichkeit würden sie deshalb oft „joggerheads“ genannt.

Zum Einsatz von Anthropologen in Afghanistan und im Irak (= Human Terrain Teams): Anscheinend sei das Militär gegen den Elfenbeinturm gestossen. Die Meinungen im Militär und in der Akademikerschaft zu den Human Terrain Teams seien gespalten. In Wirklichkeit gebe es eine lange Geschichte der Kooperation (auch Kontroversen) zwischen US-Regierung und Anthropologie. Im Irak und in Afghanistan werde der militärische Erfolg davon untergraben, dass das Militär zu wenig von den Menschen wisse, mit denen es jeden Tag zu tun habe. Das Militär habe daher im Human Terrain Project neben Anthropologen auch andere Experten eingesetzt, wie zum Beispiel Ökonomen, Historiker und Soziologen. Ein US-Kommandeur habe Robert Gates berichtet, 2007 seien die bewaffneten Einsätze in seinem Gebiet nach Einsatz eines Human Terrain Teams um 60% zurückgegangen.

Viele glaubten an eine strikte Trennung zwischen Militär und Wissenschaft. Das stamme noch aus der Zeit des Vietnamkrieges: Wissenschaftler hätten sich nach dem Krieg missbraucht gefühlt und Soldaten hätten sich von den Akademikern aufgegeben und verraten gefühlt. Heute noch fühlten sich viele Militärs von Akademikern nicht unterstützt. Das sei nicht gut für die USA, ihre Soldaten und ihre Universitäten.

Die Folgen von Vietnam seien aber in den letzten Jahren verblasst. Das American Council on Education habe zusammen mit James Wright, dem Präsidenten von Dartmouth, der Universität von Kansas, ein Programm für verletzte Veteranen ins Leben gerufen. Die Teilnehmer des Programms würden ermutigt, das College zu besuchen und begleitend dazu beraten. Es seien oft keine traditionellen Bewerber mit niederem GPA aus früheren Jahren. Sie bereicherten aber den Campus und die meisten seien gute Studenten. Die Mitglieder der Association of American Universities sollten diesem Beispiel folgen und auch nach neuen Wegen suchen, wie das höhere Bildungswesen das Militär unterstützen könne.

(Jetzt folgen eine Menge Vorschläge, wie Studium und Militärdienst miteinander verflochten werden könnte, vor allem auch in Kulturwissenschaften.)

Das US-Verteidigungsministerium gründe gerade das Servicemembers Opportunity College, ein Konsortium von Universitäten für die stärkere Verflechtung zwischen Universitäten und dem Militär. Aber nur ein Viertel der Mitglieder der Association of American Universities nehme daran teil. Wenn die Mitglieder der Association of American Universities ein eigenes derartiges Konsortium gründen wollten, biete das Pentagon gerne logistischen Rat an.

Viele private Organisationen finanzierten höhere Bildung für Militärangehörige und deren Familien. (Es folgen Überlegungen, wie den Veteranen, die USA haben 1,5 Millionen davon!, zu helfen sei, dass auch sie höhere Bildung bekämen.)

Programm: Wie in der Vergangenheit so müssten auch heute die Universitäten Quelle neuen Denkens sein, „we must today find new ways for this pillar of American society to serve our citizens, our nation, and our world.”

Neues Denken für den Krieg, meint er.

 

[1]  http://www.defense.gov/Speeches/Speech.aspx?SpeechID=1228 (eingesehen im Jahr 2008, heute nicht mehr im Internet)

 


 

 

1998: Der faustische Pakt der AAA mit dem Krieg

 

1994 blitzen US-Rassisten unter der Führung von Warren Hern und Lynn Margulis bei der Amerikanischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft ab, als sie am Jahrestreffen der Gesellschaft ein Symposium abhalten wollen, worin sie den Menschen als “Krebsgeschwür auf dem Planeten” entmenschlichen. Sie propagieren, dass “die Zahl der Menschen in vielen Teilen der Welt rasch und unkontrolliert wächst, dass der Mensch in Lebensräume eindringt und sie zerstört und dass er durch das Ausrotten vieler Arten die Vielfalt der Natur mindert. All diese Merkmale sind charakteristisch für maligne Krebsgeschwüre.” „Für Millionen von Jahren ist die Erde ohne Menschen ausgekommen, und sie wird es auch wieder. Die einzige Frage ist, wie der Mensch gegenwärtig untergeht.“ Die Amerikanische Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft ist zu recht empört: „Diese Frage darf nicht gestellt werden.“

1998 aber lässt die Amerikanische Anthropologische Gesellschaft (AAA), eine hochgeachtete wissenschaftliche Gesellschaft, auf ihrem Jahrestreffen in Philadelphia das gleiche rassistische Symposium zu und verleiht ihm wissenschaftliche Würde. Seit Mitte der 80er Jahre waren derartige rassistische Themen in allen möglichen Zeitschriften der USA erschienen. Neu ist 1998, dass eine hochgeachtete wissenschaftliche Gesellschaft wie die Amerikanische Anthropologische Gesellschaft dem Rassismus wissenschaftliche Ehre erweist. (Zum Paralleldenken: 1999 ändert die NATO ihre Verteidigungs- in eine Angriffsdoktrin und bombardiert und verseucht Jugoslawien mit Uran. Jürgen Habermas heiligt den Jugoslawien-Krieg als ‑ sicher nicht immer einfache ‑ Geburtwehen einer heraufziehenden neuen Epoche! 2001 fallen die USA in Afghanistan ein und beginnen dort ihren Ausrottungskrieg. Als der Vortrag der US-Rassisten 1998 in Philadelphia gehalten wird, liegen die Angriffspläne für die NATO- und US-Kriege längst fertig in den Schubladen der Bush-Clique.)

Die Rede von Menschen als „malignem“ Krebs im Vortrag von Warren Hern bei der AAA bedeutet, dass es eine Frage der Hygiene sei, eine Frage der Säuberung der Erde, wenn man Menschen ausrottet. Die globale Variante des nazistischen „jüdischen Ungeziefers“! Hier wird „Wissenschaft“ zur Hure des Krieges und der Ausrottung. Zu dem Ungeziefervergleich kommt auf dem 1998er Jahrestreffen der AAA die zweite Absage an jede Mitmenschlichkeit ‑ von Anthropologen vorgetragen, gebilligt, beklatscht und unwidersprochen: ein Symposium mit dem Titel „Die Armen sollten sich selbst helfen.“ Dort empfiehlt man die Theorie von Thomas R. Malthus, einem britischen Minister, Mathematiker und Ökonomen aus dem 18. Jahrhundert, als „Lösung“ für die armen Länder der Erde heute. Malthus hatte den brutalen Ausbeutern der englischen Industrialisierung die „wissenschaftliche“ Theorie für ihre Ablehnung einer menschlichen Sozialgesetzgebung geliefert: Wenn es den Menschen wirtschaftlich zu gut gehe, vermehrten sich die Armen im Vergleich zu den Reichen rascher. Die Bevölkerung vermehre sich nämlich „von Natur aus“ immer geometrisch, die Lebensmittel aber nur linear. Also lieber keine Sozialgesetzgebung, sondern das Werk der Evolution – die „Ausmerze“ ‑ selbst in die Hand nehmen, hiess das für die Malthusianer. 1998 als „anthropologische“ Lösung für die armen ausgebeuteten Länder der Erde des ausgehenden 20. Jahrhunderts empfohlen, heisst das: Nimm den Armen die Lebensmittel und ihr Bevölkerungswachstum geht von alleine zurück. Das Motto „Die Armen sollten sich selbst helfen“ ist die „wissenschaftliche“ Rechtfertigung für das Einstellen aller Hilfe an die Notleidenden der Erde. Die US-Anthropologen behängen damit die mit Krieg und Genozid Hand in Hand gehende, global-brutale Ausbeutung mit den Rosen einer angeblichen Wissenschaft. Auf dass man die Ketten nicht mehr sehe und den Genozid als Schicksal hinnehme! Hat man den Deutschen nicht zu Recht den Vorwurf gemacht, sie hätten nicht rechtzeitig etwas gegen Hitler getan, als man noch etwas hätte tun können?

Die Geschichte der Kriege und Genozide ist voll von derartigen Versuchen, Menschen, die der Geld- und Machtgier im Wege standen, zu entmenschlichen, um sie damit der Vernichtung zu überantworten. Der durch den Tiervergleich oder ähnliches zum Nicht-Menschen erklärte Mitmensch wurde immer schon mitleidlos abgeschlachtet. Und die US-Anthropologen von 1998 reihen sich mit ihrem Kongress nahtlos in diese Geschichte der Genozide ein.

Reichspropagandaminister Goebbels drehte jene berüchtigten Propagandafilme, die Juden mit lichtscheuen Ratten und Ungeziefer verglichen und den Bürgern so die nötige Angst und Abscheu vor Vergiftung und Verseuchung einjagen sollten, so dass der Mord am Ungeziefer als „Säuberung“ und notwendig für die „Volksgesundheit“ erschien. Die „Reinigung“ des „Volkskörpers“ von „Wucherungen“ (gemeint waren Menschen!) gehörte zum aufputschenden Sprachgebrauch der Nazis. Und vergessen wir nicht C. G. Jung, der den Nazis die Theorie frei Haus lieferte, es gebe eine höherwertige arische und eine minderwertige jüdische Psychologie. Auch Lenin denaturierte die, die er ausrotten wollte, zuerst zu „Wanzen“, „Flöhen“ und „Ungeziefer“, von denen man die „russische Erde reinigen“ müsse.

Man könnte noch viele nennen. Es gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte, die Völker für die Durchführung der schrecklichsten Dinge mit suggestiven „Theorien“ geblendet zu haben. Theorien, für die renommierte Wissenschaftler im Dienste der Macht ihren Namen gaben, um dem Irrsinn den Mantel der Wissenschaft zu leihen.

 

 


 

 

2008: Widerstand aus den Reihen der Anthropologen

 

Hugh Gusterton, Professor für Anthropologie und Soziologie an der George Mason University und Vorstandsmitglied der AAA rief gegen den Versuch des Pentagon, die amerikanischen Anthropologen in den Dienst des Militärs zu stellen, das Network of Concerned Anthropologists ins Leben.

Im Juli 2008 nimmt er unter dem Titel „When Professors go to War“[1] öffentlich gegen Verteidigungsminister Robert Gates und dessen Minerva-Projekt Stellung.

Gusterton weist mahnend auf Vietnam: Damals hätten alle massgeblichen „policymakers“ schief gelegen und die USA in einen Krieg gezogen, der 50 000 GIs und drei Millionen Vietnamesen getötet und das Ansehen der USA in der Welt gründlich ruiniert habe. Amerikanische Militärs und Politiker seien in den gegenwärtigen und kommenden Kriegen vor noch viel schwerere Fragen gestellt. Beantworteten sie sie falsch, habe das sich noch grösseres Leid für die Menschen in der Region zu Folge und noch mehr Amerikaner stürben grundlos.

Viele amerikanische Anthropologen wollen sich nicht vom Pentagon bezahlen lassen. Sie berichten, dass sie heute bereits bei ihrer Feldforschung im Ausland von den Menschen dort verdächtigt würden, für amerikanische Geheimdienste zu arbeiten. Wenn sie in aller Öffentlichkeit vom US-Militär angestellt werden, befürchten sie, dass ihre „Forschungsobjekte“, die Menschen, die sie erforschen, nicht mehr mit ihnen sprechen wollten.

[1]    URL: http/www.foreignpolicy.com/story/cms.php?story_id=4398

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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