Das Vermächtnis der Toten: «Auf die Stimme des Menschen des Menschen hören»

8. November 2016

Auf die Zeit des Keimens werde ich warten. Ich bin überzeugt, dass sie kommt.

 

«4. Juli 1945, 13 Uhr … Viele kostbare menschliche Erfahrungen habe ich in meinem Leben gesammelt. Sie könnten einst für die Menschheit wertvolle Kleinodien werden. Ich möchte sie nicht im Boden von Miyako begraben lassen. Je härter mich das Leben trifft, desto stärker ist mein Wille zu leben. Je grösser die Trübsal wird, in die mein Los einmündet, desto hartnäckiger hänge ich am Leben. Wie bedeutsam ist die Zeit, in der ich geboren wurde! Ich möchte den Ausgang des Krieges und die Schicksale der Menschheit sehen, ich muss weiterleben. Um die Schätze meiner Erfahrungen für die Nachwelt zu bewahren, will ich den Dämon der Krankheit, die Abzehrung, den Hunger und die unerträgliche Hitze bekämpfen. … Ich bin wie eine Pflanzenknolle und verteidige mein Leben gegen das ungünstige Schicksal, um stark zu werden: Auf den Frühling hin! Auf die Zeit des Keimens werde ich warten. Ich bin überzeugt, dass sie kommt.»

Kiyoshi Sekiguchi, Japan, geb. 1922, gestorben bei den Kämpfen um die Insel Miyako-jima, südlich von Okinawa

 


 

Um den wahren Mut zu erwecken, ist es noch nicht zu spät.

 

«Um den wahren Mut zu erwecken, ist es noch nicht zu spät. Die Tränen hören nicht auf, aus der Herzenswunde zu quellen, die an jenem Tage von dem brennenden, blendenden Atomblitz gestochen wurde. Wer den Körpergeruch von Hiroshima hat, aus dem fliesst blutiger Eiter, der den Krieg verflucht. Die entstellten Arme hoch auszustrecken und mit ähnlichen Armen zusammen die verfluchte Atomsonne aufzuhalten, die herabzustürzen droht, dazu ist immer noch Zeit. Es ist nicht zu spät, um die Tränen der Milden zu stillen, die den Krieg hassen und mit ihren verbrannten Rücken hier stehen, um ihre ängstlich herabhängenden Arme, ihre rotgeschundenen Hände fest zusammenzupressen. Kommt, es ist noch nicht zu spät.»

Sankichi Tooge, Japan, geb. 1912, 1945 in Hiroshima in die Strahlung der US-amerikanischen Atombombe geraten, 1953 nach einer Operation gestorben.

 


 

 

Wie möchten wir morgen leben? Nein, sagt nicht, Ihr hättet den Mut verloren, Ihr wolltet davon nichts wissen. Denkt daran, dass alles geschehen ist, weil Ihr nichts davon wissen wolltet! …

 

«Herbst 1944, … Ich möchte, dass Ihr mir zugebt, wie unvorbereitet wir uns fühlen, die kürzlichen Irrtümer einseht und über die Tatsache nachdenkt, dass wir alle wieder von vorn beginnen müssen. … Vor allem aber, wisst Ihr, müssen wir bei uns selbst anfangen: Das ist die Voraussetzung für alles übrige. … Also zum Beispiel: Wie viele von uns hoffen auf das Ende dieser furchtbaren Ereignisse, um ein arbeitsames und ruhiges Leben zu beginnen, das der Familie und der Arbeit gewidmet ist? Sehr gut: Das ist ein allgemeines Gefühl, sehr verbreitet und befriedigend. Aber ich glaube, arbeiten genügt nicht: Im unbesigbaren Wunsch nach „Ruhe“, mag sie auch arbeitserfüllt sein, liegt ein Zeichen des Irrens. Denn in diesem Ruhebedürfnis ist die Verlockung, sich möglichst von politischen Manifestationen fernzuhalten. Das ist das furchtbare, glaubt mir, das schreckliche Ergebnis zwanzigjähriger falscher Erziehung, die von allen Seiten eingehämmert wurde und in vielen von uns Vorurteile gezeitigt hat. Insbesondere das Vorurteil der „Unsauberkeit“ der Politik, das mir auf zweierlei Weise eingeflösst worden zu sein scheint. Täglich wurde uns gesagt, Politik sei Arbeit von „Spezialisten“, Schwerarbeit, die ihre Ansprüche stellt: Und diese Ansprüche waren … denjenigen merkwürdig ähnlich, auf die sich die Arbeit irgendeines Diebes und Strassenräubers gründet. Theorie und Praxis trugen dazu bei, dass wir uns von jeder politischen Tätigkeit abwandten und fernhielten. Bequem nicht? Soll das tun, wer es kann und muss; … Und nun sehen wir, was das Ergebnis ist, – wir sehen, dass wir im politischen Leben, wenn politisches Leben vor allem direkte Teilnahme an unseren Geschicken bedeutet, von den Ereignissen verschlungen worden sind. Das ist unsere Schuld, glaube ich.

Wie konnten wir Italiener nach jahrhundertelanger Erfahrung, hervorgegangen aus einem wunderbaren Prozess der Befreiung, bei dem niemand anders wie unsere Grossväter Liebe zur öffentlichen Sache, das heisst zu sich selbst, zeigten, die vielleicht ohne Beispiel ist, wie konnten wir da abdanken, alles Recht sein lassen wegen einiger leerer klingender Worte? … wir haben uns von einer in moralischer und geistiger Hinsicht unangemessenen Minderheit alles aus den Händen nehmen lassen. Dadurch sind wir geplündert und in ein endloses Abenteuer geworfen worden, und das ist noch die „rosigere“ Seite. Das Schlimme ist, dass die Worte und Taten dieser Minderheit die moralische Einstellung, die Mentalität von vielen von uns abgestumpft haben. Glaubt mir, die „öffentliche Sache“, das sind wir selbst, was uns damit verbindet, das ist kein Gemeinplatz, kein aufgeblasenes und leeres Wort wie „Patriotismus“ oder Liebe zur Mutter, die uns in Tränen und in Ketten ruft, keine barocke Vision, auch wenn andere Generationen ein Wunderwerk daraus machten.

Wir sind unehrlich mit uns selbst, aber vergessen wir uns selbst nicht in furchtbarer Leichtfertigkeit. Stellen wir also ohne Rhetorik fest, dass wir die öffentliche Sache selbst sind, unsere Familie, unsere Arbeit, unsere Welt, und dass jedes Unglück, das sie trifft, unser Unglück ist, wie leiden wir jetzt durch das äussere Elend, in das unser Land gestürzt ist! Wäre es wohl dazu gekommen, wenn wir uns das immer vor Augen gehalten hätten?

Wie möchten wir morgen leben? Nein, sagt nicht, Ihr hättet den Mut verloren, Ihr wolltet davon nichts wissen. Denkt daran, dass alles geschehen ist, weil Ihr nichts davon wissen wolltet! …

Habt Ihr jemals bedacht, dass sich in den nächsten Monaten das Schicksal Eures Landes entscheiden wird, Euer eigenes Schicksal: Welch entscheidendes Gewicht wird unser Wille haben, wenn wir ihn wertvoll zu machen wissen? Es wird viel getan werden müssen. Versucht Euch einmal zu fragen, welchen Zustand Euch in Hinblick auf Euer eigenes Leben richtig dünkt, darauf stellt die Beurteilung des Ziels ein. … Ihr müsst überzeugt sein und Euch darauf vorbereiten, zu überzeugen, nicht die anderen zu überrumpeln, aber auch nicht zum Verzicht zu bringen. Heute muss der Unterdrücker bekämpft werden. Das ist für Euch alle erste Pflicht.»

Giacomo Ulivi, Italien, geb. 29.10.1925, von der „schwarzen Brigade“ erschossen am 10.11.1944 in Modena

 


 

 

Warum ist es nicht so, dass die Menschen als Menschen gemeinsam weinen und sich freuen? Wer den Frieden liebt, wird von diesem Gedanken tief bewegt.

 

Heute berichtet die Zeitung über die Seeschlacht bei den Bougainville-Inseln; es heisst, ein grosses Transportschiff sei schwer beschädigt worden, ein Kreuzer sank auf den Meeresgrund. Warum müssen Menschen auf solche Weise im Ozean untergehen und in die Tiefe gerissen werden? Warum weinen über den Tod der Japaner nur die Japaner, über das Sterben der Ausländer nur die Fremden? Warum ist es nicht so, dass die Menschen als Menschen gemeinsam weinen und sich freuen? Wer den Frieden liebt, wird von diesem Gedanken tief bewegt. Weil es sich um Ausländer handelt, zeigen sich Japaner befriedigt über ihren Tod. Das wird mir immer unverständlich sein. Wie erbärmlich ist das Los eines Menschen, der drei, vier Tage lang auf dem Meere schwimmt, bis er endlich erschöpft untergeht. Würde der Tod, wenn ich ihm auf dem Meer einmal begegnen sollte, mir wohl noch bewusst sein?

Jiroku Iwagaya, Japan, geb. 1923, mit dem Schiff 1944 auf der Fahrt nach den Philippinen untergegangen

 

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