Der «reuige Sünder»
Zeit-Fragen, Dezember 2023 ∙ Moritz Nestor
Walters Grossvater, 1920 geboren, schlug seine Kinder wegen geringster Anlässe, oft auch ohne Anlass. Er stammte aus einem armen Bauern-Geschlecht aus der Innerschweiz und war Alkoholiker. Sein Sohn, Walters Vater, 1948 geboren, ein «Büezer» und auch Alkoholiker, seitdem Walter denken konnte, brachte zum Kummer von Walters Mutter regelmässig den Zahltag in der Wirtschaft durch. Im Rausch schlug Walters Vater die Mutter regelmässig, wenn er nachts besoffen nach Hause kam. Walters Mutter war eine gütige Frau, liebte ihren Walter und ging putzen, um ihr Ein und Alles vor dem Elend zu bewahren. Walter liebte sie. Den Vater hasste er schon früh. Die Leute im Dorf sahen dem Elend des Alkoholikers zu, niemand half. Sie verachteten ihn. Der Pfarrer schwieg.
So wuchs Walter auf im Hass gegen den Alkoholiker-Vater. Er hörte nachts, wenn es wieder einmal soweit war, in seiner Kammer, während sich die Schwester die Decke über die Ohren zog, den nächtlichen Szenen zu, war ängstlich empört, was der Vater für ein böser Mann sei. Als er grösser wurde, stellte er sich schützend vor die Mutter und steckte – vor Wut empfindungslos – die Schläge ein, die doch der geliebten schwachen Mutter galten. Bis der Vater abliess. Danach lag Walter lange wach, und der Hass auf den Vater frass in ihm.
Erst als Walter auf die Vierzig zuging, sollte er die Hintergründe der nächtlichen Szenen seiner Kindertage erfahren. Damals, am Stammtisch, erzählte man ihm, wo sich des Vaters Zahltage in Bier und Schnaps verwandelten, hatten sich die Saufkumpane über den Betrunkenen lustig gemacht: «Deine Alte geht zu anderen.» Lachten über den Trottel, wie sie einfältig dachten. Walters Vater war labil, glaubte dem Spott. Kam er nach Hause, kochte er und drang lärmend auf die arme Mutter mit Fäusten ein, besinnungslos vor Eifersucht.
Mit 13 war Walter stark genug. Schlug ab da zurück, wurde überhaupt zum Schläger, liess sich von niemandem mehr etwas sagen. Nicht nur zu Hause war er untragbar: Wenn er nicht bekam, was er wollte, flogen die Fäuste. Langes Reden war nicht seine Sache. Er kam schliesslich für drei Jahre in eine geschlossene jugendpsychiatrische Anstalt, denn auch in der Schule ging es nicht mehr mit ihm.
Das war ein Glück. Hier fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben innerlich richtig erfasst, verstanden und geborgen. Er erholte sich und schloss eine Lehre ab. Aus dem «schwierigen», rechthaberischen Schläger wurde ein tüchtiger Berufsmann, der sich nach und nach auch in Gemeinde, Kanton, politischen Vereinen und Parteien emporarbeitete. Doch wenn er sich irgendwo ehrgeizig bis zur höchsten Spitze emporgearbeitet hatte, verlor er irgendwann plötzlich das Interesse und suchte sich ein anderes Betätigungsfeld, um wieder von «unten» anzufangen. Auch wenn er im Heim gelernt hatte zu reden, statt zu prügeln, so blieb er doch zeitlebens rechthaberisch und geltungsbedürftig, überzeugt, der Einzige, Grösste und Beste sein zu müssen.
Seit Kindertagen hatte Walter seinen Vater gehasst, hätte ihn oft umbringen können. Nie hatte er so werden wollen wie «der». Dieser Hass verliess Walter auch nicht, als er längst erfolgreich geworden war. Entdeckte er aber an sich Verhaltensweisen, die er mit dem Vater gemeinsam zu haben schien, lehnte er sich heftig ab. Dann ging es ihm jeweils länger nicht gut. Jahrelang wollte er sich nicht eingestehen, dass er, mehr als ihm lieb war, des Vaters Gewalttätigkeit, dessen Rechthaberei und Dominanz gelernt hatte.
Mit 30 heiratete Walter als erfolgreicher Geschäftsmann eine Kollegin und liess sich vasektomieren, denn er wollte keine Kinder. Er hatte Angst, ein schlechter Vater zu sein.
Eines Tages erfuhr Walters Vater von der Vasektomie. Leicht angetrunken trat er im Affekt dem Sohn zwischen die Beine. Walter, der lange im Sicherheitsdienst gearbeitet und Selbstverteidigungstechniken und Beherrschung gelernt hatte, warf – besinnungslos vor Schmerz – den Vater zu Boden und zischte dem Besoffenen ins Ohr: «Wenn Du jetzt nicht nachgibst, bringe ich dich um.» «Ich hätte es getan. Gott sei Dank hat der Vater nachgegeben. Wir sind nur knapp einer Katastrophe entgangen», erklärte Walter mit belegter Stimme
Der Vater erstattete Anzeige. Die Mutter und Walter sagten vor Gericht gleich aus, und der Fall wurde niedergeschlagen. «Ab da habe ich den Vater nicht mehr gehasst. Nur noch verachtet», sagte er. «Ich habe ihn zwanzig Jahre gemieden. Wollte diesen Mann nicht mehr sehen.» Mit seiner geliebten Mutter hielt er die Beziehung treu.
In den vielen Jahren fühlte der ständig nach oben strebende, aber nie mit seinen Erfolgen zufriedene Walter, mal mehr, mal weniger deutlich, dass ein «schwarzer Fleck» sein täglicher Begleiter war: «Immerhin», kam es ihm dann und wann spontan in den Sinn, «es ist doch mein Vater.»
Er war schon fünfzig geworden, da war eines Tages gegen Jahresende, über lange Jahre hinweg ein Entschluss in ihm gereift. «Das war nicht aus Überlegung», betonte er, es war eine lange gärende intuitive Tat. Ich wusste: Das tue ich jetzt. Ehe er stirbt.» Er suchte wenige Tage vor Heiligabend seinen Vater auf, bot dem alten Mann die Hand, die dieser staunend ergriff, und vergab ihm. Dem alten Mann seien die Tränen nur so herabgeronnen, und er habe zu Walter mit erstickter Stimme gesagt, berichtete dieser: «Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk.»
«Ich wusste es schon lange, dass es der Hass auf ihn war, der damals böse gemacht hat. Aber wissen Sie», meint er, «wir haben jetzt so lange über alles geredet, Sie haben es mir immer vor Augen gehalten, und da ist mir immer klarer geworden: Mit meinem Hass auf ihn stelle ich mich ja sozusagen auf eine Stufe mit ihm, der immer geschlagen hat. Ich kann doch nicht das, was ich nicht will, dass er es tut, selbst machen. Ich habe ihn ja gerade wegen der Gewalt hassen gelernt. Und jetzt ist der schwarze Fleck weg.»
Walter hat sich mit einer bewundernswerten seelischen Kraft aus dem Hass herausgearbeitet. Er hatte sich unausweichlich innerlich dazu gedrängt gesehen, seine Lebenslüge aufzugeben. Er ertrug seinen «dunklen Schatten» nicht mehr. Denn er wusste, er ist «immerhin der Vater».
Und er war längst über seinen Vater hinausgewachsen und hatte verstanden, wie sehr der Vater von den Saufkumpanen aufgestachelt worden war und daher gegen die Mutter gewalttätig wurde. Auch dass der Vater nicht schlug, weil er Walter gehasst hatte oder «böse» war, lernte Walter durch die Hilfe eines Psychologen. Aus dem «bösen» Vater, für den Walter ihn immer gehalten hatte, war längst in Walter ein im Stich gelassener Alkoholiker geworden, dem niemand half und auf dessen Kosten man sich lustig machte und Geld verdiente. So entschloss Walter sich, lieber seinen Stolz und Hass – die eine mit «guten Gründen» genährte Lebenslüge waren – aufzugeben, als weiter darunter zu leiden. Wer hasst, ist das erste Opfer des Hasses, erkannte er. Schliesslich siegte in ihm die Erkenntnis der wahren Hintergründe von Vaters Gewalt über seinen alten kindlichen hassenden Stolz. Zur ehrlichen Selbsterkenntnis gedrängt, kehrte er innerlich um und begann, sich aus den Niederungen des Lebens, aus dem Hass, herauszuarbeiten. Er wollte Mensch, nicht Unmensch sein. Aus sich selbst herauswollte er eine neue Richtung im Leben und hat ihm eine neue Richtung gegeben.
Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, schreibt 1927 in der Einleitung seines Buchs «Menschenkenntnis»:
«Wirkliche Menschenkenntnis wird bei unserer mangelhaften Erziehung heute eigentlich nur einem Typus von Menschen zukommen, das ist der ‹reuige Sünder›, derjenige, der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist. Selbstverständlich kann das auch jemand anderer sein, insbesondere jener, dem man es demonstrieren konnte, oder dem die Gabe der Einfühlung ganz besonders gegeben ist. Der beste Menschenkenner wird aber sicher der sein, der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte. Fragen wir uns, wieso das kommt, dann müssen wir zugeben, dass ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muss. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.»
Die Individualpsychologie lehrt, dass «die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.»
Das lehrt uns Walters lebendes Beispiel: Wir Menschen sind keine «Reiz-Reaktions-Wesen», keine genital-gesteuerte «Triebwesen», keine «lebenden Systeme», kein «Produkt neuronaler Ströme», kein «Reflex der ökonomischen Verhältnisse», kein berechenbarer «Kosten-Nutzen-Maximierer». Unsere seelischen Probleme sind nicht durch «Gene», «defekte» Hirnstrukturen, Synapsen oder Nervenleitungen, aber auch nicht durch Hormon- oder Stoffwechselstörungen oder die ökonomischen «Produktionsverhältnisse» determiniert. In uns ist innerer Wandel möglich, wie Alfred Adler schrieb, «wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt.» Wir sind fähig, unsere starken natürlichen moralischen Anlagen der Nächstenliebe und gegenseitigen Hilfe zu erkennen und unsere Lebensführung in Übereinstimmung mit ihnen zu formen und ihr eine andere, bessere und menschlichere Richtung zu geben – wenn wir den Hass überwinden.
Tiefenpsychologische Menschenkenntnis
Einen Menschen aber in seiner Wesensart zu erfassen ist lediglich demjenigen möglich, der den Menschen um seiner selbst willen studiert, vielleicht ist sogar ein grundlegendes Verstehen nicht abtrennbar von dem Wunsche oder der Neigung, dem andern zu helfen, ihm zu verhelfen, sein wahres Wesen zu realisieren. Menschenkenntnis darf nicht zu einem Gesellschaftsspiel werden, zu einer oberflächlichen Belustigung, in der man dem Nachbarn «Fehler» aufzeigt oder die Maske vom Gesicht zieht; noch weniger darf sie zu einem Behelf der Selbstüberhebung werden, worin man durch die Einsicht in fremde Mängel sich selbst der Mangelhaftigkeit überhoben glaubt. Es mag vielleicht moralistisch klingen, aber man kann tatsächlich die Menschen nur verstehen, soweit man sie liebt; und man wird sie besser lieben, wenn man sie besser versteht. Das Grundgefühl eines echten Menschenkenners muss die Achtung vor der Fremd-Persönlichkeit sein, eine Haltung frei von richterlichen und moralistischen Intentionen: Nichts ist schwerer für den Menschen als solch eine vorurteilsfreie Begegnungsfähigkeit, und daher rührt der psychologische Zusammenhang, dass jene die guten Menschenkenner sind, die selbst schon in grossen Verstrickungen von Schuld, Versuchung oder innerer Not gestanden haben; die «reuigen Sünder» haben – wie Alfred Adler hervorhebt – im Aufbau der europäischen Moral (im Guten wie im Schlechten) eine hervorragende Rolle gespielt. Fassen wir das Problem sachlicher an, so ist es offenbar so, dass eigene Not, sofern sie überwunden ist, die Augen erst öffnet für die grosse Mühe, welche die Menschen mit ihrem Leben haben: eine Einsicht, die uns versöhnlich und milde macht und uns den Wert des Menschen an sich, gleichviel mit welchem Makel er behaftet ist, vor das Bewusstsein bringt.
Aus: Liebling, Friedrich. Tiefenpsychologische Menschenkenntnis, in: Liebling, Friedrich. Aufsätze, Zürich 1992, S. 33ff. Zuerst erschienen in: Psychologische Menschenkenntnis. 1/1964-65, Seiten 210-218
Einsicht in den eigenen Werdegang und damit innere Freiheit gewinnen – Zu den Möglichkeiten tiefenpsychologischer Menschenkenntnis
Die Methode ist die freie Aussprache zwischen Psychotherapeut und Ratsuchenden; sie untersuchen gemeinsam als gleichwertige Gesprächspartner die Nöte und Schwierigkeiten, die letzteren in seinem Leben und Fortkommen hemmen. Mit grossem Takt und umfassendem Wissen über die seelische Problematik ausgestattet, ist der Seelenarzt in der Lage, im Gespräch eine Stimmung zu schaffen, in der der Gesprächspartner Klarheit über sein Leben gewinnt. Aus dem Wissen um die eigenen Reaktionen und die Psyche der Mitmenschen, was man als «Menschenkenntnis» zusammenfassen kann, erlangt der Schüler des Psychotherapeuten eine innere Überlegenheit, die ihn nicht nur von seinen Störungen befreit, sondern ihn überhaupt zu einem innerlich ausgeglichenen, klar denkenden und fühlenden Menschen macht.
Aus: Liebling, Friedrich. In der Sprechstunde des Seelenarztes. In: Liebling, Friedrich. Aufsätze. Zürich 192. S. 64ff. Zuerst erschienen in «Wir Brückenbauer» 22/Nr. 43, Seite 6. 1963