Das «Kalte Herz»

10. Oktober 2024

Moritz Nestor

2001 zitiert Konkret in seiner Nr. 7 unter dem Titel «Verteilungsgerechtigkeit und Generationenkonflikt» den Enkel von Käthe Kollwitz, Prof. Arne Kollwitz, ein Mitglied der Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin, mit den Worten:

«Die Ressourcen sind knapp. Nicht jeder kann alles bekommen. Rationierung ist erforderlich».

Kollwitz behauptet sodann, Ältere würden das Gesundheitssystem «überproportional» belasten. Dazu beruft er sich auf einen Satz des ehemaligen Gouverneurs des US-Staats Colorado, Richard Lamm:

«Ältere haben die Pflicht zu sterben und aus dem Weg zu gehen.» 

Das ist ein widerliches Zitat aus dem Artikel von John Hardwig «Is there a Duty to Die?» [6]

Obwohl Arne Kollwitz Deutschlands schreckliche Euthanasie-Vergangenheit kennt, verbietet er kurzerhand allen Kritikern, sich auf übergeordnete Werte zu berufen:

«Rationierungsentscheidungen … [sind] nicht mit moralischen Absolutheitsansprüchen anzugehen». 

Zuviel kosten würden die Älteren wegen ihres «Egoismus und Anspruchsdenkens». Das müsse man zurückdrängen. Dringend nötig sei eine «öffentliche Diskussion über die Stellung der Alten in der Gesellschaft» und «über deren Rechte und Pflichten».

Und dann wird jede Kritik an den inhumanen, verfassungsfeindlichen Forderungen zu ersticken versucht, indem gedroht wird: Wenn man «Egoismus und Anspruchsdenken» nicht abgestellt und den Menschen, die ja alle alt werden!, stattdessen nicht beigebracht werde, dass sie dann die «Pflicht (haben) zu sterben»: Dann «müssten die Einsparungen eben alle treffen.» [4] 

Wieso sollten wir uns «moralische Absolutheitsansprüche» von einem «Ethiker» verbieten lassen, wo doch selbst das Grundgesetz davon ausgeht? Hat der Enkel der grossen Käthe Kollwitz seine eigene Geschichte vergessen? Wenn das Geld nicht mehr dem Menschen dienen soll, sondern der Mensch dem Geld, dann erkalten die Herzen. Und plötzlich will man Alte zum Sterbenwollen verpflichten, weil sie angeblich «zuviel» kosten. 

Von dem deutschen Dichter Wilhelm Hauff stammt das Märchen «Das kalte Herz». In meiner frühen Jugendzeit las ich es mehr als einmal, und es hat – wenn auch auf völlig «unaufgeklärte»  Weise – einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen: Es gibt absolute moralische Werte, die ich nie verraten wollte.

Peter kommt zum Glasmännlein

Mit dem Herz aus Stein in der Hand des Holländermichel

Im «Kalten Herz» erzählt Hauff, wie der «Kohlenmunk-Peter», der im Schwarzwald die bescheidene Köhlerei seines Vaters führt, unzufrieden ist mit der schmutzigen, anstrengenden und schlecht bezahlten Arbeit, sich von den Menschen wenig respektiert fühlt und von Reichtum und Ansehen träumt. Er hört, dass es im Wald das «Glasmännlein» gebe, der allen Sonntagskindern, wie der «Kohlenmunk-Peter» eines ist, drei Wünsche erfülle. Peter sucht das Glasmännlein auf und wünscht sich in seiner Sehnsucht nach Reichtum und Ruhm, womit er sein Unterlegenheitsgefühl unter den Menschen beruhigen will, als erstes viel Geld und ein prima Tänzer zu werden, um im Wirtshaus bewundert zu werden. Als zweites eine ansehnliche grosse Glashütte. Den dritten Wunsch aber verweigert das Glasmännlein dem Peter. Die beiden Wünsche erfüllen sich, Peter wird zu einem beachteten wohlhabenden Mann. Doch er verfällt dem Müssiggang und der Spielerei, vernachlässigt seine schöne Glashütte, bis er sie verpfänden muss. In seiner Not sucht den bösen Waldgeist «Holländermichel» auf. Der macht ihn reich, fordert aber Peters Herz als Gegenleistung. Ach, das Herz mit seinen Gefühlen sei sowieso nur hinderlich im Leben, flüstert er dem Peter ein. Peter erhält einen kalten Stein in die Brust und wird reich. Aber kann sich nicht mehr freuen, nicht mehr lachen oder weinen. Er kann keine Liebe empfinden und nichts erscheint ihm mehr schön. Das Herz aus Stein kann nicht mehr Anteil nehmen. Vergeblich fordert er vom Holländermichel sein lebendiges Herz zurück. Der verweigert den Wunsch. Peter erhalte sein Herz erst nach dem Tod wieder. Der Holländermichel führt den Peter nun in seine Sammlung von Herzen der «großen Persönlichkeiten» des Schwarzwaldes – auch das des von Peter bewunderten Ezechiel. Alle haben wie der Peter aus Gier ihre Herzen verloren. Unverrichteter Dinge kommt der reiche Peter zurück und versucht, seine Langeweile zu vertreiben: er baut ein riesiges Haus und verleiht Geld zu Wucherzinsen. Bald ist wegen seines unerbittlichen Geizes verachtet. Er verjagt die Armen von seinem Anwesen, die um Geld bitten. Seiner alten Mutter gibt er etwas Almosen und hält sie von sich fern. Er heiratet Holzhauerstochter Lisbeth an. Doch Lisbeth fühlt sich bald unglücklich, denn Peter ist schlecht gelaunt, geizig, und verbietet Lisbeth, die kein Stein in der Brust trägt, den Armen zu helfen. Eines Tages ist Lisbeth alleine zu Hause, als ein kleiner alter Mann vorbeikommt und sie um einen Schluck Wasser bittet. Sie aber bewirtet ihn mit Wein und Brot. Doch, just als sich der alte Bewirtete bedankt, kommt Peter zurück und erschlägt voller Wut Lisbeth mit der Peitsche. Als Peter zunächst bereut, gibt sich der alte Mann als das Glasmännlein zu erkennen. Doch Peter kann nicht bereuen, da er kein Herz hat, sondern nur einen Stein in der Brust, und schiebt nun ihm die Schuld für die Tat. Um Peters toter Frau willen, die gütig zu ihm war, verlangt das Glasmännlein von Peter, sein Leben zu überdenken, und im Traum sagen Stimmen zu Peter, er solle sich «ein wärmeres Herz verschaffen». Er geht wieder in den Wald und will vom Glasmännlein den dritten Wunsch erfüllt bekommen: Er will sein Herz zurückhaben. Das Männlein verrät ihm, wie Pater den Michel überlisten könne: Peter geht zum Holländermichel und beschuldigt ihn, dieser habe ihn betrogen: Der habe ihm gar kein Steinherz eingesetzt. Der böse Holländermichel ist gekränkt und setzt ihm «zur Probe» das echte Herz wieder ein, worauf sich Peter mit einem Glaskreuz, das er vom Glasmännlein erhalten hat, den Michel vom Leib hält. Dadurch kann Peter den zornigen Michel von sich fernhalten. Nun hat er sein Herz wieder und kann sein verpfuschtes Leben wirklich bereuen. Das Glasmännlein erweckt Lisbeth zum Leben. Dem Rat des Glasmännleins folgend, arbeitet er wieder fleißig als Köhler und wird auch ohne Reichtum zu einem angesehenen Mann.

Das warme Herz hat mir damals Eindruck Eindruck gemacht, weil es wieder zu dem Grundsätzlichsten und zu dem moralisch Absoluten zurückfinden kann, was uns Menschen auszeichnet:

«Wir Menschen verdanken der Generation unserer Eltern und Grosseltern unser Leben, das sie uns geschenkt haben. Durch ihre Hilfe und Sorge konnten wir Mensch werden. Jeder fühlt daher in sich eine tiefe Verpflichtung aus Dankbarkeit, ihnen heute das zurückgeben zu wollen, was uns einst von ihnen gegeben worden ist – gegeben aus Liebe, ohne dass wir darum gebeten hätten. Dieser unsichtbare Vertrag bindet die Generationen natürlicherweise aneinander. Er bildet den Kern unserer Sozialnatur.[1] Wie uns damals als Kindern, so steht der alten Generation heute der gleiche volle Einsatz und die gleiche liebevolle Sorge zu, wie wir sie einst von ihnen gerne empfangen haben. Das ist das natürliche Recht der alt gewordenen Elterngeneration. Dieser Generationenvertrag ist unkündbar.[2] Wir können gegen ihn verstossen, aber die «irrige Meinung eines Menschen über sich und über die Aufgaben des Lebens stösst früher oder später auf den geharnischten Einspruch der Realität, die Lösungen im Sinne des Gemeinschaftsgefühls verlangt»,[3] da ohne gegenseitige Hilfe das menschliche Zusammenleben unmöglich wird. «Was bei diesem Zusammenstoss geschieht, kann mit einer Schockwirkung verglichen werden», bemerkt Adler: Der mitmenschliche Schaden ist anklagender Ausdruck des verweigerten Rechts auf Hilfe.» [5]

 

 

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Literatur

[1] Vgl.: Dührssen, Annemarie. Die biographische Anamnese unter tiefenpsychologischem Aspekt. Göttingen 1981; vgl. auch:Nestor, Moritz & Vögeli, Erika. Zum Dreigenerationenmodell. 1998. URL: https://naturrecht.ch/wp-content/uploads/1998-MZE-Erika-Moritz-Dreigenerationenmodell.pdf (eingesehen am 7. März 2019); vgl. auch: Nestor, Moritz. 13 Thesen: Anthropologische Grundlagen der Familie. 1999. URL: https://naturrecht.ch/13-thesen-anthropologische-grundlagen-der-familie/ (eingesehen am 10. März 2019); vgl. auch: Nestor, Moritz. Worin besteht der Sinn des Alters? 1997. URL: https://naturrecht.ch/worin-besteht-der-sinn-des-alters/ (eingesehen am 10. März 2019);  vgl. Guardini, Romano. Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung. Würzburg 1953
[2] Vgl. auch: Nestor, Moritz. In schwierigen Zeiten einen menschlichen Standpunkt gewinnen. Was uns geschichtliche Erfahrung, Naturrecht, Anthropologie und Psychologie dazu zu sagen haben – eine Annäherung. In: Zeit-Fragen Nr. 12 vom 23.Juli 2017
[3] Vgl.: Kapitel «Die Meinung über sich und über die Welt» in: Adler, Alfred. Sinn des Lebens. Leipzig 1933
[4] http://home.snafu.de/bifff/aktuell21.htm (Kurzfassung in KONKRET, Nr. 7/2001.) John Hardwig «Is there a Duty to Die?» (The Hastings Center Report, Vol. 27, No. 2. (Mar. – Apr., 1997), S. 34-42
https://www.studocu.com/en-au/document/university-of-sydney/bioethics/is-there-a-duty-to-die-reading/29805733
[5] Nestor, Moritz. Von der Aufgabe, auf der Seite des Lebens zu stehen – Lehren aus einem Vierteljahrhundert «neuer Euthanasie». In: Hippokratische Gesellschaft Schweiz (Hg.) Von der Aufgabe, auf der Seite des Lebens zu stehen. Beiträge zur Diskussion um die Sterbehilfe. 2020
[6] Hardwig, John. Is there a Duty to Die? In: The Hastings Center Report, Vol. 27, No. 2. Mar. – Apr., 1997, S. 34-42

 

 

 

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