Moritz Nestor
Für die therapeutische Begleitung von Familien mit Kindern in Entwicklungskrisen hat sich das Konzept des «Lebensstils» aus der Individualpsychologie Alfred Adlers in vieler Hinsicht als diagnostisch und therapeutisch von grossem Nutzen erwiesen. Adler bezeichnet mit dem Begriff «Lebensstil» die gefühls- und verstandesmässige Orientierung eines Menschen im Sozialleben, die das Kind in den ersten Lebensjahren im Wechselspiel mit seinen Eltern in der Familie herausbildet und die sich in individuellen Charakterzügen manifestiert. Diese Orientierung ist eine Art seelische Leitlinie des Denkens, Fühlens und Handelns mit einem fiktiven Ziel. Sie entsteht in einer individuellen Anpassungsleistung des Kindes an die Erfordernisse des Zusammenlebens, um unter den gegebenen Verhältnissen bestehen zu können, wertvoll zu sein, von Bedeutung zu sein usw.[1] Ein fragiler zwischenmenschlicher Lernprozess, anfällig für mannigfaltige Fehlschläge.
Das folgende Beispiel von Johannes soll das verdeutlichen. Es ist etwas verkürzt dargestellt, um die individuelle Leitlinie dieses Kindes deutlicher hervortreten zu lassen: ein starkes Überlegenheitsstreben, gekennzeichnet von narzisstischem Dominanzverhalten und wenig Interesse am Mitmenschen. Bei Johannes handelt es sich um ein «in der Tiefe seiner Seele schwer verunsichertes Kind, das verzweifelt um Orientierung in einer Welt ringt, die es in Grundfragen seiner Existenz belügt und betrügt.»[2] Das Kind weist jene typischen Fehler im Lebensstil auf, die einem Laissez-faire-Erziehungsstil geschuldet sind, wie wir ihn heute bei uns in vielen Familien antreffen: eher passive, «antiautoritär» erziehende Eltern, die dem Kind kaum Vorgaben machen und Grenzen setzen, die das Kind eher sich selbst überlassen und gewähren lassen, ohne klaren, Orientierung und Sicherheit bietenden Rahmen. Nicht der Lebensstil per se ist also ein Problem, sondern allfällige unrealistische Ziele in ihm. Jeder Mensch braucht eine seelische Orientierung und einen inneren Standpunkt gegenüber den Anforderungen des Lebens. «Ohne jede Einheitlichkeit, jede Physiognomie und jede persönliche Note glichen wir Lebewesen vom Rang einer Amöbe»,[3] hat Adler einmal gesagt.
Johannes
Johannes wird als einziges Kind von Donata geboren, einer fünfunddreissigjährigen alleinerziehenden Mutter. Sie liebt ihn, strengt sich an, alles auszugleichen und wiedergutzumachen, was dem Kind dadurch entstanden sei, dass der Kindsvater die schwangere Donata nach wenigen Wochen sitzen liess, woran sie sich, nicht ganz unbegründet, schuldig fühlt. Sie hatte gehofft, enttäuscht durch eine Reihe gescheiterter Liebschaften, endlich eine dauerhafte Beziehung gefunden zu haben. Sie ist eine ausgesprochen hübsche Frau, fühlt sich aber hässlich, nicht liebenswert und glaubt, sie finde nicht wie andere Frauen einen Mann, der bei ihr bleibe. Donata freut sich, mit Johannes ein geliebtes Wesen für sich ganz allein zu haben. Er wird in ihrem Gemüt ihr Partnerersatz, der ihre Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe und stolzer Bewunderung erfüllt.
Abends legt Donata den wenige Wochen alten Johannes jeweils in die Wiege und dieser schläft ein. Sie liest noch. Nach einer Weile macht sich Johannes durch lauter werdendes Murren und Krähen bemerkbar. Von Anfang an seien das keine Zeichen von Hunger oder Durst oder Schmerzen oder Angst gewesen, bemerkt Donata später.
Sie nimmt Johannes zu sich ins Bett, denn sie will, dass der Bub mit ihr zufrieden ist und sie nicht mehr «anschreit», wie sie empfindet. Sie hat ein schlechtes Gewissen und Angst vor seinem Schreien. So wie sie als kleines Mädchen schon Angst vor den Affekten ihres Vaters hatte, wenn dieser die beiden fünf und sechs Jahre älteren Brüder verdrosch. Sie schlug er nie. Als Einzelkind hatte sich ihr Vater eine kleine Schwester gewünscht und als Vater zweier Söhne diesen Wunsch erfüllt gesehen in seinem dritten Kind, seinem «Goldtöchterchen».
Wieder in ihrem Bett, spricht Donata mit Johannes, bis dieser eingeschlafen ist, um ihn wieder in die Wiege zurückzulegen und weiter zu lesen. Aber immer mehr und immer stärker wiederholen sich die Szenen, bei denen Johannes seinen Verbleib im Bett der Mutter erzwingt. Bis Donata aufgibt und Johannes bei sich im Bett schlafen lässt. Sie ist glücklich, Johannes ganz für sich zu haben. Und das bleibt so, bis Johannes etwa fünf Jahre alt ist.
Es begann, als er einige Monate alt war, da sass Johannes in einem Sitzgestell am Tisch und versucht angestrengt ein leider zu weit von ihm weg liegendes Stück weicher Wurst zu ergattern. Als er aber erkennen muss, dass er es nicht schafft, stösst er zum ersten Mal in seinem Leben einen lauten schrillen Schrei aus, den er von nun an beibehält, wenn er etwas will. Denn Donata ist herbeigeeilt, um seinem Kommando zu gehorchen und ihm die Wurst zu geben.
Ab etwa dem zweiten Lebensjahr beisst Johannes jeden Besuch und schreit und tobt, wenn die Mutter nicht für ihn alleine da ist. Verliert er, tobt er und ist der Welt abgrundtief böse.
Wird er im Restaurant nicht als erster bedient, beschimpft er den Ober wüst, worauf Donata den Ober besänftigt, ihr Siebenjähriger sei «halt noch ein Kind», und der Ober Johannes als ersten vor den Erwachsenen bedient. Ihr älterer Bruder rät Donata, Johannes mehr Grenzen zu setzen, worauf Donata ihn schnippisch zurechtweist, er wolle wohl wieder Papa spielen.
Johannes bittet nie um etwas. «Dau, Dau» schreiend, stürmt der Dreijährige in die Stube, wo Donata gerade mit einem Besuch spricht, nimmt davon keine Notiz, sondern zerrt ärgerlich an der Mutter. Sie versteht sofort, dass Johannes mit «Dau» meint, er wolle einen «Kakau», und zwar sofort – und kocht, mit ein paar entschuldigenden Worten gegenüber dem Besuch, Johannes das Gewünschte.
Sie glaubt, typisch für viele Mütter ihrer Generation, besser zu erziehen als andere. In Wirklichkeit lernt Johannes nicht, es aushalten zu können, dass er auch einmal warten muss, bis ein anderer Mensch sich ihm zuwendet. Er lernt nicht, mit sich selbst etwas Sinnvolles zu tun und schon gar nicht, ohne Zwang auf positive Art Beziehung zum anderen zu suchen. Damit kann er kein gesundes Selbstwertgefühl, Mut und Ausdauer für die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen entwickeln.
Auf Spaziergängen fährt der Siebenjährige stolz auf seinem Kindervelo neben den Erwachsenen her. Nach einer Weile aber bleibt er zurück, schlingert, lässt sich in den Graben fallen und schreit mörderisch. Donata ruft ein paarmal nach ihm, aber dann läuft sie zurück zu ihm, und es entspinnt sich ein minutenlanges Hin und Herr, während alle anderen warten müssen. Immer wieder lässt sich der schreiende und weinende Johannes vom Velo fallen und bindet seine Mutter an sich.
Wenn wir nun diese sieben Jahre vor uns liegen sehen, erkennt man die Leitlinie der werdenden Persönlichkeit und das sich formende Ziel: Wenn du nicht machst, was ich will, zwinge ich dich. So ist Johannes nicht auf die Welt gekommen.
Bei der Beurteilung einer individuellen Persönlichkeit kann immer alles auch anders sein. Die menschliche Gesamtpersönlichkeit ist immer individuell und lässt sich nicht exakt berechnen oder in Schemata pressen. Was als Beurteilungsmassstab bleibt, ist die Beobachtung und das Verstehen des Verhaltens eines Menschen gegenüber den Aufgaben, die das Leben jedem Menschen stellt. Hier erweist sich, welchen individuellen Sinn ein Mensch seinem Handeln gibt und wie realistisch er seine Beziehungen zu anderen Menschen und in Gemeinschaften gestaltet. Johannes in dem Beispiel offenbart das drastisch. Die Laissez-faire-Erziehung seiner Mutter hat ein egozentrisches Dominanzstreben entstehen lassen, welches das schwache Selbstwertgefühl des Kindes nur notdürftig verdeckt. Johannes kann nicht solidarisch kooperieren und erlebt andere Menschen schnell als feindlich und Bedrohung seiner selbst. Da die Mutter das macht, was er will, tritt dieser Lebensstil nur in konflikthaften Begegnung mit anderen Menschen störend zutage. Dass (noch) keine Katastrophen mit schwerwiegenderen Folgen aufgetreten sind, wird nur dadurch verhindert, dass die Mutter alle Fehlschläge ausgleicht und dadurch den Mangel von Johannes überdeckt: Er kann und will nicht mit anderen kooperieren. Ein solchermassen fehlerhafter Lebensstil provoziert Fehlschläge, beziehungsweise verschärft Fehlschläge, wie sie das spätere Leben in Schule, Ausbildung und in der Liebe sowieso immer mit sich bringt. Solche Niederlagen können das zu brüchige Selbstwertgefühl von Johannes weiter schwächen und dadurch sein nervöses Streben verstärken, Geltung durch Dominanz zu suchen. Das wird Johannes weiter vom gemeinschaftlichen Wege abdrängen in «eine dem Gemeinschaftsgefühl und der Anpassung widersprechende Gangart, ein Weg der Unversöhntheit und Mutlosigkeit, der die volle Lebensfähigkeit aufhebt».[4]
Wenn – Johannes nicht auf Menschen trifft, zum Beispiel eine sicher führende warmherziger Grossmutter oder einen erfahrenen Lehrer, denen es gelänge, Johannes beziehungsgeneigt zu machen. Gelänge es, zu dem Buben eine tragfähige emotionale Brücke des Vertrauens zu bauen, könnte dadurch das Selbstwertgefühl von Johannes gestärkt und ihm mehr Mut eingeflösst werden. So wäre er besser für die Aufgaben des Lebens gerüstet, die immer ein ausreichendes Mass an Kooperationsfähigkeit verlangen.
Das Entscheidende besteht darin, dass der Helfer sieht, dass der fehlerhafte Lebensstil für Johannes auch eine Schutzfunktiondarstellt, nämlich ihn «vor dem Zusammenprall mit seinen Lebensaufgaben, mit der Wirklichkeit, zu sichern, ihn davor zu bewahren, dass sich das düstere Geheimnis seiner Minderwertigkeit enthüllt».[5] Damit erweist sich auch ein irritierter Lebensstil und krankes Verhalten immer noch als ein Stück weit gemeinschaftsbezogen, als Ringen um den eigenen Wert – immer noch auf die Mitmenschen ausgerichtet: ein verkümmerter Rest Gemeinschaftsbezogenheit und Streben nach Geltung unter den Menschen. Hier muss der erfahrene Helfer ansetzen.
Das Neugeborene bringt einen spontanen «Drang zum Probieren neuer Bewegungen» (Portmann) mit auf die Welt,[6] eine «schöpferische Kraft» (Adler).[7] Damit tastet es sich suchend und probierend ins Unbekannte des Lebens hinein. Mit jedem Tastversuch, erfährt es Reaktionen der Eltern, aus denen es wiederum Schlüsse zieht, in denen seine Konsequenzen aus der Erfahrung der vorangegangenen Probierbewegung sichtbar sind. Indem die Probierbewegungen «stets neue Beziehungen erzeugen» und «eine Ausganssituation schaffen, die ganz neu ist, die kurz vorher noch nicht bestehen konnte, und die für alles weitere Geschehen eine neue Gesamtlage hinterlässt»,[8] nimmt die kindliche Ontogenese ihren Lauf. «So steht bereits im ersten Lebensjahr das Lebens des Menschenkindes unter dem Gesetz des ‚Geschichtlichen’», schreibt Portmann, «Hilfe und Anregung von Seiten der Umgebenden, eigene schöpferische Aktivität und Drang zur Nachahmung beim Kinde geben in steter unlösbarer Wechselwirkung dem Entwicklungsgange sein Gepräge, sie alle schaffen gleichermassen mit an den Merkmalen des Leibes wie an denen der Lebensart.»[9] In der vorsprachlichen Zeit der ersten anderthalb bis zwei Jahre ist das ein fast rein emotionales Geschehen, in welchem das Kind mit seiner schöpferischen Eigenaktivität einen individuellen Lebensstil bildet mit einem bestimmten «Grad an psychischer Aktivität und an Gemeinschaftsgefühl».[10]
Was die ursprünglich freie schöpferische Kraft des Kindes zu einer gebundenen Kraft macht ist die Erzieherpersönlichkeit. Das Neugeborene hat ein eigenaktives Streben nach Bindung zu seiner Mutter, ist aber unfertig, klein, hilflos und von der liebenden, verstehenden und bejahenden Zuwendung seiner Umgebung bedingungslos abhängig, denn die Persönlichkeit der Mutter und die Qualität ihrer Zuwendung kann es nicht ändern. «Diese Situation der Ohnmacht, in der das Kind für Gefühle der Schwäche, der Minderwertigkeit und der Angst ausserordentlich anfällig ist, kann nur gemildert werden, indem auf seine physischen Bedürfnisse und auf sein Bedürfnis nach Beachtung und emotionaler Wärme angemessen eingegangen wird. Die soziale Atmosphäre, in der sich der Alltag des Säuglings abspielt und in der er mit den Erfordernissen des Lebens allmählich vertraut gemacht wird, beeinflusst seine Neigung zum Mittun, seine Bereitschaft zur Kooperation. Bereits im zweiten Lebensjahr ist die individuelle seelische Reaktionsweise des Kindes, sein Lebensstil erkennbar; es formt ihn, noch bevor es über eine zureichende Sprache oder über zureichende Begriffe verfügt, um sein Befinden und sein Erleben zu artikulieren.»[11] Im nachgeburtlich zunächst nichtdeterminierten Verhalten des Kindes entsteht eine weiche, weil gelernte, Determination, indem der «schöpferische Geist in die Bahn des kindlichen Lebensstils gezwängt» wird,[12] «sobald das Kind sich ein festes Bewegungsgesetz für sein Leben gegeben hat.»[13]
So «entwickelt und festigt sich die Haltung eines Individuums und modifiziert sich im Verlaufe der weiteren Entwicklung im Sinne einer Ausweitung seiner sozialen Kontaktfähigkeit oder im Sinne der Neurose.»[14] Dabei widerspiegelt der Grad an Mitmenschlichkeit und Kooperationsbereitschaft des Kindes «den Grad an Mitmenschlichkeit, den es erfahren hat.»[15] Es ist eine Art «Meinung des Kindes, welchen Weg es einschlagen soll, um seine Fähigkeiten so weit auszugestalten, dass es in den von der Gemeinschaft gestellten Anforderungen keine Niederlagen erleidet, sich nicht wertlos fühlen muss.»[16]
Das Kind formt diesen Lebensstil immer als aktiven Versuch der «Anpassung an die soziale Struktur der näheren Umgebung, und zwar mit verhältnismässig unzulänglichen Mitteln und unter dem evolutionären Zwang der Überwindung der Schwäche. Das Kind ist dabei einer Fülle von Erlebnissen und Eindrücken ausgesetzt, in der es sich zurechtzufinden hat und einen Weg zu finden versucht, um über seine Schwächeposition hinauszuwachsen. Zur naturgegebenen Schwäche, der Unfähigkeit, das eigene Leben aufrechtzuerhalten, kommt die Schwäche aus dem sozialen Bereich, nämlich aus dem Vergleich mit der grossgewachsenen, tausenderlei Fähigkeiten besitzenden erwachsenen Umgebung. Diese Quelle des Schwächegefühls ist für das Kind nicht minder schwierig und wirkt sich ebenfalls tiefgreifend aus.»[17]
In der mitmenschlichen Kooperation mit seinen Eltern und durch deren Hilfe und Anleitung kann das Kind seine Schwächesituation überwinden lernen. Die Disposition zu Hilfeleistung und Kooperation bringt es dazu mit zur Welt. Es hat im Allgemeinen spontan Freude am Helfen, Kooperieren und Lernen und entwickelt beim gemeinsamen Überwinden seiner Schwächeposition Ausdauer, Mut und Selbstwertgefühl/Ich-Stärke. «Als Massstab seiner Kraft dient ihm die gefühlsmässig und ungefähr erfasste Leistungsfähigkeit in einer durchaus nicht neutralen Umgebung, die [leider nur zu oft, M.N.] nur schlecht eine Vorschule des Lebens abgibt. Aufbauend auf einem subjektiven Eindruck, oft durch wenig massgebende Erfolge oder Niederlagen geleitet, schafft sich das Kind Weg und Ziel und Anschaulichkeit zu einer in der Zukunft liegenden Höhe. Alle Mittel der Individualpsychologie, die zum Verständnis der Persönlichkeit führen sollen, rechnen mit der Meinung des Individuums über das Ziel der Überlegenheit, mit der Stärke seines Minderwertigkeitsgefühls und mit dem Grade seines Gemeinschaftsgefühls.»[18]
Um die Ursachen seelischen Leidens zu verstehen, muss man als Psychologe den Lebensstil eines Menschen verstehen lernen, seine meist halb- oder unbewusste «private Logik» (Adler) und deren fiktives Ziel der Überwindung, die einem Verhalten, vor allem seinen Ausweich- oder Kompensationsbewegungen, innewohnt. Im Verlauf der Annäherung an die Persönlichkeit des Hilfesuchenden versteht man so allmählich den Ursprung des heute zu beobachtenden konflikthaften Verhaltens in der Lebensgeschichte, vor allem in den frühen Kindheitsjahren.
Wenn ein Ratsuchender die Irrtümer und Fehler seines Lebensstils versteht und überwindet, dann eröffnet ihm das neue Wege, in menschlichen Gemeinschaften durch Kooperation und mitmenschliche Beiträge eine tiefe Genugtuung zu finden. Er kann dann, in einer Art «Nacherziehung», beginnen, sein egozentrisches Denken, Fühlen und Handeln dem (objektiven) Sinn des Lebensanzunähern: Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, soziale Verbundenheit, Humanität. Ihm kann man sich nur in sozialer Verbundenheit mit den Mitmenschen und der Kultur annähern. Was keinesfalls eine automatische Anpassung an bestehende gesellschaftliche Verhältnisse meint, egal ob gerecht oder nicht. Im Gegenteil: Es geht der Individualpsychologie um echteHumanität sub spezie aeternitatis – um einen Zustand voll entwickelter Solidarität und Mitmenschlichkeit, der als Möglichkeit in unserer Sozialnatur angelegt ist, der aber von uns immer erst zur Wirklichkeit gebracht werden muss: In jedem indivduellen Menschenleben und in jeder einzigartigen Kultur. Der Grad an gelebter Humanität ist ein kritischer Massstab dafür, wie weit Menschen Humanität verwirklichen können.
Die schöpferische Eigenaktivität des Kindes und die Fürsorge der Eltern sind beide sozial gerichtet. In der Ich-Du-Beziehung zwischen ihnen und dem Kind entspinnt sich ein soziales Wechselspiel, in dem das Kind von Anfang aktiver Mitspieler ist, eine kleine Person «in statu nascendi» (im Zustand des Geborenwerdens), fähig zu eigenen, wenn auch unvollkommenen emotionalen Schlüssen. Dieser Vorgang ist viel mehr als nur eine Prägungsvorgang oder ein Reiz-Reaktions-Ablauf: In einem Beispiel schaute ein wenige Wochen altes Kind nach einer Weile seine Mutter nicht mehr an, andere Menschen aber sehr wohl. Es weicht dem emotionalen Druck seiner unsicheren Mutter aus. Diese hatte die Angst ausgestrahlt, ihr Kind könnte sie nicht anschauen, was sie als Ablehnung fürchtete. Als die Mutter ihre Angst aufgibt, schaut das Kind sie wieder an. Oder das Beispiel von Johannes: Sein zu Beginn nicht zielgerichtetes Weinen wurde von der unsicheren Mutter als Unzufriedenheit und Befehl wahrgenommen und von ihr mit Ins-Bett-Holen beantwortet. Während Tagen und Wochen erlebte Johannes immer wieder dieses typische emotionale Beziehungsmuster, und wurde sicherer, dass dieses Muster auch in fernerer Zukunft von seiner Mutter immer zu erwarten sei. Er hatte sozusagen emotional «verstanden», wenn auch unvollkommen, wie seine Mutter «funktionierte», und stellte sich darauf ein. Seine Erwartung festigte sich zu einem inneren Bild, und das Bindungsmuster zwischen ihm und seiner Mutter wurde zu einem inneren «Arbeitsmodell». Bis weit ins zweite Lebensjahr hinein vollzieht sich dieser Prozess vor allem rein gefühlsmässig. In dieses innere «Arbeitsmodell» sind seine Erfahrungen und Schlüsse aus und mit den emotionalen Reaktionen seiner Mutter eingeflossen, was ihm immer besser ermöglicht, sein zukünftiges Erleben zu gestalten. Die (wenn auch gestörte Beziehung) zwischen Johannes und seiner Mutter wird Ausgangspunkt/Modell für die Gestaltung späterer Beziehungen des Jungen.
Aus den Erfahrungen, zu denen Johannes durch das von der Mutter falsch geführte emotionale Wechselspiel unfreiwillig gedrängtwurde, entstand bei ihm eine seelische Leitlinie mit dem egozentrischen Ziel: Wenn ich schreie, macht sie, gibt sie, was ich will. Wenn ich gewalttätig bin oder tobe, entschuldigt sie mich immer und ich habe sie ganz für mich gegen die böse Welt. Ich will sie ganz für mich. Andere stören. Dieser Mangel an echter sozialer Verbundenheit mit Menschen formt in Johannes unrealistische Vorstellungen von sich und der Welt: Er fühlt sich immer ungerecht behandelt, wenn der andere nicht sofort reagiert. Gefühle der Feindseligkeit gegenüber den Mitmenschen stellen sich ein. In dieser Form von Vorstellungen und Erwartungen an das Leben, die Johannes entwickelte, ist das eigentliche Ziel einer gelungenen Erziehung, den Erfordernissen des Zusammenlebens gewachsen zu sein, im Leben bestehen zu können, wertvoll zu sein, von Bedeutung zu sein, längst verlassen.
Objektiv gesehen, hat der von der Fürsorge seiner Mutter abhängige Johannes allerdings keine absolut freie Wahl, wie und wodurch er zu seiner Mutter Nähe und Sicherheit finden und sich dadurch deren Liebe und Aufmerksamkeit sichern könnte. Denn die Art der Mutter, wie sie emotional die Beziehung gestaltet, engte seine nachgeburtlich zunächst freie schöpferische Eigenaktivität ein. Dass Donata in dem Beispiel Angst vor der Unzufriedenheit ihres Johannes hat, drängt dem Kind den Schluss auf, sich der Liebe, der Nähe und der Zuwendung der Mutter durch Kommando zu versichern. Gleichzeitig konnte er angesichts der Unsicherheit Donatas nur ein schwaches Urvertrauen entwickeln. Hier würde eigentlich die kindliche Gewissensbildung und die langsame Formung von Werthaltungen einsetzen. Ein Prozess der bei Johannes leider tragisch verkümmert.
Wir haben am Beispiel von Johannes gesehen, welche tragischen Irrtümer im Lebensstil eines Kindes durch einen antiautoritären Laissez-faire-Erziehungsstil entstehen können. Unsere Welt ist heute voll von solchen unglücklichen Kindern. Der menschliche Schaden ist ungeheuer, denn jeder Irrtum des Kindes «über sich und über die Aufgaben des Lebens stösst früher oder später auf den geharnischten Einspruch der Realität, die Lösungen im Sinne des Gemeinschaftsgefühls verlangt. Was bei diesem Zusammenstoß geschieht, kann mit einer Schockwirkung verglichen werden.»[19] Johannes wird spätestens mit dem Eintritt in die Schule und im weiteren Leben erfahren, dass die anderen Menschen seine Versuche, sich mit Gewalt durchzusetzen nicht wie seine Mutter entschuldigen, sondern von ihm unnachgiebig verlangen, friedlich zu kooperieren. Niederlagen seines narzistischen Lebensstils, denn da er nicht kooperieren gelernt hat, bleibt ihm jeweils «nichts übrig als die […] Ausschaltung der mit einer Niederlage des Lebensstils drohenden Aufgabe, der Rückzug vor dem Problem, zu dessen Lösung die richtige Vorbereitung […] fehlt.»[20] Der Schock wird Johannes zwingen, «einen Rückzug anzutreten»[21] und vor der Aufgabe, in Eintracht mit den Mitmenschen leben zu lernen, die er nicht bewältigen kann, in irgendeiner Art auszuweichen. Neurotische Symptome werden sich einstellen und alle möglichen Fehlschläge drohen, welche seine Mutter mit ihrem falschen Erziehungsstil nie hat hervorrufen wollen – wenn es nicht gelingt, zu diesem innerlich haltlosen Kind eine tragende Vertrauensbasis aufzubauen und es allmählich zur mitmenschlichen Kooperation zu gewinnen.
Anmerkungen
[1] Vgl. Kaiser, 1977, S. 36-43
[2] Leibovici-Mühlberger, 2016
[3] Adler, 1974a, S. 21
[4] Adler, 1972, S. 279
[5] Adler, 1972, S. 279
[6] Portmann, 1969, S. 79
[7] Adler, 1974b, Vorwort
[8] Portmann, 1969, S. 78
[9] Portmann, 1969, S. 79f.
[10] Adler, 1934a, S. 4
[11] Adler, 1974b, S. 25
[12] Adler, 1974b, S. 23
[13] Adler, 1974b, S. 22
[14] Kaiser, 1977, S. 47
[15] Adler, 1934b, S. 136
[16] Kaiser, 1977, S. 50
[17] Kaiser, 1977, S. 49f.
[18] Adler, 1974b, S. 36
[19] Adler, 1974b, S. 32
[20] Adler, 1974b, S. 32
[21] Adler, 1974b, S. 32
Literatur
Adler, Alfred. Über den nervösen Charakter. Frankfurt/Main 1972
Adler, Alfred. Die Formen der seelischen Aktivität. In: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, XII. Jahrgang 1934a
Adler, Alfred. Zur Massenpsychologie. In: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, XII. Jahrgang 1934b
Adler, Alfred. Die Individualpsychologie, ihre Voraussetzungen und ihre Ergebnisse. In: Adler, Alfred. Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Frankfurt/Main 1974a
Adler, Alfred. Der Sinn des Lebens. Frankfurt/Main 1974b
Kaiser, Annemarie. Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler. Ein Vergleich mit Befunden aus Entwicklungspsychologie, Psychopathologie und Neopsychoanalyse. Dissertation Universität Zürich 1977
Leibovici-Mühlberger, Martina. Immer mehr «Tyrannenkinder»: Warum viele Eltern bei der Erziehung versagen – eine Streitschrift. In: NEWS4TEACHERS vom 16. Mai 2016. URL: https://www.news4teachers.de/2016/05/immer-mehr-tyrannenkinder-warum-viele-eltern-bei-der-erziehung-versagen-eine-streitschrift/ (eingesehen am 1.8.2019)
Portmann, Adolf. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel 1969