«Das Samenkorn der Menschlichkeit legen»

Einführungsvotum zum Sommerkongress 1999 Joachim Hoefele und Moritz Nestor


 

Sehr geehrte Damen und Herren

 

„Das Samenkorn der Menschlichkeit legen“, so lautet das Thema unseres diesjährigen Sommerkongresses. Wie kommen wir dazu, diese Frage aufzuwerfen und zum Thema unseres Kongresses zu machen? Dazu einige Gedanken zur Ausgangslage.

 

Zur Ausgangslage

 

An der Menschenrechtskonferenz der UNO in Genf vom Frühjahr 1999 lag eine Liste der weltweit bestehenden schwerste Krisen- und Unglücksregionen zur Bearbeitung vor, die erschreckend war:

Hungerkatastrophen bedrohen ganze Völker. Die Kornspeicher der UNO Welternährungsprogramme sind leer, weil die weltweite Agrarproduktion abgenommen hat. Zudem: was einmal für Afrika bestimmt war, ging in das Kosovo. Das Gewissen der Menschheit, das die Vereinten Nationen verkörpern sollte, sorgt nicht mehr für die Ärmsten der Welt vor.

Im Gebiet der Grossen Seen in Afrika wird die Bevölkerung zu Millionen zwischen rivalisierenden Machtblöcken zerrieben – ohne dass sich irgendwo in der Welt nennenswerter Protest erheben würde. Für einen Kosovo-Flüchtling (es gibt ca 800 000) errechnet die UNO einen Tagessatz von 1,35 US$, für einen afrikanischen Flüchtling (es gibt 7,7 Mio.) nur 0,11 US$! Nirgendwo auf der Welt ist der Unterschied zwischen dem Reichtum an Bodenschätzen und der Armut der Bevölkerung derart gross wie im Kongo.

Und Europa? 2,4 Mio Ecu, die für humanitäre Hilfe in Ruanda bestimmt waren, verschwanden durch Vetternwirtschaft und Korruption in den Taschen der Mitglieder der „Europäischen Kommission“. 80% aller ruandischen Kinder sind Waisen, gleichzeitig ist das südliche Ruanda zu über 90% mit AIDS durchseucht.

Die Minderheitenfragen auf der ganzen Welt sind weiterhin ungelöst: die Fragen der Kurden, der Palästinenser, der Völker in den GOS Ländern. Im Verlaufe des Kongresses werden wir dieses traurige Kapitel der Geschichte am Beispiel der Armenier näher kennenlernen.

Krankheiten, die längst besiegt waren, kehren zurück. Und zwar nicht nur durch natürliche Vorgänge, sondern vor allem durch menschliches Versagen und/oder sogar aus kalter politischer Berechnung, um die angebliche Überbevölkerung zu dezimieren.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Während Jelzin die russische Armee mit „kleinen“ Atombomben (zunächst „nur“ 10 000 Stück!) aufrüstet, um einen lokalen Atomkrieg besser führen zu können, ist das russische Gesundheitssystem in einem gefährlich desolaten Zustand. Wer über 65 Jahre alt ist, bekommt in Russland heute kein Krankenhausbett mehr. Der Staat ist zu 60% von ausländischer Medizin abhängig. Medikamente, die aus dem Ausland importiert werden müssen, sind nur noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Russland stellt selbst kein Insulin her und hat 1999 noch keines importiert, weil man für das Gesundheitssystem kein Geld mehr ausgibt. Wenn ein Diabetiker keine Mittel hat, sich seine Medikamente aus dem Ausland zu kaufen, muss er sterben. Die Verarmung immer breiterer Bevölkerungsschichten hat in Russland dazu geführt, dass Krankheiten, die sozial begründet sind, schnell zunehmen: Drogensucht, Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten, vor allem AIDS. Das ist um so alarmierender, als 40 % aller russischen Erwachsenen bereits eine Schwächung des Immunsystems aufweisen. Das Resultat: Die Lebenserwartung beträgt in Russland gerade noch durchschnittlich 55 Jahre für Männer und 71 für Frauen. Besonders gefährlich ist der starke Anstieg der Tuberkulose in Russland. 1998 zählte man bereits 73 Fälle auf 100 000 Einwohner. Nach den Massstäben der WHO ist das bereits eine Epidemie. Noch alarmierender ist die Tatsache, dass es sich bei einem Teil der russischen Tuberkulosefälle mittlerweile um Erkrankungen handelt, die nicht behandelt werden können, weil sie durch Bakterien verursacht sind, die gegen alle Impfstoffe und Medikamente immun sind. Bei der leichten Übertragbarkeit und der hohen Mobilität der heutigen Welt, bildet das eine Bedrohung für die gesamte Welt.

 

 

Der Kosovokrieg und seine Folgen

 

In Jugoslawien tobte 1999 der erste europäische Krieg seit 1945, ohne UNO-Mandat! Nur mit viel Glück und fürs erste konnte er eingedämmt werden. Auch hier wurden unschuldige Menschen vertrieben, haben ihre Familie verloren, mussten ihr Leben lassen.

Der Kosovo-Krieg hat mehr Fragen als Antworten hinterlassen. Selbstverständlichkeiten und wertvolle Traditionen der europäischen Kultur, des aufgeklärten Staatsdenkens, des Natur- und Völkerrechts und das sittlich-rechtliche Bewusstsein der internationalen Völkergemeinschaft sind in erschreckend kurzer Zeit von einer zum Krieg entschlossenen Machtclique hinweggefegt worden. Das Deutsche Grundgesetz ‑ nur ein Beispiel! ‑ verbietet einen Angriffskrieg. Nie wieder sollte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Unter der Führung der Alt-68er um Fischer und Schröder wurde die deutsche Verfassung in Nullkommanichts zur Makulatur. Die Zauberformel, mit der eine allgemeine Kriegshysterie erzeugt wurde, war die Rede vom „Krieg für unsere Werte“ (wie es Tony Blaire ausdrückte). (Chirac sprach in diesem Zusammenhang erst kürzlich vom 21. Jahrhundert als dem „Jahrhundert der Ethik“!) Und plötzlich (mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkrieges) war es möglich, dass deutsche Soldaten einen souveränen Staat angriffen, der Deutschland nicht angegriffen hatte. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die deutsche NPD wegen dieses Verfassungsbruchs gegen die Bundesregierung Strafanzeige einreichte!

Oder war es nicht doch nötig, wie gesagt wurde, Milosevic, dem „Hitler auf dem Balkan“, einmal zu zeigen, dass es so nicht weitergehen kann? Dass man die Verfassung einmal etwas grosszügiger auslegen musste? Derartiges Unrecht wie im Kosovo musste schnell gestoppt werden, konnte man da lange auf Verfassungen oder Konventionen Rücksicht nehmen …?

Viele in Europa sind – bei unterschiedlicher politischer Position – durch den Kosovokrieg allerdings nachdenklich geworden. Andere werden es durch die Folgen noch werden. Wir erinnern nur an die Milliarden, welche die Bürger in den europäischen Ländern aufbringen werden müssen, um das verbrauchte Kriegsmaterial zu ersetzen.

 

 

Frieden durch Krieg?

 

Eine Frage stellt sich aber grundsätzlich: Kann überhaupt die Politik der harten Faust einen Frieden schaffen? Oder was braucht es, dass die Völker des Balkans – die Völker der ganzen Welt – wirklich in Frieden leben können – in Gerechtigkeit und Sicherheit?

Oder ist der dauerhafte, der „ewige Friede“ unter den Völkern, von dem Immanuel Kant sprach, ist der moderne Verfassungsstaat, den die Denker der Aufklärung entwickelten, nur ein schöner Traum gewesen? Hat die Demokratie, in deren Zentrum die friedliche Konfliktlösung steht, heute ausgedient?

Gibt es also einen gerechten Krieg? Sind Todesstrafe und Folter doch gerechtfertigt?

Oder verbirgt sich nicht vielmehr hinter der Rede vom „Krieg für unsere Werte“ nicht eine moderne Kreuzzugsmentalität? Denn: Was für Werte sind diese „unsere Werte“, wenn Menschen dafür geopfert und umgebracht werden und ein Land um 50 Jahre zurückgebombt wird? Wenn der Diktator gestoppt werden soll, wieso wird dann das Volk ausgebombt? Hat das Volk schuld an Milosevic? Haben die westlichen Demokratien nichts besseres anzubieten?

 

 

Ist Europas Tradition in Vergessenheit geraten?

 

Hat Europa nicht als einzige Kultur der Welt den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat hervorgebracht, der ein Leben in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit ermöglicht? Weil er das Mittel ist, das der menschlichen Natur angepasst ist! War nicht Europa die Wiege der Menschenrechte? Der Gewaltenteilung? Der Demokratie? Oder sind Aristoteles, Platon, Sokrates, Cicero, die Stoa, die Schule von Salamanca, Thomas von Aquin, Grotius, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Rouseau, Tomasius, Wolff, Kant, die Aufklärung, die katholische Soziallehre, das Schweizer Modell der direkten Demokratie und die vielen anderen Ansätze und Entwürfe eine friedlichen Zusammenlebens in der Geschichte vergessen?

Europa und Amerika hätten ein grosse Verantwortung wahrzunehmen. Statt Waffen zu liefern, schamlos Afrika auszubeuten und sinnlos dreinzuschlagen, sollte sich Europa auf seine moralisch-ethische, rechtsstaatlich-demokratische, geistige-kulturelle, naturrechtlich-aufklärerische und wissenschaftliche Tradition besinnen.

Haben wir in Europa die blutigen Religionskriege der frühen Neuzeit vergessen – und wie aus der Empörung und dem Widerstand dagegen im 16. Jahrhundert die ersten grossen Naturrechtslehren von Grotius und Pufendorf entstanden? Wie innerhalb von nicht viel mehr als nur einem Jahrhundert die führenden europäischen Intellektuellen den Durchbruch schafften und die Gesellschaftsordnung Europas so tiefgreifend wie noch nie zuvor wandelten? Hat Europa vergessen, wie dadurch zum Beispiel die grausamen und unmenschlichen Körperstrafen unter dem Einfluss der Aufklärung aus den Strafgesetzbüchern verschwanden? Die Folter zur Erlangung von Geständnissen vor Gericht wurde unter dem Druck von Aufklärern wie Christian Tomasius innerhalb von nur 50 Jahren bis 1809 abgeschafft.

Diese und andere Erfolge der Menschlichkeit sind von nur wenigen Gebildeten vorbereitet worden ‑ von Philosophen, Pädagogen, Theologen, Juristen, aufklärten Staatsmännern ‑ , die in unermüdlicher Diskussion Jahr um Jahr in die Gesellschaft hineinwirkten, nur zu oft unter ärgster Gefahr um Leib und Leben. Bis wieder ein Stück mehr Frieden, Humanität und Gerechtigkeit errungen war.

 

 

Die Verantwortung der Intellektuellen

 

Das wirft die Frage nach der Verantwortung der Intellektuellen gegenüber der Gesellschaft auf, die wir unter anderem auch an diesem Kongress beleuchten wollen: Hat ein gebildeter Mensch, der etwas weiss, der gelernt hat, seinen Verstand zu gebrauchen, nicht alle seine geistigen Fähigkeiten von den Gemeinschaften, in denen er gross wurde und ausgebildet wurde? Und schuldet er ihnen dafür nicht Redlichkeit, ernstes Forschen und Ringen um die Wahrheit? Ein berühmter Physiker hat einmal auf die Frage, was ihn so berühmt gemacht habe, geantwortet: „Ich stehe auf den Schultern von Riesen.“ Hat der Intellektuelle dann nicht die natürliche menschliche Pflicht, das was er hat, der Gesellschaft zurück zu geben? Steht er nicht in der Verantwortung, seine geistigen Kräfte zum Wohle derer ein zusetzen, durch die er das wurde, was er ist?

Hat der Intellektuelle nicht die Zeit, sich mit geistigen Dinge zu beschäftigen, weil andere für Nahrung, Kleidung, Haus und die vielen anderen Dinge sorgen, die das Leben so bequem machen? Wie also kommen Intellektuelle dazu, sich besser als Handarbeiter zu dünken? Ist es nicht Überheblichkeit, im elfenbeinernen Turm oder im Sold Mächtiger geistige Höhenflüge zu pflegen, ohne sich wahrer Mitmenschlichkeit, unbestechlicher Wahrheit, Frieden und Gerechtigkeit verpflichtet zu wissen? Denn dass er die Wahrheit herausfinde und sie zum Wohle aller verbreite, um so Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Zusammenleben der Menschen zu vermehren und das Leben zu sichern, das ist der Gebildete der Gesellschaft schuldig.

Wo also waren die Intellektuellen, die vor und während des Kosovo Krieges diese Verantwortung hätten übernehmen können und müssen? War es nicht viel zu spät und waren es nicht viel zu wenige?

 

 

Europas Erbe Nummer eins: der freiheitlich demokratische, subbsidiäre föderative Rechtsstaat

 

Die alte Gesellschaft vor dem 18. Jahrhundert war von zwei grossen Gefahren ständig bedroht: Einmal von den unkontrollierten Machtansprüchen das Adels. Das führte ständig zu Bürgerkriegen und Eroberungskriegen. Und zweitens: Von dem unkontrollierten Machtanspruch des Klerus, der den Menschen mit Gewalt den rechten Glauben aufzwingen wollte. Das Resultat waren nicht enden wollende Religionskriege. So führten die Niederländer zum Beispiel 80 Jahre lang Krieg gegen den Versuch der Spanier, ihnen die katholische Religion wieder aufzwingen zu wollen.

Die neue Gesellschaftsordnung, die durch die Aufklärung entstand, war imstande, den Bürger- und den Religionskrieg zu bannen, indem Adel und Klerus unter ein gemeinsames Dach genommen wurden und man ihnen – weil alle Menschen gleich und frei geboren sind – ihre Schrankenlosigkeit nahm: Das gemeinsame Dach war der Rechtszustand auf dem ethischen Fundament der universellen Menschenrechte, unter dem keine Standesunterschiede oder die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft mehr über den Wert eines Menschen entschieden, wo alle vor dem Gesetz gleich waren und nicht der Adel über dem Gesetz stand, wo Meinungsfreiheit garantiert war, wo das Volk seine Geschicke selbst bestimmte und alle unter vernünftigen Gesetzen frei lebten.

Auf diese wertvolle Errungenschaft des freiheitlichen föderativen und subsidiären, demokratischen Rechtsstaates kann – und müsste! – Europa stolz sein. Sie macht neben vielem anderen seine geschichtliche Grösse aus.

 

 

Europas Erbe Nummer zwei: die Erforschung der Menschennatur

 

Und auf etwas anderes, Grundlegendes müsste Europa stolz sein. Und wir hätten besser das in den Kosovo gebracht als Krieg und Verderben. Der neue Gesellschaftsvertrag, den die Aufklärung uns brachte, also die Gesellschaftsordnung, wo die Menschen im Rechtszustand leben und frei durch das Recht werden, diese Gesellschaftsordnung hat sich vor der Geschichte in einem gewaltigen historischen Experiment bewährt, und zwar weil sie an die menschliche Sozialnatur angepasst ist. Am Anfang aller Überlegungen, durch welche Gesellschaftsordnung Diktatur, Folter, Krieg, Genozid abgeschafft werden können – und abgeschafft werden müssen! – stand und steht die Frage: Was ist der Mensch? Was ist seine Natur? Der freiheitlich demokratische Rechtsstaat mit seinen drei Grundelementen Menschenrechte, Gewaltenteilung und Demokratie ist deswegen die menschliche und richtige Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, weil der Mensch von Natur aus „gut“ ist, weil er ein friedfertiges Wesen ist, das nur aggressiv wird, wenn seine soziale Anlage, seine Disposition zur Mitmenschlichkeit abgedrängt und in Überlegenheitsstreben und Machtstreben verdreht wird.

Wir wollen in diesem Zusammenhang an die „Erklärung von Sevilla“ erinnern, in der Mitte der 70er Jahre namhafte Anthropologen, Psychologen und andere Humanwissenschaftler aus aller Welt den bisherigen Wissensstand über den Menschen zusammentrugen und feststellten, dass es keinerlei Beweise für die Annahme gibt, dass der Mensch von Natur aus aggressiv sei. Weder psychologisch, noch physiologisch, hirnanatomisch oder sonstwie gibt es irgendwelche Anlagen für eine irgendwie geartete „endogene Aggressionsquelle“ im Menschen. Es gibt deswegen auch keinen Gegensatz zwischen menschlicher Natur und friedlichem Zusammenleben in der Kultur und im demokratischen Staat. Friedfertigkeit ist kein „humanitärer Idealismus“ und entspringt keinem „illusionären Weltbild“ (wie in NZZ vom 17./18.7.1999), sondern ist – wissenschaftlich nachweisbar – in der menschlichen Natur angelegt.

Wir werden daher im Verlaufe des Kongresses den von einer Arbeitgruppe vorbereiteten Demokratiekurs vorstellen, der genau diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt stellen wird, nämlich: Welches Menschenbild steht hinter dem demokratischen Rechtsstaat? Und: Wie muss er daher aussehen, was trägt ihn, wovon lebt er, was sichert ihn?

 

 

Europas Erbe Nummer drei: Naturrecht

 

Europa muss sich auf die Natur des Menschen und die Tradition der Aufklärung seit der griechischen Antike besinnen: Dass der Mensch seine Vernunft selbständig gebrauchen lernen soll, damit die Menschen nicht in Knechtschaft und Sklaverei, sondern in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zusammenleben lernen können.

Seit den Anfängen in der griechischen Antike kreist das Bemühen der europäischen Naturrechtler, Moralphilosophen und Aufklärer um die Frage, wie das Geltungs- und Machtstreben des Menschen gebändigt und kontrolliert werden kann, damit die Menschen in gerechtem sicheren Frieden leben können. Die Aufklärung war der Versuch, einen Standpunkt einzunehmen, der für alle Menschen gelten kann und allen zugänglich ist, weil sie die gleiche natürliche Vernunft haben. Die Aufklärer des 17. und 18. Jhdts. (Pufendorf, Grotius, Locke, Montesquieu, Kant u.v.a.) haben begonnen, die Gesellschaft nach vernünftigen Gesichtspunkten einzurichten, unabhängig von sozialer Herkunft, Religion, Hautfarbe, Geschlecht. Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Wer die Staatsgewalt repräsentiert, untersteht ebenso dem Rechtsprinzip. Das Modell des freiheitlich, demokratischen Rechtsstaates war die Gesellschaftsform und das Staatsmodell, das der menschlichen Natur angepasst war. Es repräsentiert den Grundgedanken des Naturrechts, dass der Mensch glücklich und zufrieden lebt, wenn er im Einklang mit den Grundbedingungen seiner Natur lebt.

 

 

Europas Erbe Nummer vier: die Pädagogik

 

Derselbe Grundgedanke hat seit der griechischen Aufklärung immer mehr die vernünftige Einsicht hervortreten lassen, dass der Mensch die Erziehung seiner Kinder nicht dem blinden Zufall, oder der harten Hand überlassen muss, sondern, dass die Erziehung dem natürlichen Entwicklungsgang des Kindes folgen soll. Dass das Kind bildungs- und erziehungsfähig ist und durch die rechte Erziehung fähig wird, als gebildeter Staatsbürger seiner Verantwortung fürs Ganze zu übernehmen.

Die Erziehung zum mündigen Mitbürger, zur selbständigen und verantwortlichen Persönlichkeit, die zum Gemeinwohl in einem demokratischen Rechtsstaat ihren Beitrag leisten kann und will, ist Kern der europäischen Bildungstradition. Die Demokratie kann nur erhalten werden, sie lebt und ist nur so gut, wie die Bürger gebildet sind! Deshalb muss der Erziehung der Kinder und der Jugend besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt gewidmet werden.

Dabei kommen der Familie und der Schule besondere Bedeutung zu. Hier wird vor allem „das Samenkorn der Menschlichkeit“ gelegt. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft „und hat [besonderen] Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.“ Denn das Zusammenleben in der Familie – auch wenn es nicht immer vollkommen gelingt – baut notwendigerweise auf Liebe, gegenseitigem Vertrauen, Verlässlichkeit und Zusammenarbeit auf. Hier erlebt das Kind, dass es als Mensch angenommen und geliebt wird. Es erfährt Achtung und Respekt vor anderen, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein, Aufrichtigkeit, Zuversicht und Lebensfreude. In der Familie werden die Grundlagen von Sittlichkeit und Moral gelegt (in Gefühl und Verstand!). In der Familie werden die geistigen, religiösen und kulturellen Werte gepflegt und durch die Erziehung der Kinder weitergegeben und tradiert. Hier schon lernt das Kind Bürgertugenden wie aktives Mitdenken und Mitfühlen, Mut, Gerechtigkeitssinn, Verantwortungsbewusstsein und Leistungsbereitschaft u.v.a.m.

Aufgabe der Schule ist es, die Erziehung der Eltern zu ergänzen und fortzuführen. Das in der Familie gelegte Samenkorn der Menschlichkeit muss weiter gepflegt werden, damit es zur vollen Entfaltung kommt. In der Schule soll die freie Entfaltung der Persönlichkeit gefördert und unterstützt werden, die Kinder zu friedfertigen, selbständigen Mitmenschen erzogen werden, und zwar (wie dies dem Sinn und Geist der Menschenrechte entspricht) ohne Unterschied von Geschlecht, Religion, sozialer und kultureller Herkunft. Das war von Anfang an die Idee und Aufgabe der allgemeinen Volksschulerziehung: Nämlich allen Kindern eine – möglichst unentgeltliche – Allgemeinbildung mitzugeben, damit sie ihre grundlegenden Rechte und Pflichten als Menschen und als Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat kennenlernen. Damit sie einen Beruf ergreifen können, der ihren Neigungen entsprechend und es ihnen ermöglicht, selbstständig zu leben und sich nützlich zu machen zum Wohl der Allgemeinheit. Die Schule muss daher über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus Grundwerte fördern wie: Menschlichkeit, Nächstenliebe, Achtung der Würde und der Überzeugung anderer, Toleranz, friedliche Konfliktlösung, Eigenverantwortung, Leistungswillen und auch zu Liebe und Respekt vor der eigenen Kultur und der eigenen Kulturtradition.

Dieser Gedanke der Erziehung zur Menschlichkeit ist Frucht des Naturrechts seit der griechischen Antike bis hin zur europäischen Aufklärung und des Humanismus.

 

 

Besinnung tut not

 

Es wäre sinnvoller, sich auf diese Tradition der europäischen Kultur zu besinnen und auf dem Balkan eine solide Aufbauarbeit unter den Menschen zu beginnen, anstatt – wie es die USA und ihre Verbündeten taten – einen Diktator wie Milosevic wissentlich gross werden zu lassen, um ihn dann zu bekriegen. Die Menschen sollten vielmehr angeleitet werden, wie sie nach der Eiszeit der kommunistischen Diktatur eine demokratische Gesellschaft aufbauen können, in der jeder, jedes Volk seine eigenen kulturelle Identität wahren und in Frieden leben kann.

Wozu spielt Amerika Weltmacht und Europa macht willenlos mit? Für den ehemaligen US-Präsidentenberater Brezinsky ist Europa eine „Provinz“ und US-Aussenministerin Albright sagte unverblümt: „Wenn wir das UNO Mandat nicht bekommen, machen wir es eben ohne.“ (sinngemäss) Geopfert wurde damit auf diesem Altar des „Krieges für unsere Werte“ mit einem Federstrich das Völkerrecht, das, worum die Menschheit seit dem Wiener Kongress gerungen hat.

Gleichzeitig ist die Bevölkerung in den europäischen Ländern nicht auf Rosen gebettet und von den Turbulenzen der „Globalisierung“ bedroht. So zum Beispiel heisst es heutzutage: Risiken der Wirtschaft müssten vermehrt vom einzelnen getragen werden. Im Klartext läuft das darauf hinaus, dass zum Beispiel die Alten für sich selbst aufkommen müssen und die Bevölkerung den Krieg bezahlt. Die Intellektuellen liefern die passenden Theorien. (1998 Kongress der AAS: The poor must help themselves“ „Man as Cancer“ –>  Neosozialdarwinismus) Institutionen, die früher im Sinne des Gemeinwohls vom Staat getragen und finanziert wurden, werden privatisiert und dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Opfer sind die Schwachen der Gesellschaft und die Kranken.

 

 

Was ist der Mensch?

 

Alle diese Probleme führen immer zu der einen zentralen Frage: Was ist der Mensch? Was braucht der Mensch? Wie kann er in Frieden/glücklich und zufrieden mit anderen Menschen zusammen leben?

Falsche oder mangelhafte Kenntnis hat die Menschen in der Geschichte schon genug – und oft schreckliche – Fehler machen lassen. Noch schlimmer aber sind Fehler, die wider besseren Wissens begangen. Folter, Kriege, Genozide und alle schrecklichen Dinge des 20. Jahrhunderts sind nicht so neu, als dass wir nicht längst wüssten, wie wir sie beseitigen könnten. Wir wissen längst, dass am Anfang einer besseren Gesellschaft der human denkende und fühlende Mensch steht, der gebildet ist, etwas weiss und eigenständig denken kann.

Als die deutschen Intellektuellen Schiller, Goethe, Wieland, Herder und andere von Humbold erfuhren, was aus der Französischen Revolution geworden war, dass aus ihr Terror und Gewalt geworden war, verloren sie jegliche anfängliche Sympathie und Schiller schrieb seine berühmte Schrift über die „Erziehung des Menschengeschlechts“. Es nützt nichts, sagte er darin, wenn wir die Verhältnisse einfach umdrehen und statt 6 Arme 6 Reiche in ein Krankenbett stecken. Einfach Draufschlagen nützt nichts. Der Mensch muss sich selbst, sein Wesen erkennen lernen, er muss human denken und human fühlen lernen, und er lernt am menschlichen Einzelschicksal. Und wenn er weiss und fühlt, was Menschlichkeit ist, dann kann er auch daran mitarbeiten, ein bessere Gesellschaftsordnung zu bauen.

 

 

Ethos des Humanismus und des Friedens

 

Dieses Ethos des Friedens, das die deutschen Dichter und Denker zurückhielt, in den Gewaltrausch der entgleisenden Französischen Revolution einzustimmen, hat die ganze Aufklärung und hat die Naturrechtler seit den ersten Anfängen des Naturrechts in der griechischen Antike bewegt.

Und dass Frieden dauerhaft möglich ist, zeigt uns die menschliche Natur. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, vor allem die Pädagogen wussten schon um diesen Zusammenhang: Mache das Kind stark – sagte Erasmus von Rotterdam – und es wird gut. Und damit das Kind stark d.h. selbstständig und sicher wird, wusste schon Rousseau, muss die Erziehung der Natur des Menschen und dem natürlichen Entwicklungsgang des Kindes folgen.

Die weltweite Zerstörung der Familie und die Verwahrlosung der Kinder geht einher mit einer immer grausameren Kriegsführung. Das zeigt die Bedeutung der Familie als erste Gemeinschaft, die im Kinde das Ethos des Friedens legt. Die persönlichen vertrauten Bindungen der Familienmitglieder untereinander sind ein Modell des Friedens. So ist die Natur des Menschen beschaffen: Nur in der Familie und durch sie kann der Mensch seine sozialen Anlagen frei entfalten. Die totalitären Ideologien wussten das im gewissen Sinne schon immer, und versuchten gerade daher die Kinder aus den familiären Bindungen herauszubrechen. Wenn aber durch die Liebe und wissende Anleitung der Eltern das Urvertrauen des Kindes geweckt wird, dann kann im Kind das Mitfühlen und Mitdenken mit anderen entstehen und es wird Verantwortung lernen. Das ist die nötige charakterliche Grundlage, warum es später keinem Menschen etwas zu leide tun kann – nicht aus verstandesmässiger Einsicht oder Zwang; sondern aus spontanem Mitleiden, Mitdenken und Mitfühlen

Das ist die Grundlage für das Ethos des Friedens. Sie zu legen ist unsere Aufgabe als Pädagogen, Psychologen, Eltern, Erzieher, Kindergärtner, Psychiater:

Wir verfügen heute über ein reichhaltiges und gesichertes Wissen über den Menschen, über die conditio humana. Woran frühere Generationen mit Intuition und Lebenserfahrung gewirkt haben, können wir mit wissenschaftlicher Erkenntnis weiterwirken. Es liegt in unserer Hand … Am Anfang steht immer der Einzelne, sein Beispiel, seine Tat, durch die er ein Samenkorn der Menschlichkeit legt. Es geht darum,

Daran mitzuwirken ist die Aufgabe aller, der Eltern in der Familie, der Lehrer in der Schule, der Bürger im Staat, der Politiker, der Intellektuellen … jedes Menschen; es ist unsere Aufgabe, es ist unser Leben.

Wir haben damit ein paar Schlaglichter auf die vielen Facetten des Themas werfen wollen.- Wir laden Sie ein, in den folgenden zwei Wochen rege an der Diskussion teilzunehmen. Jeder trägt mit seinen Gedanken, seinen Fragen, seinen Erfahrungen oder seinem Beispiel zum tieferen Verständnis dessen bei, was es heisst: „Das Samenkorn der Menschlichkeit legen.“

Autor

Joachim Hoefele und Moritz Nestor

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