Zu den Grundlagen einer personalen Psychologie

13. Oktober 2015, Universität Wladimir Moritz Nestor

Seminar: „Psychiatrie und Psychotherapie im Ländervergleich“

Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüsse Sie alle recht herzlich und bedanke mich für die freundliche Einladung hierher nach Wladimir.

Wir freuen uns sehr auf die kommenden Stunden mit Ihnen; auf das Kennenlernen der Standpunkte und Meinungen; auf den Austausch der Erfahrungen und auf das Wachsen von gegenseitigem Verstehen.

Ich habe haben schon länger von Ihnen gehört. Und so entstand der Wunsch, Sie einmal zu besuchen und kennenzulernen. Und ich möchte schon an dieser Stelle die Hoffnung aussprechen, ob wir Sie auch einmal zu einer ähnlichen Veranstaltung bei uns begrüssen dürfen.

Lassen Sie mich ein paar persönlich Worte voranschicken: Mich verbindet meine Familiengeschichte mit Russland. Mein Familienname ist griechisch: Nestor. Der Ur-Urgrossvater meines Vaters, ein griechischer Schiffskoch, wanderte am Anfang des 19. Jahrhunderts im Gefolge eines russischen Fürsten von Griechenland nach St. Petersburg ein. Einer seiner Nachkommen, mein Grossvater Heinrich, wurde 1883 als zweites von sechs Kindern eines russischen Försters und dessen deutscher Frau in St. Petersburg geboren. Ich besitze ein einziges Bild aus jener Zeit. Den polnisch, russisch und deutsch sprechenden Heinrich verschlug es als jungen Mann in die deutsche Stadt Görlitz. Dort arbeitete er als Hufschmied und heiratete die Tochter eines armen Leinwebers aus dem Dorfe Oberoderwitz. 1914 musste er in den Krieg. Als Ulan, zu Pferde, mit der Lanze gegen Panzer. Er hatte Glück. 1915 wurde sein einziger Sohn Edgar, mein Vater, geboren. Er hatte weniger Glück als der Grossvater. 1939 musste er in den nächsten Krieg. Als Oberleutnant erhielt er im russischen Winter des Frühjahrs 1943 auf dem Rückzug nach Westen im Kessel von Tschertkowo einen Kopfschuss. Nur wenige haben das überlebt. Er ging am Stock, weil dem unbeweglich auf dem Verwundetenschlitten liegenden Fiebernden beim Ausbruch aus dem Kessel ein Fuss erfror. Zeitlebens wachte er nachts auf, weil er im Traum weiter töten musste. Der Krieg war für ihn nie zuende. Bis zu seinem Tode 1980. Tschertkowo war die Wende in seinem Leben. Denn er hatte seither das Gefühl, dass die Verwundung die Strafe Gottes dafür gewesen sei, dass er bei Hitler mitgemacht hatte. Er wurde nach dem Krieg ein guter Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik, heiratete und erzog uns drei Kinder zu Christen, damit uns nie das passieren sollte, was ihm passiert war: Einem Irrsinnigen blind hinterher zu laufen.

Das war für mich als seinen ältester Sohn der Beweggrund, dass ich Psychologe werden wollte: Was braucht es in der Persönlichkeitswerdung eines Menschen, dass er nicht so schnell den Verführungen der Propaganda erliegt? Dass sein Mitgefühl mit den Unterdrückten und Geplagten nicht von politisch hervorgerufenen Massen-Affekten ausgelöscht wird?

Und darum habe ich mich einer psychologischen Lehr- und Forschungsgemeinschaft angeschlossen, die Ende der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts ins Leben gerufen wurde, und dort Psychologie gelernt. Ihr Gründer, Friedrich Liebling, kam aus der sogenannten ‚Individualpsychologie’ des Wiener Arztes Alfred Adler. Bei ihm hatte Liebling zwischen den beiden Weltkriegen gelernt.

Die Individualpsychologie war als Reaktion auf den Massenwahn des Ersten Weltkrieges entstanden. Adlers zentrale Forschungsfrage als Psychologe war: Wie können wir Menschen mehr Mitgefühl füreinander erwerben? Adler nannte das ‚Gemeinschaftsgefühl’ und verstand darunter die ausgebildete Beziehungsfähigkeit des Menschen. Er war als Kriegsteilnehmer bewegt von der Hilflosigkeit der Völker, deren Mitmenschlichkeit sich im Trommelwirbel nationalistischer oder anderer Ideologien ersticken liess. Mehr soziale Verbundenheit, mehr Mitgefühl mit dem Bruder auf der anderen Seite des Grabens, so der Gedanke, müsste es doch möglich machen, dass die Völker einmal Nein sagen, wenn wieder zum Angriff geblasen wird. Und wie sollte das entstehen?

Theologen, Philosophen und Dichter haben schon immer um Antworten auf diese Frage gerungen. Ich erinnere an Tolstois „Krieg und Frieden“ oder an Dostojewskis „Schuld und Sühne“. An Goethes „Faust“ oder Schillers „Wilhelm Tell“. Oder an den spanischen Mönch La Casas, dessen beeindruckendes Lebenswerk zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein einziger grosser Versuch war, das Mitgefühl der Menschen zu wecken und zu stärken, um den Völkermord an den Indios nach 1492 im neu „entdeckten“ Amerika zu bremsen.

Die Individualpsychologie Alfred Adlers ist eine eigentliche Sozialpsychologie. Der Name Individualpsychologie heisst nur, dass der Mensch ein Unteilbares (In-dividuum), eine unteilbare Einheit ist. Adler hat mit seinem Ansatz im 20. Jahrhundert zu der allgemeinen Menschheitsfrage eine wichtige Antwort hinzugefügt: Das Ausmass an seelischem Leid eines Menschen hängt mit einem mehr oder minder starken Mangel an Beziehungsfähigkeit zusammen, der sich in der Kindheits- und Jugendphase herausbildet. Mehr mitmenschliche Bildung und Erziehung in Elternhaus und Schule, in der Berufsausbildung und im politischen Zusammenleben der Gemeinde sollte den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft fördern und den einzelnen Menschen stärken. Dieser Ansatz hat zwei Seiten: Er will heilen, seelisches Leid heilen, und er will Prophylaxe betreiben, damit unsere Kinder und Kindeskinder einmal anders da stehen. Darin steckt die grosse Hoffnung, dass die Menschen in kommenden Generationen weniger anfällig für Propaganda und Massenpsychosen sein werden.

Ich werde später noch einmal darauf zu sprechen kommen. Lassen Sie mich zuerst noch etwas anderes sagen.

Ich kenne Ihr Land nicht aus eigener Erfahrung. Es tut uns sehr leid, dass das Bild von Russland in den meisten Medien nur ein wüstes Zerrbild ist. Ich schenke diesem Bild keinen Glauben. Ich selbst trage schwer daran. Die aggressive Politik gegen ihr Land lehne ich ab. Der Weltfrieden ist dadurch bedroht wie kaum zuvor.

Ich kennen auch Ihren wissenschaftlichen Hintergrund und ihren therapeutischen Alltag nicht. Zudem komme ich aus einer psychiatrisch psychotherapeutischen Tradition im Westen, die es zwar seit Beginn des 20. Jahrhundert gibt, die aber aus verschiedenen Gründen seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in den Hintergrund gedrängt worden ist.

Ich möchten gerne mit Ihnen allen in einen wissenschaftlichen Austausch treten. Wir werden am Ende dieses Seminars bereichert wieder nach Hause fahren, wenn dieser wissenschaftliche Austausch auch ein Stück dazu beigetragen hat, dass sich unsere Völker etwas näher gekommen sind. Wissenschaft hat nach meiner Auffassung untrennbar etwas mit Reden und Verständigung zu tun – mit Frieden. Eine Wissenschaft die diesen Namen verdient, muss dem Zweck dienen, das Leben immer besser zu schützen und Leiden zu verhindern. Und jedermann wird nur Abscheu empfinden können, wenn Wissenschaftler zum Beispiel Folterprogramme erfinden.

Auf die Frage „Warum soll man nicht lügen?“ hat Albert Einstein einmal geantwortet:

Lügen zerstört das Vertrauen in die Aussagen anderer. Ohne ein solches Vertrauen wird soziale Zusammenarbeit unmöglich oder zum mindesten schwierig. Die Zusammenarbeit ist jedoch wesentlich, um das menschliche Leben möglich und erträglich zu machen. Das heißt, die Vorschrift ’Du sollst nicht lügen’ wurde zurückgeführt auf die Gebote: ‚Menschenleben ist zu erhalten’ und ‚Schmerz und Trauer sind soweit wie möglich zu verringern’“.

Die Völker wollen keine Kriege. Es sind auch nicht die Völker, das ist die Lehre aus der Psychologie, die Kriege machen, auch wenn ein Volk sich gegen jeden Angriff zu Recht verteidigt.

Leider leben wir in einer Zeit, in der in Deutschland und auch bei uns in der Schweiz vielfach nur noch die älteren Menschen in der Schule gelernt haben, welche wertvollen Beiträge die europäische Kultur gerade ihrem Land verdankt. Auch gerade dem zum Trotz möchten wir mehr von Ihnen kennenlernen.

Dann komme ich zu den Grundlagen, was wir „Personale Psychologie“ nennen.

Unsere psychiatrisch-psychotherapeutische Arbeit steht in der Tradition der Individualpsycholgie Alfred Adlers und auch in der Tradition der sogenannten Neoanalyse oder Neopsychoanalyse. Da sind Namen zu nennen wie Karen Horney Frieda Fromm Reichmann, Harry Stuck Sullivan, Franz Alexander und andere. Die Neopsychoanalyse ist vor allem in den Vereinigten Staaten entstanden und bestand aus einer Gruppe von Psychiatern, die allesamt nicht mehr einverstanden waren mit Sigmund Freuds mechanistischer Deutung des Seelenlebens und mir der Triebtheorie. Wir werden dann in der Diskussion vielleicht genauer diese Zusammenhänge noch diskutieren können.

Ich möchte nur kurz den Adler’schen Beitrag und den seiner Schüler skizzieren: Alfred Adler ist einer der Pioniere der Tiefenpsychologie aus der Wiener Schule. Er wird am 07. Februar 1870 in Wien geboren. Während der Wende zum 20. Jahrhundert beginnt er als Augenarzt in Wien zu wirken. Bald darauf lädt ihn Sigmund Freud zu den Diskussionen in seiner „Mittwochs-Gesellschaft“ mit anderen Ärzten und Psychiatern ein, aus der später die freudsche Psychoanalyse hervorgeht – eine der drei ursprünglichen tiefenpsychologischen Schulen neben derjenigen Adlers und der analytischen Psychologie C. G. Jungs.

Nach neun Jahren Zusammenarbeit trennt sich Adler von Freud wegen der Differenzen zur Triebtheorie und gründet eine eigene tiefenpsychologische Lehr, Forschungs- und Ausbildungstätigkeit. Er nennt sie zunächst „Vereinigung für freie Psychoanalyse“. Später wird Adlers Schule unter dem Namen „Individualpsychologie“ bekannt. 1937 stirbt er leider viel zu früh, 66jährig, auf einer Vortragsreise in Aberdeen in Schottland.

Fruchtbar verbunden hatte Freud und Adler ursprünglich die Entdeckung, dass seelisches Leiden durch seelische Konflikte verursacht und verstehend zu heilen ist. Es war die Geburtsstunde der Tiefenpsychologie.

Während der neun Jahre Zusammenarbeit mit Freud, baute Adler den verstehenden Ansatz immer weiter zu einer Persönlichkeitstheorie und zu einer eigentlich Sozialpsychologie aus. Freud dagegen hat sein mechanistisches Triebmodell immer weiter ausgebaut und sich immer mehr auf biologistische, reduktionistische Erklärungen gestützt. Der Psychotherapie und der Erziehung gegenüber ist er später immer pessimistischer geworden.

Für Adler, und das ist das Wichtigste, für Adler ist das Bedürfnis nach Liebe, nach Geborgenheit, Sicherheit und mitmenschlicher Beziehung ein primäres angeborenes geistig-seelisches Streben. Das Kind bringt das als Anlage zur Welt. Es ist eine bildbare, erziehbare soziale Anlage, die nach der Geburt in soziales Wechselspiel mit den Mitmenschen im sogenannten „reifenden Lernen“ und „ lernenden Reifen“ mündet. Die Erzieher machen das Kind nicht sozial, sondern sie wachen über die sich entwickelnde weltoffene, offene Anlage. Die biologischen Bedürfnisse des Kindes sind dem Bestreben nach Beziehung nachgeordnet, sekundär. Die biologischen Bedürfnisse werden von den individuellen und kulturellen Werten geformt. Das sind Erkenntnisse, die später in der modernen Entwicklungspsychologie, ich nenne Namen wie, Spitz und Hensler, Anthropologen wie Wicki, Wal und Tomasello bestätigt werden.

Für Alfred Adler war die personale Auffassung vom Menschen von Anfang an wesentlich, und das unterscheidet ihn grundlegend von Freud. Adlers Persönlichkeitstheorie versteht den Menschen als ein Wesen, das in zwischenmenschlichem Bezug steht und für die Gestaltung seines eigenen Lebens und der es umgebenden Kultur über eine schöpferisch-gestaltende Komponente verfügt. Deshalb gehört die Adlersche Psychologie in die Reihe der Ich-Psychologen.“[1]

Adler erforschte die Entstehung von seelischem Leid, um dem Einzelnen zu helfen. Er sah aber auch, wie viel wirkungsvoller es ist, wenn das psychologische Wissen für die Vermeidung von seelischem Leid eingesetzt wird. Adler erkannte als politisch Aufgeschlossener, seine Frau Raiza war übrigens Russin, Adler erkannte als politisch Aufgeschlossener die politische Bedeutung der Individualpsychologie, nämlich die Erziehung der Erzieher. Das heisst, in allen Bereichen des Lebens das psychologische Wissen und Können vermitteln, Menschen zu stärken und die Gesellschaft mehr sozial zu durchbilden.

Zwischen den beiden Weltkriegen entstanden in Österreich und Deutschland viele individualpsychologische Lehrerberatungsstellen. In vielen gesellschaftlichen Bereichen setzte eine umfassende Vorsorgetätigkeit ein zur Vermeidung von Kriminalität, Suizid, seelischem Leiden allgemein.

Die Grundidee dieser Erziehungsberatungsstellen, dieser Lehrerberatungsstellen war, dass die Menschen im Sinne einer umfassenden Volksbildung seelisch widerstandsfähiger würden. Das erkannte Adler als den wirkungsvollsten Schutz gegen die vorher schon erwähnten demagogischen Versuche, das Volk zu belügen, das Gemeinschafts- und Geltungsstreben des Volkes aufzupeitschen und es zum Hass und letztlich zum Krieg gegen andere Nationen aufzuhetzen.

Unter denen, die nach dem Weltkrieg Adlers Werk weitergeführt haben, ist Friedrich Liebling. Er musste wie alle anderen vor dem Nationalsozialismus fliehen, der die breite individualpsychologische Bildungs- und Vorsorgearbeit in Österreich und Deutschland zerschlug.

Seit Mitte der 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts führte Friedrich Liebling in Zürich eine Praxis unter dem Namen Psychologische Lehr- und Beratungsstelle. Seit den Sechzigerjahren hatte er diese weiter ausgebaut und die therapeutische Arbeit um ein immer breiter werdendes Spektrum an Beratungs-, Forschungs- und Bildungsangeboten erweitert. In kleinen, mittleren und grösseren Gesprächskreisen, Tagungen und Kongressen, wurden psychologische, philosophische und gesellschaftspolitische Fragen in allgemeinverständlicher Sprache und an konkreten Beispielen aus dem Zusammenleben erörtert. In etwa vergleichbar einer Volkshochschule oder Institutionen, wie zum Beispiel das von Adolf Portmann ins Leben gerufene Bildungswerk „Jugend forscht“ oder anderen. Hier konnten sich alle Interessierten – Eltern, Studenten, Ärzte, Lehrer und Angehörige aller Berufe – mit der Bedeutung der Psychologie für alle Lebensbereiche auseinandersetzen. In der Zeitschrift „Psychologische Menschenkenntnis“ wurden Ergebnisse der Arbeit veröffentlicht.

Es war eine ‚Lebensschule’, wie sie Friedrich Liebling nannte, die das Anliegen Alfred Adlers und vieler anderer Tiefenpsychologen aufgriff: Nicht nur Heilen, sondern auch Bilden. Seelische Prophylaxe für die kommenden Generation, Schutz der Heranwachsenden vor Drogen, Kriminalität, Entmutigung, vor seelischem Leid allgemein. Erziehung der Erzieher, und zwar nicht nur in Form von individueller therapeutischer Hilfe oder Beratung, sondern auch im Sinne einer breit verstandenen Psychoedukation, die ein grosses Bildungsangebot umfasste.

Nach Friedlich Lieblings Tod 1982 führte die Psychologin und Historikerin Annemarie Buchholz-Kaiser seine Arbeit bis zu ihrem Tod 2014 fort. Bei Friedrich Liebling und Ihr haben die Psychiater und Psychotherapeuten unserer Arbeits-Gruppe die für den Psychotherapeuten notwendige Charakter- und Lehranalyse absolviert.

[1]    Buchholz-Kaiser, Annemarie: Zum Jahresbeginn 1989. In: VPM: Jahresbericht 1988, Zürich: 1988, S. 19.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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