«Der Marsch durch´s Gewissen» – Zum Wiederaufflammen der Euthanasiedebatte nach dem Zweiten Weltkrieg in Holland und in der Schweiz

Vortrag, gehalten im Hotel Stoller, Zürich, 16.November 1993 Moritz Nestor


Vortrag als


Sehr verehrte Anwesende

Wir wollen heute einen Bereich der allgemeinen Kulturrevolution anschneiden, den man sich wünschen würde, er müsste nie besprochen werden: die Frage der Euthanasie. Unlängst bemerkte jemand in einer Diskssion sehr treffend, wir hätten ja nicht nur den „Marsch durch die Institutionen“ durch die Linken erlebt, sondern anhand der Frage der Euthanasie werde deutlich, dass es sich vor allem auch um einen „Marsch durch´s Gewissen“ handelte. Günter Amendt hat dies letztes Jahr im Fernsehen DRS auf den Punkt gebracht: Wenn 68 – meinte er – vielleicht sonst nicht so viel gebracht habe. Eines sei aber ganz klar: Es werde sicher in Zukunft keine umfassende Gesamtmoral mehr geben.

Der Ruf nach Euthanasie ist einer der Endpunkte des Kulturzerfalls, des allgemeinen Abbaus von Vertrauen und Gemeinschaftsgefühl in einer Gesellschaft: „Euthanasie, das sogenannte ´schöne und leichte Sterben´ oder der Tod zur Entlastung der Gemeinschaft ist nicht neu, sondern stammt aus primitiven Zeiten.“ So lesen wir es bei einem Schüler Alfred Adlers aus den Zwanzigerjahren, der das damalige Wiederaufkommen der Euthanasie analysierte. „Unter den Eingeborenen gewisser Stämme ist es Sitte,“ so fährt er fort“, daß man die Alten, die Krüppel und die sogenannten Unheilbaren sterben läßt … Die Spartaner sahen in der Euthanasie ein Prinzip der Staatsklugheit und wandten sie praktisch an, indem sie jenen Teil des Nachwuchses aussetzten, der ihnen untauglich schien. …. Die Tendenz der Kultur verläuft jedoch in völlig entgegengesetzten Bahnen. Die Wertschätzung des einzelnen Individuums gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Gesellschaft ist ständig auf dem Wege, immer mehr Verantwortung für alle körperlich minderwertigen Menschen zu übernehmen, ob es sich nun um Aussätzige handelt, die früher verbannt wurden, jetzt aber oft der Heilung zugeführt werden, ob um Wahnsinnige, die man einst in Ketten legte, jetzt aber in Spitälern unterbringt, ob um Körperbehinderte, die man früher betteln gehen ließ, jetzt aber als wertvoll erkennt [oder] ob [es sich] um die sogenannten „Unheilbaren“ [handelt].“[1]

Wer heute beginnt, sich näher mit dem Thema Euthanasie zu befassen, ahnt kaum, was da auf ihn zukommt. Wir schreiben das Jahr 1993, und die meisten denken vielleicht, Euthanasie sei etwas, was Hitler vor fünfzig Jahren tat. In Wirklichkeit war Hitlers Vernichtung sogenannt „lebensunwerten Lebens“ nur eine und erst noch spezielle Variante eines weltweiten Problems unseres Jahrhunderts. Er war nicht der einzige und hat es weder erfunden, – es ist historisch älter –, noch hörte es nach ihm auf. Und es ist mitten unter uns. Wir wollen Ihnen anhand des Beispiels Holland einen Einblick geben, wo wir heute in der Haltung gegenüber dem Recht auf Leben stehen. Anschliessend werden wir anhand einzelner Vertreter auf die Umwertung des Rechts auf Leben zu sprechen kommen und auf die Ideologie der modernen Euthanasiebefürworter. Abschliessend soll die Situation in der Schweiz in Sachen Euthanasie kurz beleuchtet werden und ein Licht auf die ersten Anfänge einer beginnenden Kampagne zur Liberalisierung der Euthanasiegesetzgebung geworfen werden, worin Sie umschwer die bekannten Züge der allgemeinen Umwertung aller Werte erkennen können.

Zunächst jedoch kurz einige Worte zur unverzichtbaren ethischen Tradition unserer Haltung dem menschlichen Leben gegenüber.

 

 

1. Zur ethischen Tradition

1.1. Der Hippokratische Eid

 

Viele Euthanasieverfechter leiten ihre Vorträge oder Bücher mit dem Dogma ein, seit dem Zweiten Weltkrieg habe sich wie alles, so auch die Ethik von Grund auf geändert, und was der Hippokratische Eid forderte, könne man angesichts des enormen Fortschritts und ausserordentlich gesteigerten Möglichkeiten der Lebensverlängerung in der heutigen Medizin nicht mehr auf heute übertragen.

Die Ethik des aus dem Jahre 400 v. Chr. stammenden Hippokratischen Eids verlangt die unbedingte und vorurteilsfreie Behandlung jedes Patienten. Bei Hippokrates lesen wir, was zweieinhalbtausend Jahre medizinische Ethik war: „ich werde die Grundsätze der Lebensweise nach bestem Wissen und Können zum Heil der Kranken anwenden, dagegen nie zu ihrem Verderben und Schaden. Ich werde auch niemandem eine Arznei geben, die den Tod herbeiführt, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, auch nie einen Rat in dieser Richtung erteilen.“

Seit Hippokrates hat sich vieles geändert. Der Mensch selbst ist aber bei allen technischen Fortschritten kein anderer geworden. Er ist der alte Adam mit der gleichen Natur. Ethik muß (gerade) heute wie vor zweitausend Jahren und wie in aller Zukunft auf der Achtung vor der unteilbaren und unantastbaren Würde der Person basieren, wie sie für den Arzt der Hippokratische Eid fordert.

Der Hippokratische Eid formulierte die Unveräußerlichkeit des Lebens als universellen Wert für alle Menschen, und nicht nur für bestimmte. Dies war im antiken Griechenland einmalig und erklärt auch die ungeheuere historische Wirkung dieser ersten ärztlichen Ethik, die uns schriftlich überliefert ist. Im politischen Denken der griechischen Antike findet sich noch kein solch universeller Naturrechtsgedanke. Die Spartaner töteten zum Beispiel Kinder, wenn sie ihnen für den Staat als nicht nützlich erschienen. Frauen und Sklaven wurden nicht als Bürger der Polis und damit als Menschen angesehen. Das hippokratische Tötungsverbot für den Mediziner fordert jedoch die Achtung des Lebens aller Menschen, ob Sklaven, Kriegsgegner oder sonstiger. Damit leitete Hippokrates seine Forderung der Achtung vor dem Leben aus der universellen Anschauung ab, dass allen Menschen aufgrund ihres Menschseins Achtung zukommt. Das nannte man später, eine natürliche Würde zu haben.

 

 

1.2. Die personale Auffassung

 

Erst mit dem Christentum finden wir historisch zum ersten Mal unseren heutigen Begriff der Person in seinen ersten Anfängen. Person ist nun nicht mehr wie in der Antike die Rolle, die ein Mensch zufällig aufgrund seiner Geburt, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung oder seines Besitzes in der Gesellschaft spielt, sondern das, was wir meinen, wenn wir sagen, wir hätten „jemand“ gesehen. „Person ist jemand. Eben jener Jemand, der mich aus einem menschlichen Antlitz ansieht und über den ich nicht wie eine Sache verfügen kann.“[2]

 

 

1.3. Das Naturrecht

 

Im politischen Denken sollte es noch lange dauern, bis im Jahre 1776 „erstmals in der Geschichte der Menschheit jene Werte Eingang in eine politische Verfassung [fanden], die seither als moralisch–sittlicher Maßstab allen,, insbesondere des politischen Handelns gelten, so sehr sie auch verletzt und mißachtet werden. In der ´Bill of Rights´ des Staates Virginia heißt es in Art. 1: ´Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachung berauben oder zwingen können, sich ihrer zu begeben: nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.“[3]

Angesichts dieser Erkenntnis und der Beteiligung von Ärzten an den Massenmorden während des Zweiten Weltkrieges übersetzte die World Medical Association im Jahre 1948 den Hippokratischen Eid in eine moderne Sprache. So entstand die Genfer Konvention,[4] die festhält, daß der Geist des Hippokratischen Eides unwandelbar ist. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen proklamierte ebenfalls im Jahre 1948 die Universal Declaration on Human Rights [Allgemeine Erklärung der Menschenrechte], die zur Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde. Angesichts des Schreckens zweier Weltkriege, von Nazismus und Bolschewismus hatte man damit versucht, weltweit das natürliche Recht auf Freiheit und Leben als unveräußerliches Recht für alle Menschen modern zu formulieren, wieder festzuschreiben und die Völkergemeinschaft für alle Zeiten darauf zu verpflichten. Alle diese Konventionen erklären die auf dem Leben basierende eingeborene Würde des Menschen und die Grundrechte aller Mitglieder der „human family“ als unveräusserlich und unaufgebbar.

Daß man Leben, Würde und Freiheit als angeboren und unveräußerlich faßte, bedeutet gerade, dass es wohl schlimme Verletzungen dieser Werte gegeben hat und gibt, dass sie dadurch aber nicht abgeschafft werden können, weil diese Rechte Eigenschaften der allen Menschen zukommenden menschlichen Natur sind, worüber kein Mensch beliebig verfügen darf. Der Mensch kann zwar gegen die Bestimmungen seiner Natur leben, er kann seinen Nächsten mißhandeln und unterdrücken, dann leben alle jedoch unfrei, schlecht und leiden, aber abgeschafft ist die Natur dadurch nicht. Im Gegenteil, im Leiden des Mißhandelten zeigt sich die Verletzung und Kränkung der natürlichen Würde und der natürlichen Freiheit. Der Mensch leidet ja nur deshalb, weil es etwas an ihm und in ihm gibt, das man verletzen kann. Wären Leben, Freiheit und Würde keine angeborenen Eigenschaften und Werte, würde der Mensch gar nicht leiden können, sondern ungerührt dahinvegitieren. Gerade aber die Leidens– und Mitleidensfähigkeit ist eine der Eigenschaften, die den Menschen zum Menschen machen. Der Mensch kann sogar am Unrecht anderer leiden, was übrigens eine der entscheidenden Grundlage der individualpsychologischen Ethik Alfred Adlers ist.

 

 

2. Euthanasie in Holland

 

2.1. Warum Holland?

 

Die Beilage der NZZ vom 2. November 1993 über Holland erweckte von diesem Land gezielt den Eindruck eines „vitalen Kleinstaates“:[5] Blaue Nordsee, Bunte Blumen und Holzschuhe, Windmühlen, Trachten und lustige Kapitänsuniformen. „Holland und die Schweiz sind Wahlverwandte“ lautet der erste Überschrift. Unter dem Titel „Euthanasie – Ausländer – Opportunität“ wird dort dem Land der Freischein für Modernität ausgestellt: „Allseits praktizierte Toleranz ist nach wie vor ein wesentliches Kennzeichen der nordniederländischen Geisteshaltung.“ Die Toleranz der Holländer – oft „Opportunitätsprinzip genannt“ – würde in der Frage der Euthanasiegesetzgebung „bis in die Nähe der Doppelmoral“ gehen, heisst es weiter. Aber – so wird gleich wieder alles verwischt – „Es ist keineswegs so, dass in den Niederlanden solche Gesetze leichtfertig verabschiedet werden; die Diskussion über menschenwürdige Lösungen läuft seit vielen Jahren.“ Merken Sie sich bitte diesen Satz: „Es ist keineswegs so, dass in den Niederlanden solche Gesetze leichtfertig verabschiedet werden; die Diskussion über menschenwürdige Lösungen läuft seit vielen Jahren.“

Es scheint, als sollte dieses Land dem Schweizer allmählich als Vorbild aufgebaut werden, eine Aufgabe, worin es Deutschland ablöst, das diese Rolle oft in der Vergangenheit in vielen staatspolitischen Fragen hatte. Der Grund liegt im Zusammenhang mit der ganz Europa erfassenden Kulturrevolution darin, dass Holland mit der extremen Anwendung des Opportunitätsprinzips einzig in Europa dasteht.

 

 

2.2. Öffentliche Meinung und Kirchen in Holland

 

In einem Hirtenbrief katholischer Bischöfe aus der Niederländischen Katholische Kirche vom März 1985 wird grundsätzlich jede aktive Euthanasie abgelehnt und nur schmerzlindernde Maßnahmen zugelassen.[6] Die Niederländische Evangelische Kirche ist heute der Auffassung, die Entscheidung, sich töten zu lassen, sei „unter bestimmten Voraussetzungen im Lichte des Glaubens nicht unverantwortlich“.[7] Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Holland eine gewaltige Säkularisierung erlebt. 1990 fühlten sich noch 36% aller Niederländer der katholischen, 33% der protestantischen und 32% keiner Kirche zugehörig.[8] Nach letzten Meinungserhebungen spielt mitlerweile beim einzelnen Bürger die Kirchenzugehörigkeit keine Rolle mehr für den Standpunkt in der Euthanasiefrage. Die Großkirchen haben in der Frage des Lebenschutzes den Einfluß auf die Gewissensbildung der Bürger entgültig verloren.

Besonders drastisch drückt sich dies in folgenden Zahlen aus:

1976 wollten 57% befragter Katholiken eine Gesetzesänderung, die „aktive Euthanasie unter bestimmten Umständen“[9] erlaubt. 1985 sind es bereits 71%.[10]

1975 war eine Mehrheit befragter Holländer der Auffassung, „dass Euthanasie sein müsse.“[11] 1980 waren 50% der Befragten bei „bleibender Bewußtlosigkeit oder im Falle eines unheilbaren Leidens“ dafür, dass das Leben verkürzt werden dürfe. 1986 sind es bereits 76%, die für aktive Euthanasie sind.[12]

Ende 1988 meinen 81%, „in einer unerträglichen auswegslosen Notsituation“ solle es gestattet sein, um aktive Lebensbeendigung zu bitten. Heute bekommt man in Holland auf der Strasse von nahezu jedermann Zustimmung zur aktiven Euthanasie zu hören, was 1969 bei Erscheinen des ersten aufsehenerregenden Buches über Euthanasie noch eine Minderheit war. Zwanzig Jahre haben genügt.

Nicht nur die aktive Euthanasie ist mitlerweile konsensfähig geworden. Zwei Umfragen der letzten Jahre haben folgendes ergeben: 76% der Befragten waren für „freiwillige“ und 77% für „unfreiwillige Euthanasie“, 77% hatten mehr oder minder Verständnis für Menschen, die ihren eigenen kranken Vater oder ihre Mutter ohne deren Einverständnis aus Mitleid töten. 43% der Befragten befürworten aktive Euthanasie bei Patienten ohne Bewusstsein und mit wenig Chancen auf ein Überleben. 27% verlangen mehr oder minder deutlich unfreiwllige aktive Euthanasie für einen dementen Angehörigen.[13]

Eine andere Umfrage zeigt auch, wie ökonomisches Nützlichkeitsdenken in der Frage der Tötung Kranker bestimmend sein kann. 81% von befragten Ökonomiestudenten glaubten, es sei gerechtfertigt, für gewisse Menchengruppen Euthanasie obligatorisch zu machen, wenn dadurch die Wirtschaft rationeller gestaltet werden könne.[14] Wenn man beachtet, dass bei eine ständig anwachsenden Überalterung der Gesellschaft die jährlichen Kosten für die medizinische Behandlung kontinuierlich um 6 bis 10% jährlich steigen werden, kann man sich leicht vor stellen, welch enormer ökonomischer Druck da entstehen wird, eventuell dann gegenüber Euthanasieliberalisierungsbestrebungen aus Kostengründen ein Auge zuzudrücken, statt den Schutz des Lebens zu fordern. Jacques Attali, ehemaliger persönlicher Berater Mitterands und Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, meinte zum Beispiel, der Mensch über 60 bis 65 Jahren lebe länger als seine Kraft zu produzieren und koste nur noch Geld. Euthanasie und Freitod würden daher zu den wichtigsten Mittel der zukünftigen Gestaltung einer (sozialistischen) Gesellschaft.[15]

Sehr schlimm sehen die Zahlen auch bei Allgemeinpraktikern in Holland aus: 81% aller heutigen holländischen Allgemeinpraktiker haben zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Berufslaufbahn mindestens einmal aktive Eunthanasie durchgeführt. 28% führen jährlich an zwei Patienten aktive Euthanasie durch, 14% jährlich an drei bis fünf Patienten. Dr. Admiraal, der vor kurzem hier in Zürich für das holländische Modell warb, brüstet sich offen damit, er habe in den letzten zehn Jahren mindestens 50 Patienten mit Barbituraten und Curare getötet. 11,2% aller AIDS–Patienten sterben in Holland durch aktive Euthanasie.[16]

10 von den 11 holländischen Parteien haben Euthanasie in ihr Parteiprogramm integriert. Es hat die Haltung in dieser Frage bereits über die Bildung von Regierungskoalitionen entschieden.[17]

 

 

2.3. Die Aufweichung der Gesetzeslage

 

Wie konnte das geschehen? Die öffentliche Meinung und parallel dazu auch die Rechtsprechung in Holland hat sich in der Euthanasiefrage radikal gewandelt. Verschiedene Gründe sind hier zu nennen:

 

2.3.1. Die Gesetzeslage
Seit seiner Entstehung im Jahre 1986 gelten die Art. 293 und 294 des nlStGB unverändert und stellen „Tötung auf Verlangen“ sowie „Beihilfe zum Selbstmord“ bis heute unter Strafe. Diese Artikel sind heute jedoch, obwohl sie weder gestrichen noch in irgendeiner Weise auch nur verändert wurden, nahezu wertlos geworden. Zwei Wege der Aufweichung wurden dazu in den letzten zwanzig Jahren in Holland beschritten.

2.3.2. Zwei Wege der Aufweichung
Erstens: Artikel 293 und 294 nlStGB, die dem Schutz des Lebens – einem Grundrecht also! – dienen, werden seit zwanzig Jahren durch eine extensive Interpretation der sogenannten „allgemeinen Strafausschliessungsgründe“ immer mehr und mehr untergraben. Immer mehr sieht man Entschuldigungsgründe und Notstände, warum eine Tötung doch entschuldigt werden könne und der Täter darum nicht mehr oder sehr milde verurteilt wird, obwohl weiterhin Tötung auf dem Papier verboten ist.

Zweitens: Die niederländischen Strafverfolgungsbehörden haben in den letzten zwanzig Jahren immer mehr darauf verzichtet, bestimmte Fälle zu verfolgen, sondern verfügen immer häufiger die Einstellung des Verfahrens, so dass dadurch der Anwendungsbereich von Artikel 293 und 294 eingeschränkt wurde. Wurden 1984 16 Verfahren eingestellt, so waren es 1988 bereits 181 Fälle. Es gibt Schätzungen, nach denen nur etwa zwei bis fünf Prozent aller Fälle von aktiver Euthanasie gemeldet werden. Auch die Strafverfolgung in Sachen Euthanasie unterliegt heute in Holland einem unseligen Opportunitätsprinzip. Wir werden darauf noch eingehen.

Zunächst einmal zum ersten Weg der Ausweichung des Rechts auf Leben, dem Weg der extensiven Auslegung der Rechtsfertigungsgründe. Zum Problem wurden Artikel 40 und 9a des nlStGB: Laut Art. 40 nlStGB: „Nicht strafbar ist, wer eine Tat begeht, zu der er durch einen übermächtigen Einfluß gedrängt wird.“ Von hierher wird für Euthanasie-Ärzte ein „rechtfertigender Notstand“ abgeleitet, der zu einer „psychischen Übermacht“ führe, was dann die Tat der Tötung entschuldige. Man sieht, Tötung bleibt es, aber es wird entschuldigt. „Der Ausschluß materieller Rechtswidrigkeit und … sogenannte medizinische Ausnahme … gelten als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe.“[18]

Gemäss Art. 9a nlStGB kann der Richter

(a) wegen dem geringen Ernst der Tat,

(b) wegen der Persönlichkeit des Täters oder

(c) wegen der Umstände, unter denen die Tat begangen wurde oder die anschliessen zu Tage kamen

von Strafe absehen.

 

 

2.4. Rechtssprechung

 

Prof. Klijn dokumentiert bis Mitte 1990 in Holland 58 Rechtsfälle und Beschlüsse, bei denen es um aktive Euthanasie ging. Die Reihe dieser Gerichtsentscheide zur Euthanasie, die maßgeblich mitverantwortlich sind für die Aufweichung des Gesetzes, geht bis ins Jahr 1952 zurück. Damals verhängte ein Gericht Gericht in einem Fall von aktiver Sterbehilfe ein mildes Strafmass von einem Jahr auf Bewährung, meinte jedoch, es gäbe keinen Gewissenskonflikt, der die Tat entschuldigt. Das Gericht verwies ausdrücklich darauf, dass Art. 293 klar und eindeutig formuliert ist und keinen Gewissenskonflikt kennt, der eine Nichtbestrafung rechtfertigen würde. Der Gesetzgeber haben einen solchen Notstand in keinem Falle gelten lassen wollte, meinte das Gericht.

1973 wurde dann in Holland eine Lawine losgetreten. Eine Ärztin namens Postma, die ihre eigene, kranke Mutter durch eine Morphiumspritze getötet hatte, wurde von einem Gericht in Leeuwaarden zu einer Woche Gefängnis auf Bewährung verurteilt – ein sensationell mildes Urteil. Das Gericht erklärt „indirekte Sterbehilfe in Gestalt von Maßnahmen, die zwar lebensverkürzend wirken, in erster Linie aber der Schmerzlinderung dienen, ausdrücklich für zulässig“.[19] Es entschied jedoch, es sei nicht entscheidend, ob die Sterbephase bereits begonnen habe oder nicht. Direkte lebensbeendende Handlungen hält dieses Gericht damals noch für Unrecht.

Achtzehn niederländische Ärzte hatten sich mit der angeklagten Kollegin solidarisch erklärt, und öffentlich erklärt, dass sie auch aktive Euthanasie begangen hatten. Zwei Organisationen entstanden im Gefolge der Solidaritätsbekundungen und der Sympathie, die der Ärztin und ihrer Tat zuteil wurden: Die Holländische Vereinigung für freiwillige Euthanasie, die mit etwa 45.000 Mitgliedern bei 15 Mio. Einwohnern eine vergleichsweise grosse gesellschaftliche Gruppierung ist, und die Gesellschaft für freiwillige Euthanasie. So wurde das Gericht unter Druck gesetzt.

Knappe zehn Jahre später, 1981 verurteilte das Bezirksgericht Rotterdam einen Laien wegen Beilhilfe zum Suizid zu einer Bewährungsstrafe. In seiner Begründung erklärte dieses Gericht nun aber, es könnte Fälle geben, in denen eine solche Tat gerechtfertigt sein könnte. Man wollte auf eine Notsituation hinaus. Nur 18 Monate später sprach das Bezirksgericht in Alkmaar einen Arzt von der Anklage wegen aktiver Euthanasie (Tötung auf Verlangen) frei. Die Tat sei „materiell nicht rechtswidrig“ gewesen. Und weitere zehn Monate später sah auch das Bezirksgericht in Groningen Möglichkeiten der Rechtsfertigung aktiver Euthanasie (auch hier Tötung auf Verlangen), hier aufgrund einer sogenannten „medizinischen Ausnahme“.

Diese drei Gerichtsentscheide waren aus zweierlei Gründen historisch wegweisend und bahnbrechend:

Erstens stimmen alle drei Urteile in der Grundaussage überein, die lautet, es müsse Entschuldigungsgründe geben, weswegen Artikel 293 und 294, die weiterhin Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Selbstmord verurteilen, nicht auf alle Fälle anzuwenden sei. Damit blieben Artikel 293 und 294 auf dem Papier erhalten, mussten nicht angegriffen und verändert werden. Die Geltung der beiden Artikel war aber im Sinne der Euthanasieliberalisierer eingeschränkt worden, da es jetzt Entschuldigungsgründe gab, warum man dann und wann doch töten durfte.

Zweitens fällt auf, wie unterschiedlich diese drei Gerichte begründeten, in welchen Fällen Artikel 293 oder 294 nicht zur Strafe führen, sondern die Tötung entschuldigt ist. Gerade das jedoch zeigt, dass mit diesen Urteilen neues Recht geschaffen wurde. Und zwar eines, wodurch das Grundrecht auf Leben aufgeweicht wurde.

Alle drei Urteile wurden schliesslich bis in die letzte Instanz durchgefochten und endeten mit Freispruch, beziehungsweise mildesten Urteilen. Nach „objektiver medizinischer Einsicht“ habe ein „übermächtiger Notstand“ vorgelegen, war Tenor der Begründung für die entgültige Freisprechung. Heute prüfen deshalb in allen Fällen, wo die Tötung eines Patienten überhaupt noch zur Anklage kommt, die Richter, ob die Tat durch einen sogenannten „medizinischen Notstand“ oder eine „Übermacht“ entschuldigt sein könnte.

Wenn ein Gesetz eine Strafe für eine Tat vorschreibt, dann ist es durchaus möglich, dass grosse Variationen im entgültigen Mass an Strafe entstehen, weil ja jeder Fall indivduell behandelt wird. Aber, wenn die Tat begangen wurde, dann muss sie auch verfolgt werden. Man kann nicht opportun sagen, diese Tötung verfolgen wir, diese gefällt uns, die verfolgen wir nicht. Genau dies aber wird in Holland gemacht: Bereits 1982, als die Zahl der Euthanasiefälle immer stärker anwuchs, hat nämlich die Versammlung der fünf Generalstaatsanwälte an den fünf höchsten Gerichtshöfen Hollands den Beschluss gefasst, dass ab sofort Fälle mit Verdacht auf aktiver Euthanasie nur noch nach Beratung unter diesen fünf Generalstaatsanwälten verfolgt werden. Diese Gremium tagt alle 14 Tage und beschliesst, welcher Fall von Tötung verfolgt wird und welcher nicht. Waren es nach einer offiziellen Statistik 1984 „nur“ 16 Fälle, von ärztlicher Sterbehilfe, die nicht verfolgt wurden, so waren es 1988 bereits 181. Die tatsächliche Zahl ist – wie wir noch sehen werden – um sehr viel grösser. Die tatsächlich gemeldeten Fälle, in denen also die fünf Generalstaatsanwälte entscheiden müssen, ob sie sie verfolgen oder nicht, machen etwa 2 bis 5% aller tatsächlichen Fälle von Euthanasie aus.

Fünf Menchen entscheiden also in einem Staat 14 täglich darüber, welcher Mord verfolgt wird und welcher nicht!

 

 

2.5. Ideologische Aufweichung

 

Dieses milde Gerichtsurteil im Falle der Ärztin Postma kam nicht von ungefähr. Eines der wichtigsten Werke, das den Boden hierfür bereitete, weil es öffentlich mit gewatigem Echo die Tötungshemmung einriss, war das 1969 zum ersten Mal erschienene Buch des niederländischen Neurologen Hendrik van den Bergs Medische Macht en medische Ethik (Medizinische Macht und Medizinische Ethik)[20], das allein im ersten Jahr zehn und bis 1985 fünfundzwanzig Auflagen erlebte. Es erklärte den Hippokratischen Eid und die hierauf aufbauende zweieinhalbtausend Jahre alte ärztliche Ethik mit ihrer Forderung nach unbedingten Schutz des menschlichen Lebens für überholt. An keiner Stelle seines Buches begründete Berg seine Thesen. Er behauptet einfach, der Hipokratische Eid entstamme einer Zeit, da die Medizin noch keine Macht gehabt habe, heute, da sie mächtig sei, brauche es eine „neue Ethik“. „Neue Ethik“, das hiess: Der Arzt darf menschliches Leben beenden. Das hiess nun auch ausdrücklich die Tötung „defekter“ Kinder. Diese „neue Ethik“ fordert nun nicht mehr den Schutz des Lebens, sondern nötigte dem Arzt ein „Recht“ und eine „Pflicht“ auf, „bedeutungsloses“ Leben zu beenden.[21]

In Bergs Buch wechseln sich starke, intensive Schilderungen von grossem menschlichen Leid und ruhige, friedliche und erlösend geschilderte Euthanasie(spricht Tötungs)–Szenen, worin sorgsam Angst– und Leidensschilderungen vermieden werden, ab. Dadurch entlockte man immer grösseren Teilen der Öffentlichkeit genau jenes giftige Gefühl, womit einst Goebbels die deutsche Bevölkerung weichgeknetet hatte. In dem nationalsozialistischen Propagandafilm „Ich klage an“ zum Beispiel wird der Zuschauer immer stärker systematisch in die unerträglich Lage versetzt, das Leiden einer Patientin miterleben zu müssen, ohne etwas dagegen tun zu können. Schliesslich taucht übergross der Giftbecher vor ihm auf und das scheinbar erlösende Gefühl wird suggeriert, an einen „Gnadentod“ und an Erlösung von unnötigem Leid denken zu „dürfen“. Der Tötende eifert schliesslich in einer äusserst emotional vorgetragenen Anklage gegen die Unmenschlichkeit die herrschende Medizin, die die Menschen unnötig leiden lass. Am Anfang der Vernichtung von Geisteskranken und Juden stand also nicht nur die antisemitische Propaganda, das auch. Man weckte in der deutschen Bevölkerung systematisch Mitleid für den Gnadentod, wodurch die im Menschen starke Tötungshemmung schleichend eingerissen wurde und sie so für Schlimmeres vorbereitet wurden. Auch Berg klagte in seinem Buch die sogenannte Unmenschlichkeit und angebliche Hartherzigkeit derer an, die gegen einen Gnadentod sind – und fand den Weg in die Herzen der Bevökerung. Hier setzte ein schleichender Prozess ein. Gerade das Schleichende und die Langsamkeit ist Garant für den Erfolg, denn der Mensch hat eine starke natürliche Tötungshemmung, und auch die Nazis wussten nur zu gut, dass sie nicht von einem Tag auf den anderen vollenden konnten, was sie im Sinne hatten und benutzten die Erregung von Mitleid als Waffe.

Bergs Buch, das auf nahezu keinen Widerstand stiess und ein ungeheurer Erfolg war, öffnete geistige Schleusen für andere. Und es hatte vor allem auch deshalb einen derartigen Erfolg, weil es auf Widerhall innerhalb traditionell bürgerlicher und christlicher Kreise stiess, so das es dem Bürger erscheinen konnte, als sei es anständig und christlich, seine Meinung über das Töten zu wechseln: Politiker wie der protestantische Minister Krop und die Generale Synode der Nederlandse Hervormde Kerk (Generalsynode der Reformierten Kirche in den Niederlanden) stimmten in den Chor ein und verkündeten das neue „Recht auf Tod“, ihnen folgten katholische Intellektuelle und Ethikgesellschaften. Gleichermassen meldeten sich natürlich kontinuierlich die Stimmen der Führer der Bewegung für aktive Euthanasie, Ekelmans, Molenaar, Gill, Dupuis, Admiraal und andere, zu Wort. Wie stark Bergs Buch mittlerweile zum Ausdruck der öffentlichen Meinung wurde, zeigt eine Umfrage aus dem Jahre 1986, wonach 77% der Holländischen Bevölkerung aktive Euthanasie befürworten.[22]

Es setzte ein folgenschwerer Prozess der Umwertung ein, wobei die Ideologie vom „Recht auf Tod“ vor allem über die Ärzteorganisationen eingeflossen ist. Durch Rechtsbrüche in den ärztlichen Praxen wurden Tatsachen geschaffen, die heute via Gesetz nachträglich legalisiert werden sollen. Heute ist es so, dass die Vorsitzenden der Ärztegesellschaften zugleich im Präsidium der Vereinigung für Euthanasie sitzen.

Seinen vorläufigen Höhepunkt hatte dieser Prozess im September diesen Jahres erreicht, als der holländische Psychiater Chabot in zweiter Instanz vom Vorwurf der Tötung freigesprochen wurde, obwohl er einer körperlich gesunden Frau Gift verabreichte. Der Staatsanwalt will den Fall bis zum obersten Gerichtshof weiterziehen. Falls auch da ein Freispruch erfolgen wird, dürfte dies einen entgültigen Dammbruch bedeuten. Bereits formieren sich in Holland Patientengruppen, die Karten bei sich tragen, worauf sie sich verbitten im Falle einr Krankheit getötet zu werden. Das Recht schützt sie formal, auf dem Papier,  aber die tatsächliche Durchsetzung des Rechts ist hinfällig.

 

 

2.6. Parallele zur Drogenliberalisierung

 

Die Parallele zwischen der derzeitigen Drogenlegalisierungskampagne und der Euthanasielegalisierungskampagne ist handgreiflich. Auch hierzulande gewinnt Ideologie vom „Recht auf Tod“ erschreckend schnell an Boden.

Die Holländische Vereinigung für freiwillige Euthanasie ist zum Beispiel heute offen der Meinung, man solle doch alle behinderten Neugeborenen euthanasieren, um eine gesunde Rasse zu erhalten.[23] Auf ideologischer Ebene tritt sie schönfärberisch dafür ein, dass ein „Selbstbestimmungsrecht“ des Patienten gewahrt wird. Das heisst, dass ein „Recht auf selbstbestimmten Tod“ vom Arzt geachtet werden muss. Und unter „selbstbestimmten Tod“ versteht man heute in Holland zum Beispiel, dass suizidgefährdete Menschen Gift bekommen. Andere Patienten werden durch Barbiturate und Curare „erlöst“.

Die Argumentationskette ist immer ähnlich: Es werden allerschwerste Fälle geschildert, unlösbare Probleme und der Zuhörer in einer emotionale Situation geführt, worin er das Mitleid mit dem Schwerkranken und seine eigene Hilflosigkeit angesichts des Todes erdrückend empfindet und es dann als eine gewisse Erleicherung empfindet, davon befreit zu werden, indem man einen sanften Gnadentod empfielt. Es erscheint plötzlich „menschlich“ zu töten. Und der Arzt, der das nicht tun will, wird als hart empfunden. So kanzelte der holländische Anästhesist  Admiraal unlängst auf einer Veranstaltung in Zürich alles Ärzte, die nicht bei seinen Euthanasie-Vorstellungen mitmachen, als „störrisch“, „arrogant“. Der Arzt, der Skrupel hat und sich zum Hippokrartischen Eid bekennnt, wird von ihm zum Unmenschen gestempelt und man verlangt von ihm, er müsse zumindest so viel „Menschlichkeit“ aufbringen, dass er sich nicht mehr „einmischt“, sondern den Patienten dann an einen „humanen“ Kollegen überweist – sprich an einen, der töten kann. Der Arzt, der sich ein Gewissen macht, wird zum Unmenschen. Der Arzt, der töten kann, wird zum wahren Humanisten. Hier sehen wir die gleiche Taktik wie bei der Drogenlegalisierung: Der Gegner wird nicht in der Sache, sondern ad personam angegriffen. Der Sachdiskussion wird ausgewichen.

Wir haben es mit keiner Patei zu tun, die offen auftritt, im Gleichschritt und mit Fahnen und Anderdenkende ausschaltet. Und doch ist im „pluralistischen“ Holland in Sachen Euthanasie kaum noch eine andere Meinung möglich, will man sein Ansehen als Mensch behalten. Wer anders denkt, wird aus der Gemeinschaft der Vernünftigen ausgeschlossen und als leicht zu erregender Fanatiker beschimpft. Wenn Elterm und Pflegepersonal sich einig sind, ein schwerbehindertes Kind zu euthanasieren, dann kann es passieren, dass der Arzt, der nicht einverstanden ist, zum Problem gestempelt wird, wenn er sich an den Staatsanwalt wendet. Und das, obwohl ein Gesetz existiert, das Töten verbietet! Ein Angehöriger der Holländischen Ärztegesellschaft ging bereits soweit zu erklären, Ärzte, die keine Euthanasie betreiben wollten, würden die Türe zu Auschwitz wieder aufstossen! Kritiker jüdischen Glaubens, die natürlich aufgrund der Nazivergangenheit einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit besitzen, werden von der Holländische Vereinigung für freiwillige Euthanasie damit abgefertigt, sie seien gerade aufgrund ihrer persönlichen Geschichte als Juden nicht imstande sich objektiv eine Meinung über Euthanasie zu machen. Die Reihe ist fortsetzbar und zeigt, mit welchen Methoden Kritiker kaltgestellt werden. Es ist keine radikale Partei mit Fahnen und Aufmärschen, die all dies lautstark im Stile der Braunhemden durchpeitschte. Der Tod kommt auf leisen Sohlen. Die „niederländische Gesellschaft tendiert zur Konformität. Kritik an der „Euthanasie“–Praxis wird längst nicht mehr offen grundsätzlich diskutiert. Das Beispiel der Niederlande zeigt, wie selbst eine mit festen Richtlinien und weitgehend ohne Kostendruck begründete „Euthanasie“–Praxis sich ständig ausweitet. Die Überschreitung der selbstgesteckten Ziele wird zur Regel – die nicht mehr besorgniserregend erkannt wird, weil die Routine das Sterbenlassen und Töten längst seiner Besonderheit entkleidet … hat. Es ist die Gelassenheit, mit der alle Vorstöße und Ausnahmen erklärt und heruntergespielt werden, die verstört.“[24]

Wie die Drogenliberalisierer ein angebliches „Recht auf Rausch“ einklagen wollen, so reklamieren die Euthansielieberlisierer ein „Recht auf Tod“! Das natürlichste Empfinden des Menschen wird durch solche Argumentationen abgetötet. Der Mensch hat ein Recht auf Leben. Das ist ein Abwehrrecht. Und was abgewehrt wird, ist das Leid, die Gewalt der Tod. Was verteidige ich, wenn ich mir ein „Recht auf Tod“ ausdenke? Den Tod? Der Mensch hat keine Freiheit zu sterben. Er hat auch keine Pflicht zu leben. Er lebt gerne, und dieser Wunsch ist so stark, dass der Sterbenskranke seinen Wunsch zu leben aufs Grab pflanzt. Eine Freiheit zu sterben kann es gar nicht geben, denn sie wäre ein Widerspruch in sich, sie würde sich im Moment ihres Vollzuges selbst aufheben, denn in dem Moment, da ich mich freiwillig töte, bin ich nicht mehr frei, mich zu töten. Die Menschheit hat solches Denken als verrückt bezeichnet, und man soll dabei bleiben. Die gleichen Verhältnisse finden wir vor, wenn wir das „Recht auf Rausch“ anschauen. Etwas, das alle menschlichen Eigenschaften auzuflösen droht, wie das die Geist und Körtper zerstörenden Drogen tun, nennt man eine Gefahr und der Mensch schützt sich, solange er jedenfalls gesund ist, davor. Wie kann es da ein „Recht“ auf diese Gefahr gegeben? Hat man dann auch ein „Recht“ darauf, sich am Samstagnachmittag gegenseitig zu erschiessen? Genau so irrsinnig aber argumentieren Drogen– und Euthanasieliberalisierer, wenn sie vom „Recht auf Rausch“ bzw. „Recht auf Tod“ reden.

Dass aber dieses natürliche Empfinden für Gefahr untergraben wird, hat einen Sinn. Nichts anderes als die Handlungsfähigkeit des Staates, seine Souveränität steht auf dem Spiel. Und dies soll nun zum Vorbild für die Schweiz werden?

Einzige der Vatikan hat es aus der internationalen Vöklkergemeinschaft heraus gewagt, offiziell die holländische Regierung anzuklagen: „Das holländische Kabinett hat verärgert auf die Warnung des Sekretäres des päpstlichen Rates für die Familie, Mgr. Sgreccia, reagiert, dass die holländische Euthanasiepolitik in eine Situation, vergleichbar mit Hitler-Deutschland, führe.“[25] Man zitierte den Sekretär ins Aus­senminsterium und las ihm die Leviten. Er habe die zur Zeit in Holland laufende Gesetze­sinitiative falsch interpretiert! Wie kann der päpstliche Lagat die Sachlage falsch „deuten“, wenn die Holländische Regierung selbst mehr als zweitausend Euthansiefälle pro Jahr öffentlich zugibt. Warum also wird Holland nicht international geächtet? Man hat beklagt, kaum einer habe etwas gegen Hitler gesagt, man hätte nicht gewusst, nicht gesehen, nichts gehört. Heute wäre die Gelegenheit, zu sehen, zu wissen und – etwas zu sagen!

 

 

2.7. Der Fall Chabot – Umdeutung des Suizids zum „Freitod“

 

Die NZZ vom 29./30. Mai 1993 berichtet unter der Überschrift „Unerforschte Wege der Euthanasie in Holland“.[26] über eine neue Patientengruppe, die man nun in Holland im Begriff ist, zur Euthanasie freizugeben. Hatte man bisher Euthanasie an körperlich Kranken langsam legalisiert, geht es nunmehr auch gegen körperlich Gesunde: „Eine 50jährige [körperlich gesunde] Sozialarbeiterin hatte im September 1991 im Beisein von zwei Ärzten in ihrem eigenen Haus … tödliche Pillen geschluckt. Zuvor hatte sie den Harlemer Psychiater Chabot … in insgesamt 30–stündigen Gesprächen davon überzeugt, dass sie fest entschlossen war, nicht weiter zu leben.“ Die Frau lebte in äusserst tragischen Lebensumständen, war jedoch nicht vereinsamt, hatte noch enge Kontakte zu Verwandten und Bekannten. Dennoch habe sie „nach Überzeugung des Psychiaters, der sich mit insgesamt sieben Kollegen über den Fall beraten hatte, mit dem Leben abgeschlossen.“ Von den Kollegen hatte keiner die Frau gesehen. Ende April 1993 wurde dieser Psychiater nun in erster Instanz von einem Gericht im niederländischen Assen freigesprochen. „Die Richter erkannten … eine auswegslose Notsituation an, in der die Ärzte keine andere Wahl hatten, als zu helfen.“ Und sie entschuldigten die Tötung ausserdem mit den Worten: Die Frau, hätte der Arzt ihr nicht die Todespillen gegeben, hätte „zu einer ‚grauenvollen‘ Art des Selbstmordes Zuflucht genommen ….“

Der Psychiater handelte in Wirklichkeit nicht im Entscheidungsnotstand, sondern äusserst überlegt. Er „hatte sich selbst bei der (…) ‚Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie‘ für besonders schwierige Fälle zur Verfügung gestellt“ und wollte „nicht stillschweigend durch das Ausschreiben der entsprechenden Rezepte … zur Selbsttötung beitragen. Er habe bewußt den Entschluß gefasst, bei der Selbsttötung zu helfen“! Und um diese vorsätzliche Tat zu legitimieren, versetzt er sich in eine moralisch klingende Position: „wenn es gesellschaftlich akzeptiert werde, dass niemand gegen seinen Willen am Leben erhalten werden könne, so müsse auch diese Hilfe akzeptiert werden.“ „Unsere Gesellschaft, so meinte er, habe den Schlüssel zum Arzneimittelschrank nun einmal den Ärzten in die Hand gegeben. Deshalb müsse der Patient den Doktor von seinem unumstösslichen Todeswunsch zu überzeugen wissen. … Der Psychiater … sieht in den rund 100 Selbstmorden, die in den Niederlanden pro Jahr von Menschen über 70 Jahre verübt wer­den, einen Beweis, dass viele alte Menschen, auch ohne ernste körperliche Leiden, einfach mit dem Leben abgeschlossen haben. Ohne Hilfe der Gesellschaft könnten sie jedoch keinen milden und würdigen Tod sterben, sondern würden dazu getrieben, sich vor den Zug zu werfen oder vom Dach zu stürzen.“

Am 30. November 1993 reisst in Leeuwarden das gleichen Gericht, das 1973 mit jenem spektakuläre Urteil gegen die Ärztin, die ihre Mutter tötete, eine Lawine losgetreten hatte, einen der letzten Dämme ein: In zweiter Instanz sprach dieses Gericht jetzt den Arzt Chabot wiederum frei, wiederum mit der Begründung, das aussichtslose Leiden Patientin habe den Arzt in eine Notsituation versetzt. Dies geschieht, obwohl dies nach geschriebenem Recht ein klarer Fall von Tötung ist. Aber das geschriebene Recht ist ausser Kraft. Das Gericht hat damit neues Recht geschrieben. Nur 23% der Befragten sprechen sich nach einer Umfrage des holländischen Fernsehens derzeit in Holland für diese aktive Form der Beihilfe zum Suizid an körperlich gesunden Menschen aus. 41% sind dagegen. Das Gericht hat damit bereits in zweiter Instanz die Tötung eines gesunden Menschen, der lediglich verzweifelt war, entschuldigt.

Dass Polizei, Richter und Gerichte sich an das geschriebene Gesetz halten und keine Tat verfolgen, wenn nicht ein Gesetz dafür vorhanden ist, dass sie aber auch keine Tat unverfolgt lassen, wenn es dafür ein Gesetz gibt, das nennt man Legalitätsprinzip. Das Gesetz gilt für alle im demokratischen Staat gleichermassen. Das Vertrauen, das wir alle in die Verfassung unseres Staates und in das auf ihr ruhende positive Recht haben, vertraut darin, dass keiner als wild gewordener Ramboo Selbstjustiz übt, wo er gerade in seinen Bedürfnissen gekränkt sich fühlt, sondern dass wir in Sicherheit leben können, weil sich Juristiktive und Exekutive an die Gesetze gebunden fühlen und nicht an Willkür. Und die Basis allen positiven Rechts und der gesamten Verfassung ist in den modernen Verfassungsstaaten der Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Und diese Würde hat jeder Mensch, weil er Mensch ist. Es war die historische Tat der Amerikanischen Verfassungsväter, im Jahre 1767 im Artikel 1 der „Bill of Rights“ – ich wiederhole ihn noch einmal, denn er ist die Grundlage zu allem – des Staates Virginia zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Verfassung einer freien und friedlichen Gesellschaft damit begründet zu haben, dass: „Alle Menschen von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig (sind) und angeborene Rechte (besitzen), deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachung berauben oder zwingen können, sich ihrer zu begeben: nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.“ Wird in einem demokratischen Staat, wo Töten verboten ist, ein Mensch aufgrund seiner Despression umgebracht, dann ist das Tötung und ist dem Arzt genauso untersagt und unterliegt dem Strafgesetz wie jedem anderen Menschen im Staat. Es kann in einem Staate nicht Menschen geben, die dürfen töten und solche, die es nicht dürfen! Die holländischen Gerichte in Assen und Leuwarden, die den genannten Arzt freisprachen, haben daher die Legitimität des Staates ausgehölt, denn sie erschütterten bewusst (sie haben bewusst ihr Urteil gesprochen) die Sicherheit für jeden einzelnen Bürger, dass Töten für jeden im Staat auch wirklich Töten ist und auch gleichermassen verboten!!! Oder sollen plötzlich „einige gleicher“ sein? Derjenige aber, der im Staate ausserhalb des Gesetzes gestellt wird und legibus absolutus handelt, wird – völlig egal, ob dies der Arzt, der Richter oder sonst einer – zum gefährlichsten Mann im Staate. Das war bei allen absoluten Fürsten und Diktatoren so.

Jene ersten Ansätze in Holland, als man scheibchenweise ein bißchen das „Nachhelfen“ des Arztes entschuldigte, sägten an der Sicherheit des Bürgers, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Das einmal angefangen trägt in sich eine „schiefe Ebene“, denn hier wird der Selbstherrlichkeit und dem Machtstreben im Staat Tor und Tür geöffnet. Der Staat, der nicht mehr Nein sagt, wenn getötet wird, sondern plötzlich Entschuldigungsgründe für das, was er eigentlich verfolgen müsste, gelten lässt, wird zum Mittäter. Er erfüllt seine eigentliche Aufgabe nicht mehr: den Schutz aller zu garantieren.

Mit dem Zerstören des Lebensschutzes ist der Hippokratische Eid abgeschafft und der Arzt zum Herr über Leben und Tod – ja schlimmer noch, der ethisch denkende Arzt, der sich trotzdem an den Hippokratischen Eid halten will, wird als unmenschlich dif­famiert! Die logische Konsequzenz hieraus sind Psychiater wie der oben zitierte Holländer Chabbot, die Patienten Gift zur Selbsttötung verabreichen. Die weiteren Konsequenzen hat die Geschichte schon einmal vorgezeichnet.

 

 

2.8. Statt unbedingten Lebensschutz: Nützlichkeitserwägungen

 

Das Nützlichkeitsdenken greift in Holland um sich. Verweigerung von Behandlung ohne den Willen des Patienten. 300 Neugeborene pro Jahr mit Down–Syndrom wird die Behandlung ihrer Herzprobleme verweigert. Über 75jährige bekommen keinen Herzschrittmacher mehr. Bei Alten und Alleinstehenden ohne Familie werden bestimmt Lungenkrankheiten nicht mehr behandelt. Argumente: „Es ist zu seinem Besten!“ „Die Gesellschaft sollte nicht mit solchen Menschen belastet werden.“

Crypthanasie: = aktive Euthanasie ohne Wissen des Patienten. Man schätzt, dass heute mehr Holländer durch unfreiwillige Euthanasie als durch „freiwillige“ ums Leben kommen.[27] [28]

 

2.8.1. Zum Beispiel: „De Terp“–Altenheim
Dort wurden 20 alte Menschen getötet. Man wies dem Arzt 5 Fälle nach, wegen 4 wurde er angeklagt und wegen 3 zunächst verurteilt. Einige Opfer waren nicht krank, sondern nur senil und querulatorisch, der Arzt behandelte mit Widerwillen, war ungeduldig mit den Alten, war oft nicht da und überlies viele Dinge der Oberschwester. Diese führte dann die Tötungen durch (Überdosis Insulin intravenös).

 

 

2.9. Der Remmelink–Report

 

2.9.1. Die Gesetzesvorlage

Im November 1991 brachte die Holländische Regierung eine Gesetzesvorlage ein, die mitlerweile vom Unterhaus bestätigt wurde und die es Ärzten auch erlauben soll, zum Beispiel bei Suiziden mitzuhelfen, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Ärzte, die Euthanasie begehen oder bei Selbstmorden mithelfen, müssen dann lediglich für den amtlichen Leichenbeschauer einen Bericht schreiben. Dieser untersucht die Leiche dann äusserlich[29] und gibt den Bericht an den Staatsanwalt weiter. Scheint der Bericht akzeptabel, sieht der Staatsanwalt von einer strafrechtlichen Verfolgung des Arztes ab.[30] In der Zwichenzeit ist der einzige Zeuge, der Patient, tot, und der Euthanasiearzt kann in seinen Bericht schreiben, was er will. Der Staatsanwalt hat nur diesen, und nichts garantiert dessen Wahrheitsgehalt. Hinzu kommt, dass Behandlungsverweigerung einschliesslich Ernährungsverweigerung oder die Gabe einer Überdosis eines nicht tödliches Medikamentes – und zwar auch uch wenn dies mit der Absicht geschieht zu töten – vom holländichen Kabinett nicht als Euthanasie bezeichnet wird, sondern als „normale medizinische Praxis“.[31] Der holländiche Arzt Dr. Karel Gunning von der World Federation of Doctors who respect Human Life weist auf das entscheidende Problem dieses Gesetzesentwurfes hin, womit im Grunde die bereits bestehende Euthanasiepraxis in Holland und die dort bereits seit Jahren an den Gesetzen vorbei stillschweigend gehandhabte Mithilfe bei Suiziden „legalisiert“ werden sollen: Weil man von keinem verlangen kann, gegen sich selbst als Zeuge wegen Tötung aufzutreten, werden diese Berichte immer in Ordnung sein, und kein tötender Arzt wird je mehr bestraft. Mehr noch: Alle Fälle, in denen eine Überdosierung verabreicht wird oder eine Behandlung, auch wenn sie mit der Intention geschah, den Patienten zu töten, zurückgezogen wird, werden nicht mehr angezeigt, weil dies von der Regierung als „normale medizinische Massnahme“ angesehen wird.[32]

Statt Leben zu erhalten und Schmerzen zu lindern wird der Arzt hiermit zum Richter über Leben und Tod, und Patienten können ohne ihren Wunsch und ohne Wissen der Behörde getötet werden. Kann man sich ausmalen, was für Folgen es haben wird, wenn Hass oder Grollgefühle den Arzt leiten, eine Überdosis bei einem Patienten zu spritzen, den er gerade nicht mag. Er stellt für den Staatsanwalt einen guten Bericht aus, und niemend kann die Tat mehr verfolgen. Es dürfte dies wohl die gewaltigste und letzte Stufe, aber auch die logische Folge des holländischen Weges sein, das Legalitätsprinzip zugunsten des Opportunitätsprinzips aufzugeben, den Holland seit Jahrzehnten geht, und wie er ebenfalls bei der Drogenlegalisierung beschritten wurde.

2.9.2. Der Remelink–Report
Im September 1991 veröffentlicht ein von der holländischen Regierung unterstützter Ausschuss unter Vorsitz des Generalstaatsanwalts Remmelink einen Bericht über die Euthanasiepraxis in Holland.[33] Seine Daten beruhen auf den Informationen von 405 befragten Ärzten, den Untersuchungen von 7´000 Todesfällen und der Analyse von 2´250 Fragebogen.[34] Er ist eine der wertvollsten weil umfassendsten Informationsquellen über die tatsächliche Lage in Holland. Und er ist gleichzeitig ein Muster­beispiel zeitgenössischer Demagogie und zeigt er, wieviel von offiziellen holländischen Zahlen und Statistiken zu erwarten ist.

Auf den ersten Blick nennt der Bericht für den Berichtszeitraum 1990/91 2´300 Patienten, die von ihren Ärzten auf eigenen Wunsch getötet wurden, dies bei einer jährlichen Gesamtsterb­lichkeit von 129 000. Das Jahr 1990 allein genommen, zählt der Bericht 454 Euthanasietote. Allein dies sind erschreckende Zahlen – zu denen sich die holländische Regierung offen stellt! Der Remelinck–Bericht ist durch Umdeutung des allgemeinen Sprachgebrauchs katastrophal geschönt. In der Drogenfrage wird in Holland genau das gleiche Umdeutungsspiel getrieben: Man rechnet in den offiziellen Statistiken einfach nur als Drogentoten, wer mit einer Nadel im Arm tot gefunden wird. So kommt Holland zu seinen sagenhaft niedrigen Zahlen! Gleiches geschieht mit der Euthanasie, wie der Remmelink-Bericht anschaulich macht.

Der Bericht hält selbst ausdrücklich fest, was Ethiker als logische Folge längst vorausgesagt haben: Die in den letzten Jahren auf dem Wege des Opportunitätsprinzips allmählich in Holland akzeptierte Regel, wonach der Wunsch nach Euthanasie vom Patienten ausgesprochen werden muss, wird von vielen Ärzten bereits einfach ignoriert, da er nicht kontrollierbar ist.[35] 27% aller befragten Ärzte berichteten daher von Massnahmen zur Tötung ohne Befragung des Patienten.[36]

Am 19. Oktober publiziert Dr. Karel Gunning, Präsident der Vereiningung Weltföderation der Ärzte, welche menschliches Leben respektieren in der Zeitschrift The Lancet eine kritische Analyse des Remmelink-Berichtes.[37] Er zeigt, wie der Remelinck–Bericht durch Umdefinition des Begriffs Euthanasie zu seinen Zahlen kommt. Unter Euthanasie versteht der Bericht nur noch (1) die Gabe einer tödlichen Substanz (sprich Gift), (2) angewandt durch einen Arzt, (3) auf aus­drücklichen Wunsch des Patienten.[38]

Nur Fälle, die von dieser Definition erfasst werden, werden in dem Remmelink-Bericht überhaupt als „Euthanasie“ bezeichnet. So kommt die immer noch erschreckende Zahl von 2 300 Euthanasietoten zustande. In Wirklichkeit aber ist sie geschönt und die Zahl der Opfer anscheinend fast unvorstellbar höher. Bei wie gesagt rund 130 000 Gesamtsterbezahl pro Jahr hatte nämlich für der Berichtszeitraum in 19´675 Fällen der Arzt „die (ausdrückliche oder stillschweigende) Absicht, den Patienten zu töten.“[39] Das sind 40% aller 49´000 Toten des Jahres 1990, die in Kliniken behandelt worden waren.[40]

Betrachtet man diese rund 20´000 Fälle näher, so ergibt sich folgendes erschreckende Bild:

In 400 Fällen handelte es sich um aktive, vom Patienten verlangte Hilfe des Arztes bei einem Selbstmord,[41] wobei die tödliche Substanz (also das Gift) vom Arzt verabreicht[42] und vom Patienten selbst eingenommen wurde. Hierzu zählt auch der Fall des Psychiaters Chabot.

In weiteren 1 000 Fällen, die nicht als Euthanasie bezeichnet wurden, verabreichte der Arzt die tödliche Substanz ohne ausdrücklichen Wunsch des Patienten.

In fast 16 000 Fällen – das sind 80%  der erwähnten 20 000 – wurde kein Gift gegeben, sondern ein Medikament entweder überdosiert oder abgesetzt. Der Arzt hatte dabei rund 5 000 Mal[43] die ausdrückliche und etwa 11 000 Mal[44] die stillschweigende Tötungsabsicht. Diese Fälle werden im Remmelink–Bericht als „normale medizinische Praxis“ bezeichnet.[45]

In fast 12 000 Fällen aber – das sind fast 60% der 20 000 – lag keinerlei ausdrücklicher Wunsch des Patienten vor, das Leben zu beenden.

Die wohl traurigste Zahl sind 8% derjenigen Patienten, die ohne Einwilligung getötet wurden. Es handelte sich um demente alte Menschen.[46] Die angegebenen „Gründe“ lauten: „niedere Lebensqualität“, „keine Aussicht auf Besserung“ und „die Familie konnte es nicht länger aushalten“.[47]

In gar 45% aller durch unfreiwillige Euthanasie Getöteten geschah dies ohne Wissen der Angehörigen.[48]

Der Remmelink-Report sagt nichts Genaues über Euthanasie an Neugeborenen oder Psychiatriepatienten aus. Es heisst jedoch darin, dass bei etwas der Hälfte aller Fälle von Frühgeburten oder schwer behinderten Kindern Hilfe nicht erteilt oder abgebrochen wurde.[49] Und über Entscheidungen zur Beendung des Lebens von Psychiatriepatienten sagt der Bericht, dass dies auf eine relativ hohe Zahl jener Fällen zutraf, die ihre Wünsche nicht mehr ausdrücken konnten.[50] Kein Mensch wird je mehr aufdecken können, wieviel Unrecht da geschah.

Man muss sich vor Augen halten, dass der Remmelink-Report die jetzige Euthanasiepraxis in Holland beschreibt, die ohne gesetzliche Grundlage, allein aufgrund der Umgehung bestehender Gesetze durch das Opportunitätsprinzip eingeführt wurde und nun gang und gäbe ist. Das Gesetz, das dies alles post festum legalisieren soll, ist erst durch das holländische Unterhaus verabschiedet worden. Es gelingt also scheinbar mühelos – dies ist gleichzeitig die grosse Frage an den Ethiker – an bestehenden Gesetzen vorbei die moralische Substanz einer Gesellschaft derart auszuhölen, dass die gewählten Volksvertreter mit demokratischen Spielregeln die Basis der Demokratie abschaffen, nämlich die Menschenrechte. Es gibt also Wege des Umsturzes, die mit den Spielregeln des freiheitlichen Verfassungsstaates rechnen.

Wenn man einmal in Rechnung stellt, dass in Deutschland unter dem Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges rund 100 000 Psychatriepatienten getötet wurden, so hat Holland mit 20 000 pro Jahr diese Zahl in fünf Jahren erreicht. Dies nur zur Dimensionsabschätzung. Die Holländische Regierung wehrt sich, um ihr Gesicht international wahren zu können, energisch gegen den Vorwurf, sie wolle Tötung legalisieren. Viele der 4 261 holländischen Ärzte, die 1941 einen Protestbrief an den Deutschen Reichskommissar im besetzten Holland unterzeichneten, worin sie sich offen zum Leben als höchsten Wert bekannten, kamen ins Konzentrationslager,[51] aber die nationalsozialistischen Euthanasiepläne wurden in Holland nie durchgeführt, und kein holländischer Arzt unterzeichnete damals eines jener Arbeitsfähigkeitszeignisse, die den Transport in Lager bedeuteten.[52]

 

2.9.3. Die Konsequenzen für die Bevölkerung
Auffallend an dem Remmelink-Bericht ist die moralische Komponente, mit der die Euthanasie-Legalisierer spielen. Sie versäumen – obwohl gerade dies in Wirklichkeit zu einem hohen Prozentsatz schon gar nicht beachtet wird – nicht, zu unterstreichen, dass der eigene Wunsch des Patienten auf „selbstbestimmtes Sterben“ wichtig sei, und es wird damit suggeriert, es gehe ausschliesslich um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und um eine angebliche Samariterhandlung, den Patienten nicht länger „unverantwortlich“ leiden zu lassen. Die Mehrzahl aller Menchen, die die Idee eine freiwilligen Euthanasie unterstützen tun dies allerdings, weil sie denken, sie möchten einen Sterbenden von grossem Leid bewahren.[53] So lassen sich viele Gutgläubige einfangen.

In Holland ist die Stimmung unter der Bevölkerung jedoch nicht eindeutig, und es gibt Anzeichen dafür, dass langsam das Vertrauen in die Ärztliche Kunst allgemein schwindet und ein Klima von Angst vor dem Arzt entsteht. Dem Ethiker scheint dies wiederum nur logisch, denn der Hippokratische Eid hat schliesslich die Erhaltung der Werte Sicherheit und Vertrauen zum Ziel, wenn er vom Arzt bedingungslose Loyalität gegenüber dem Leben fordert. Der ehemalige holländische Generalstaatsanwalt Schalken berichtet, dass Teile der Holländischen Bevölkerung in Angst und Unsicherheit leben.[54] Auch die Holländische Patienten Vereinigung berichtet 1985, dass die Furcht vor Euthanasie deutlich gestiegen sei.[55] Schwerbehinderte Jugendliche aus Ammersfoort schrieben zum Beispiel an den holländischen Parlamentsausschuss für Gesundheitsvorsorge und Justiz, dass sie angesichts des geplanten Gesetzes ihr Leben in Gefahr sähen, weil viele Leute dächten, sie kosteten der Gesellschaft nur eine Menge und seien doch nutzlos.[56] Glynn berichtet über Karten, die den Willen zum Leben schriftlich festhalten und von der holländischen Gesellschaft Sanctuary Association vertrieben werden, um den Unterzeichner vor Euthanasie zu schützen.[57] Die Untersuchung von Segers kommt 1988 zu dem Schluss, dass die Mehrheit aller Bewohner holländischer Altersheime Angst vor Euthanasie gegen ihren Willen haben.[58] Levin berichtet sogar in der Times vom 11. Dezember 1989 vom Fall eines holländischen Arztes, der strafrechtlich verfolgt wurde, weil ihm eine Euthanasie nicht gelungen war, obwohl er zuvor eingewilligt hatte.[59]

Dies ist nur eine der unabsehbaren Folgen des opportunistischen und ethisch unakzeptablen Verhaltens gegenüber dem menschlichen Leben. Nicht nur der Patient, die Ärzte gleichermassen, werden dadurch aufs Schwerste diskriminiert, denn man vergewaltigt ihr Gewissen und verlangt von ihnen Tötung, die radikale Entwertung ihres Berufes. Es wird daher auch nicht ausbleiben, dass Ärzte Schwierigkeiten mit Vorgesetzten bekommen werden, wenn sie nicht töten wollen.[60]

 

 

2. Der Schwartzenberg–Bericht

 

In der Sitzung vom 11. September 1989 gibt der Präsident des Europäischen Parlaments bekannt, daß er einen Entschließungsantrag der Holländerin Van Hemeldonck an den Ausschuß für Umweltfragen, Volks­gesundheit und Verbraucherschutz, der im Rahmen des Europäischen Parlaments arbeitet, überwiesen hat. Der Entschließungsan­trag behandelt das Thema „Sterbetreuung tod­kranker Patienten“. Am 1. Dezember 1989, ernannte der Ausschuß den Onkologen Léon Schwartzenberg, einen bekannten französischen Drogenlegalisierer, als Berichterstatter. Insgesamt dreimal behandelte der Ausschuß einen Ent­wurf des Berichts und nahm ihn in der letzten Bera­tung 1991 mit sechzehn zu elf Stimmen bei drei Ent­haltungen an. Der Ausschuß reichte den Bericht am 29. April 1991 im Europäischen Parlament ein, wo er abgewiesen wurde – zum Glück.

Wir wollen kurz auf diese Bericht eingehen, denn er zeigt beispielhaft einige der wichtigsten Argumentationsfiguren der Euthanasielieberali­sierer.

 

 

2.1. Umdeutung des Zusammenhangs von Würde und Schmerz

 

Der Schwartzenberg-Bericht behauptet zweierlei, erstens: „Grundlage des menschlichen Lebens ist die Würde“,[61] zweitens: „Körperliche Schmerzen sind sinnlos und unheilvoll und können die Men­schenwürde verletzen.“[62] Viele Gutmeinende lassen sich hiervon täuschen. Wer möchte nicht einem Leidenden helfen? Danach kommt aber einem von Schmer­zen gepeinigten Menschen unter Umständen keine Würde mehr zu. Es gibt also lebensunwerte Kranke und lebenswerte. Der Kardinalfehler diese Denkens liegt in folgendem: Seit wann ist die Würde Grundlage des Lebens? Das Leben ist doch in Wirklichkeit Voraussetzung und Grundlage der Würde! Ohne Leben keine Würde! Mit dieser Verdrehung schafft sich der Bericht aber das, was er anschliessend beweisen möchte, dass nämlich Leben eventuell keinen Sinn mehr hat, wenn der Patient Schmerzen hat und dadurch seine Würde zu sehr verletzt wird. „Grundlage des menschlichen Lebens ist die Würde“.“Körperliche Schmerzen sind sinnlos und unheilvoll und können die Menschenwürde verletzen.“ Das heisst, es kann auch menschlich sein, einen Leidenden zu töten. Wenn die Würde als Mensch abnehmen kann wie ein Glas Wasser, dann gibt es einen Punkt, an dem es würdiger ist, den Kranken zu töten.

In der Tat verschleiert der Bericht genau diese Konsequenz in schönen Worten und wertet damit den Begriff des Tötens um. Der Bericht spricht nämlich von einem sogenannten „Recht, vor unnötigen medizinischen Behandlungen … bewahrt zu werden.“[63] Damit ist der entscheidende Damm der Un­antastbarkeit des Lebens eingerissen, und der leidende Mensch wird zur Tötung freigegeben! Wer könnte dann die Grenze festsetzen, wann ein Mensch derart Schmerzen leidet, dass er so wenig Würde hat, dass man ihn töten kann, ja töten muss, weil es angeblich unwürdig sei, weiterzuleben? Wer übernimmt hierfür die Ver­antwortung? Der Begriff Tötung hat eine radikale Umwertung erfahren.

 

 

2.2. Zum Naturrecht

 

Wie schon gesagt: Die Behauptung des Be­richts, Grundlage des menschlichen Lebens sei die Würde, stellt in Wirklichkeit die Grundtat­sachen des menschlichen Lebens auf den Kopf. In Wirklichkeit ist nicht die Würde die Grund­lage des menschlichen Lebens, sondern das Le­ben ist unverzichtbare Grundlage und unbe­dingte Voraussetzung für die Würde.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, und sie kommt jedem Menschen – gleich wel­cher Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Kultur – zu. Sie ist daher im deutschen Grund­gesetz oberster Grundsatz, Bezugs- und Aus­gangspunkt aller Grundartikel, in denen die Menschenrechte geschützt werden, und die Würde des Menschen wird dort durch die soge­nannte Ewigkeitsklausel als für alle Zeiten gül­tig festgeschrieben. Die Würde kommt dem aber Menschen zu, weil er Person ist. Und Person ist jeder Mensch, weil alle Menschen die gleiche Natur haben. Man sieht, wie die Würde des Menschen direkt auf der allgemeinen, allen Menschen zukommenden Natur beruht. Person-Sein beruht also auf dem menschlichen Leben selbst. Ohne Leben keine Würde. Dieser Grundsatz ist unteilbar. Und weil alle Menschen von Natur aus die gleiche Anlage haben, Person sein zu können, sind sie von Natur aus gleich und haben alle das gleiche Recht, als Mensch geachtet zu werden. Sogar dem Toten bringen wir noch diese Achtung ent­gegen und schreiben ihm eine Würde zu, denn er ist sozusagen die Erinnerung an das gewesene Le­ben, an die gewesene Person, der einst die un­teilbare Würde und Achtung zukam. Wir achten im Toten sozusagen stellvertretend das Leben.

Nun hat man sehr bewusst den Satz so for­muliert, dass man gesagt hat, die Würde des Menschen sei unantastbar. Natürlich gibt es Si­tuationen, in denen die Menschenwürde konkret verletzt werden kann. Wir hören dies täglich. Und trotzdem bleibt die Würde des Menschen unverzichtbar an seine Natur gebunden und kommt ihm zu, auch wenn er in unwürdigen Verhältnissen leben muss. Auch bei einem bein­amputierten Menschen – um ein sinnfälliges Bei­spiel zu nennen – sprechen wir ja im gleichen Sinne immer noch von einem Zweibeiner. Ge­nauso hat der Mensch Würde, solange er lebt und weil er lebt. Gerade daraus, dass man die Würde nicht deshalb aufgibt, nur weil sie miss­achtet, beleidigt oder sonstwie beeinträchtigt wird, gerade daraus entsteht die Kraft, die Würde für jeden zu fordern. Hier liegt die Kraft, der Beleidigung der Würde zu widerste­hen. Hier liegt die Kraft, dem Leidenden wieder zu seinem Recht auf Achtung seiner unveräus­serlichen Würde zurückzuverhelfen. Das muss Ausgangspunkt staatlichen Rechts sein. Das muss aber auch Ausgangspunkt jedes helfenden Berufs sein. Der Arzt – und das gilt im Übrigen gleichermassen unbedingt für den Pädagogen, Psychologen, Lehrer, ja alle anderen Berufe, die dem Menschen verpflichtet sind – hat also nur eine einzige Grundpflicht: Leben zu erhalten!

Dieser Imperativ kann nie – und wir unter­streichen das, weil die Euthanasieliberalisierer genau dies umdeuten wollen – dieser Imperativ, nämlich der Arzt dürfe nur eines: Leben erhal­ten, kann nie unmenschlich werden. Gerade an­hand des Schwartzenberg-Berichts kann man sehen, welche Umdeutungen nötig sind, um die­sen Imperativ dennoch ausser Kraft zu setzen.

Was wir als Lehre von der Menschenwürde dem Schwartzenberg-Bericht gegenüberge­stellt haben, ist die wertvollste kulturelle Tradi­tion, die wir besitzen. Ihre Grundidee ist es, dass sich alle Menschen freiwillig und nur mit Gewinn für jeden einzelnen unter die allgemeine Regel des Zusammenlebens stellen können, dass die allen von Natur aus zukommende Würde in allen Handlungen und Gesetzen unbedingt ge­achtet werden muss. Die europäische Natur­rechtslehre, die uns diese Grundlage geschenkt hat, hat die Verfassungen der westlichen Demo­kratien hervorgebracht. Hierauf haben die Kul­turen der Neuzeit versucht, den Krieg einzu­dämmen, das Leben im weitesten Sinne gegen Willkür zu schützen. Der „ewige Friede“ war das Ziel, das Denker wie Kant dabei im Sinne hatten. Der Schwartzenberg-Bericht schnei­det mit seiner antihumanistischen und gefährli­chen Argumentation genau diese Tradition ab, und – er überantwortet dadurch, den Menschen wieder der Willkür absolutistischer Herrschaft, also jenen Mächten, die ja gerade durch das Naturrecht abgeschafft wurden.

 

 

2.3. „selbstbestimmtes Sterben“

 

Es dürfte nun völlig klar sein, was darunter verstanden werden muss, wenn der Bericht im weiteren fordert: „Man muss sich davor hüten, um jeden Preis zu heilen zu versuchen, wenn die Krankheit nach dem derzeitigen medizini­schen Wissensstand unheilbar ist, und eine aus­sichtslos gewordene Behandlung sollte nicht mit aller Gewalt fortgesetzt werden, wenn dadurch die persönliche Würde des Kranken verletzt wird.“[64] Es schaudert einem. Auf dem schwammigen Boden des Berichts, den wir zu­vor analysiert haben, sind durch solche Sätze jeder Willkür Tür und Tor geöffnet.

Weil der Schwartzenberg-Bericht fälsch­licherweise die Würde als Grundlage des Le­bens beschrieb, hat er Grundtatsachen umgewer­tet, und das zieht zwingend weitere Umwertun­gen der menschlichen Natur nach sich. Zum Beispiel behauptet der Bericht nun so etwas wie einen Todestrieb: „Das Verlangen,“ schreibt er, „für immer einzuschlafen, bedeutet nicht die Verneinung des Lebens, sondern die Forderung, ein Dasein zu beenden, dem die Krankheit letzt­lich jede Würde genommen hat“.[65] Nach diesen Worten könnte es einem Psychiater einfallen, in Fällen schwerer Depression ein solches Verlan­gen zu diagnostizieren und den Patienten zu tö­ten. Nach der Definition des Berichtes, die ja in Wirklichkeit eine Umwertung ist, würde er den Patienten allerdings von einem würdelosen Da­sein „erlösen“ und er würde sich heftig in seiner angeblichen Menschlichkeit gekränkt fühlen, wenn man ihm die Tötung vorhalten würde.

Jetzt schliesst sich der Kreis. Sie erinnern sich an den eingangs zitierten Fall aus Holland. Dort lag genau solch ein Fall vor. Der nieder­ländische Psychiater Chabot war mit sieben Kollegen zusammen zu dem Schluss gekommen, dass die betreffende Patientin, die körperlich war und soziale Kontakte unterhielt, keinen Wunsch mehr hatte zu leben. Also verabreichte man Gift. Um diesen Mord, was es Wirklichkeit ist, zu rechtfertigen redet Chabot auch herbei die Menschen hätten ein natürliches Recht, dass ihr Wunsch sterben zu wollen auch beachtet würde.

Man muss überhaupt nicht leugnen, dass diese Frau den Lebensmut verloren hatte. Ihr Schicksal war sehr schwer. Aber der Arzt muss in seinem ganzen Tun davon ausgehen, dass der Patient seine Hoffnung auf Leben aufs Grab pflanzt. Und wo der Lebensmut des Patienten schwindet, muss der Arzt – aus Schuldigkeit dem Leben gegenüber – unter allen Umständen immer annehmen, dass der Patient im Grunde seines Herzens nichts als leben möchte, und er muss genau wissen, dass dieser Wunsch späte­stens dann wieder heftig erwacht, wenn der Pa­tient auch nur eine kleine Chance sieht, dass das Leben weitergehen könnte. Es ist dies ja gerade die Problematik des Patienten, dass der Arzt das Leben gegen die Angriffe des Patienten vertei­digen muss. Und diese Angriffe des Patienten auf sein eigenes Leben sind letztlich dem ver­zweifelten und ungeschickten Kampf um ein sinnvolles Leben erwachsen. Ein Psychiater, der diesen Weg verlässt und zur Tötung Zuflucht nimmt, muss daher geächtet werden.

Der Schwartzenberg-Bericht will jedoch, ganz im Gegenteil dazu, diese Praxis internatio­nal festschreiben. Daher fordert er selbstbe­stimmtes Sterben. Aus den falschen Voraussetzungen, (1) die Würde sei die Grundlage des Lebens und (2) die Würde könne durch Schmerzen vernichtet werden leitet der Bericht die Forderung ab: Daß „beim Fehlen jeder … Therapie und nach dem Fehlschlagen von psychologisch wie auch medizinisch korrekt angewandter palliativer Be­handlung, und jedes Mal, wenn ein im vollen Bewusstsein befindlicher Kranker nachdrücklich und unablässig fordert, daß seiner Existenz, die für ihn jede Würde verloren hat, ein Ende ge­setzt wird, und wenn ein hierfür eingesetztes Kollegium von Ärzten feststellt, daß es unmög­lich ist, neue spezifische Behandlungen anzu­wenden, diese Forderung befriedigt werden muß, ohne daß auf diese Weise die Achtung vor dem menschlichen Leben verletzt wird;“[66] Die Würde wird also in solchen Fällen nicht mehr verletzt, wenn man den Patienten umbringt, denn das „Verlangen, für immer einzuschlafen, bedeutet nicht die Vernei­nung des Lebens“, so der Bericht.

 

 

2.4. Naziideologie

 

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal kurz die Argumentationskette des Berichts, wie wir ihn bis jetzt analysiert haben, dann entsteht ein erschreckendes Bild: „Grundlage des menschli­chen Lebens ist die Würde“, und „Körperliche Schmerzen … können die Menschenwürde ver­letzen“ behauptet der Bericht. „Man muss sich davor hüten, um jeden Preis zu heilen versu­chen“, wird daraus gefolgert und der Bericht fordert daher „das Recht, vor unnötigen medi­zinischen Behandlungen sowie vermeidbaren physischen und psychischen Leiden bewahrt zu werden“. Dies alles wir durch die schein-an­thropologische Behauptung gestützt: „Das Ver­langen, für immer einzuschlafen, bedeutet nicht die Verneinung des Lebens …“ Mitleid ist das Motiv, das hier ungenannt als Rechtfertigung im Hintergrund steht. Wer hätte nicht Mitleid mit einem unnötig leidenden Menschen? Wie leicht ist es, dieses Mitleid z missbrauchen?

Diese Argumentsationskette entspricht hierin den ersten Schritten, die die Nazis unternahmen, um der Bevölkerung die natürliche Scheu vor der Tötung Schwacher und Kranker zu nehmen. Wie wir dies bereits besprachen. Sie begannen mit der sprachlichen Umwertung der ethischen Grundbegriffe ‚Mitleid‘, ‚Tötung‘ und ‚Würde‘. Natürlicherweise hat der Mensch ein starkes Gefühl von Mitleid mit dem Kran­ken, und die Nazis wussten nur zu genau, dass sie die Bevölkerung überlisten mussten, um die­sen Damm zu brechen. Die Waffe, die sie zum Zwecke der Umwertung einsetzten, bestand darin, dass sie dieses Mitleidgefühl mit dem Kranken und Leidenden in die Irre leiteten: Wenn sich im Bürger am Ende eines Filmes zum Beispiel auch nur ein Gefühl des Verständnisses für die Tötung einstellte, hatte der Propagandist schon gewonnen.

 

 

2.5. Der versteckte Foltervergleich gegenüber dem human handelnden Arzt

 

In der Tat können Schmerzen in einem gewissen Sinn die Menschenwürde verletzten, aber in einem ganz anderen Zusammenhang, als dies der Schwartzenberg-Bericht suggeriert. Und das ist das Entscheidende: Wenn ein Mensch zum Beispiel gefoltert wird, dann verletzt jeder Schlag zutiefst die Menschenwürde, aber diese Verletzung der Würde in diesem konkreten Fall bedeutet nicht, dass der Gefolterte, weil man seine Würde aufs Schwerste kränkt, keine mehr besässe. Gerade in ihrer Verletzung zeigt sich die Würde ganz besonders. Und ihre Verletzung schreit nach ihrer Rehablitierung. Wie wir aber einem Folteropfer nicht die Würde absprechen, weil ihm in der Tat „sinnlose und unheilvolle“ – wie es der Schwartzenberg–Bericht nennt – Schmerzen zugefügt werden, so wenig werden wir einem Kranken die Menschenwürde absprechen, nur weil er Schmerzen leidet. Der Bericht rückt jedoch dem Arzt, wenn er „um jeden Preis zu heilen versucht“[67], in die Nähe des Folterers, denn was wäre ein Arzt anders, der einem Kranken unnötige Schmerzen zufügte? Genau dies aber wird dem Arzt unterschoben, wenn er unter allen Umständen versucht, Leben zu erhalten.

 

 

3. Peter Singer: Praktische Ethik

 

3.1. Einleitung

 

Der australische Moralphilosoph Peter Singer hat entscheidenden Anteil am Wiederaufleben der Euthanasiedebatte nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein „Hauptwerk“ (in dieser Sache), mit dem Titel  Praktische Ethik, erschienen im Jahr 1987, ist damals (zunächst) kaum beachtet worden. Weder in Philosophischen Seminaren noch in der Öffentlichkeit, auch nicht in der politischen Diskussion haben die Überlegungen des überzeugten Tierschützers und Vegtariers (Peter Singer), der radikaler Euthanasie-Befürworter ist und die Euthanasie gegen jedes moralische Empfinden zu rechtfertigen versucht, Echo gefunden.

Erst dadurch, daß verschiedene Interessengruppen die Euthanasie-Diskussion in die Öffentlichkeit „gepuscht“ haben, haben Befürworter der Euthanasie bei Peter Singer sozusagen eine willkommene moralphilosophische Rechtfertigung gefunden, so daß er heute von Befürwortern und Gegnern der Euthanasie vielfach zitiert wird und natürlich von Gegnern auch widerlegt wird.

In der Folge hat Peter Singer eine rege Tätigkeit entfaltet und taucht immer wieder auf Vortragsreisen durch Europa auf. Überall, wo Singer zu Vorträgen angetreten ist, u.a. auch an der Uni Zürich (wann?), hat ihm ein Sturm der Entrüstung entgegengeblasen, weil er natürlich mit seinen Überlegungen das moralische Empfinden der Menschen zutiefst verletzt. Vor allem Behinderten-gruppen haben immer wieder versucht, Vorträge von Singer und Seminare über Singer zu verhindern. Dagegen sind dann Befürworter/Leute aufgetreten (nach Tolmein aus dem linksliberalen Spektrum), die sich auf die Meinungsfreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre berufen haben, um Singer Gelegenheit zu verschaffen, seine absolut inhumanan Vorstellungen zu verbreiten.

Und so wird die Öffentlichkeit heute Schritt für Schritt daran gewöhnt, sich über Dinge Gedanken zu machen, die bis heute verpönt sind. Auch wenn man Singers Buch liest, findet man sich unversehends – in teils spitzfindige teils äußerst plumpe und falsche (philosophische) Argumentationen eingewickelt und beginnt, sich mit Gedanken befassen über die Tötung von behinderten Säuglingen und Kleinkindern, auch über die Tötung todkranker Menschen, die im Koma liegen, so, als ob das normal wäre, sich darüber (wieder) Gedanken zu machen Und dadurch soll die bis heute normale (!) moralische Abscheu gegen das Töten von behinderten und kranken Menschen, die  Abscheu gegen das Töten auf Verlangen und die Abscheu gegen die Beihilfe zum Suizid Schritt für Schritt untergraben werden. Und damit werden auch die Grundfesten unserer (christlich-humanen) Moral und Ethik untergraben und abgebaut.

Es werden aber auch die Menschenrechte, die bis heute Grundlage unserer demokratischen Verfassungen und unseres Rechts sind, nämlich das unveräußerliche Recht auf Achtung der menschlichen Würde und (daraus abgeleitet) das Recht auf Leben (jeder einzelnen Person) abgeschafft.

 

 

3.2. Singers Attacke auf die Personwürde und das Recht auf Leben

 

Wie geht Singer vor? (Wir wollen Ihnen seine Argumentation im einzelnen ersparen und geben hier nur die zentralen Punkte wieder, die für die Diskussion entscheidend sind!)

Zunächst einmal führt Singer gleich zu Beginn seines Buches eine Attacke gegen das Recht des Menschen auf Leben; diese Recht auf Leben ist ein Grundrecht und gilt als Naturrecht für alle Menschen, zu allen Zeiten und überall in gleicher Weise gilt.

Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Thesen drei bis fünf, die am Kongreß „Mut zur Ethik“ in Bregenz verabscheidet worden sind, hier vor allem auf die These fünf, wonach jeder Mensch als Person eine unverletzliche Würde und damit ein unveräußerliches Recht auf Leben hat.

Was verstehen wir darunter, wenn wir von der Person, von der Würde der Person und damit von dem unveräußerlichen Recht auf Leben sprechen?

Wir sprechen vom Menschen als einer Person insofern, als er von Natur ein denkendes, sich entscheidendes und selbstbewußtes soziales Wesen ist, eine leib-seelische Einheit, die (in ihrer individuellen Eigenart) unwiederbringlich ist. U.a. weil die menschliche Person als leib-seelische Einheit (in ihrer individuellen Eingenart) unwiederbringlich ist, hat jede Person einen besonderen Eigenwert und damit auch ein besonderes Recht auf Leben.

Diese Auffassung, nach der jeder Mensch von Natur ein vernünftiges, entscheidungsfähiges Wesen ist, das als individuelle Einheit einen besonderen Wert und damit eine unbedingt zu achtende Würde hat wurzelt tief in der Tradition unserer christlich-abendländischen Kultur.

[Exkurs: Bereits antike Philosophen – allen voran Aristoteles – haben den Menschen als ein vernünftiges und mit einer gewissen Willensfreiheit begabtes Wesen betrachtet. Vernunft und Willensfreiheit galten den Griechen als allgemeine Eigenschaften, die der Mensch von Natur aus hat. Bei den Griechen und Römern hatten jedoch kleine Kinder nicht unbedingt ein Recht auf Leben; sie töteten mißgestaltete oder schwache Kleinkinder, indem sie sie in Gebirgsgegenden aussetzten.]

Das Christentum hat die Grundlage dafür geschaffen, jedem einzelnen Menschenleben einen eigenen Wert (und somit eine Würde) zuzusprechen, die man unbedingt zu achten und zu schützen hat, weil der Mensch als von Gott (als Gottes Ebenbild) geschaffen galt.

Das Prinzip der Menschenwürde und damit Vorstellung von der moralischen und rechtlichen Gleichheit aller Menschen – mithin auch das Recht des Menschen auf Leben – hat sich im Laufe eines mühsamen, mit vielen Rückschlägen versehenen Prozeß der Geschichte durchgesetzt und hat eine der nobelsten Formulierungen bei dem deutschen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant gefunden: Jedes Ding kann – wie Kant sagte – einen Wert und damit einen bestimmten Preis haben, aber die menschliche Person ist ein Wert an sich selbst, der anders als andere Werte keinen Preis haben kann. Die menschliche Person ist nach Kant als Wert an sich selbst zu achten; jede Person ist Zweck an sich selbst, sie darf niemals als Mittel zum Erreichen anderer Zwecks mißbraucht werden. Deshalb hat die Person eine besondere Würde und ein unbedingtes Recht auf Achtung dieser Würde.

Jeder Mensch ist in seiner Personenwürde zu achten und jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Leben hat.

Warum diese Rückschau auf einige wesentliche philosophische Grundgedanken, die heute allen modernen demokratischen Verfassungsstaaten zugrunde liegen? Was wir zeigen möchten, ist, daß Singer, wenn er das Recht auf Leben als ein Naturrecht bestreitet und die Möglichkeit der Euthanasie philosophisch zu begründen versucht, (daß er dann) nicht nur einer absolut inhumanen Vorstellung das Wort redet, sondern daß er an den Grundwerten der Demokratie rührt, an eben den Grundwerten, die ein Leben in gegenseitiger Achtung vor der Würde und dem Leben jedes einzelnen Menschen und damit ein Leben in Freiheit überhaupt erst garantieren.]

Wir haben gesagt, daß jeder Mensch aufgrund seiner natürlicher Eigenschaften Person ist, und damit ein Recht auf Achtung und Schutz des Lebens genießt, u.z. weil er

1.   eine einzigartige und von jedem anderen verschiedene, leib-seelische Einheit ist,

2.   und von Natur die Fähigkeit zu Vernunft und Entscheidungsfreiheit hat.

Nun attackiert Singer diese Auffassung, wonach dem Menschen aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften als Person ein besonderer Wert und damit ein besonderes Recht auf Leben zusteht. Ich bezweifle, schreibt Singer, daß es „irgendeine natürliche Eigenschaft“ (30) gibt, „die alle Menschen in gleichem Maße besitzen.“ (30) Und somit bezweiwelt er, daß allen Menschen gleichermaßen das Recht auf Leben im Sinne eines Naturrecht s(!) zukommt.

Singer leugnet, daß das Leben aller Menschen (von Natur aus) gleichviel wert sei und alle Menschen ein Recht auf Leben hätten. Allein „Die Fähigkeit, die … Zukunft ins Auge zu fassen, [ist für ihn] die notwendige Bedingung für den Besitz eines ernstzunehmenden Rechts auf Leben“ (115; zit nach Tolmein, 65), weil nur ein selbstbewußtes Wesen mit einer Vorstellung von der Zukunft sich Gedanken über Tod und Leben machen kann; und nur ein solches Wesen, das sich in der Zukunft also tot oder lebendig vorstellen kann, kann auch für sich ein Recht auf Leben geltend machen.

Daraus folgt aber auch, daß nur der, der sich seiner selbst bewußt ist und eine Vorstellung von der Zukunft hat, für Singer als Person gilt, die ein Recht auf Leben für sich beanspruchen kann.

Singer bricht – das wird hier deutlich – mit der traditionellen, christlich-humanen Auffassung von der menschlichen Person; er versteht unter Person nicht mehr den Menschen als leib-seelische Einheit, die jederzeit ein natürliches Recht auf Leben hat. Das Recht auf Leben ist bei ihm an vorübergehende, aktuelle geistige Zustände der Person, d.h. an das Selbstbewußtsein und an die Vorstellung von der eigenen Zukunft genüpft. Man kann sagen, er vertritt einen äußerst eingeschränkten, so etwas wie einen aktualisierend(en), kognitiven Personbegriff (der z.B. vom traditionellen Begriff der Person (wie etwa dem von Kant) völlig verschieden ist). [eine Person ist für Singer ein rationales (d.h. denkendes und reflektierendes), selbstbewußtes Wesen (106), das sich seiner selbst als einer Einheit (Singer spricht von distinkter Einheit) in der vergangenheit und in der Zukunft Zukunft bewußt ist.]

Was folgt daraus? Säuglinge und Kleinkinder, auch geistig schwer gestörte Personen oder todkranke Patienten im Koma haben nach Singer kein Recht auf Leben, weil sie nach seiner Auffassung kein rationales Denken, kein Selbstbewußtsein und keine Vorstellung von der Zukunft haben. Deshalb können sie, (1) wenn sie dauerhaft krank, behindert oder geistig gestört sind, (und) (2) wenn sie keine Aussicht auf ein glückliches Leben haben, (3) wenn zudem andere Menschen, zum Beispiel Eltern und Geschwister, unter ihrem Zustand leiden und dadurch ihr Glück erheblich gemindert ist, dann – so die kalte Logik Singers – dürfen diese Menschen – geötet werden (weil ihnen nach Singers willkürlicher Definition die Eigenschaften der menschlichen Person fehlen, die ihnen ein Recht auf Leben geben würden).

Tiere haben nach dieser Theorie unter Umständen sogar ein höheres Recht auf Leben als Säuglinge, Kleinkinder, geistig schwer Geschädigte oder todkranke alte Menschen ohne Bewußtsein. Der Tierschützer Singer versteht nämlich unter Personen, die ein besonderes Recht auf Leben haben, nicht notwendig nur Menschen: Affen, Hunde, Schweine und Katzen sind für ihn ebenfalls Personen, weil sie angeblich fähig sind zu reflektieren, Selbstbewußtsein haben und eine Vorstellung von der Zukunft. Das Leben dieser Tiere scheint ihm offensichtlich schützenswerter als das behinderter Säuglinge, Kleinkinder, geistig Gestörter oder todkranker Patienten im Koma.

Wer das menschlichen Leben grundsätzlich höher veranschlagt als das von Affen, Hunden oder Schweinen, dner bezeichnet Singer Speziesist; den Ausdruck Speziesist gebraucht er analog zum Wort Rassist; denn so wie der Rassist das Leben von Menschen der gleichen Rasse höher bewertet als das Leben anderer Rassen, so veranschlagt der Speziesist, wie Singer es nennt, grundsätzlich das Leben von Angehörigen der eigenen Gattung höher als das anderer Spezies. Warum allerdings für Singer ein Schwein mehr Selbstbewußtsein (und somit mehr Lebensrecht) haben soll als ein menschlicher Säugling bleibt völlig willkürlich, an den Haaren herbeigezogen und abstrus.

 

 

3.3. Singers Utilitarismus

 

Was ist Singers philosophische Position? Singer vertritt ein kaltes untilitaristsiches Prinzip (das jedes mitmenschliche Empfinden mit Füßen tritt.)

Alle Lebewesen – Mensch und Tier – haben deshalb grundsätzlich das gleiche Interesse: Schmerz und Leid auf ein Minimum zu reduzieren und Glück zu maximieren.

Das einzige, was nach Singer als Grundlage ethischer Erwägungen zählt, sind eben diese Interessen (Schmerz zu meiden, Glück zu suchen) und darin sind sich alle – ob Mensch oder Tier – gleich.

Interesse ist Interesse, egal, wessen Interesse es auch immer sein mag, schreibt Singer.

Die Anerkennung der Gleichheit aller Interessen gilt für Singer als das ethisches Grundprinzip (schlechthin), und er hält es für stark genug, um alle Ungerechtigkeiten moralisch ablehnen zu können: Als ethisch verwerfliche Ungerechtigkeit taxiert er u.a. Tierquälerei, Geschlechterdiskriminie­rung und Rassismus; und vom Standpunkt der gleichen Interessenerwägung meint er auch die furchtbarste Form des Rassismus zurückweisen zu können, die unser Jahrhundert erlebt hat, (u.z.) den Rassismus der Nazizeit. Die Nationalsozialisten, so argumentiert Singer, hätten das Wohl und die Interessen der arischen Rasse über die der anderen gestellt; die Leiden der Juden und Zigeuner hätten sie nicht in Erwägung gezogen. Deshalb hätten sie gegen das moralische Prinzip der Gleichheit aller Interessen verstoßen.

In Wirklichkeit sollen mit diesem Argument nur Bedenken gegen die Euthanasie zerstreut werden, jene Bedenken nämlich, daß die Euthanasie, die Singer befürwortet, mit den nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen irgendwie etwas zu tun haben könnten.

[Allerdings waren viele Nationalsozialisten auch von der Nützlichkeit der Euthanasie überzeugt, daß es sich nämlich bei jenen Personen, die zur Tötung vorgesehen waren, um Existenzen in erbarmungswürdigen Zustand gehandelt habe, die zu töten nur im Interesse aller sei. (Vgl. Tolmein, 58)]

Singers utilitaristisches Grundprinzip besteht nun darin, bei einer Entscheidung die Interessen aller abzuwägen.

Was ist aber, wenn die Interessen der Beteiligten nicht miteinander vereinbar sind, wenn sie unvereinbare, gegensätzliche Interessen verfolgen? Bei einem Interessenkonflikt gilt es (zunächst), die Interessen aller zu berücksichtigen, die von der Entscheidung betroffen sind. Dann soll jene Handlung gewählt werden, die per saldo „für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat.“ (24); mit anderen Worten: Es soll immer die Handlungen gewählt werden, die das Glück aller maximiert und das Leid auf ein Minimum reduziert.

Moralisch gut ist also, was dem größtmöglichen Glück aller nützlich ist.

Damit hat Singer den Boden für die Euthanasie-Debatte gelegt:

1.   Ein grundlegendes Recht auf Leben gibt es, wie gezeigt, nach Singer, nicht;

2.   entscheidend ist für ihn vor allem das Interesse desjenigen, der sich durch den freiwilligen Tod von einem schmerzhaften, unheilbaren Leiden befreien will; entscheidend sind aber auch die Interessen der Betroffenen, vor allem dann, wenn es sich um ein behindertes Kind, einen geistig schwer Gestörten ohne Selbstbewußtsein und Zukunftsbewußtsein oder einen todkranken komatösen Patienten handelt;

3.   entscheidend sind Kategorien wie Leiden und Glück; und

4.   der Tod selbst gilt nicht als Leiden, sondern u.U. als wünschenswerte Beendigung des Leidens, gegebenenfalls sogar – so abstrus und widerwärtig es klingt – als größtmögliches Glück für alle Beteiligten (für den todkranken Patienten ebenso wie für die Angehörigen).]

 

 

3.4. Töten: Euthanasie

 

Singer befürwortet (a) die freiwillige ebenso wie die (b) nichtfreiwillige Euthanasie.

3.4.1. Freiwillige Eunthanasie
Unter freiwilliger Euthanasie versteht Singer Tötung auf Verlangen, was in bestimmten Fällen gleichbedeutend ist mit Beihilfe zum Selbstmord. So z.B. zitiert er den Fall von Derek Humphrey, dessen krebskranke Frau Jean ihn bat, ihr ein Mittel zu besorgen, das ihr Leben rasch und ohne Qual beenden würde. Er besorgte Tabletten und gab sie seiner Frau, die sie dann etwas später einnahm; bald darauf starb sie. (175)

Singer berichtet von einem anderen Fall, vom Fall George Zygmaniaks, der seit einem Motorradunfall vom Hals ab völlig gelähmte George und zudem – wie behauptet wird – an fürchterlichen Schmerzen litt; George Zygmaniak bat im Beisein des Arztes und seines Brunders darum, daß man ihn töten möge. Sein Bruder habe den Arzt und das Krankenhauspersonal gefragt, ob George überhaupt Aussicht auf Heilung habe. Die Antwort sei nein gewesen. Daraufhin schmuggelte er ein Gewehr ins Krankenhaus, fragte seinen Bruder, ob er damit einverstanden sei, und tötete ihn mit einem Schuß durch die Schläfe. (175f.)

Während sich die krebskranke Jean selbst tötete, im eigentlichen Sinn also Suizid beging, war der querschnittsgelähmte George nicht in der Lage, sich selbst zu töten und wurde getötet. Dies spielt für die Argumentation Singers keine Rolle, denn entscheidend für ihn ist, ob der Betroffene selbst den Wunsch äußert, getötet zu werden oder sich selbst zu töten, wenn sein Leiden keine Aussicht auf Heilung hat.

Euthanasie gilt nach Singer auch dann als freiwillig, wenn eine Person, während sie noch gesund ist, ein schriftliches Euthanasiegesuch verfaßt, für den Fall, daß sie infolge von Unfall oder Krankheit unfähig wird, eine Entscheidung über ihren eigenen Tod zu fällen, vorausgesetzt, daß – wie Singer es formuliert – keine Hoffnung auf Genesung besteht. (176) (In Wirklichkeit aber hofft der Mensch bis zum letzten Atemzug, wenn man ihm die Hoffnung nicht nimmt. In vielen Fällen kann darüber hinaus keine sichere Prognose gegeben werden, ob ein Leiden heilbar ist oder nicht.)

Bei der freiwilligen Euthanasie handelt es sich um die Tötung einer Person oder um die Beihilfe zur Tötung einer Person, obwohl ja die Person ein besonderes Recht auf Lebensschutz genießt. Singer argumentiert nun, daß die betreffende Person als rationales und seiner selbst bewußtes Wesen sich, d.h. freiwillig für den Tod entscheidet, im Hinblick auf die eigene Zukunft also dem Tod vor einem schmerzhaften und leidvollen Leben den Vorzug gibt, vorausgesetzt, daß keine Aussicht auf Heilung besteht. (Wer aber soll das entscheiden?)

Gesetzt den Fall, jemand ist unheilbar krank; er leidet unter unerträglichen, nicht zu lindernden Schmerzen und bittet seine Ärzte, sie mögen sein Leben beenden oder ihm ein Mittel geben, um sich selbst das Leben zu nehmen. In diesem Fall hält Singer es für ethisch gerechtfertigt, wenn Ärzte (oder andere Personen) den Wunsch von Patienten nach Erlösung von ihren Leiden erfüllen. (190f)

Ebenso wie man den „Wunsch weiterzuleben als Grund gegen das Töten gelten lassen muß“ (193), so argumentiert Singer, müsse man den „Wunsch zu sterben als Grund für das Töten gelten lassen.“ (193) Denn der Arzt bzw. die Angehörigen dürfen ihren eigenen Wunsch nicht über den des Patienten stellen; das gebietet das (utilitaristische) Prinzip der gleichen Erwägung aller Interessen.

Das Recht auf Leben, das einer selbstbewußten Person mit einer Vorstellung von seiner Zukunft zukommt, wird bei der freiwilligen Euthanasie nach Singer deshalb nicht verletzt, weil es ist „ein wesentliches Merkmal eines Rechts“ (193), „daß man, wenn man will, auf das Recht verzichten kann.“ (193) Indem der Wunsch auf Tötung geäußert werde, verzichte der Betreffende freiwillig auf sein Lebensrecht.

Darüber hinaus verlangt es das „Prinzip des Respekts vor der Autonomie“ (193), „rational handelnden Personen ihr eigenes Leben zu lassen, gemäß ihren eigenen autonomen Entscheidungen“ (193); „wenn aber rational handelnde Personen autonom entscheiden, daß sie sterben wollen, dann muß uns der Respekt vor der Autonomie dazu veranlassen, ihnen zu helfen, daß sie so handeln können, wie sie sich entschieden haben.“ (193) Auf jeden Fall hält Singer – wie auch andere Euthanasie-Befürworter – es „im hohen Maße bevormundend“ (197), sterbenden Patienten, wenn ihre Entscheidung frei und rational (als ob man unter den Bedingungen starker Schmerzen von Freiheit und Rationalität sprechen könnte) begründet ist, die Möglichkeit der Euthanasie vorzuenthalten. „Man würde den Respekt vor individueller Freiheit und Autonomie besser bewahren“ (197), so argumentiert Singer, „wenn die Euthanasie legalisiert und es den Patienten überlassen würde, zu entscheiden, ob ihre Situation unerträglich ist – wenn man ihnen ,,die Würde läßt, ihr eigenes Ende zu wählen.“ (197f.)

Damit wendet Singer das Recht auf Wahrung der Personenwürde und das Recht auf Leben zu einem Recht auf einen würdigen, selbstbestimmten Tod.

3.4.2. Nicht-freiwillige Euthanasie
Nichtfreiwillige Euthanasie ist für Singer dann gegeben, wenn ein Mensch „niemals die Fähigkeit hatte, zwischen Leben und Sterben zu wählen.“ (178) Das betrifft mißgebildete Kleinkinder oder auch ältere Menschen (erschreibt natürlich: ältere menschliche Wesen), die seit der Geburt geistig zurückgeblieben sind, kein Bewußtsein von sich selbst, kein Zukunftsbewußtsein und auch keine „distinkte“ Persönlichkeit haben. Euthanasie gilt auch dann als nichtfreiwillig (nach Singer aber ethisch gerechtfertigt, wenn ein Mensch „nicht jetzt, aber früher fähig war, zwischen Leben und Sterben zu wählen“ (178), sich aber früher über seine spätere Situation nicht geäußert hat, sich nun aber in einem dauerhaften Zustand ohne Bewußtsein und ohne Aussicht auf Genesung befindet.

Grundsätzlich gilt – und hier wird die absolut abscheulich-inhumane Gesinnung Singers deutlich -, daß die nichtfreiwilligen Euthanasie bei Kleinkindern, aber auch älteren Kindern oder Erwachsenen, die auf der geistigen Reifestufe eines Kleinkindes stehen, nichts Verwerfliches sei. Wir sehen hier, daß Singer sich zum Richter darüber aufschwingt, was als „unwertes“ Leben zu gelten hat, er selbst gebraucht den Ausdruck: „nicht lebenswert“ (181). (Zitat Singer:) „Der Einfachheit halber werde ich mich auf Kleinkinder konzentrieren, wobei sich alles, was ich über diese sage, auch auf ältere Kinder oder Erwachsene anwenden läßt, die auf der geistigen Reifestufe eines Kleinkindes verharren.“ (197)

Eunthanasie bei mißgebildeten Säuglingen: „Sie zu töten kann daher nicht gleichgesetzt werden mit dem Töten normaler menschlicher Wesen“ (179), weil sie für Singer nicht Personen sind, die über „Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein“ (179) verfügen und daher in einem bewußtlosen Zustand wie niedere Tiere existieren. Und so schlußfolgert er: „die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person.“ [Wie Singer sie definiert!] „Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.“ (188) Hier gibt es, so schreibt er, kein Recht auf Leben.

„Kein Säugling“, schreibt Singer weiter, „- mag er nun mißgebildet sein oder nicht – hat in gleichem Maß Anspruch auf das Leben wie Wesen, die fähig sind, sich selbst als distinkte Entitäten zu sehen, die in der Zeit existieren.“ (180) Hinzu kommt, daß Eltern oder auch Geschwister u.U. unglücklich darüber sein mögen, ein mißgebildetes Kind bzw. Geschwister zu haben. (vgl. 180)

Jedenfalls hält Singer eine nichtfreiwillige Tötung dann für gerechtfertigt,

1.   wenn ein Säugling, Kleinkind, ein älteres Kinder oder ein Erwachsener ohne Selbstbewußtsein und Sinn für Vergangenheit und Zukunft lebt, aufgrund einer Mißbildung oder infolge schwerer Krankheit das Leben „nicht lebenswert“ (118) erscheint (wenn also das Leid das Glück überwiegt, die Glückbilanz also negativ ist)

2.   wenn die Betroffenen, Eltern, Geschwister, Verwandte usw. (Pflegepersonal und Ärzte) nicht wollen, daß das behinderte Kind oder der Patient lebt (weil es/er als Belastung empfunden wird, die das Glück aller Betroffenen auf ein Minimum reduziert oder weil das behinderte Kind einem gesunden Kind, das die Glücksbilanz aller Beteiligten positiv machen würde, den Platz wegnimmt; in diesem Sinn betrachtet Singer Säuglinge als ersetztbar: „Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird.“ (183))

3.   wenn kein anderes Paar, etwa durch Adoption, die Pflege übernimmt.

Singer führt als Beispiel die sogenannte Spina bifida an (181), einen relativ häufigen (1:500) Geburtsfehler; Spina bifida ist eine Fehlentwicklung des Rückgrates; in schweren Fällen bleibt das Kind von der Hüfte an gelähmt und hat keine Kontrolle über Darm und Blase; Sina bifida ist oft verbunden mit einer Verlangsamung der geistigen Entwicklung. Singer zitiert Ärzte, die – wie er – der Meinung sind, „daß es falsch wäre, eine Operation vorzunehmen, um sie am Leben zu erhalten“ (181) und „daß ihr Leben (=  das Leben dieser Kinder) nicht lebenswert ist.“ (181) „Veröffentlichungen, die das Leben dieser Kinder beschreiben, stützen dieses Urteil.“ (181) Mit diesen herangezogenen „Meinungen“ einiger Ärzte rechtfertigt Singer auf der Basis von Nützlichkeitserwägung die Tötung dieser Kinder: Denn so (Zitat) „… legen utilitaristische Prinzipien den Schluß nahe, daß es richtig ist, solche Kinder zu töten.“ (181)

Denselben Gedankengang legt Singer für hämophile Kinder dar, was noch eine Steiderung seiner abstrusen und unmenschlichen Überlegungen darstellt, weil diese Erkrankung (wie eine Reihe anderer) die Lebensaussichten eines Kindes zwar „weniger glücklich erscheinen läßt, als die eines normalen Kindes, aber nicht so unglücklich, daß sie das Leben nicht lebenswert machen würden.“ (182) Hämophilie ist die sogenannte Bluterkrankheit …

 

 

4. Auflösung von Grundwerten durch Mystifizierung von Lebensprinzipien

 

Eine Zusammenfassung eines „wissenschaftlichen Artikels“ zur Frage der Euthanasie (Weiterführung von Flüssigeits- und Nahrungssubstitution bei sterbenden Menschen) soll zeigen, dass mystische Lebensphilosophien und -weltanschauungen, wie sie z.B im New Age gepredigt werden, in der heutigen Euthanasiedebatte das bisherige Verständnis von Leben und Tod verklären und aufgeweichen. Damit können aussenstehende Personen auf die bis anhin bewährte menschenwürdige Behandlung sterbender Menschen Einfluss nehmen, obwohl es sie nichts angeht. Der Tod eines Menschen ist gefährdet, nicht mehr die intimste Privatsache eines Patienten zu sein, die höchstens im engsten Familienrahmen Gegenstand der Diskussion ist und allfällig mit dem Seelsorger oder dem Arzt behandelt wird. Der Tod eines Menschen wird heute auf die Ebene eines gesellschaftlichen Problems gezerrt und so der natürlicher Respekt vor dem Sterbenden, seiner Intimität und die gebotene Zurückhaltung gegenüber dieser Privatsphäre missachtet. Dieser Vorgang ist charakteristisch für die heutige Zeit, in der zunehmend Werte zersetzt werden. Die dazu aus Holland importierte Euthanasiedebatte führt heute im Gesundheitswesen zu Zuständen, in denen bereits junges Hilfspflegepersonal (i.d

Die Diskussion um die Euthanasie, wie sie heute geführt wird, ist geprägt durch ein auffälliges Infragestellen bestehender Werte. Im Zeitalter des Werterelativismus werden Grundfeste menschlichen Denkens, Fühlens und Empfindens, obwohl sie sich im Zusammenleben sehr bewährt haben, in Frage gestellt.

In der Auflösung bewährter Werte in Zusammenhang mit dem Sterben stehen Ideologien, mystische Weltanschauungen wie z.B.New Age, Ökologiebewegung und andere, die versuchen, durch die Erhebung ihrer Ideologie zum alles erfassenden Mythos den Weg aus der Relativität heraus finden und so einen Anspruch auf Alleingültigkeit, ein Absolutheitsanspruch, zu erlangen. Die herkömmlichen Errungenschaften werden unter Berufung auf dieses grosse, übregeordnete Prinzip zunächst in Frage gestellt und dann als dem allgemeinen Prinzip zuwiderlaufend verworfen.

Die Sichtweise einer allumfassenden Ganzheit als abgeschlossenes, kosmisches Natursystem „über allem“ ist nicht mehr eine Philospophie unter anderen oder eine einfache Sichtweise in der pluralistischen Gesellschaft, sondern wird durch seine Definition als alles erklärendes Prinzipes zum Mythos erhoben, zum allgemeinen Lebensgesetz, dem alle unterworfen sein sollen. So steht schliesslich nicht mehr der Mensch im Zentrum des Denkens, sondern eben dieser Mythos, dieses neue Lebensgesetz.

Das Überstülpen eines Mythos, einer alles bestimmenden Ganzheitlichkeit über den Mensch, finden wir im Faschismus, in seiner bisher grausamsten Ausprägung im Nationalsozialismus und im Stalinismus. „Wir haben einen Mythos geschaffen, der Mythos ist ein Glaube, ein edler Enthusismus, er braucht keine Realität zu sein, er ist ein Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und Mut.“ (Mussolini, 1922). Ähnliche Zitate gibt es zum Nationalsozialismus in Deutschland.

Die Einführung oben genannter, allumfassender (zuweilen kosmischer) Weltbilder in der Euthanasiedebate finden sich bereits in Artikeln der medizinischen Fachwelt. Sie weicht das normale Empfinden gegenüber Leben und Tod, Sterben und Geburt auf.

An dem nun folgenden Beispiel kann schön gezeigt werden, wie die Begriffe Wirklichkeit, Leben, Sterben, Tod und Geburt in mystischer Weise umgedeutet werden. Hier wird ein ganz neues Verständnis von Menschen und dessen Leben eingeführt und endet schliesslich zur Umdefinition von Medizin als Wissenschaft bzw. deren Auftrag gegenüber dem Menschen. Es zeigt sich sehr deutlich, wie ein allumfassendes Prinzip dem Menschen und seiner Natur übergestülpt wird, um so neue Tendenzen in der Euthanasiefrage einzuführen.

 

 

4.1. Schritt: Definiton von Wirklichkeit

 

Es werden in zwei Wirklichkeiten unterschieden: eine materielle, sie wird im besagten Artikel erste Wirklichkeit genannt – und eine zweite, nennen wir sie der Einfachheit halber, spirituelle.

1. Zur materiellen Wirklichkeit: Diese Wirklichkeit entspricht sprachlich der Realität, sie beschreibt die Welt der Dinge, des Erwirkten. Davon gibt es viele: es gibt eine für Kinder, eine für Erwachsene, eine für Frauen, eine für Männer, für jeden Zustand, Umstand und biologischen Unterschied. Jede von diesen Wirklichkeiten haben ihre eigenen Gesetzte, die nicht auf eine andere projiziert werden dürfen (Wirklichkeit des Gesunden auf die des Kranken, des Erwachsenen auf die des Kindes, Frau – Mann etc.).Wer nun viele Wirklichkeiten erkennt nennt die Summe aller Erkenntnisse der Wirklichkeiten Wissen.

Dahinter gibt es eine zweite Wirklichkeit, die sich nicht wandelt und die immer gültig ist. Mit ihr Befassen sich die Philosophie und die Relgion. Weil wir sie nie ganz erfassen können, meinen wir, sie wandle sich, was sie durch alle Zeit hindurch aber nicht tut. Die zweite Wirklichkeit ist die eigentliche Wirklichkeit, sie beschreibt die Gesetzte des Wirkenden, das nicht wandelbar ist. Die Summe ihres Erkennens heisst Weisheit.

Ethik ist der Versuch, Wissen in der geistigen Dimension von Weisheit zu nutzen. Die ethische Grundarbeit ist: Neue Erkenntnisse, neues Wissen einzubauen auf dem Boden der Weisheit.

Das grosse Problem der Euthanasie ist, dass Lebende ihre Wirklickkeit auf den Sterbenden projizieren und so den Sterbenden, den Sterbeprozess nicht erfassen können. Dem ist so, weil die Instrumente der klassischen Medizin zur Erforschung dieser Grenzsitutation nicht ausreichen.

Kommentar: Man findet hier die Trenung in Materie und Geist, ein Geist, der als allumfassendes, zeitloses Prinzip, als Mythos vorkommt. Wir Menschen sind ihm unterworfen und sind unfähig, es ganz zu erkennen.

Um nun Leben und Tod „neu“ zu definiert werden, zwei neue Begriffe eingeführt: Die Polarität als kosmisches Prinzip und die Wandlung als Gesetz der Natur.

 

4.1.1. Polarität – ein kosmisches Gesetz
Alles ist polar, alles hat zwei Seiten, die nicht selten einander entgegengesetzt sind, sich aber durchaus ergänzen. Dies auch in der physiologischen Prozessen: Systole – Diastole, Einatmen – Ausatmen etc. Spiel der Polaritäten bewirkt Leben. Durch einseitige Sichtweise hat die Medizin falsche Pole definiert: Gesundheit gegen Krankheit, Leben gegen Tod. Gegenpol des Todes ist aber nicht das Leben, sondern die Geburt. Leben ist die Spannung zwischen diesen Polen im Sinne eines energetischen Prinzipes. Ohne Pole (Geburt – Tod) kein Leben.

Menschliches Leben ist sterblich oder es ist nicht. Geburt und Tod sind das gleiche, wie man beim Einzeller sieht (Zellteilung –> Tod der Mutterzlle, Geburt zweier Tochterzellen). Beim höheren Wesen ist die Geburt Eingang der Tod Ausgang, von der anderen Seite her gesehen ist die Geburt Ausgang und der Tod Eingang in das grössere Ganze. Daraus folgt, dass eine Medizin, die den Tod bekämpft, letztlich eine lebensfeindliche Medizin sein muss. Tod und Geburt, als Orte der Wandelung im grösseren Ganzen, können wir nie bekämpfen, sondern nur deren richtigen Zeitpunkt suchen. Die Gesetzte der Wandlung beinhalten v.a. da Loslassen des Alten, damit das Neue sich entfalten kann. Charakteristisch an diesem Prinzip ist der Umstand, dass man zuerst das Alte opfern bevor man das Neue kennt. Opfert man das Alte, schafft man Voraussetzungen für’s Neue (z.B. Sterben, Heirat, Pubertät).

Das Antiprinzip zum Leben ist eben das Sterben. Dies findet in unserem Körper dauernd statt, ohne dass wir es bewusst registrieren. Ebenso auf psychischer Ebene gibt es „Sterben“ und „Geboren-werden“, der Sinn von diesem Sterben ist Platzschaffen für Neues. Irgendwann kippt das System gesetzmässig auf die Seite des Sterbeprinzips, dann passieren Wandlungen, z.B. beim Abstillen, der Pubertät, dem ersten Liebeskummer etc. Für das Individuum bedeutet Sterben Rückzug aus den Gesetzen der Materie, Abschied von der materiellen Welt. Nahrung ist bezogen auf die materiellen Aspekte des Lebens, in Form von Materie. Im Sterbeprozess ist der materielle Aspekt am verlöschen un braucht keine Nahrung mehr. Die Nahrung ist dem Wandlungsprozess „Sterben“ hinderlich, weil man damit an der Körperlichkeit festhält. Wer ernährt, um Leid zu vermindern und das Leben zu verlängern, hat das Prinzip Sterben als Wandlung nicht verstanden. Bei der Beim Wandlungsprozess der Geburt spricht auch niemand von Leid für den Säugling. Wir projezieren beim Tod eines Mitmenschen unsere Empfindung auf ihn und erfassen ihn nicht. Dies geschieht, weil wir nur durch Projektion Empathie herstellen können und weil wir keine Kenntnis haben über das neue Gesetz des „Danach“. Unfähig zu Begleiten, weil wir am herkömmlichen Bild des Sterbens festhalten, praktizieren wir angesichts des Sterbenden keine heilende Medizin, sondern Sterbebehinderung, was das Einsetzten des neuen, nachfolgenden Prinzipes behindert, den Wechsel von einer Welt in die andere nicht zu lässt. Medizin soll die Kunst des Erkennens von Gesetzmässigkeiten des Menschen und deren Unterstützung sein. Weil das Gesetz des Sterbenden das Aufgeben des Körpers ist, Rückzug aus der Materie ist, braucht er weder Flüssigkeit noch Nahrung, sondern Begleitendes Mitgehen.

Umsetzung im Spital: Bei jedem neu ins Krankenheim eintretenden Patienten wird wird dessen Verhältnis zu Sterben und Tod angesprochen, um später eine Basis für Entscheidungen zu haben.Nahrung wird keinem aufgezwungen bzw. nicht entzogen, der sie wünscht. Flüssigkeit wird nur oral verabreicht, es sei denn dass ein Sterbender trotz intensiver Betreuung über Durst klagt. die Infusion wird der Magensonde vorgezogen, bei Tumorpatienten werden bei Schmerzen und Durst genug Schmerzmedikamente gegeben bzw. Flüssigkeit, letzteres aber nur in einem Ausmass, dass das Durstgefühl verschwindet, aber die Vorteile der Dehydrierung nicht leiden.

Mit einbezogen in die Entscheidungen der Sterbenden werden neben dem Sterbenden, die Angehörigen, Aussagen des Sterbenden aus früheren Zeiten( mündlich oder schriftlich), Wahrnehmungen des Pflegepersonals und der Ärzteschaft. Entscheide werden gemeinsam getroffen, die Verantwortung liegt beim Ober- und Chefarzt. Im Zweifelsfalle, ob nun der unwiderrufliche Sterbeprozess begonnen hat, wird für das körperliche Leben entschieden.

 

 

5. Schweiz

 

5.1. Rechtslage

 

Wie wir von Holland gehört haben, handelt es sich bei Euthanasie um die vorsätzliche Tötung des Patienten durch den Arzt. Holland hat die Unterscheidung zwischen Sterbehilfe und Euthanasie fallen lassen. Heute gilt dort als Euthanasie nur, wenn der Arzt aktiv und auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten diesem ein tödliches Mittel verabreicht.***

In der Schweiz wird zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe unterschieden. Passive Sterbehilfe bedeutet „Unterlassen lebensverlängernder ärztlicher Massnahmen an unheilbaren Kranken, die dem Tode nahe sind und schwer leiden.“[68] Unter aktiver Sterbehilfe versteht der Nationalrat Tötung des Patienten.

Diese sogenannte aktive Sterbehilfe ist in der Schweiz ganz eindeutig ein Straftabestand und wird auch nicht so schnell ohne Gesetzesänderung möglich werden. Auch Tötung auf Verlangen ist unter Strafe gestellt. Wenn jedoch das Verlangen sehr eindringlich ist und der Täter aus Mitleid handelt, ist eine gewisse Strafmilderung möglich. Die Möglichkeit der Strafmilderung wurde bei der letzten Revision 1990 noch enger als bis dahin gefasst. Beim Gesetzgeber herrscht also einhelliger Konsens darüber, dass es keine Entwicklung in Richtung holländische Zustände geben darf.

Für die passive Sterbehilfe hat der Gesetzgeber in der Schweiz einen gesetzlichen Rahmen gespannt, der zum einen die sogenannte Garantenstellung des Arztes umfasst. Das heisst: Wenn ein Patient sich an den Arzt um Hilfe wendet, stellt dies juristisch für den Arzt ein Behandlungsauftrag dar, und der Arzt ist verpflichtet, alles „in seinen Kräften stehende zu unternehmen, um Gesundheit und Leben des Kranken zu stützen und zu wahren. (…) Strafbarkeit oder Straflosigkeit dieses Vorgehens hängen davon ab, ob die Garantenpflicht verletzt wird oder nicht.“[69]

Bei der Abschätzung, ob der einzelne Arzt in einem bestimmten Fall seine Garantenpflicht verletzt oder nicht, wirft zwei Probleme auf: Erstens die Frage, was der Arzt tut und tun darf, wenn der Patient zurechnungsfähigi ist nd sich klar äussern kann, ob er eine Behandlung wünscht oder nicht. Hier hat der Arzt den Willen des Patienten zu respektieren. Daher ist er auch ihm gegenüber aufklärungspflichtig. Zweitens die Frage, was der Arzt tun oder nicht und darf, wenn der Patient nicht in der Lage ist, sich zu äussern. Hier muss der Arzt zum Vorteil des Patienten und nach dessen mutmasslichem Willen handeln. Das bedeutet, der Arzt muss nach bestem Wissen und Gewissen einschätzen, was der Patient vernünftigerweise wollen würde, wenn er sich äussern könnte.

 

 

5.2. Lebenswille

 

Damit sind wir am entscheidenden Punkt der Eutahnasiedebatte angelangt: Wenn der Arzt einschätzen soll, was der mutmassliche Wille eines nicht ansprechbaren Patienten sei, dann geht die heutig Rechtsauffassung des Kanton Zürich „in Übereinstimmung mit der allgemeinen Lebenserfahrung aus, dass der Wille des Menschen grundsätzlich auf das Fortleben gerichtet ist. Dementsprechend verpflichtet auch § 12 Abs. 2 Gesundheitsgesetz Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Hebammen in dringenden Fällen Beistand zu leisten. § 41 Gesundheitsgesetz verpflichtet die Krankenhäuser, Personen aufzunehmen, die dringend eine Krankenhausbehandlung benötigen. Das kantonale Straf- und Vollzugsgesetz bedroht in § 6 mit Busse oder Haft, ´wer es unterlässt, einem Menschen in Lebensgefahr zu helfen, obschon es ihm den Umständen nach zugemutet werden kann.´(Mit den gleichen Strafen bedroht im übrigen der Paragraph auch: ´…wer andere davon abhält, Nothilfe zu leisten oder sie dabei stört.´)“[70]

In dieser Grundauffasung besteht der bis heute geltende ethische Konsens unter der Ärzteschaft. Er beruht auf der Ethik des Hippokratischen Eides, der Tötung des Kranken verbietet, weil der Wunsch zu leben dem Menschen bis zum Tode natürlich ist. Um es mit den Worten des Philosophen Immanuel Kant zu sagen: Die Menschen möchten zwar „gern zwei Wünsche zugleich tun: nämlich lange zu leben und dabei gesund zu sein; aber der erste Wunsch hat den letzteren nicht zur notwendigen Bedingung: sondern er ist unbedingt. Laßt den Hospitalkranken Jahre lang auf seinem Lager leiden und darben, und ihn oft wünschen hören, daß ihn der Tod je eher je lieber von dieser Plage erlösen möge; glaubt ihm nicht, es ist nicht sein Ernst. Seine Vernunft sagt es ihm zwar vor, aber der Naturinstinkt will es anders. Wenn er dem Tode, als seinem Befreier …. winkt, so verlangt er doch immer noch eine kleine Frist, und hat immer irgend einen Vorwand zur Vertagung“.[71] „Der Mensch pflanzt seine Hoffnung aufs Grab“, wie Herr Liebling dies einmal formuliert hat.

In Fällen, wo zum Beispiel der sterbende Patient unzumutbare Schmerzen leiden würde, und es nicht möglich wäre, diese medikamentös zu dämpfen, erlischt die Pflicht des Artes auf Verlängerung dieses Zustandes. Selbstverständlich ist eine aktive Verkürzung des Lebens – sie wäre Tötung – hier ausgeschlossen, denn kein Mensch hat das Recht, sich zum Herr über das Leben eines anderen zum machen. Die Schmerzbehandlung ist in den zivilisierten Ländern heutzutage aber so weit fortgeschritten, dass die „Befürchtungen mancher Menschen, am Lebensende schweren Schmerzzuständen preisgegeben zu sein (…) durch korrekt angewandte Palliativmedizin gegenstandlos (werden).“[72]

Anlässlich der Revision von Artikel 114 waren der Gesetzgeber und die an der Vernehmlassung beteiligten gesellschaftlichen Personen, Gruppen, Institutionen und Verbände der Auffassung, „die Zulassung passiver Sterbehilfe hänge so stark von den Umständen des Einzelfalls ab, dass eine befriedigende, allgemeine Rechtsnorm unmöglich sei und nur scheinbare Rechtssicherheit zu bieten vermöchte. Welche Massnahmen unerlässlich seien und welche unterlassen werden dürfen, hat vielmehr der Arzt in eigener Verantwortung unter Berücksichtigung der Gegebenheit des Einzelfalls zu entscheiden.“[73]

Dem Arzt wird hiermit ausdrücklich die Verantwortung übergeben, nach fachlichem Wissen und nach seiner ethischen Überzeugung auf Grund eines Gewissensentscheides die Grenze zu bestimmen, wann er die Behandlung eines Sterbenden abbricht. Damit ist die Ethik des Ärztestandes und die innere Bindung des einzelnen Arztes gegenüber dem unbedingten Schutz des Lebens die entscheidende Bariere gegen solche Grauzonenphänomene, wie wir sie von Holland berichteten. Große Bedeutung haben daher auch die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der mediznischen Wissenschaften. Die Kantone Basel–Stadt, Basel–Land, Luzern, Nidwalden, St. Gallen und Zürich haben ihre Beachtung ausdrücklich gesetzlich oder auf dem Verordnungswege geregelt. In Zürich bedroht sogar die Verordnung über die kantonalen Krankenhäuser vom 28. Januar 1981 Zuwiderhandlungen gegen die Richtlinien der Akademie mit Strafe. Es herrscht jedoch unter Schweizer Ärzten ein allgemeiner Konsens, und die Richtlinien der Akademie werden allgemein in der ärztlichen Berufsausübung auch dort beachtet, wo sie nicht ausdrücklich gesetzlich oder auf dem Verordnungswege für verbindlich erklärt worden sind.[74]

 

 

5.3. „Freitod“

 

In gewissem Masse unbefriedigend gesetzlich geregelt ist in der Schweiz die Frage der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord. Artikel 115 StGB stellt zwar beides unter Strafe, und zwar, wenn die Beihilfe aus „selbstsüchtigen Beweggründen“ geschieht. „Wer einem sterbenden Menschen auf sein ernstliches und dringendes Verlangen ein tödliches Medikament verabreicht, läuft Gefahr bestraft zu werden, während derjenige, der ein todbringendes Mittel bloss in Reichweite des Patienten hinstellt, straflose Gehilfenschaft zum Selbstmord leistet, sofern er nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen gehandelt hat.“[75]

 

 

5.4. Legalitätsprinzip

 

Was die holländische Entwicklung in der Schweiz vielleicht etwas schwerer macht, ist die Tatsache, dass, anders als in Holland, im Schweizer Strafgesetzbuch das Legalitätsprinzip auf eidgenössischer Ebene festgeschrieben ist.

Es besteht heute international unter den modernen Demokratien ein nahezu einstimmiger Konsens über die Grundprinzipien des Rechtsstattes. Wie auch Euthanasiebefürworter zugestehen müssen, ist unter diesen Gundprinzipien das „A und O … das Legalitätsprinzip, die Herrschaft des Gesetzes.“[76] Die von den Bürgern gewollte und anerkannt Herrschaft des Gesetzes dient dazu, die Willkür unter den Menschen zu neutralisieren. Keiner soll „legibus absolutus“, über dem Gesetz stehend, handeln dürfen. Sonderrechte sind verboten. Nicht Macht einzelner, die immer persönlich ist, soll im Rechtsstaat herrschen, sondern die Macht des Gesetzes, welche wesentlich unpersönlich ist. Diese Macht ist allgemeingültig und gilt auch für den Gesetzgeber selbst. Seine Rechtfertigung zieht diese Verpflichtung aller Bürger auf einen Gesetzesbau aus der Einsicht, dass es übergeordnete Normen gibt, die in den Grund– und Menschenrechten festgeschrieben sind und die die unverzichtbare Basis alles anderen Rechts sein müssen. Der Gesetzgeber ist daher in der Gesetzgebung nicht frei, sondern an diese überpositiven Normen gebunden. Es handelt sich hier um das Prizip nulla poena sine lege, das die modernen Demokratien aus dem römischen Recht übernahmen: „Keine Strafe ohne Gesetz. Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich bedroht.“ lauten daher die ersten Worte des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Dieser Grundsatz der Legalität stammt aus Artikel 4 der Schweizerischen Bundesverfassung und ist eine Verfassungsnorm, die ins Gesetzesrecht übernommen worden ist. Die Europäische Menschenrechtskonvention schreibt dieses Prinzip in ihrem Artikel 7 fest.

Einen absoluten Schutz bietet sich aber auch hier nicht, wie das Beispiel der Drogenlegalisierung und auch die jüngste Entwicklung in der Terror- und Radikalenszene um das „Wohlgroth“ zeigen. Gegen geltendes Recht hat man aus opportunistischen. politisch Erwägungen im Kanton Zürich die Strafverfolgung bei Drogendelikten immer mehr ausser Kraft gesetzt. Gestützt und möglich wurde dies durch eine massive Desinformationskampagne, infolge der Andersdenkende mundtot gemacht und die Bevölkerung geistig umerzogen wurde, so dass sich gegen die Ausserkraftsetzung des geltenden Rechts zu wenig Stimmen erheben.

Es dürfte daher klar geworden sein, dass eine holländische Entwicklung auch in der Schweiz nicht auszuschliessen ist. Ob sie zu stoppen sein wird, hängt von der allgemeinen geistigen Entwicklung ab.

 


 

Anmerkungen

[1]      Emerson, Haven. Wer ist heilbar? In: Deutsche AIDS Hilfe. Sich das Leben nehmen lassen, S. 5f.
[2]      Spaemann, Robert. Sind alle Menschen Personen?. In: Cranach, Michael von  et al. . Euthanasie. Sind alle Menschen Personen? Schaffhausen 1992
[3]      Weingart, Peter. Eugenik – Eine angewandte Wissenschaft. Utopien der Menschenzüchtung zwischen Wissenschaftsentwicklung und Politik. In: Lundgreen, Peter. Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt/Main 1985, S. 314.
[4]      British Medical Association. War Crimes and Medicine, June 1947.
[5]      Alle NZZ–Zitate: NZZ vom 2. November 1993, S. B 3.
[6]      Herderlijk schrijven over Lijden en Sterven von zieken. Vgl. Eser, Albin/Koch Hans–Georg (Hrg.) Materialien zur Sterbehilfe. Max–Planck–Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg/Br. 1991, S. 454
[7]      Euthanasie en pastoraat. Vgl. Eser, Albin/Koch Hans–Georg (Hrg.) Materialien zur Sterbehilfe. Max–Planck–Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg/Br. 1991, S. 454.
[8]      Vgl. Centraal Bureau voor de statistieck (CBS). statistisch Jaarboek 1990. 1990, S. 46.
[9]      Eser, Albin/Koch Hans–Georg (Hrg.) Materialien zur Sterbehilfe. Max–Planck–Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg/Br. 1991, S. 454
[10]    Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. 1.
[11]    Eser, Albin/Koch Hans–Georg (Hrg.) Materialien zur Sterbehilfe. Max–Planck–Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg/Br. 1991, S. 454
[12]    Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. 1.
[13]    Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. 1.
[14]    Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. 6.
[15]    Attali, Jacque. La medicine en accusation. L´Aveniert de la vie. Ed. Segjers. Paris. Zitiert nach: The New York Times vom 30. Oktober 1991.
[16]    Zahlen dieser Umfrage nach: Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. 1; In: The Hastings Centre Report. Jan./Febr. 1989.
[17]    Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. 1.
[18]    Eser, Albin/Koch Hans–Georg (Hrg.) Materialien zur Sterbehilfe. Max–Planck–Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg/Br. 1991, S. 456
[19]    Eser, Albin/Koch Hans–Georg (Hrg.) Materialien zur Sterbehilfe. Max–Planck–Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg/Br. 1991, S. 458
[20]    van den Berg, Hendrik. Medische Macht en medische Ethik. 25. Auflage. Nijkerk 1985. (ISBN 90 266 0009 7)
[21]    van den Berg, Hendrik. Medische Macht en medische Ethik. 25. Auflage. Nijkerk 1985, S. 28.
[22]    Vgl. Meer Nederlanders voor Active Euthansie. NCR Handelsblad, 13. Januar 1986.
[23]    Fenigsen, Richard. A Case against Dutch Euthanasia. hrg. von The Medical Education Trust. Liverpool [1989], S. ***
[24]    Tolmein, Oliver. Wann ist der Mensch ein Mensch? München/Wien 1993, S. 95.
[25]    Gunning, K. F. Euthanasie in Holland, S. 2.
[26]    Wenn nicht anders vermerkt, sind die folgenden Zitate und Informationen über den Fall diesem Artikel entnommen.
[27]    Schätzung von Dessauer, Gunning, Rutenfrans und van der Sluis
[28]    Vgl. Hilhorst, H. W. A. Euthanasia in the Hospital (1983) untesuchte in 8 Krankenhäusern als erster unfreiwillige Euthanasie. Richard Fenigsen untersuchte Crypthanasie an der  Neurologischen Abteilung des Rotterdamer Stadtspitals.
[29]    Gunning, K. Remmelink and after, S. 4.
[30]    Gunning, K. Remmelink and after, S. 4.
[31]    Gunning, K. F. Euthanasie in Holland, S. 1.
[32]    „For, as nobody can be expected to whitness against himself, the report will always be acceptable and no doctor will ever be punished. Moreover, the cases of overdosing or withholding treatment, even with the intention to kill the patient, will not be reported at all, as the government considers these cases to be ‚normal medical practice‘“
[33]    Report of the Ministery of Justice and Ministery of Welfare, Public Health and Culture. Band I und II.
[34]    The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 1.
[35]    Remmelink-Bericht. Band 1, S. 15 und Band II, S. 16. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[36]    Remmelink-Bericht. Band II, S. 46. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[37]    Gunning, K. In: The Lancet. Vol. 338. 19. Oktober 1991, S. 1010ff.
[38]    Gunning, K. Remmelink and after.

Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle folgenden Informationen über den Remmeling-Bericht hierher.
[39]    Gunning, K. F. Euthanasie in Holland, S. 2.
[40]    Gormally, Luke. Leserbrief. In: The Times vom 30. Oktober 1991.
[41]    Remmelink-Bericht. Band 1, S. 13. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[42]    Gunning, K. F. Euthanasie in Holland, S. 3.
[43]    Gunning, K. F. Euthanasie in Holland, S. 3.
[44]    Gunning, K. F. Euthanasie in Holland, S. 3.
[45]    Klijn rechnet diese Fälle in seiner Deutung der Lage nicht, bestätigt aber die anderen Zahlen Gunnings. Er nennt 2´300 Fälle von Tötung auf Verlangen, 1000 Fälle von Tötung ohne Verlangen (nicht urteilsfähige Patienten) und 400 Suizidhilfen. Zusammen macht dies 3´700 Fälle aktiver Euthanasie. 3´700 zu viel!
[46]    Remmelink-Bericht. Band I1, table 6.7, S. 13. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[47]    Remmelink-Bericht. Band I1, table 6.7, S. 52. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[48]    Remmelink-Bericht. Band I1, table 6.8, S. 52. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[49]    Remmelink-Bericht. Band I, S. 17. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[50]    Remmelink-Bericht. Band I, S. 18. Zitiert nach: The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 2.
[51]    The Dutch Physician´s Protest, translated by the late Conrad Baars M. D. in The Netherlands in Time of War.
[52]    Vgl. The Medical Education Trust. Euthanasia. The Hippocratic Tradition and Trust, S. 1.
[53]    Glyn, S. Human Value – or the Scrap–Heap. ALERT Information on Euthanasia. London o. J., S. 1.
[54]    Glyn, S. Human Value – or the Scrap–Heap. ALERT Information on Euthanasia. London o. J., S. 2.
[55]    Glyn, S. Human Value – or the Scrap–Heap. ALERT Information on Euthanasia. London o. J., S. 2f.
[56]    Fenigsen, R. A Case Against Dutch Euthanasia. In: The Hastings Report. Januar/Beruar 1989.
[57]    Glyn, S. Human Value – or the Scrap–Heap. ALERT Information on Euthanasia. London o. J., S. 3.
[58]    Segers, J.H. Elderly Persons on the Subject of Eithanasia. In: Issues in Law ansd Medicine. 1988 3: 407-24.
[59]    Levin, Bernhard. Under Patient´s Order – to Kill. In: The Times vom 11. Dezember 1989.
[60]    Vgl. Report of the House of Commons Social Services Committee (HC 123) on the working of the Conscience Clause of the Abortion Act, 24. Oktober 1990.
[61]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 4.
[62]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 4.
[63]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 4.
[64]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 4.
[65]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 5.
[66]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 6. [eigene Hervorhebung]
[67]    Europäisches Parlament. Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über Sterbebegleitung, S. 4.
[68]    Botschaft des Bundesrates vom 26.6.1985: Reform des Artikel 114 StGB; Zitiert nach Eser, S. 640.
[69]    Bericht der Kommission des Nationalrates über die passive Sterbehilfe vom 27.8.1975; Zitiert nach: Eser, S. 629.
[70]    Direktion des Gesundheitswesens des Kantons Zürich. Mitteilung des Kantonsärztliche Dienstes zu Freitoderklärungen. vom April 1988.
[71]    Kant, Immanuel. Der Streit der Fakultäten. In: Ders. Werkausgabe. hrg. von Wilhelm Weischedel. Band XI. Zürich 1977, S. 373.
[72]    Medizinisch ethische Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und cebral schwerts geschädigter Patienten (Entwurf). In; Schweizerische Ärztezeitung 1993 Band 74, S. 1492.
[73]    Botschaft des Bundesrates vom 26.6.1985: Reform des Artikel 114 StGB; Zitiert nach Eser, S. 640.
[74]    Vgl. Heine Günther. Sterbehilfe als rechtliches Problem: Die Situation in der Schweiz. In: Juristische Rundschau 1986, S. 314–319.
[75]    Bericht der Kommission des Nationalrates über die Sterbehilfe für unheilbar Kranke vom 3.11.1978, BBL 1978 Bd. II, S. 1229–1538. Zitiert nach: Eser, S. 636.
[76]    Vgl. zum Beispiel: Kehl, Robert. Rechtsstaat und Sterbehilfe. In: Atrott, Hans Henning/ Pohlmeier, Hermann (Hrg.) Sterbehilfe in der Gegenwart. Regensburg 1990, S. 65ff.)

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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