Vortrag, gehalten am Kongress «Mut zur Ethik» 1997 in Feldkirch
Vorbemerkung
Gerade in der heutigen Zeit kommt einer gründlichen Rückbesinnung auf das Naturrecht und die naturrechtlich begründeten Menschenrechte eine gewaltige Bedeutung zu.
Der Marxismus hat zum Beispiel den naturrechtlich begründeten Menschenrechten ganz zu unrecht den Vorwurf gemacht, hinter ihnen würden sich nur die Profitinteressen der «bürgerlichen Klasse» verbergen. Nur durch einen gewaltsamen Umsturz des bestehenden Systems könne eine kollektive Produktionsweise herbeigeführt und ökonomische Gleichheit hergestellt werden; erst dann könnten die «wahren» Menschenrechte verwirklicht und der Mensch «wirklich» Mensch werden.
Der Marxismus hat mit dieser Konstruktion die klassischen Menschenrechte als Worthülsen übernommen, diese aber konsequent mit dem dialektisch-materialistischen Menschenbild angefüllt. Er redet auch von Freiheit, von Würde, von Recht, Mensch, Menschenrechten usw., aber in einem ganz anderen Sinn. Wo das Naturrecht den Menschen durch Recht befreien will, durch Menschenrechte, Gewaltenteilung und Demokratie, da will der Marxismus gerade diese Prinzipien abschaffen, weil angeblich die gewaltenteilenden, auf Menschenrechten basierenden Verfassungsstaaten absolut keine Möglichkeit böten, bestehende wirtschaftliche Ungleichheit restlos zu beseitigen. Erst wenn diese Staatsform, die Menschenrechte im klassischen Sinn, Gewaltenteilung und Demokratie abgeschafft seien, werde der Weg frei zu einer anderen, kollektiven, kommunistischen Wirtschaftsweise und erst dann könne «wahre» Gleichheit eintreten. Erst dann könnte der Mensch seine «wahre» Würde erhalten und dann erst sei der Mensch wirklich frei.
In Wirklichkeit werden damit das Lebensrecht, das Recht auf Freiheit und Eigentum und die Menschenrechte radikal im Namen einer neuen Freiheit mit Gewalt und Terror abgeschafft ‑ allerdings einer neuen Freiheit, die mit wirklicher Freiheit nur noch den Namen gemeinsam hat.
Es geht also angesichts der Zerstörung, die der Marxismus hier angerichtet hat, darum, wieder zurück zu gewinnen, was die eigentliche Bedeutung der klassischen Menschenrechte ist. Und das hängt ganz entscheidend vom rechten Verständnis der naturrechtlichen Grundfragen ab. Menschenrechte sind naturrechtlich begründet. Was das heisst, wollen wir im folgenden darstellen.
Was ist Naturrecht?
Das Naturrecht sagt, dass es etwas gibt, was von Natur aus recht ist. Es unterscheidet sich vom durch Menschen gesetzten, sogenannten positiven Recht dadurch, dass es dem Menschen allein schon deshalb zusteht, weil er Mensch ist, und dass es durch keinen Machthaber oder wie auch immer gearteten Mehrheitsbeschluss geschaffen wird. Es ist daher vorstaatliches Recht. Das heisst, die Gesetze eines Staates müssen sich kritisch am Naturrecht messen lassen. Das Wissen darüber, was von Natur aus recht ist, ermöglicht es, totalitären Ideologien und Diktaturen von einem festen mitmenschlichen Standpunkt aus entgegenzutreten, ein Gefühl der Empörung gegen Unrecht und Unmenschlichkeit zu empfinden, auch wenn eventuell die ganze Gesellschaft einem Diktator zujubelt.
Gerade Menschen, die Gewaltherrschaften überlebt haben, können die Nachgeborenen nach- und mitfühlen lassen, was es heisst, die Menschenwürde zu bewahren, auch angesichts schrecklicher und nahezu aussichtsloser Bedingungen. Solche Beispiele zeigen aber auch, dass das Naturrecht weitaus mehr umfasst als nur die Sphäre der juristisch-staatsrechtlichen Disziplin.
Recht ist anthropologisch gesehen ein bestimmtes, festumrissenes Empfinden und Verhalten des Menschen in allen Lebensbereichen, nämlich: Ein Mensch fordert von einem anderen, dass dieser ihm die berechtigte Erfüllung eines Anspruchs nicht verweigert. Das Naturrecht stellt die Frage nach den natürlichen Ansprüchen, die die Menschen mit auf die Welt bringen, die sie aneinander stellen und stellen müssen, weil sie eben Menschen sind. Und das Recht regelt eben diese Ansprüche oder formuliert die Rechtmässigkeit dieser Ansprüche, damit ein friedliches, sicheres und gerechtes Miteinander möglich ist. Es ist also die Frage nach den grundlegenden Werten, Normen und Tugenden für ein zwischenmenschliches Zusammenleben im Grossen wie im Kleinen. Das ist die ethische Dimension des Naturrechts.
Die bis heute entwickelten Naturrechtslehren zeugen immer auch vom jeweiligen Stand der geistigen Entwicklung ihrer Autoren und von der geschichtlichen Situation, in der sie entstanden sind. Doch sind die Naturrechtslehren dadurch nicht beliebig, sondern Ausdruck des Bemühens, mit dem Wissen der jeweiligen Zeit das von Natur aus Rechte genauer zu erfassen. So blicken wir heute auf einen Schatz an Naturrechtslehren, den es in Erinnerung zu rufen und weiterzuentwickeln gilt, nicht zuletzt als Korrektiv gegenüber dem heutigen Zeitgeist, der in vielfacher Weise dem natürlichen Empfinden und Wissen um die Freiheit und die Würde des Menschen zutiefst widerspricht.
Die Naturrechtsdiskussion reicht weit in philosophische, theologische, anthropologische und ethische Überlegungen hinein. Sie umfasst metaphysische und ontologische Fragen, das heisst auch grundsätzliche Fragen, wie die Welt aufgebaut ist und welche Stellung der Mensch darin hat.
Die historisch bedeutendste Auswirkung hatte das Naturrecht in den Menschenrechten und den Rechtssystemen und Verfassungen der modernen Demokratien. Aber auch die Herausbildung der modernen Pädagogik und der öffentlichen Bildung ist ohne das Naturrecht nicht denkbar. Die katholische Soziallehre hat im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Naturrecht Entscheidendes zur Lösung der sozialen Frage beigetragen. Und das Völkerrecht des zwanzigsten Jahrhunderts, das auf internationaler Ebene die Menschenrechte erstmals zur Geltung gebracht hat, war eine erneute fruchtbare Rückbesinnung auf das Naturrecht nach zwei schrecklichen Weltkriegen.
Wir werfen daher einen kurzen Blick zurück auf die Geschichte des Naturrechts, weil es von Anfang an zum Kulturschatz der abendländisch-christlichen Geistes- und Kulturentwicklung gehört. Zwei grosse Phasen lassen sich erkennen: Erstens das klassische Naturrecht, es umfasst die griechische Antike und die christliche Philosophie, und zweitens das neuzeitliche moderne Naturrecht.
Klassisches Naturrecht
Platon
Das naturrechtliche Denken nimmt seinen Anfang in der antiken griechischen Philosophie, vor allem in der Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten. Ihnen hielt Platon entgegen, dass es objektive, absolut gültige Normen, Werte und Gesetze gebe, die nicht von den wechselnden Meinungen der Menschen abhängig seien. An diesen objektiven Ideen dessen, was Recht ist, müsse sich der Staat und die Staatsführung zu allen Zeiten messen lassen. Platon gilt, weil er hinter dem Recht die objektive Idee der Gerechtigkeit gesehen hat, an der sich jedes Recht und Gesetz messen lassen muss, als Begründer des ideellen Naturrechts.
In einem gewaltigen System führt er Seelenkunde, Erziehungslehre, Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie zusammen. Und auch da sehen wir, dass von Anfang an mit dem Naturrecht auch ethische und pädagogische Fragen mitgedacht worden sind, denn der Mensch soll durch Erziehung und Bildung zu einem tugendhaften Leben geführt werden. Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit zählen seit Platon zu den Kardinaltugenden einer sittlichen Lebensführung, die eben zum Ziel hat, dass der Mensch durch seine Vernunft erkennen kann, was gut und richtig ist. Im Staat, und das soll nur kurz angedeutet werden, herrscht dann Gerechtigkeit, wenn jeder einzelne nach Geburt und Stand das „Seinige tut“ und sich so harmonisch ins Ganze der Gesellschaft einfügt. Platons Bedeutung für die abendländische Geistesgeschichte liegt unter anderem darin, dass er erkannte, und das auch immer wieder ausgeführt hat, dass es objektiv wahre Sachverhalte gibt, die allgemein erkennbar und universell gültig sind.
Aristoteles
Platons Schüler Aristoteles hat – dies sei mit aller Vorsicht gesagt – mit seiner Philosophie zu einer „Verwissenschaftlichung“ naturrechtlicher Überlegungen geführt. Er hat Platons ewige Ideen in die Dinge und Lebewesen selbst gelegt, sozusagen als Anlagen, die erst zu entwickeln sind.
Der Mensch ist demnach ein Wesen der Natur, dem ein natürlicher Platz im hierarchischen Aufbau des Kosmos zukommt. Was den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, ist seine Fähigkeit zur Vernunft. Diese ist ihm als Naturanlage gegeben, aber er muss sie im Laufe seines Lebens erst richtig gebrauchen lernen; dann kann er die Ordnung der Natur erkennen und sein Leben dieser natürlichen Ordnung gemäss führen. Und auch da finden wir wieder pädagogische Überlegungen. Das höchste Ziel im menschlichen Leben ist das vernunftbestimmte Leben und dazu kann der Mensch nur gelangen, wenn er in Kindheit und Jugend lernt, seine Begierden und Affekte zu mässigen. Er muss das goldene Mass der Mitte einhalten lernen (Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit) und wenn das nicht schon im Kindes- und Jugendalter zur Lebengewohnheit wird, dann wird er später von extremen Affekten hin- und hergerissen und wird nie zu einer tugendhaften, besonnenen, vernunftbestimmten Lebensführung (Klugheit) gelangen.
Der Mensch ist also von Natur aus ein Wesen, das Vernunft hat, aber er ist auch ein soziales, staatenbildendes Wesen, ein zoon politikon. Für Aristoteles ist Politik angewandte Ethik, und zwar insofern, als es die Aufgabe des Staates ist, den Menschen ein tugendhaft-sittliches, vernünftiges und gerechtes Lebens zu ermöglichen. Der Staat ist also nicht Selbstzweck, sondern er dient der Ausbildung eines guten und gerechten Lebens. Der Mensch darf nicht durch Tyrannei geknechtet werden. Als gut gilt für Aristoteles eine Staatsform, die dem Gemeinwohl dient, und als entartet eine, die nur die Interessen der Herrschenden verfolgt. Deshalb ist Aristoteles für eine gemässigte Volksherrschaft eingetreten, allerdings nur im kleinen überschaubaren Rahmen eines griechischen Stadtstaates. Aber immerhin, es stellt doch den ersten historischen Versuch dar, das Prinzip der Demokratie naturrechtlich, zum allgemeinen Wohl der Menschen zu begründen.
Neben der naturrechtlichen Begründung und der Demokratie tritt bei Aristoteles auch das dritte Grundprinzip, das für die modernen Verfassungsstaaten ebenfalls konstitutiv geworden ist, in Ansätzen auf, und zwar die Gewaltenteilung. Die Verfassung, so wie er sich den Staat vorgestellt hat, zerfällt in drei Teile: eine über die öffentlichen Dinge beratende Instanz, die Legislative, die Beamten, die die Exekutive darstellen, und die Rechtsprechung, die Judikative. Damit hat Aristoteles in Grundzügen eine Staatstheorie geschaffen, die für die europäische Staatslehre von grundsätzlicher Bedeutung war.
Das klassisch griechische Naturrecht hat sich dann über die Stoa und über das römische Recht weiterentwickelt; wir wollen das der Kürze halber auslassen und kommen gleich zur christlichen Tradition, zu Thomas von Aquin.
Die christliche Tradition: Thomas von Aquin
Thomas von Aquins grosse Leistung bestand darin, die Philosophie des Aristoteles mit der von Augustinus herkommenden christlichen Philosophie und Theologie verbunden zu haben. Er hat damit überragende Bedeutung für die Herausbildung des christlichen Naturrechts, der christlichen Anthropologie und Theologie, in deren Zentrum der Mensch als Person steht.
Von Aristoteles übernahm Thomas, dass die Natur hierarchisch geordnet ist und alles ziel‑ und zweckmässig darin eingeordnet ist. So auch der Mensch. Er steht zwar unter den Gesetzen einer natürlichen und hierarchisch göttlichen Weltordnung, hat jedoch als Person durch Vernunft und Gewissen die Freiheit, sein Handeln selbst zu bestimmen. Der natürliche Zweck und das Ziel der Vernunfttätigkeit ist demnach die moralische und geistige Selbstvervollkommnung des Menschen, denn dadurch verwirklicht er, was von Natur aus gut – und das ist: gottgewollt – in ihm angelegt ist.
Die von Gott erschaffene Seinsordnung ist vollkommen gut. In ihr wirkt das „ewige Gesetz“, lex aeterna, das ist die göttliche Weisheit, als oberstes Gesetz. Von diesem ewigen Gesetz kann der Mensch durch seine Vernunft einen Teil erkennen. Das ist es, was Thomas das Naturrecht, lex naturalis, nennt. Und die unterste Ebene in dieser Hierarchie ist das „menschliche Recht“, lex humana oder das „positive Recht“, das mit dem natürlichen Recht und letztlich auch mit dem göttlichen Recht übereinstimmen muss. Die lex humana ergänzt die allgemeinen Vorschriften des Naturrechts nach den speziellen Anforderungen der jeweiligen Situation, der Zeit und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten hin.
Für Thomas sind Naturrecht und Offenbarung keine Gegensätze. Christen und Nichtchristen können das Naturrichtige erkennen, denn die Vernunftbegabung kommt allen Menschen zu. Und das natürliche Gesetz gilt für alle Menschen gleichermassen. Damit begründet Thomas den Toleranzgedanken und weist den Weg zum Religionsfrieden. Dieser Gedanke ist grundlegend für die katholische Soziallehre des 19./20. Jahrhunderts und für Johannes Messners Naturrechtslehre.
Der Mensch hat eine natürliche Neigung zum Guten, die ihm durch das ewige Gesetz „ins Herz geschrieben“ ist. Sie hilft ihm, das Naturrichtige besser zu erkennen. Die wesentlichen natürlichen Neigungen des Menschen sind diejenigen zur Wahrheitserkenntnis und zum Gemeinschaftsleben. Mit seiner Vernunft kann der Mensch die Gesetze der Natur erkennen und erfasst damit die von Gott geschaffene Ordnung. Das Naturrecht legt nun nicht einfach fest, was der Mensch in konkreten Situationen zu tun habe, oder welche Werte da handlungsleitend seien. Dazu muss die konkrete Situation in allen Einzelheiten untersucht und beurteilt werden.
Der Mensch ist ein geselliges, politisches und auf die Freundschaft mit anderen angewiesenes Wesen, „homo homini amicus et familiaris“. Daraus ergibt sich für Thomas der Kernbegriff der Politik, nämlich das Gemeinwohl. Die vom Menschen geschaffenen Gesetze haben dem Gemeinwohl zu dienen. Der Staat stellt den Rahmen zur Realisierung des Gemeinwohls dar. Er ist eine mit der Natur des Menschen gegebene Notwendigkeit und keine blosse Notordnung aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen. Das Gemeinwohl ist die Gesamtheit der Regeln und Institutionen, die für den einzelnen Menschen notwendig sind, um seine moralischen Ziele zu erreichen. Für jeden Menschen ergeben sich Aufgaben und Pflichten für das gerechte Handeln in der Gesellschaft und zur Hilfestellung an in Not geratene Menschen. Im Vordergrund stehen die Pflichten des Einzelnen gegenüber seinem Nächsten und der Gemeinschaft.
Zur Auffassung des Menschen als Vernunftwesen aus der antiken Tradition kommt nun bei Thomas der Begriff der menschlichen Person hinzu. Eine Person ist nach Thomas, weil der Mensch Gottes Ebenbild ist und einen personalen Bezug zu Gott hat, die „würdigste Natur von allen“. Sie zeichnet sich durch eine bestimmte Existenzweise aus, nämlich durch das „In-sich-selbst-Existieren“. Die Person ist fähig zum Erkennen und zum Wollen, was dem Menschen die Dimension der Freiheit eröffnet. Jede Person hat als geistiges und vernünftiges Wesen die Freiheit zu eigenverantwortlichem Handeln, sie ist Herr ihrer Akte. Nach Thomas besteht die Würde des Menschen darin, dass er als leib-seelisch einheitliche Person sein Leben selbst bestimmt und in eigener Verantwortung führt. In seinem persönlichen Gewissen entscheidet der Mensch über die moralische Qualität seiner Handlungen. In seiner subjektiven Gewissensentscheidung hat der Mensch so viel Freiheit, sagt Thomas, dass er auch die Befehle von weltlichen und kirchlichen Vorgesetzten selbständig beurteilen darf. Was die Person von ihrem subjektiven Gewissen her als moralisch schlecht erkannt hat, muss sie nicht befolgen. Wir finden damit bei Thomas von Aquin Ansätze einer sittlich-moralischen Autonomie, wie sie dann in der Neuzeit auftaucht und weitergeführt wird, die im subjektiven Gewissen der einzelnen Person begründet liegt.
Erste Zusammenfassung
Wir wollen die wichtigsten Grundzüge des klassischen Naturrechts zusammenfassen: Das klassische Naturrechtsdenken hat einen idealistisch-metaphysischen Charakter; es stimmt aber in vielerlei Hinsicht mit den modernen Humanwissenschaften überein. Kennzeichnend für das klassische Naturrechtsdenken ist darüber hinaus die religiöse beziehungsweise philosophisch-theologische Begründung. Das klassische Naturrecht ordnet den Menschen immer in eine kosmologische Ordnung oder in die göttliche Schöpfung ein. Im klassischen Naturrecht ist der Mensch schliesslich immer organisch in die politische Gemeinschaft eingeordnet. Insofern hat das Individuum keine rechtliche Eigenständigkeit und Autonomie. Deshalb stellt das klassische Naturrecht die sittliche Verpflichtung des Einzelnen stark in den Vordergrund, während das moderne Naturrecht mehr von den Rechten des Menschen als eines Einzelnen ausgeht. Wir kommen damit zum neuzeitlichen, modernen Naturrecht.
Modernes Naturrecht: Das Soziale als anthropologisches Prinzip des Naturrechts
Ab dem 16. Jahrhundert begann von Spanien her das Naturrecht in der von Thomas weiterentwickelten Form langsam konkrete politische Veränderungen hervorzubringen und wandelt sich zum modernen Naturrecht. Der spezifisch neuzeitliche Grundgedanke ist, dass alle Menschen, weil sie die gleiche Natur haben, ohne Ausnahme Rechtssubjekte sind und Freiheit und Würde haben.
Entscheidend für das neuzeitlich Naturrecht wurde die Begründung des Naturrechts durch Samuel Pufendorf im 17. Jahrhundert. Wir greifen ihn beispielhaft für die neuzeitliche Tradition heraus, weil wir hier, am Anfang der neuzeitlichen Debatte viel genauer und deutlicher sehen, auf was es ankommt: Die Menschen haben, wie Pufendorf sah, natürliche Pflichten gegeneinander, weil sie, ohne dass sie davon ablassen könnten, aufeinander angewiesen sind. Daraus entstehen alle Rechte. Der Boden, auf dem Pufendorf diese Vorstellungen entwickelt, ist das Soziale als anthropologisches Prinzip des Naturrechts, wie er es unter anderem in seinem Werk „Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur“[1] dargestellt hat.
Der Mensch hat nach Pufendorf einen natürlichen Selbsterhaltungstrieb. Kein Mensch könnte aber, völlig auf sich allein gestellt, leben. Das Neugeborene hat eine natürliche Neigung zur Gesellschaft. Und nur dadurch kann der Mensch überhaupt erst wirklich Mensch werden und nur durch Gegenseitige Hilfe kann er mit seinen Mitmenschen friedlich zusammenleben.[2] Vor allem Sprache und eine Reihe anderer Merkmale sind Teile dieser geselligen Natur des Menschen.
Seine gesellige Natur treibt den Menschen aber nicht automatisch dazu, ein nützliches Glied im Staat zu werden. Seine natürliche „Gesellschafts-Begierde“ entfaltet sich erst in Familie und Ehe als den natürlichen Gemeinschaften des Menschen. Der Heranwachsende muss Tugenden, Werte und Wissen (z. B. Aufrichtigkeit, Treu und Glauben, Urteilsvermögen und Bildung) in der Familie erwerben, um im Staat aktiver Bürger werden zu können. Es gibt aber auch Menschen wie zum Bsp. Kinder oder Irre, die nicht im Staat leben.
Weil jeder Mensch den anderen braucht und ohne ihn nicht Mensch werden und sein kann, weil der Mensch aber auch sehr empfindlich ist und leicht zu Affekten, Habsucht, Ruhm, Neid, Wetteifer, Geltungsstreben und Rivalität neigt und weil zudem seine geschickte Hand und seine enorme geistige Beweglichkeit es ihm leicht machen, anderen zu schaden ‑ deshalb müssen die zwischenmenschlichen Begegnungen unter den Menschen immer verantwortlich gestaltet werden. Für diese Lebensgestaltung ist dem Mensch kein Trieb gegeben, er ist dazu auch sonst nicht determiniert, sondern prinzipiell frei. Verantwortliche Abstimmung und Lenkung der menschlichen Beziehungen gehören daher grundsätzlich zum menschlichen Leben und sind für den Menschen die Lebensaufgabe schlechthin.[3]
Der objektive Masstab dafür ist für Pufendorf die Würde des Menschen. Die verantwortliche Abstimmung des Zusammenlebens gelingt nur, wenn jeder sich gegenüber den anderen so beträgt, daß diese bereit sind, auch seinen Vorteil zu wahren und zu fördern. Pufendorf definiert daher die Aufgaben des Naturrechts: „Die Regeln dieses Gemeinschaftslebens, oder die Lehren darüber, wie sich ein jeder betragen muss, um ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, werden als Naturrecht bezeichnet.“[4]
Hieraus ergibt sich für Pufendorf folgendes Grundgesetz des Naturrechts: Jeder Mensch soll „die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern … und Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten.“[5] Alle anderen Regeln des Zusammenlebens fliessen aus diesem anthropologischen Sachverhalt.
Weil alle Menschen gleichermassen diese Sozialnatur haben, will und kann niemand „sich mit solchen zu einer Gemeinschaft zusammenschliessen, die ihn nicht wenigstens als Mensch und Träger der gleichen Natur gelten lassen.“ Aus diesem natürlichen Grundgesetz des Gemeinschaftslebens ergeben sich drei natürliche Grundpflichten, ohne deren Beachtung kein friedliches Zusammenleben möglich ist:
Oberste und umfassendste aller Gemeinschaftspflichten ist das Gebot: „Keiner schädige den anderen.“[6] Hieraus fliessen später das Menschenrecht auf Leben, Freiheit, Unversehrtheit, Eigentum und Ehrenschutz.
Die zweite Gemeinschaftspflicht ist: „Jeder beachte den anderen und behandele ihn als einen von Natur Gleichgearteten, nämlich als Mensch schlechthin.“ „Denn die Verpflichtung, das Gemeinschaftsleben aufrechtzuerhalten, bindet alle Menschen in gleicher Weise.“[7]
Und die dritte Gemeinschaftspflicht lautet, der Mensch solle nicht nur Schaden unterlassen. Das alleine würde nicht genügen. Jeder solle vielmehr aktiv „soviel wie möglich den anderen nützen.“[8]
Neben Geselligkeit und Vernunft hat der Mensch die Sprache. Die Menschen regeln natürlicherweise ihr Leben, indem sie durch Sprache gegenseitig Verträge abschliessen. Aus freien Stücken und mit Vernunft abgewogene Verträge oder Versprechen sind daher das natürliche Mittel, das soziale Leben durch einklagbare Rechte und Pflichten näher zu regeln.
Die Menschen müssen daher zum Erhalt des freien, gerechten Gemeinschaftslebens beim Gebrauch der Sprache Treu und Glauben einhalten. „Niemand darf den anderen durch den Gebrauch der Sprache oder anderer Zeichen, die dazu dienen, Gedanken auszudrücken, täuschen.“[9]
Die soziale Menschennatur ist für Pufendorf eine anthropologisch gegebene Einheit von Sein und Sollen. Menschliches Leben ist für ihn grundsätzlich aufgabenhaft. Er nimmt in den anthropologischen Grundzügen seines Naturrechts das vorweg, was wir 250-300 Jahre später in der modernen personalen Tiefenpsychologie bei Alfred Adler wiederfinden.
Für Pufendorf ist die „Erweisung wahrer Menschlichkeit gegen alle und jeden … der tiefste Sinn der sozialitas. In der Liebe zum Mitmenschen, eben weil er Mitmensch ist, liegt das echte Menschentum, die «Natur» des Menschen.“[10] Pufendorf sieht die Würde des Menschen nicht mehr nur allein in der Gottesebenbildlichkeit begründet, sondern Freiheit und Würde des Menschen als individuelle freie und würdige Person sind vor allem anthropologisch begründet. Mit seiner Vernunft kann der Mensch die in seiner Sozialnatur liegenden Pflichten und Normen seines Handelns dann erkennen und dadurch sein Handeln selbst mitmenschlich bestimmen.
Die natürlichen Gemeinschaftspflichten ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus der Sozialnatur des Menschen und haben immer einen Zusammenhang und Auswirkungen mit und auf die ganze menschliche Gemeinschaft. Es ist deshalb nach Pufendorf „nicht um den Menschen allein zu tun, wenn er sich um seine eigene Vollkommenheit Mühe gibt; vielmehr erstrecken sich die Früchte seiner Anstrengungen über das ganze Menschengeschlecht. Je vortrefflicher jemand für sich selbst ist, desto größer ist sein Ansehen als ein edler und pflichtgetreuer Bürger dieser Welt. Deshalb muß der Mensch, wenn er die Gesetze der Sozialität erfüllen will, notwendig zuerst um seine eigene Ausbildung besorgt sein; denn je vortrefflicher er an seiner eigenen Vervollkommnung arbeitet, um so glücklicher wird er die Pflichten gegen die Mitmenschen erfüllen.“[11] Damit ist die individuelle Person immer in einen sozialen Zusammenhang eingeordnet. Ob ein Mensch gut oder schlecht handelt, kann daher nicht nur daran gemessen werden, wie gut oder schlecht die dahinterstehende Gesinnung ist. Weil in der Person Individualität und Sozialität zusammenfliessen kann nur die Tat sittlich vollkommen sein, die sowohl von der dahinter stehenden Gesinnung her als von dem her, was sie mitmenschliche vollbracht hat, dem friedlichen, gerechten Zusammenleben dient. Mitmenschliche Gesinnung und mitmenschliche Tat gehören also zusammen. Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeitssinn gehören also untrennbar mit gelebter Achtung und humaner Behandlung aller Menschen, mit tätiger Hilfeleistung und wirklicher Unterlassung von Schädigungen, mit der Erfüllung von Verträgen und grundsätzlich mit allen Taten zur Förderung des friedlichen Gemeinschaftslebens zusammen. Es darf also der Mensch nicht bei sich denken, er wolle betrügen und vordergründig für Mitmenschlichkeit eintreten.
Die Legitimation der Staatsgewalt verschiebt sich hier zum ersten Mal historisch weg vom gottgewollten Herrschertum: Allen Menschen kommt nämlich jetzt gleichermassen Freiheit und Würde der Person zu und deswegen muss jeder gleich geachtet und behandelt werden.[12] Damit sind keine Sklaven mehr möglich, und Herrschaft von Menschen über Menschen ist nur aufgrund freier Vereinbarung rechtens. Staatliche Gewalt ist nur durch freie Vereinbarung und Vertrag legitimiert. Damit ist der geistige Weg zur Demokratie im neuzeitlichen Sinn frei geworden.
Wir haben Pufendorf stellvertretend für die gesamte neuzeitliche Naturrechtsdebatte ausgewählt, weil hier die eigentlichen sittlichen Wurzeln der heutigen Verfassungen, der Grund- und Menschenrechte der Neuzeit so deutlich zu sehen sind, aber auch weil dies die kulturelle Tradition ist, auf die unsere heutige personale Psychologie zurückreicht und die für die Psychologie der Traditionsboden sein könnte, für viele Schulen der Psychologie aber gar nicht ist.
Zusammenfassung
Wir fassen zusammen, was wesentlich charakteristisch für das moderne Naturrecht ist. Es hat sich zwar aus dem klassischen Naturrecht heraus entwickelt, unterscheidet sich aber in einigen Punkten davon, und zwar löst sich das moderne Naturrecht immer deutlicher aus religiösen und theologischen Zusammenhängen, ohne dass damit die religiöse Dimension entwertet würde. Die empirisch fassbare Natur des Menschen mit ihren natürlichen Strebungen und Bedürfnissen rückt in den Mittelpunkt und es ist – mit dem gewandelten Naturverständnis der Neuzeit – eine Tendenz zur Herauslösung des Menschen aus dem universellen metaphysisch-kosmologischen Zusammenhang festzustellen. Das moderne Naturrecht sieht den Menschen als Person, die frei und selbstbestimmt denkt und handelt, wobei der Mensch als Person anderen gegenüber verantwortlich und verpflichtet ist.
Zur Wirkung des Naturrechts
Im 18. Jahrhundert hat das Naturrecht seine politische Kraft entfaltet. Zum ersten Mal wurde durch das Naturrecht in der amerikanischen Verfassung und der französischen Konstitution ein Regelwerk für ganze Staaten geschaffen. Es entstanden die ersten Verfassungen und das Grundmodell des gewaltenteilenden, demokratischen Verfassungsstaates. In der Debatte um die französische Konstitution wird vor allem in der Person von Antoine de Condorcet die Forderung laut, dass das Recht auf Bildung durch öffentliche Schulen für jeden ohne Unterschied des Standes und der Religion gesichert werde und der Heranwachsende nach den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erzogen und zum Staatsbürger gebildet wird. So entstand ein neues Rechtsbewusstsein und eine neue, gerechtere Ordnung des Zusammenlebens, die Tradition des freien, demokratischen Rechtsstaates: Folter, Religionskriege, Todesstrafe, Sklaverei, Judenverfolgung, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wurde langsam abgeschafft.
Wir können die Menschenrechte und die im Grundgesetz der modernen Verfassungsstaaten eingeflossenen Menschenrechte als grosses historisches Experiment betrachten, das bis heute erwiesen hat, dass das gesellschaftliche Zusammenleben unter den Bedingungen von Naturrecht und Menschenrecht das beste war und ist in der Geschichte, weil es eben der Natur des Menschen entspricht.
Das moderne Naturrecht findet seinen Niederschlag nicht nur in der Rechts- und Staatsphilosophie. Auch in der Pädagogik haben naturrechtliche Überlegungen Eingang gefunden. Wir erwähnen hier nur Rousseau, der dargelegt hat, dass auch die Erziehung dem natürlichen Entwicklungsgang des Zöglings folgen muss. Das Naturrecht hat auch beigetragen zur Lösung der sozialen Frage. Während der Marxismus vorgegeben hat, die soziale Frage lösen zu wollen, also durch Revolution lösen zu wollen, hat er nichts als Krieg in die Gesellschaft getragen. Dem gegenüber ging die katholische Soziallehre einen anderen, erfolgreicheren Weg.
Wir finden das Naturrecht in der grossen Menschenrechtskonvention von 1948, auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen. Das moderne Naturrecht hat schon früh auch in das Völkerrecht Eingang gefunden, so bei Hugo Grotius im 17. Jahrhundert, und es hat dann in den Nürnberger Prozessen als erste internationale Ächtung des Krieges mit tatsächlichen Rechtsfolgen gewirkt.
Wissenschaft und Naturrecht (Thesen)
Angesichts des Bruches, der im 19./20. Jahrhundert in unserer kulturellen Tradition vor allem durch Marxismus und Neomarxismus passiert ist, angesichts der in vielen Lebensbereichen stattfindenden Umdeutung und Instrumentalisierung der Menschenrechte für ideologische Zwecke haben wir versucht, ein paar grundsätzliche Thesen zu formulieren, die die Ansprüche an ein menschliches, an ein wirkliches Naturrecht formulieren sollen.
Menschenrechte sind naturrechtlich begründet, nicht dialektisch oder feministisch, per Abstimmung oder Diskurs. Naturrecht ist an Objektivität geknüpft. Die griechische Antike hat erstmals den Gedanken gefasst, dass es objektive Werte gibt. Damit war Gerechtigkeit als objektive Idee denkbar geworden. Seit damals hat das Naturrechtsdenken immer versucht, die menschliche Natur besser zu erkennen und dadurch das, was von Natur aus recht ist, genauer zu erfassen.
Grundlage naturrechtlicher Aussagen muss die objektiv gegebene, historisch unwandelbare, personale Menschennatur sein, die nur in freier Gemeinschaft entfaltbar ist und nicht irgendein erfundenes Wesen des Menschen oder gar die Abschaffung der personalen Menschennatur zugunsten übergeordneter dialektischer historischer Gesetzmässigkeiten wie bei Marx.
Die Forschungsmethode des Naturrechts hat dem Gegenstand zu folgen: Methoden zur Erkenntnis der Menschennatur müssen dieser menschlichen Natur angemessen sein. Methoden, die den Fachgegenstand, das heisst die Person denaturieren, disqualifizieren sich von alleine. Eine Erforschung der menschlichen Natur darf die unteilbare Einheit der Person nicht zerschneiden und sie aus seiner natürlichen Einbindung in die menschliche Gemeinschaft künstlich herauslösen.
Liebe zum Menschen ist wesentliche Grundvoraussetzung für die Erforschung des Menschen. Wer die Würde des Menschen ergründen will, muss daher selbst einmal Würde erfahren haben.
Menschenrechte müssen so in sich gegliedert sein, wie die objektive Menschennatur auch in sich gegliedert ist. Das Lebensrecht zum Beispiel steht am Anfang der Menschenrechte und darauf bauen Freiheit und Eigentum auf. Man kann nicht sagen, am Anfang steht die Autonomie und nur wer autonom ist, hat ein Recht auf Leben.
Menschenrechte müssen mit ökonomischer Gerechtigkeit und sozialen Rechte verbunden sein. Umgekehrt aber auch: Ökonomische Gerechtigkeit und soziale Rechte müssen von den Menschenrechten getragen sein, von den Menschenrechten, die der objektiven personalen Natur des Menschen entsprechen.
Anmerkungen
[1] Pufendorf, Samuel. Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Frankfurt am Main/Leipzig 1994.
[2] Pufendorf. ebd. S.47 ff.
[3] Pufendorf. ebd. S.47
[4] ebd.
[5] ebd. S.48
[6] ebd. S.72
[7] vgl. ebd. S.78
[8] ebd., S. 82
[9] ebd., S. 97
[10] ebd., S.82 ff.
[11] ebd., S. 82 ff.
[12] ebd., S.78 ff.