Die Darwin-Rezeption von Sigmund Freud und Alfred Adler

Zürich 1992 Joachim Hoefele

Inhaltsverzeichnis

0.        Einleitung
I.         Die EvolutionslehreCharles Darwins
1.1.      Einführung
1.2.      Evolution
1.3.      Abstammung des Menschen
1.4.      Kampf ums dasein, natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl
1.5.      Menschliche Natur
1.6.      … und Kultur

II.        Die Darwin-Rezeption Sigmund Freuds
2.1       Einführung
2.2.      Anna O.
2.3.      … und die Folgen
2.4.      Ödipus-Komplex
2.5.      Kultur

III.      Die Darwin-Rezeption Alfred Adlers
3.1.      Einführung
3.2.      Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie
3.3.      Individualpsychologie und Evolution
3.4.      Der Mensch als Mängelwesen
3.5.      Soziale Natur und Kultur
3.6.      Gemeinschaftsgefühl
3.7.      Kultur

IV.      Schluss

 

O. Einleitung

Fast zwei Jahrtausende galt der jüdisch-christliche Schöpfungsmythos in unserer Kultur als verbindlich: Zuerst soll Gott Himmel und Erde, Pflanzen und Tiere und zum Schluss, an ei­nem einzigen Tag, den Menschen geschaffen haben – zuerst  den Mann und dann die Frau. Die biblische Schöpfungsgeschichte wurde zur Grundlage des christlich-abendländischen Welt- und Menschenbildes und bestimmt es bis in unsere heutige Zeit.

In den letzten fünfhundert Jahren wurde das abendländisch-christliche Welt- und Menschenbild mehrfach in seinen Grundlagen erschüttert; zuerst war es Nikolaus KOPERNIKUS (1473-1543), der mit seinem Werk ‚De revolutionibus orbium coelestium‘ die Auffassung widerlegte, wonach die Erde der Mittelpunkt eines von Gott geschaffenen Universums sei. Die Erde wurde als einer von neun Planeten erkannt, die die Sonne umkreisen, die Sonne ihrerseits als ein Stern der Milchstrasse, die aus nicht weniger als 150 Millionen derartiger Himmelskörper besteht. Der Mensch begann, sich und die Erde, auf der er lebt, als winzigen Teil eines unendlichen Universums zu begreifen.

Etwa dreihundert Jahre später erkannte Charles DARWIN (1809-1882), daß alle Erscheinungen der Natur in einer Milliarden Jahre dauernden Entwicklung entstanden sind; der biblische Schöpfungsmythos musste der Vorstellung einer langdauernden, kontinuierlichen Evolution des Natürlichen, mithin auch des Menschen, weichen. Der Mensch war nach DARWIN wie alle anderen Lebewesen „der Evolution des Organischen“ (WUKETITS 1987, 82) entsprungen; alle seine Eigenschaften, körperliche und geistige, Vernunft, Sprache, Religion, Moralität und Soziabilität, fielen nunmehr unter eine evolutionäre, naturwissenschaftliche Betrachtungsweise.

Schliesslich setzte Sigmund FREUD (1856-1939) die naturwissenschaftlich gedachte Psychoanalyse an die Stelle der christlichen Seelenlehre; hatte man bis dahin den Menschen von seiner Gottesebenbildlichkeit, von seinen „höheren“ geistigen Fähigkeiten her betrachtet, so sah man ihn nun als von „niederen“, unbewussten Trieben beherrscht. Nicht ein gottähnlicher, allmächtiger Geist, sondern unbewusste Triebe sind nach Freud  die bestimmenden Kräfte im menschlichen Seelenleben.

FREUDs Verdienst bleibt es, auf die Bedeutung des Unbewussten im Seelenleben des Menschen aufmerksam gemacht zu haben; mit seiner Trieblehre versuchte er darüber hinaus die Psychologie des Unbewussten auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen.

Es war Alfred ADLER (1870-1937), der Begründer der sogenannten Individualpsychologie, der im Jahr 1911 mit seiner ‚Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens‘ von der Triebpsychologie abrückte; mehr noch als FREUD, der triebpsychologisch ausgerichtet blieb, untersuchte ADLER die soziale, zwischenmenschliche Dynamik im menschlichen Seelenleben, der alle seelischen Kräfte – Triebe, Bewusstes, Unbewusstes – untergeordnet sind. Während FREUD die menschliche Persönlichkeit dynamisch und topisch in einzelne Kräfte und Instanzen unterteilte, die im gegenseitigen Konflikt miteinander stehen, sprach ADLER von der unteilbaren (daher: Individualpsychologie, von in-dividuum = lat. un-teilbar) Einheit der Persönlichkeit oder von der „Einheit des Ich“ (ADLER 1933a, 125). Das in höchstem Mass sozial geprägte ‚Ich‘ gibt allen seelischen Regungen – Trieben, Un­bewusstem, Bewusstem – eine einheitliche Form, Richtung und Modellierung.  In diesem Sinn ist ADLERs Individualpsychologie eine Ich-Psychologie, im wesentlichen vergleichbar mit der Neopsychoanalyse Franz ALEXANDERs, Erich FROMMs, Frieda FROMM-REICHMANNs, Karen HORNEYs und anderer.

FREUD hat ebenso wie ADLER, zum Zweck der naturwissenschaftlichen, anthropologischen Begründung seiner Psychologie, auf die Evolutionslehre DARWINs zurückgegriffen; grundlegende Erkenntnisse über das Seelenleben des Menschen haben FREUD und ADLER von DARWIN entlehnt. Beide verstehen die Psyche des Menschen als ein „Organ“, das durch phylogenetische Anpassung und Auslese entstanden ist (vgl. SCHLEDERER, 998). FREUD bezieht sich auf DARWINs Instinkt- und Trieblehre ebenso auf dessen Theorie von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“, die ursprünglich von LAMARCK aufgestellt wurde. Von DARWIN stammt auch das sogenannte „Urhordenmotiv“, auf dem FREUD seine gesamte Kulturpsychologie aufbaut: Eines Tages sollen sich die ausgetriebenen Söhne der Urhorde zusammengetan und den Urvater ermordet haben. Danach hätten sie Schuldgefühle bekommen, verdrängten ihre Tat, erhöhten den Urvater zur Vater-Gottheit und ordneten sich von da an den Geboten ihres Gottvaters unter. Aus diesem angeblichen Geschehen in der Urhorde leitet FREUD den Anfang der menschlichen Kultur- und Religionsentwicklung ab. Am Anfang steht nach FREUD die asoziale, verbrecherische Tat, mit der die menschliche Kultur, „die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion“ FREUD (1912-13), 426) sich erst zu entwickeln begannen.

ADLER begründet – wie FREUD – die Entstehung der Kultur unter Berufung auf DARWIN stammesgeschichtlich. Anders aber als FREUD, der die asoziale, verbrecherische Tat an den Anfang der menschlichen Kultur- und Religionsentwicklung stellt, sieht ADLER den ‚Wilden‘ der Urhorde von Anfang, d.h. primär als ein Gemeinschaftswesen (ADLER 1928, 247) Der Urmensch ist kein asoziales Triebwesen wie bei FREUD, das im Konflikt mit den Forderungen der Kultur lebt, er ist für ADLER vielmehr ein soziales Wesen, ein zoon politikon (ARISTOTELES), das von Natur aus zum Zusammenleben in der Kultur neigt. ADLER gelangt damit zu einer Abkehr von der FREUDschen Annahme der „Urasozialität des Menschen“ (Metzger 1980, 21) Damit spricht ADLER zum erstenmal klar aus, dass der Mensch von Natur aus auf das Zusammenleben und Zusammenwirken  mit anderen in der Kultur ausgerichtet ist. Mit dieser Auffassung wird er zum Vorläufer der kulturistischen Schule HORNEYs, FROMMs, SULLIVANs, die in den vierziger und fünfziger Jahren von der Frankfurter Schule, hier insbesondere von ADORNO und MARCUSE in der sogenannten ‚Kulturismus-Revisionismus-Debatte‘ heftig kritisiert und angegriffen wurde.

Wissenschaftsgeschichtlich ausserordentlich interessant ist die Tatsache, dass der Ursprung dieser Debatte, die bis in unsere Gegenwart hineinreicht, sich auf die DARWIN-Rezeption von FREUD und ADLER zurückverfolgen lässt. Während FREUD DARWINs „Urhordenmotiv“ aufgreift, aus dem die Annahme einer Urasozialität des Menschen durchscheint, geht ADLER auf DARWIN zurück, um die primär soziale Natur des Menschen zu begründen, aus der er frühe Formen der Vergesellschaftung, Kultur und Religion herleitet. War die Urhorde, wie FREUD sie beschreibt, durch Mord und Totschlag charakterisiert, so sieht ADLER in der primär sozialen Natur des Menschen dessen Hang zur Kooperation und zum gemeinschaftlichen Leben begründet. Widersprüchlicher und in ihren Konsequenzen entge­gengesetzter kann man sich die DARWIN-Rezeption von FREUD und –  im Gegensatz dazu  –  von ADLER nicht vorstellen.

Wie ist dieser Gegensatz zu erklären? War DARWINs Theorie selbst widersprüchlich? Wie wurde DARWIN von FREUD und ADLER rezipiert? Wo haben sie angesetzt? Wie haben sie ihn verstanden? Wo haben sie eigene Auffassungen unterlegt? Welche Konsequenzen haben sie für ihre psychologische Theorie und vor allem für ihre Kulturpsychologie daraus gezogen? Entsprechen die von ADLER und FREUD gezogenen Schlussfolgerungen noch den kulturanthroplogischen und -psychologischen Überlegungen DARWINs? Diese Fragen sollen im folgenden untersucht werden. Dabei kann es nicht darum gehen, die einzelnen Theorien DARWINs, FREUDs und ADLERs umfassend darzustellen und diese zu beurteilen, angestrebt wird lediglich, die DARWIN-Rezeption FREUDs und ADLERs nachzuzeichnen, um Übereinstimmungen und Differenzen aufzuzeigen. Es wird davon ausgegangen, dass die Unterschiedlichkeit der DARWIN-Rezeption bei FREUD und ADLER durch Vorannahmen über das Wesen Mensch bedingt sind, die – wenn sie einmal herausgearbeitet sind –  der wissenschaftlichen Überprüfung zugänglich werden.

 

I. Die Evolutionslehre Charles Darwins

1.1. Einführung

Die Evolutionslehre von Charles DARWIN gilt als eine der grossen geistigen Errungen­schaften der Neuzeit: DARWIN machte das Phänomen ‚Leben‘ zum Gegenstand naturwis­senschaftlicher Forschung, indem er für die Entstehung und Evolution des Lebens natürliche Ursachen annahm. Darin liegt seine grundlegende Bedeutung für die Biologie, die Anthropologie, die Soziologie und ebenso für die Psychologie.

Fast zwei Jahrtausende lebten die Menschen im Glauben, die Welt sei so entstanden, wie es die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte lehrt. Noch das 18. Jahrhundert DARWINs war von der Vorstellung geprägt, die Welt sei nur sechstausend Jahre zuvor durch einen einmaligen Schöpfungsakt (Kreationismus) geschaffen worden (vgl. WUKETITS 1987, 20) Allmählich kamen jedoch Zweifel auf, vor allem als in tieferen Schichten der Erde verstei­nerte Knochen ausgestorbener Tiere gefunden wurden. Trotzdem wurde noch bis ins 19. Jahrhundert versucht, diese Funde mit der biblischen Lehre in Einklang zu bringen, indem man sie als Überreste einer oder mehrerer sintflutartiger Katastrophen erklärte, die jeweils alles pflanzliche und tierische Leben ausgelöscht hätten. Danach habe Gott die Welt neu – und immer wieder besser – erschaffen (Progessionismus, Katastrophentheorie).

Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden die Beweise, die gegen die biblische Schöpfungsgeschichte sprachen, erdrückend: der französische Naturhistoriker Georges Louis de BUFFON (1707-1788) errechnete, dass die Entstehung der Erde mindestens eine Million Jahre gedauert habe (vgl. WUKETITS 1987, 21). Der englische Geologe James HUTTON (1726-1797) und nach ihm Charles LYELL (1797-1875) gelangten aufgrund umfangreicher Forschungen zu der Erkenntnis, dass die Kräfte, die einst Erdteile geschaffen und Berge aufgeworfen hatten, noch heute tätig seien, dass also die Welt nicht immer wieder neu erschaffen (Progressionismus, Katastrophentheorie), sondern über lange Zeiträume hinweg kontinuierlich entstanden sei (Uniformitarismus). Insgesamt gewann dadurch der Gedanke der „Verzeitlichung“ oder „Historisierung“ der Phänomene an Bedeutung (vgl. WUKETITS 1987,21) LYELL gilt als Begründer der historischen Geologie, ohne die DARWINs Arbeiten nicht denkbar wären.

Die progressionistische Auffassung, dass Pflanzen und Lebewesen immer wieder zerstört und nach einer göttlichen Idee neu geschaffen wurden, musste der uniformitaristischen Vorstellung von einer langdauernden, kontinuierlichen Evolution der Lebewesen weichen. Die Frage war nur, wie die Entwicklung vonstatten gegangen war.

Hier verdienen Erasmus DARWIN (1731-1802), der Grossvater von Charles, und vor allem Jean Baptiste de LAMARCK (1744-1829) besondere Beachtung. LAMARCK legte in seinem Buch ‚Philosophie zoologique‘ (1809) dar, dass gewaltige Veränderungen der Umwelt auch Veränderungen bei Pflanzen und Tieren mit sich brachten. LAMARCK glaubte, dass die Giraffen zum Beispiel deswegen lange Hälse hätten, weil sie aufgrund grosser Umweltveränderungen keine Nahrung mehr am Boden fanden und deshalb gezwungen waren, ihre Hälse zu recken, um die grünen Zweige hoher Bäume zu erreichen. Durch vermehrten Gebrauch der Hälse sei es schliesslich zu einer Streckung des Halses gekommen, die an  die Nachkommen vererbt  wurde. LAMARCK erklärte sich demnach die Entwicklung der Arten durch „Vererbung erworbener Eigenschaften“.

Aus heutiger Sicht mutet diese Auffassung ziemlich absurd an: So würde zum Beispiel ein Kind, dessen Eltern intellektuelle Arbeit leisten, von Geburt an mehr Intelligenz besitzen  als ein anderes, durch die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ (LAMARCK). Diese Auffassung hat denn auch zu LYSSENKOWs Verirrungen geführt, auf diese Weise  einen höheren Menschentypus schaffen zu können. LAMARCK veröffentlichte seine Evolutionslehre in DARWINs Geburtsjahr 1809; DARWIN ist zum Teil selbst Lamarckist geblieben (vgl. DARWIN 1871a, 35 f.) – wie übrigens auch FREUD und JUNG -, obschon LAMARCKs Auffassung bereits im Jahr 1813, von William WELLS, James PRITCHARD und William LAWRENCE widerlegt wurde (vgl. LEAKEY/LEWIN 1980, 28).

 

1.2. Evolution

Im Jahr 1836, nach einem abgebrochenen Medizin- und Theologiestudium, brach Charles DARWIN – sehr zum Missfallen seines Vaters, aber mit Unterstützung seines Onkels – zu einer Forschungsreise rund um die Welt auf; auf dieser Reise, die 5 Jahre dauerte, sammel­te er ein ungeheures Tatsachenmaterial, das er nach seiner Rückkehr in mühevoller Klein­arbeit auswertete. Auf diesem immensen Tatsachenmaterial gründet die Evolutionstheorie, die er in seinem Buch ‚Über die Entstehung der Arten‘ erst 20 Jahre später veröffentlichte.

Auf den Galapagos-Inseln hatte DARWIN eine seiner interessantesten Beobachtungen ge­macht: dort fand er auf einigen der Inseln verschiedene Arten von Finken vor, deren Schnäbel in Form und Grösse variierten. Manche dieser Finken hatten den Schnabel eines Kornbeissers, andere den eines Insektenfressers, wieder andere hatten den Schnabel eines Singvogels. Er fand nicht weniger als sechs Arten mit unmerklich abgestuften Schnäbeln.

„Alle diese Arten sind diesem Archipel eigentümlich. … Die merkwürdigste Tatsache ist die vollkommene Abstufung der Schnabelgrössen bei den verschiedenen Arten von Geospiza (Grundfinken), von einem Schnabel, der so gross ist wie der eines Kernbeissers, bis zu dem eines Buchfinken und … sogar bis zu dem einer Grasmücke.“ (DARWIN 1860a; zit nach SCHMITZ 1983, 56f.)

Diese sogenannten DARWIN-Finken gelten als klassisches Beispiel der Evolution: Offen­sichtlich waren sie auf den verschiedenen Inseln gezwungen, sich dem bescheidenen Nah­rungsangebot anzupassen. So entwickelten sich Finken, die fähig waren, Körner zu fressen, andere, die sich von Insekten ernährten, wieder andere, die sich auf das Hervorstochern von lebender Beute aus der Rinde von Bäumen spezialisierten.

Wie aber konnte es zu dieser Anpassung an das unterschiedliche Nahrungsangebot auf den Inseln kommen? Die Antwort fand DARWIN erst Jahre später: Er hatte – nur so zum Spass, wie er selbst sagte – das Buch des Nationalökonomen Thomas MALTHUS (‚An Essay on the Principle of Population‘, 1798) über die Bevölkerunsgentwicklung gelesen. Dort fand er, dass die meisten Lebewesen mehr Nachkommen zur Welt bringen, als zur Arterhaltung unbedingt notwendig sind. Weil mehr Nachkommen geboren werden, als schliesslich überleben, kommt es zu einem „Kampf ums Dasein“ (DARWIN 1860b, 98f.). Im „Kampf ums Dasein“ überleben nur die Nachkommen, die aufgrund individueller Unterschiede besser an die jeweilige Umwelt angepasst sind. So kommt es zu einer „natürlichen Zuchtwahl“ oder Selektion. „Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von MALTHUS ‚Über die Bevölkerung‘ las, tauchte der Gedanke der natürlichen Zuchtwahl in mir auf.“ (Brief an Ernst HAECKEL vom 8. Oktober 1864; zit. nach SCHMITZ 1983, 143) Und im ‚Ursprung der Arten‘ schreibt er: „Und ebenso fest bin ich überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht einzige Mittel der Abänderung war.“ (DARWIN 1860b, 28) Aufgrund des „Kampfes ums Dasein“ und der damit einhergehenden „natürlichen Zuchtwahl“ überlebte nur, wer in einer natürlichen Umwelt am besten dazu geeignet war. DARWIN sprach deshalb vom „Überleben des Geeignetsten“. Diesen Begriff übernahm er von dem zeitgenössischen Philosophen und Soziologen Herbert SPENCER (1820-1903), der in seinem ‚System der synthetischen Philosophie‘, das von 1862 bis 1896 erschien, ebenfalls vom „survival of the fittest“, dem „Überleben des Passendsten“ schrieb.

Auch auf den Galapagos-Inseln überlebten die Finken, die zufällig den Schnabel hatten, mit dem sie am besten überleben konnten. Und nur diese Finken konnten sich fortpflanzen und den für die entsprechende Nahrung geeigneten Schnabel an die nächste Generation weitervererben. So kam es über verschiedene Generationen hinweg zu einer allmählichen Anpassung an das unterschiedliche Nahrungsangebot auf den Inseln und somit zu der von DARWIN beschriebenen Formenvielfalt.

„Wenn man diese Abstufung und Formenvielfalt innerhalb einer kleinen, nah miteinander verwandten Vogelgruppe betrachtet, so kann man sich leicht vorstellen, dass infolge einer ursprünglichen Vogelarmut auf diesem Archipel eine Art hergekommen und zu verschiedenen Zwecken modifiziert worden ist.“ (DARWIN 1860; zit. nach SCHMITZ 1983, 57)

Es handelt sich jedoch nicht um eine aktive Modifikation, wie LAMARCK noch glaubte, sondern um eine passive Anpassung an die Bedingungen der Umwelt – durch Mutation und Selektion Während DARWIN die Selektion als Faktor der Evolution erkannte, hatte er noch keinen Einblick in die erbgenetischen Vorgänge der Mutation zur Erklärung erblicher Abwandlungen. „Es bedurfte … des Augustinerabtes Gregor Johann MENDEL (1822-1884), um Einblick in die Mechanismen des Erbgeschehens der Lebewesen zu gewinnen.“ (WUKETITS 1987, 89) MENDEL formulierte seine Erkenntnisse erst sieben Jahre nach Erscheinen der ‚Entstehung der Arten‘. Die moderne Genetik hat schliesslich DARWINs Auffassung von der Evolution des organischen Lebens weitgehend bestätigt.

DARWIN jedenfalls hatte den Schlüssel zur Entstehung der Arten gefunden: wie sich die Finken aus einer ursprünglichen Art in verschiedene Arten aufgespalten hatten, so schluss­folgerte er, hatte sich alles organische Leben aus einer einfacheren, ursprünglichen Form bis hin zu den komplexeren Formen des Lebendigen entwickelt. Am Ende seines Buches ‚Über die Entstehung der Arten‘ begnügte sich DARWIN mit der vorsichtigen Bemerkung: „Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte.“ (DARWIN 1860b, 676)

 

1.2. Abstammung des Menschen

In seinem Buch ‚The Descent of Man‘ (engl. 1871) legt DARWIN seine Überlegungen über den Menschen dar. Der Mensch ist – so schreibt er in den ersten Kapiteln – wie alle anderen Wirbeltiere nach demselben allgemeinen Modell gebaut. Alle Knochen seines Skeletts können mit den entsprechenden Knochen eines Säugetiers verglichen werden. „Ebenso ist es mit seinen Muskeln, Nerven, Blutgefässen und Eingeweiden.“ (DARWIN 1871b, 5) „Mit dem Gehirn, dem wichtigsten aller Organe, verhält es sich ebenso …“ (DARWIN 1871b, 5) „Die tatsächlichen Unterschiede zwischen dem Gehirn des Menschen und dem der höheren Affen sind sehr gering.“ (DARWIN 1871b, 5) Natürlich gibt es Unterschiede, denn „sonst müssten auch ihre geistigen Kräfte dieselben sein.“ (DARWIN 1871b, 5)

Vielfältige Hinweise auf die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich findet DARWIN auch in der Entwicklung des menschlichen Embroys: „die ersten Stadien der Entwickelung des Menschen sind mit denen der unmittelbar unter ihm stehenden Tiere identisch.“ (DARWIN 1871b, 10f.) Aus diesen Überlegungen, wonach das menschliche Embryo Entwicklungsstadien durchläuft, die Ähnlichkeiten mit ’niedern‘ Formen des Tier­reichs aufweist, ziehen Fritz MÜLLER (1864) und später Ernst HAECKEL (1906) den Schluss, dass die Individualentwicklung (Ontogenese) eines Lebewesens eine verkürzte Wiederholung der Artentwicklung (Phylogenese) darstellt. Diese von HAECKEL zum Ge­setz erhobene Theorie – auf die später FREUD zurückgreifen wird – ist unter dem Schlag­wort „Biogenetisches Grundgesetz“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen (vgl. HAECKEL, E.: Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen. Berlin 1906).

DARWIN führt im weiteren Verlauf seines Diskurses eine Reihe von Merkmalen an, die – bei allen Ähnlichkeiten zu den Säugetieren – die Sonderstellung des Menschen in der Natur kennzeichnen: Da ist zunächst einmal der aufrechte Gang des Menschen. „Der Mensch al­lein ist ein Zweifüssler geworden.“ (DARWIN 1871b, 59) Dies gab ihm die Möglichkeit, seine Hände frei zu nutzen. Er konnte sich Werkzeuge machen und diese verwenden. Der Gebrauch von Werkzeugen setzte die Verfeinerung der Sinne und die Entwicklung der Intelligenz voraus. Und: „Durch  seine intellektuellen Kräfte ist die artikulierte Sprache entwickelt worden…“ (DARWIN 1871b, 55) Der mächtigste Faktor aber in der menschlichen Evolution war nach DARWIN die Entwicklung der sozialen Eigenschaften Menschen, denn der einzelne Mensch hätte im „Kampf ums Dasein“ nicht überleben können. Er hat nicht die Kraft der starken Tiere, auch nicht die Zähne des Raubtiers, nicht die Feinhörigkeit und die scharfen Augen, um sich in diesem Kampf zu behaupten.

„Die geringe körperliche Kraft des Menschen [aber], seine geringe Schnelligkeit, der Mangel natürlicher Waffen usw. werden mehr als ausgeglichen: erstens durch seine intellektuellen Kräfte, die ihn,  noch im Zustande der Barbarei, in den Stand setzten, Waffen, Werkzeuge usw. zu formen; zweitens durch seine sozialen Eigenschaften, welche ihn dazu führten, seinen Mitmenschen zu helfen und Hilfe von ihnen zu empfangen.“ (DARWIN 1871b, 77)

Die „sozialen Eigenschaften“ gehören also zur Natur des Menschen. Alle kulturellen Errun­genschaften des Menschen, Sprache, Gebrauch von Werkzeugen, Moral Ethik, Ästhetik und Religion gründen nach DARWIN in der sozialen Natur des Menschen. In diesen Überle­gungen seht ADLER – wie noch genauer gezeigt wird – näher zu DARWIN als FREUD.

Zusammenfassend erklärt DARWIN, dass der Mensch sich nach denselben Gesetzen der Evolution entwickelt hat, wie alle anderen Arten; er hat sich durch allmähliche Wandlung von einer affenähnlichen Art abgespalten. DARWIN vermutete auch, dass die affenähnlichen Vorfahren des Menschen in Afrika lebten.

„Es ist daher wahrscheinlich, dass Afrika früher von jetzt ausgestorbenen Affenarten bewohnt war, die mit dem Gorilla und dem Schimpansen nahe verwandt waren; und da diese beiden Arten jetzt die nächsten Verwandten des Menschen sind, so ist es wahrscheinlicher, dass unsere ältesten Vorfahren auf dem afrikanischen Festland gelebt haben als anderswo.“ (DARWIN 1860b, 209)

DARWINs Vermutung wurde inzwischen durch zahlreiche Funde, insbesondere durch die von Raymond DART und Richard LEAKEY bestätigt (vgl. LEAKEY/LEWIN 1980, 32).

 

1.4. Kampf ums Dasein, natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl

„Der Mensch ist, wie ich zu zeigen versucht habe, sicher von irgend einem affenähnlichen Wesen abgestammt.“ (DARWIN 1871a, 667) DARWIN versucht nun, da er die Abstammung des Menschen von einem affenähnlichen Vorfahren erkannte, von den Lebensgewohnheiten der Affen oder Halbaffen (Quadrumanen; lat. ‚Vierhänder‘) auf die Lebensformen der frühen Hominiden zu schliessen. Zu diesem Zweck beschreibt er die Lebensgewohnheiten der jetzt existierenden Affen oder Halbaffen, um daraus die Urformen der menschlichen Gesellschaft abzuleiten. Mit diesem Vorgehen wird er zum Begründer der modernen Ethologie (vgl. WUKETITS 1987, 78).

DARWINs Augenmerk gilt zunächst dem Paarungsverhalten der Affen, da dieses – aus der Sicht der Evolutionsbiologie – die Lebensgewohnheiten der Tiergruppen entschieden bestimmt.

„Bei den jetzt existierenden Quadrumanen sind, soweit die Lebensgewohnheiten bekannt sind, die Männchen einiger Species monogam, leben aber nur während eines Theils des Jahres mit den Weibchen; hierfür scheint der Orang ein Beispiel darzubieten.“ (DARWIN 1871a, 667)

Neben dem Orang, der zeitweise monogam lebt, erwähnt DARWIN Affen, die „im strengen Sinn monogam“ sind und „das ganze Jahr hindurch in Gesellschaft ihrer Weiber“ (DARWIN 1871a, 667) leben. Andere wiederum „sind polygam, wie der Gorilla“ (DARWIN 1871a, 667) und „jede Familie lebt getrennt für sich.“ (DARWIN 1871a, 667) Aber auch wenn dies der Fall ist, unterhalten die einzelnen Familien Sozialkontakt miteinander (vgl. DARWIN 1871a, 667)

In allen angeführten Fällen würde es zur „geschlechtlichen Zuchtwahl“ (DARWIN 1871a, 233 ff.) kommen, da die „stärksten“, „im Kampfe mit anderen, siegreichen“ Männchen die „kräftigsten“, „am besten ernährten Weibchen“, „welche im Frühjahr zuerst zur Brut bereit sind“ (DARWIN 1871a, 248) zur Paarung wählen. Und so werden sie eine grössere Zahl von gesunden und kräftigen Nachkommen zur Welt bringen, die im allgemeinen Daseinskampf grössere Vorteile haben als andere (vgl. DARWIN 1871a, 248) Dadurch kommt es nach DARWIN zur Höherentwicklung der ganzen Art (vgl. DARWIN 1871a, 248).

Ähnliche Verhältnisse vermutet DARWIN auch in frühen Hominidengruppen.

„Wenn wir … im Strome  der Zeit genug weit zurückblicken und  nach den socialen Gewohnheiten des Menschen, wie er jetzt existiert, schliessen, so ist die wahrscheinlichste Ansicht die, dass der Mensch ursprünglich in kleinen Gesellschaften lebte,  jeder Mann mit einer Frau oder, wenn er die Macht hatte, mit mehreren, welche er eifersüchtig gegen alle andern Männer verteidigte.“ (DARWIN 1871a, 668)

DARWIN geht davon aus, dass der Mensch in frühen Hominidengruppen entweder monogam in kleinen Gesellschaften oder polygam in losen sozialen Verbänden gelebt hat.

„Oder er mag kein sociales Thier gewesen sein und doch mit mehreren Frauen für sich allein gelebt haben, wie der Gorilla, denn „alle Eingeborenen stimmen darin überein, dass nur ein erwachsenes Männchen in einer Gruppe zu sehen ist.“ (DARWIN 1871a, 668)

Anhand der isoliert lebenden Gorilla-Familien, in denen angeblich ein erwachsenes Männchen eifersüchtig dominiert, führt DARWIN aus, was FREUD später als die sozialen Verhältnisse der Urgesellschaft (Urhorde) schlechthin annahm.

Wachsen die Söhne des dominierenden Gorilla-Vaters heran, so findet ein Kampf gegen den Vater um die Herrschaft in der Familie statt und das stärkste Männchen setzt sich als Ober­haut der Gruppe durch. „Wächst das junge Männchen heran, so findet ein Kampf um die Herrschaft statt und der Stärkste setzt sich dann, indem er die Anderen getödtet oder fortge­trieben hat, als Oberhaupt der Gesellschaft fest.“ (DARWIN 1871a, 668) Dadurch wird eine allzu enge Inzucht innerhalb der Familie verhindert, die jüngeren Männchen werden infol­gedessen zur Exogamie gezwungen.

„Die jüngeren Männchen, welche hierdurch ausgestossen sind und nun umherwandern, werden auch, wenn sie zuletzt beim Finden einer Gattin erfolgreich sind, die zu enge Inzucht innerhalb der Glieder einer und derselben Familie verhüten.“ (DARWIN 1871a, 668)

Die zur Exogamie gezwungenen, erfolgreichen Männchen wählen wiederum die anziehendsten und stärksten Weibchen, was zur „geschlechtlichen Zuchtwahl“ führt und damit zur Höherentwicklung der ganzen Art.

DARWINs Vorstellung von den sozialen Gewohnheiten der Gorilla-Gruppen und deren Übertragung auf die menschliche Urgesellschaft (Urhorde) ist – auch wenn er sie nur hypo­thetisch formuliert – weder durch Beobachtungen an Menschenaffen (vgl. SCHMIDBAUER 1975, 27) noch durch kulturanthropologische Ergebnisse gesichert. Nicht Eifersucht, Mord und Totschlag herrschten in archaischen Gesellschaften vor, „Austausch in jeder Form“ (SCHMIDBAUER 1975, 27), gegenseitige Hilfe und Kooperation waren weitaus wichtiger.

Was die Lebensformen des Gorilla betrifft, sei auf eine Feldstudie SCHALLERs verwiesen, durch die DARWINs „Bild vom gewalttätigen, sexuell habgierigen Männchen, das alle Weibchen monopolisieren will, entschieden entkräftet“ (SCHMIDBAUER 1975, 27) wird.

„Nach SCHALLERs Beobachtungen ist  es auch falsch, dass nur ein reifes Männchen bei der Gruppe der Frauen und Kinder bleibt. Tatsächlich leben mehrere Männchen unter­schiedlichen Ranges in den kleinen Gruppen dieser mächtigen Affen, und es gibt offen­sichtlich keinen sexuellem Vorrang des dominierenden Männchens. Vielmehr sucht sich das brünstige Weibchen selbst den Sexualpartner aus und der dominierende Gorilla bleibt ein äusserlich unbeteiligter Zuschauer, wenn die Wahl auf einen anderen fällt.“ (SCHMIDBAUER 1975, 27)

Wie DARWIN übrigens selbst bemerkte, unterhalten einzelne Gorillagruppen Sozialkontakt miteinander. So sind „die einen und denselben District bewohnenden Familien in einer ge­wissen Ausdehnung social …“ (DARWIN 1871a, 667) DARWIN verkannte nämlich kei­neswegs die hervorragende Bedeutung, die der Entwicklung der Soziabilität in der Evolu­tion des Tierreichs zukommt (vgl. unten).

Es waren vor allem Thomas H. HUXLEY in England und Ernst HAECKEL in Deutsch­land, die DARWINs Gedanken vom „Kampf ums Dasein“ und der „natürlichen“, „geschlechtlichen Zuchtwahl“ übernahmen und daraus schlossen, dass es auch im Zusam­menleben der Menschen einen unerbitterten „Kampf ums Dasein“ gebe, in dem nur der Beste überleben könne. Diese Auffassung ist unter dem Schlagwort „Sozialdarwinismus“ in die Geschichte eingegangen. Damit haben jedoch HUXLEY und HAECKEL DARWIN gründlich missverstanden: DARWIN selbst betonte, dass es sich bei dem sogenannten „Kampf ums Dasein“ nicht  um ein  brutales Kräftemessen handelt,  der „Daseinskampf“ ist für DARWIN nicht mehr als eine Metapher, ein Sammelwort für vielerlei, was mit „Kampf“ im gewöhnlichen Wortsinn wenig oder gar nichts zu tun hat.

„Es sei vorausgeschickt, dass ich die Bezeichnung „Kampf ums Dasein“ in einem weiten metaphorischen Sinne gebrauche, der die Abhängigkeit der Wesen voneinander, und was noch wichtiger ist: nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch seine Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen, mit einschliesst. Mit Recht kann man sagen, dass zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Dasein miteinander kämpfen; aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste mit der Dürre ums Dasein, obwohl man das ebensogut so ausdrücken könnte: sie hängt von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, die jährlich Tausende von Samenkörnern erzeugt, von denen aber im Durchschnitt nur eines zur Entwicklung kommt, lässt sich mit noch viel grösserem Rechte sagen, sie kämpfe ums Dasein mit jenen Pflanzen ihrer oder anderer Art, die bereits den Boden bedecken. … In diesen verschiedenen Bedeutungen, die ineinander übergehen, gebrauche ich der Bequemlichkeit halber die allgemeine Bezeichnung „Kampf ums Dasein“. (DARWIN 1860b, 101f.)

DARWIN war noch zu seinen Lebzeiten mehrfach gezwungen, den Begriff „Kampf ums Dasein“ gegen das sozialdarwinistische Missverständnis zu verteidigen. Wiederholt erklärte er ihn als nicht aggressive, friedliche Konkurrenz und gebrauchte ihn „in einem ganz und gar unkriegerischen Sinne zur Beschreibung natürlicher biologischer Vorgänge“ (SCHMITZ 1983, 118

Der Mensch hat nun nach DARWIN im „Kampf ums Dasein“ gerade deshalb überleben können, weil er sich als „soziales Wesen“ entwickelte. So erwarb sich der Mensch im Verlauf der Evolution Eigenschaften, die hauptsächlich oder sogar ausschliesslich zum Nutzen der Gemeinschaft erlangt wurden, wobei zugleich auch die Individuen einen Vorteil erlangt haben. Damit geraten alle Eigenschaften des Menschen, Intelligenz, Sprache, Soziabilität und Moralität unter eine evolutionär-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise.

 

1.5. Menschliche Natur

DARWIN zeigte, „dass der Mensch in seiner körperlichen Bildung deutliche Spuren seiner Abstammung von irgendeiner niederen Form darbietet“. (DARWIN 1871a, 71) Er wies nach, „dass zwischen den Menschen und den höheren Säugethieren kein fundamentaler Unterschied in Bezug auf ihre geistigen Fähigkeiten besteht.“ (DARWIN 1871a, 72)

Intelligenz – Abstraktionsfähigkeit, Gedächtnis, Neugierde, Nachahmung, Ideenassoziation und Überlegung – ebenso einfache Formen von Sprache findet DARWIN auch bei Tieren. Der Mensch hat auch einige wenige Instinkte mit den Tieren gemeinsam, wie den Selbsterhaltungstrieb, den Geschlechtstrieb und den sozialen Instinkt (vgl. DARWIN 1871a, 73). „Doch hat vielleicht der Mensch etwas weniger Instincte als diejenigen Thiere, welche zunächst in der Stufenreihe auf ihn folgen.“ (DARWIN 1871a, 73) DARWIN beruft sich auf den französischen Zoologen CUVIER (1769-1832), der nachwies, „dass Instinct und Intelligenz in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen …“ (DARWIN 1871a, 73) Obwohl der Mensch „einige wenige Instincte mit den Thieren gemeinsam hat“ (DARWIN 1871a, 73), verfügt er über das höchste Mass an Intelligenz. Er hat – im Vergleich zu den Tieren – weniger Instinkte, dafür jedoch mehr Intelligenz, was ihn dazu befähigt, sein Verhalten zu erlernen. Wie die vielfältigen Kulturen auf unserer Erde beweisen, ist das Verhalten des Menschen tatsächlich nicht durch Instinkte festgelegt, sondern gelernt. Die enorme Lernfähigkeit des Menschen, die ihn dazu befähigt, die verschiedensten kulturellen Lebensformen zu erlernen, ist nach DARWIN ein wesentliches Kennzeichen der menschlichen Natur. Der Mensch ist demnach ein Kulturwesen von Natur aus.

Der wichtigste Faktor in der Evolution des Menschen war – neben der Herausbildung von Sprache und Intelligenz – die Entwicklung der Geselligkeit. „Thiere vieler Arten sind gesellig.“ (DARWIN 1871a, 110) Sie helfen einander, sie warnen sich vor Gefahr, sie verteidigen sich gegenseitig und teilen die Beute (vgl. DARWIN, 1871a, 113 ff.). Zweifellos war dies ein grosser Vorteil in der Evolution, denn dadurch „konnten die geselligsten am leichtesten vielen Gefahren entgehen, während die anderen … in grosser Zahl umkamen.“ (DARWIN 1871b, 132)

Der Mensch ist nach DARWIN zweifellos „ein sociales Thier“ (DARWIN 1871a, 119); er ist primär ein soziales Wesen. „Jedermann wird zugestehen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist.“ (DARWIN 1871b, 136) „Wir sehen dies in seiner Abneigung gegen Einsamkeit und in seinem Wunsch nach Gesellschaft noch über die seiner eigenen Familie hinaus.“ (DARWIN 1871a, 119) Schon „die affenähnlichen Vorfahren des Menschen“ (DARWIN 1871b, 136) lebten gesellig. DARWIN vermutet auch, „dass der Mensch im Urzustande in einzelnen Familien lebte“ (DARWIN 1871a, 119); zwei oder höchstens drei Familien durchstreiften nach DARWIN gemeinsam das Land, wobei sie freundschaftliche Beziehungen zu anderen Familien unterhielten, mit denen sie zu Beratungen zusammenkamen (vgl. DARWIN 1871a, 119).

Dass der Mensch gesellig lebt, verdankt er nach DARWIN einem „tief eingegrabene[n] soziale[n] Instinkt“  (DARWIN 1871b, 152). „Damit die Urmenschen oder die affenähnlichen Urerzeuger des Menschen social würden, mussten sie dieselben instinctiven Gefühle  erlangt haben, welche andere Thiere dazu treiben, in Menge beisammen zu leben …“ (DARWIN 1871a, 143)

Der Mensch hat demnach seine soziale Disposition (vgl. DARWIN 1871a, 143) von seinen affenähnlichen Vorfahren ererbt. Gegen die Auffassung, wonach der Mensch im Lauf der Evolution soziale Instinkte von seinen tierischen Vorfahren übernommen habe, spricht nicht, dass sogenannt „wilde Nachbarstämme“ oft „miteinander im Krieg liegen“ (DARWIN 1871b, 136). Das „ist kein Beweis gegen die Annahme, dass der Wilde ein soziales Tier sei; denn die sozialen Instinkte erstrecken sich niemals auf alle Individuen derselben Art.“ (DARWIN 1871b, 136) Wenn DARWIN davon spricht, dass wilde Nachbarstämme oft im Krieg miteinander liegen, so will er keineswegs irgendwelchen Stammesrivalitäten, Rivalitäten zwischen Nationen und Rassen oder einem – wie auch immer gearteten –  „Aggressionstrieb“ das Wort reden. Ganz im Gegenteil ging er davon aus, der Mensch werde im Laufe der Zeit seine „sozialen Instinkte und Sympathien auf die Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen in der Lage“ sein (WUKETITS 1987, 70; DARWIN 1871b, 158 f.).

Die „sozialen Instinkte“ legen das Verhalten des Menschen gegenüber seinen Artgenossen nicht ein für allemal fest; gerade beim Menschen mit seiner überragenden Intelligenz spielen Erfahrung, Gewohnheit und Überlegung eine ausserordentlich grosse  Rolle. Daraus zog DARWIN den Schluss, dass durch Erziehung, durch Gewohnheit und Bildung die „sozialen Instinkte“ des Menschen gestärkt, ausgeweitet und vertieft werden können (vgl. DARWIN 1871a, 146).

Die „sozialen Instinkte“ ermöglichen es dem Menschen, seinem Mitmenschen zu vertrauen, ihm Hilfe zu geben und Hilfe von ihm zu empfangen. Und: „Obwohl der Mensch, wie eben bemerkt, keine speciellen Instincte hat, welche ihm sagen, wie er seinem Mitmenschen helfen soll, so fühlt er doch den Antrieb dazu …“ (DARWIN 1871a, 120) DARWIN spricht auch von „instinktiver Liebe“ oder „Mitgefühl“, die der Mensch seinen Artgenossen gegenüber empfindet. Wir alle kennen diese Gefühle: „Aber unser Bewusstsein sagt uns nicht, ob sie instinktiv sind … oder ob sie von einem jeden unter uns in der Kindheitsperiode erworben worden sind.“ (DARWIN 1871b, 136 f.)

DARWIN stellt sich also die Frage, ob „Liebe“ und „Mitgefühl“ angeboren oder ob die sozialen Gefühle während der langen Zeit der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern „in der Kindheitsperiode erworben worden sind.“ (DARWIN 1871b, 137) DARWIN neigt dazu, die sozialen Gefühle als „eine Erweiterung der elterlichen oder kindlichen Zuneigung“ (DARWIN 1871b, 132) anzusehen, „da der gesellige Instinkt in den Jungen durch langes Zusammenleben mit den Eltern“ (DARWIN 1871b, 132) während der Kindheit zu entstehen scheint. Er gebraucht den Begriff des „sozialen Instinkts“ nicht im Sinne eines fest angelegten, angeborenen Verhaltensmusters, sondern vielmehr im Sinn einer sozialen Disposition; er ahnte bereits, dass die „elterliche und kindliche Zuneigung“ „die augenscheinliche Basis der sozialen Instinkte“ (DARWIN 1871b, 132) bildet, dass also die lange Zeit der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern während der Kindheit entscheidend für die Entwicklung der sozialen Gefühle ist.

DARWIN standen die Erkenntnisse der modernen Entwicklungspsychologie noch nicht zur Verfügung, als dass er die Bedeutung der frühen Kindheit im Leben des Menschen in vollem Umfang hätte erkennen können. Es blieb FREUD, vor allem aber ADLER vorbehalten, auf die grundlegende Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung für die Entwicklung sozialer Gefühle – ADLER sprach von Gemeinschaftsgefühl – hingewiesen zu haben. Später haben PORTMANN (1956), SPITZ (1964), BOWLBY (1976), AINSWORTH (1962) die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung erforscht und aus entwicklungspsychologischer Sicht in ihrer „attachment“-Theorie dargestellt (vgl. zusammenfassend auch GROSSMANN 1987, 200-235).

 

1.6. … und Kultur

DARWINs Begriff der Kultur geht auf das 17. und 18. Jahrhundert zurück, in dem man unter Kultur die Ausbildung und Höherentwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen verstand; im 18. Jahrhundert erweiterte sich der Begriff auf die Gesamtheit der vom Menschen hervorgebrachten sozialen Lebensformen einschliesslich ihrer materiellen und ideellen Güter. Wenn DARWIN also das kulturelle Leben des Menschen oder besser: das Leben des Menschen in Kultur erörtert, so untersucht er insbesondere den „Ursprung der Fähigkeit zum Geselligleben“, „sociale und moralische Fähigkeiten“, „Gottesglaube“ und „Religion“.

Den „Ursprung und die Fähigkeit zum Geselligleben“ führt DARWIN darauf zurück, dass der Mensch eine tief verwurzelte soziale Disposition von seinen affenähnlichen Vorfahren übernommen hat; damit die affenähnlichen Vorfahren des Menschen sozial würden, mussten sie denselben „sozialen Instinkt“ erlangt haben, der andere Tiere dazu treibt, in Gesellschaft beisammen zu leben. Der „soziale Instinkt“ – sei dieser nun ererbt oder durch die lange Zeit der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern erworben – ist für DARWIN die Grundlage für das Zusammenleben der Menschen in Gesellschaft und Kultur.

Die moralischen Fähigkeiten des Menschen gründen nach DARWIN ebenfalls im „sozialen Instinkt“; der soziale Instinkt ist „die wichtigstee Grundlage der moralischen Constitution des Menschen“ (DARWIN 1871a, 139f.). DARWIN war der Meinung, dass ein soziales Wesen wie der Mensch, da er mit „ausgesprochenen sozialen Instincten (die elterliche und kindliche Zuneigung hier mit eingeschlossen) versehen ist, unvermeidlich ein moralisches Gefühl oder Gewissen erlangen würde …“ (DARWIN 1871a, 107f.) Aufbau und Entwicklung des moralischen Gefühls oder des Gewissens wurzeln daher nach DARWIN in der primär sozialen Disposition des Menschen.

Der soziale Instinkt ermöglicht es dem Menschen, Liebe und Mitgefühl seinen Artgenossen gegenüber zu empfinden (DARWIN 1871a, 116). Infolgedessen „erweckt der Anblick einer anderen Person, welche Hunger, Kälte, Ermüdung erduldet, in uns eine Erinnerung an dieselben Zustände, welche selbst in der Idee schmerzlich sind.“ (DARWIN 1871a, 116)

Aus Sympathie und Mitgefühl wird – mittels der Erinnerung an eigenes schmerzvolles Leiden – Mitleid. Daraus folgt der Wunsch, „die Leiden eines Anderen zu mildern, um zu gleicher Zeit auch unsere eigenen schmerzlichen Gefühle  zu besänftigen.“ (DARWIN 1871a, 116) „In gleicher Weise werden wir veranlasst, an der Freude Anderer theilzunehmen.“ (DARWIN 1871a, 116) „Andern Gutes zu thun, – Andern zu thun, wie ihr wollt, dass man Euch thue – ist der Grundstein der Moralität.“ (DARWIN 1871a, 145)

Die Moralität ist nach DARWIN tief verwurzelt in der instinktiven Fähigkeit des Menschen, Liebe und Mitgefühl seinen Menschen gegenüber empfinden zu können; die Moralität des Menschen wird noch gesteigert durch sein hohes Mass an Intelligenz, denn: „sobald die geistigen Fähigkeiten sich hoch entwickelt haben, durchziehen Bilder aller vergangenen Handlungen und Beweggründe unaufhörlich das Gehirn eines jeden Individuums“ (DARWIN 1871a, 108); der Mensch vergleicht Erfahrungen und Handlungen der Vergangenheit mit gegenwärtigen und ist in der Lage, die Folgen seines Tuns in die Zukunft zu projizieren. Wenn nun eine seiner Handlungen dem „sozialen Instinkt“ zuwiderläuft, „so empfinden wir das Gefühl des Unbefriedigtseins, der Scham, Reue und Gewissensbisse … und in diesem Fall nennen wir es Gewissen …“ (DARWIN 1871a, 138) Wir entschliessen uns infolgedessen, „in Zukunft anders zu handeln.“ (DARWIN 1871a, 125) „Dies ist das Gewissen; denn das Gewissen schaut rückwärts und dient uns als Führer in die Zukunft.“ (DARWIN 1871a, 125)

Das ‚Gewissen‘ hat nach DARWIN seinen Ursprung in der naturgegebenen, sozialen Veranlagung des Menschen; es ist in hohem Mass abhängig von der Billigung und Missbilligung seiner Handlungen durch die Mitmenschen und wird nicht zuletzt durch Erfahrung und Verstand geleitet. Es kann daher durch Erziehung und Gewohnheit vertieft und gefestigt (DARWIN 1871a, 117) werden. Zusammenfassend erklärt DARWIN:

„Zuletzt wird sich dann unser moralisches Gefühl oder Gewissen gebildet haben, jene äusserst complicierte Erscheinung, die ihren ersten Ursprung in den socialen Instincten hat, die in grossem Masse von der Anerkennung unserer Mitmenschen geleitet, von dem Verstand …  und durch Unterricht und Gewohnheit befestigt wird.“ (DARWIN 1871a, 146)

DARWIN beruft sich auf verschiedene Autoren, wenn er den Ursprung des „moralischen Gefühls“ oder des „Gewissens“ erörtert; er zitiert KANT, der die Moralität des Menschen in der ihm eigenen Vernunft begründete, der sich aber nicht erklären konnte, wie die Vernunft im Gefühlsleben des Menschen wirksam wird. (KANT 1965, 19) KANT konnte ein „moralisches Gefühl“ im menschlichen Seelenleben, das seiner natürlichen Soziabilität entspricht, nicht anerkennen. Demgegenüber zitiert DARWIN den englischen Philosophen BRODIE, der erkannte, „dass der Mensch ein sociales Thier sei (Psychological Enquieries, 1854, p.192)“. (zit. nach DARWIN 1871a, 107) und daran anknüpfend die Frage aufwarf: „sollte dies nicht die streitige Frage über die Existenz eines moralischen Gefühls beilegen?“ (ebd. zit. nach DARWIN 1871a, 107) BRODIE vermutete bereits, dass die soziale Disposition des Menschen die natürliche Grundlage seiner Moralität ist. „Ähnliche Ideen sind wahrscheinlich Vielen schon gekommen …“ (DARWIN 1871a, 107) DARWIN bemerkt jedoch einschränkend, dass dieser Frage bis anhin „Niemand ausschliesslich von naturhistorischer Seite näher getreten ist.“ (DARWIN 1871a, 107) DARWIN beruft sich darüber hinaus auf SIDGWICK, LUBBOCK, SPENCER und insbesondere auf J.ST.MILL, den im angelsächsischen Raum meistgelesenen, meistdiskutierten und wohl auch meistkritisierten Moralphilosophen seiner Zeit, der von den „sozialen Gefühlen“ als einer „kraftvollen natürlichen Empfindung“, als dem „natürlichen Grunde“ der Moralität sprach (vgl. DARWIN 1871a, 107). Erst DARWIN beantwortete die Frage nach der Moralität des Menschen auf einer naturwissenschaftlichen, evolutionären Grundlage.

DARWIN wandte sich entschieden gegen die Philosophen der derivativen Schule, GASSENDI und HOBBES, die davon ausgingen, der Mensch sei von Natur ein asoziales, egoistisches Wesen. „Die Philosophen der derivativen Schule der Moralisten nahmen früher an, dass der Grund der Moralität in einer Art Selbstsucht läge …“ (DARWIN 1871a, 132) Demnach verzichtet der Einzelne zum eigenen Nutzen teilweise auf die Befriedigung seiner Selbstsucht, weil er den anderen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht. Die Grundlage der Moralität ist hier sekundär, aus einer primären Selbstsucht abgeleitet (daher ‚derivativ‘ von lat. ‚derivatum‘, abgeleitet). Demgegenüber betont DARWIN die primär soziale Natur des Menschen, wonach das Glück des Einzelnen erst durch das grösstmögliche Glück aller vollkommen wird. Das Glück des Einzelnen steht nicht im Gegensatz zum Glück aller, denn vom Standpunkt der Evolution aus betrachtet ist das „Prinzip des grössten Glücks aller“, das DARWIN von J.ST.MILL entlehnt, ein Vorteil für den Einzelnen ebenso wie für die ganze Art; „als primärer Antrieb und Führer werden jedoch immer die socialen Instincte … gedient haben.“ (DARWIN 1871a, 133) Die sozialen Instinkte können sogar – wie DARWIN anhand verschiedener Beispiele aufzeigt – stärker sein als der „Instinct der Selbsterhaltung“ (DARWIN 1871a, 121) „Hierdurch wird der Vorwurf, dass man den Grund des edelsten Theils unserer Natur in das niedere Princip der Selbstsucht legt, beseitigt …“ (DARWIN 1871a, 133) Im Gegenteil ist nach DARWIN die soziale Veranlagung des Menschen die natürliche Grundlage seiner Moralität.

Wie die Moralität des Menschen, so führt DARWIN den „Gottesglauben“ und die „Religion“ ebenfalls auf eine natürliche, menschliche Grundlage zurück; er steht damit in der Tradition der anthropologischen Schule des 19. Jahrhunderts, die auf Ludwig FEUERBACH („Das Wesen des Christentums“, 1841) zurückgeht. Die anthropologische Schule, der auch FARRAR, M’LENNAN, TYLOR, LUBBOCK und SPENCER angehören, geht von der Voraussetzung aus, dass die menschliche Natur die Grundlage der Religion sei.

Das heisst jedoch nicht, wie DARWIN betont, dass der „Gottesglaube“ oder die „Religion“ dem Menschen „von seinem Ursprunge an“ zukommt (vgl. DARWIN 1871a, 103). Im Gegenteil sind reichliche Zeugnisse, nicht von flüchtigen Reisenden, sondern von Männern, welche lange unter Wilden gelebt haben, beigebracht worden, dass zahlreiche Rassen existiert haben und noch existieren, welche keine Idee eines Gottes oder mehrerer Götter und keine Worte in ihren Sprachen haben eine solche Idee auszudrücken. (vgl. DARWIN 1871a, 103)

DARWIN stützt sich auf das ethnographische Material FARRARs und SPENCERs, wenn er meint, dass der „Gottesglaube“ oder die „Religion“ dem Menschen nicht von „seinem Ursprunge an“ anhaftet. „Verstehen wir indessen unter dem Ausdruck „Religion“ den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte, so stellt sich der Fall völlig verschieden …“ (DARWIN 1871a, 103) Der „Animismus“ nämlich, wie der Glaube an geistige Wesen, Kräfte und Geister genannt wird, ist für DARWIN die ursprüngliche Form der „Religion“, „denn dieser Glaube scheint bei den weniger civilisierten Rassen ganz allgemein zu sein.“ (DARWIN 1871a, 103) Aus dem ursprünglichen Animismus seien schliesslich all die vielfältigen Formen der Religion hervorgegangen. Mit dieser Auffassung stimmt DARWIN mit FARRAR, LUBBOCK, SPENCER, und vor allem TYLOR („Primitive Culture“, 1871) überein.

Der Animismus stammt nach DARWIN aus der „Neigung der Wilden, sich einzubilden, dass natürliche Dinge und Kräfte durch geistige oder lebende Wesen belebt seien …“ (DARWIN 1871a, 104) „Auch ist es nicht schwer zu verstehen, wie er entstanden ist.“ (DARWIN 1871a, 103) Sobald die bedeutungsvollen Fähigkeiten der Einbildungskraft, der Verwunderung und der Neugierde, in Verbindung mit einem Vermögen nachzudenken, theilweise entwickelt waren, wird der Mensch ganz von selbst gesucht haben, das, was um ihn her vorgeht, zu verstehen … (DARWIN 1871a, 103) Irgendeine Erklärung für die mannigfaltigen Lebenserscheinung musste sich der Mensch geben und so hat der Mensch den Erscheinungen der Natur dieselben geistig-seelischen Kräfte zugeschrieben, „von deren Besitz sich der Mensch bewusst ist.“ (DARWIN 1871a, 103 f.)

DARWIN führt TYLOR an, auf dessen Theorie sich später auch FREUD berufen wird:

„Wie Mr. TYLOR klar entwickelt hat, ist es auch wahrscheinlich, dass Träume der Annahme solcher Geister zuerst Entstehung gegeben haben; denn Wilde unterscheiden nicht leicht zwischen subjectiven und objectiven Eindrücken. Wenn ein Wilder träumt, so glaubt er, dass die Bilder, welche vor ihm erscheinen, von Weitem hergekommen sind …; oder die Seele des Träumers geht auf Reisen aus und kommt heim mit der Erinnerung Dessen, was sie gesehen hat.“ (DARWIN 1871a, 104)

So bildete er sich ein, die Seele habe den Körper verlassen und sei auf Reisen gegangen, was ihn dazu veranlasste, „sich selbst als ein doppeltes Wesen zu betrachten, ein körperliches und ein geistiges.“ (DARWIN 1871a, 104, Anm. 76) Dies führte zu dem Glauben an körperlose, geistige Kräfte, welche die Körperwelt belebten.

Darauf aufbauend erklärt DARWIN Erscheinungen des Totemismus in Anlehnung an TYLOR, LUBBOCK und SPENCER aus dem Glauben an geistige, übernatürliche Wesen. „Da von dem geistigen Wesen angenommen wird, es lebe nach dem Tode fort und sei mächtig, so wird es durch verschiedene Geschenke und Ceremonien günstig zu stimmen versucht und um seinen Beistand angefleht.“ (DARWIN 1871a, 104, Anm. 76) SPENCER zeige dann weiter,

„… dass die den frühesten Vorfahren oder Gründern eines Stammes nach irgend einem Thiere oder Gegenstande gegebenen Namen oder Spitznamen nach Verlauf langer Zeiträume für Bezeichnungen des wirklichen Urerzeugers des Stammes angesehen wurden; und von einem derartigen Thiere und Object wird dann geglaubt, dass es noch immer als ein Geist existiere, es wird heilig gehalten und als ein Gott verehrt.“ (DARWIN 1871a, 104, Anm. 76)

So sei der Totemismus, die Verehrung eines Tieres oder eines Dinges als dem Ursprung einer Sippe oder Gruppe, entstanden.

Der Glaube an zunächst an körperlose, geistige Kräfte, dann an ein Totem mit übernatürlicher Kraft hat schliesslich – mit der Höherentwicklung der Kultur – zum Glauben an Götter mit menschenähnlichen Gefühlen der Rachlust, der Zuneigung und den Prinzipien der Gerechtigkeit geführt; in einer späteren Stufe der Menschheitsentwicklung ist dann der Glaube an die Existenz eines Gottes entstanden.

„Der Glaube an spirituelle Kräfte wird leicht in den Glauben an die Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter übergehen; denn Wilde werden naturgemäss Geistern dieselben Leidenschaften, dieselbe Lust zur Rache oder die einfachste Form der Gerechtigkeit und dieselben Zuneigungen zuschreiben, welche sie selbst in sich fühlen.“ (DARWIN 1871a, 104 f.)

Auf diese Weise verbanden sich Grundprinzipien der Sittlichkeit mit religiösen, polytheistischen oder monotheistischen Vorstellungen.

Das Gefühl religiöser Ergebung analysiert DARWIN in Anlehnung an einen Aufsatz über die psychischen Elemente der Religion von PIKE (Anthropolog. Review, Apr. 1870, p. LXIII):

„Das Gefühl religiöser Ergebung ist ein in hohem Grade compliciertes, indem es aus Liebe, vollständiger Unterordnung unter ein erhabenes und mysteriöses Etwas, einem starken Gefühle der Abhängigkeit, der Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Hoffnung in Bezug auf die Zukunft und vielleicht noch anderen Elementen besteht.“ (DARWIN 1871a, 105)

Zu einem derart „complicierten“ Gefühl ist nach DARWIN nur ein Wesen fähig, das über intellektuelle und moralische Fähigkeiten verfügt, wie der Mensch (DARWIN 1871a, 105).

Dieselben geistigen und moralischen Fähigkeiten haben den Menschen – bei fortschreitender Kulturentwicklung – dazu geführt, erst „an unsichtbare geistige Kräfte, dann an Fetischismus, Polytheismus und endlich Monotheismus zu glauben …“ (DARWIN 1871a, 105) Wenn wir heute die vielen verschiedenen Gebräuche des Animismus, Fetischismus und Formen von Aberglauben studieren, so erkennen wir mit DARWIN, wie sehr wir der Vervollkommnung unseres Wissens und der Wissenschaft zu Dank verpflichtet sind:

„Schon der Gedanke an viele Arten dieser ist schaudervoll, so das Opfern menschlicher Wesen einem blutliebenden Gotte, das Überführen unschuldiger Personen durch das Gottesgericht mit Gift oder Feuer, Zauberei u.s.w.; und doch verlohnt es sich wohl, gelegentlich über diese Formen von Aberglauben nachzudenken; denn sie zeigen uns, in welch` unendlicher Weise wir der Vervollkommnung unseres Verstandes, der Wissenschaft und unseren aufgestapelten Kenntnissen zu Dank verpflichtet sind.“ (DARWIN 1871a, 106)

Nach DARWIN gründen alle Erscheinungen der Kultur, Moralität, Sittlichkeit und Religion in der primär sozialen Natur des Menschen, seiner Fähigkeit zur Gewissensbildung, der hochentwickelten Intelligenz und der Möglichkeit der Sprache, mittels derer er die im Lauf der Kulturentwicklung „aufgestapelten Kenntnisse“ von Generation zu Generation weitergibt. DARWIN war also auch davon überzeugt, dass die kulturelle Evolution des Menschen eine Höherentwicklung mit sich bringt, ein Gedanke, der in FREUDs kulturpessimistischer Sicht der Dinge keinen Platz hat.

Im folgenden soll nun die DARWIN-Rezeption FREUDs dargestellt und – darauf aufbauend – die Entwicklung der psychonalytischen Theorie in wesentlichen Aspekten nachgezeichnet werden, bis hin zu FREUDs Theorie des Gewissens, der psychoanalytischen Theorie der Kultur, Moralität, Sittlichkeit und Religion. Danach soll FREUDs DARWIN-Rezeption diskutiert und kritisch gewürdigt werden.

 

 

II. Die Darwin-Rezeption Sigmund Freuds

2.1. Einführung

FREUD hat – zum Zweck der naturwissenschaftlichen, anthropologischen Begründung der Psychoanalyse – in verschiedenster und grundlegendster Weise auf die Evolutionslehre DARWINs zurückgegriffen. Begeistert setzte er sich schon als junger Mensch mit DARWINs Lehre auseinander. Die damals „aktuelle Lehre DARWINs“, so schreibt er rückblickend in der berühmt gewordenen autobiographischen Schrift  „Selbstdarstellung“,  „zog mich mächtig an, weil sie eine ausserordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach (…)“ (FREUD 1925, 8) Die Psychoanalyse FREUDs ist – wissenschaftshistorisch gesehen – ohne DARWINs Evolutionslehre gar nicht denkbar.

Es war Ernst HAECKEL, der DARWINs Lehre im deutschsprachigen Raum verbreitete und populär machte. 1866 erschien HAECKELs umfangreiches Werk „Generelle Morphologie der Organismen: Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles DARWIN Deszendenztheorie.“ HAECKELs Jenaer Vorlesungen 1867-68, die in VIRCHOWs und HOLZENDORFs populärwissenschaftlichen Schriften weite Verbreitung fanden, dürften – wie RITVO darlegt (RITVO 1990, 17) vermutet – bereits dem Gymnasiasten FREUD  bekannt gewesen sein:

„the public lecture that served as a source of Darwinian inspiration for Freud as a schoolboy was on comparative anatomy, a subject of public interest in the wake of Darwin`s theory.“ (RITVO 1990, 17)

Als FREUD sich im Jahr 1873 an der Universität Wien zum Studium der Medizin einschrieb, erlebte HAECKELs voluminöses Werk „Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868)“ bereits seine vierte erweiterte Auflage. Es gilt als erwiesen, dass FREUD durch HAECKEL und einige seiner akademischen Lehrer, die ebenfalls HAECKELs Werke studiert hatten, mit DARWINs Evolutionslehre in Berührung gekommen ist. Es bleibt HAECKELs Verdienst, DARWINs Evolutionslehre im deutschsprachigen Raum, vor allem aber an den deutschsprachigen Universitäten zum Durchbruch verholfen zu haben, nachdem diese über Jahre hinweg totgeschwiegen worden war.

Unter den akademischen Lehrern, die FREUD mit der Evolutionslehre DARWINs bekanntmachten, nimmt Karl CLAUS (der in geschichtlichen Darstellung der Psychoanalyse sonst eher vernachlässigt wird) eine besondere Stellung ein. CLAUS selbst hatte Zoologie, vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte studierte (vgl. RITVO 1990, 118 ff.). In seinem Vortrag „LAMARCK als Begründer der Deszendenz-Lehre (1888)“, gehalten im wissenschaftlichen Club in Wien, hebt CLAUS hervor, dass DARWINs Werk über die Entstehung der Arten als Grundlage für eine neue Epoche der biologischen Wissenschaften zu betrachten sei. DARWIN und LAMARCKs Lehre galten ihm als eine neue, epochemachende Grundlegung der biologischen Wissenschaften, obwohl er später lamarckistischen Auffassungen skeptisch gegenüber stand (vgl. RITVO 1990, 145 f.). Im Jahr 1876 veröffentlichte CLAUS – gerade als FREUD bei ihm studierte – seine „Untersuchungen zur Erforschung der genealogischen Grundlage des Crustaceen-Systems: Ein Beitrag zur Descendenzlehre (1876)“ FREUD besuchte CLAUS` Vorlesungen über Biologie und Darwinismus (vgl. RITVO 1990, 126).

Zur selben Zeit stanmd CLAUS – dies dürfte FREUD ebenfalls nicht entgangen sein – in einer öffentlichen Kontroverse mit HAECKEL. CLAUS zählte sich zu den „gemässigten Darwinisten“, die allzu gewagten und populärwissenschftlichen Auslegungen der Evolutionslehre, wie sie HAECKEL mit seinen Stammbäumen über die  Evolution des Menschen vertrat, skeptisch gegenüberstanden (vgl. RITVO 1990, 125 ff.). CLAUS war der Auffassung, dass es zur damaligen Zeit noch nicht genügend Beweise gegeben habe, die es erlaubt hätten, derartige Abstammungsbäume zu konstruieren. HAECKEL reagierte auf CLAUS` Skepsis polemisch und schimpfte ihn öffentlich einen Anti-Darwinisten. DARWIN selbst – dies geht aus schriftlichen Dokumenten hervor – betrachtete CLAUS als getreuen Verfechter seiner Lehre und mahnte seinerseits Haeckel zur Vorsicht (vgl. WUKETITS 1987, 29 f.); CLAUS jedenfalls widmete seinen Beitrag zur Deszendenzlehre (1876) DARWIN mit herzlicher Bewunderung (vgl. RITVO, 126 f.).

Die DARWIN-Rezeption FREUDs war also in wesentlichen Teilen durch CLAUS und HAECKEL vermittelt, vermischt mit Theorien LAMARCKs und zeitgenössischen, sozialdarwinistischen Auslegungen der Evolutionslehre. Eine besondere Stellung nimmt dabei HAECKELs sogenanntes „biogenetisches Grundgesetz“ ein, das grundlegend für die Psychoanalyse werden sollte: Aus der Erkenntnis DARWINs, hervorgegangen aus Studien auf dem Gebiet der vergleichenden Embryologie und Morphologie, wonach „die ersten Stadien der Entwicklung des Menschen“ mit „denen der unmittelbar unter ihm stehenden Tiere identisch“ seien (DARWIN 1871b, 10/11) zog HAECKEL den Schluss, dass die Individualentwicklung (Ontogenese) des Menschen eine verkürzte Wiederholung der Artentwicklung (Phylogenese) sei. Die genetische, entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise, die darin besteht, alle „höheren“ Entwicklungsphasen aus vorangegangen „niederen“ zu erklären, wurde geradezu zum Fundament psychoanalytischen Denkens.

Dies gilt nun – in Anwendung des HAECKELschen „Grundgesetzes“ – für die stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen ebenso wie für die  Phasen der Entwicklung des einzelnen Menschen. Die Erkenntnis, dass der Mensch – stammesgeschichtlich und individualgeschichtlich – nur aus seiner „Entwicklung“ zu „erklären“ sei, ist eine der Säulen de psychoanalytischen Denkens FREUDs.

 

2.2. Anna O.

Nachdem der neunzehnjährige FREUD CLAUS` Institut der Vergleichenden Anatomie verlassen hatte, war er sechs Jahre in BRÜCKEs Laboratorium tätig, wo er hochqualifizierte Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Gehirnanatomie durchführte. Dort kam er mit MEYNERT in Berührung, der versuchte, psychische Funktionen mit dem anatomischen Aufbau des Gehirns in Verbindung zu bringen (vgl. ELLENBERGER Band II. 1972, 655). MEYNERTs Einfluss auf FREUD lässt sich noch Jahre später nachweisen, als FREUD seinerseits psychische Funktionen mit gehirnanatomischen Erkenntnissen zu verbinden suchte.

Entscheidend für die Entwicklung der Psychoanalyse war in der Folge FREUDs dreijährige Assistenzzeit im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, wo er zum erstenmal mit Patienten in Berührung kam; dies sollte seine Forschungsrichtung entscheidend verändern. Nun wandte er sich der klinischen Neurologie zu. Er wurde Direktor der neurologischen Abteilung des Kassowitz-Instituts, wo er Kinder mit Gehirnlähmungen untersuchte und sich bald einen ausgezeichneten Ruf als Spezialist für diese Erkrankung erwarb (vgl. ELLENBERGER Band II. 1972, 652). In dieser Zeit wurde er auf Josef BREUER aufmersam, dessen Arbeiten er sehr schätzte.

Bis heute beginnt eigentlich jede historische Darstellung der Psychoanalyse mit der Bekanntschaft zwischen FREUD und BREUER. In den Jahren 1880 hatte BREUER eine Patientin, die später unter dem Psyeudonym Anna O. in die Geschichte der Psychoanalyse einging, mittels Hypnose behandelt. Anna O. litt an den verschiedensten hysterischen Symptomen und BREUER versuchte, wie es damals üblich war, diese Symptome durch Hypnose zum Verschwinden zu bringen (vgl. dazu im folgenden THOMPSON 1952, 89; ROAZEN 1977, 89; WOLLHEIM 1972, 22 ff., ELLENBERGER Band II. 1972, 659 ff.).

Im Zustand der Hypnose erinnerte sich Anna O. an Ereignisse in ihrem Leben, die etwas mit ihren hysterischen Symptomen zu tun hatten, welche ihr jedoch im „wachen“ Zustand nicht zugänglich waren. Unter Hypnose erst konnte sie über derartige Erinnerungen sprechen und es stellte sich heraus, dass die geschilderten Ereignisse in einem engen Zusammenhang mit dem ersten Auftreten der hysterischen Symptomen standen. BREUER stellte auch fest, dass die schweren hysterischen Symptome zurückgingen, nachdem Anna O. über die damit verbundenen, unbewussten Erinnerungen gesprochen hatte.

Einmal litt Anna O. an einer hysterischen Lähmung eines Armes. Es stellte sich heraus, dass dieses Symptom zu einer besonderen Erinnerung gehörte: Sie hatte ihren todkranken Vater gepflegt und während sie am Bett des Vaters auf die Ankunft des Arztes aus der nahegelegenen Stadt wartete, war sie in einen Halbschlaf verfallen. In diesem halbwachen Zustand hatte sie einen Traum: Eine Schlange, die aus der Wand kam, kroch auf ihren Vater zu; sie wollte sie packen, konnte es jedoch nicht, da ihr Arm wie gelähmt war. Als sie aufschreckte, merkte sie, dass ihr rückwärts über die Sessellehne hängender Arm eingeschlafen war. Nachdem sie dies erzählt hatte, war die Lähmung verschwunden.

BREUER kam durch diese und ähnliche Erfahrungen zu dem Schluss, dass hysterische Symptome dadurch entstehen, dass unangenehme Erlebnisse (wie das der Hilflosigkeit der Anna O., als sie im Wachtraum ihren Vater vor dem Biss der Schlange schützen wollte) aus dem Bewusstsein ausgeschlossen seien. Da die Symptome durch die Hypnose zum Verschwinden gebracht werden konnten, so schloss er, müssten sie auch in einem halbschlafartigen, unbewussten, „hypnoiden“ Zustand entstanden sein; deshalb seien die entsprechenden Erfahrungen dem Bewusstsein nicht zugänglich und so könnten die damit verbundenen unangenehmen Gefühle aus dem „Unbewussten“ ihre pathogene Kraft entfalten.

BREUER erzählte FREUD im November 1882 vom Fall der Anna O. FREUD war stark beeindruckt und berichtete seinerseits CHARCOT in Paris davon, wo er im Jahr 1885 einige Monate an dessen Klinik studierte (vgl. BRENNER 1976, 18). Der „Meister“ aber wollte nichts davon wissen, was FREUDs Begeisterung zunächst einmal dämpfte.

In Wien zurück, wandte sich FREUD – nun in der eigenen Praxis – wieder der „kathartischen Methode“ BREUERs zu und behandelte einige Patienten. 1895 – also vierzehn Jahre nach dem Fall der Anna O. – veröffentlichten FREUD und BREUER ihre Erkenntnisse in den „Studien über Hysterie“, wo bereits erste Meinungsverschiedenheiten hervortraten. Hatte BREUER die Ursache der Hysterie in zufälligen halbschlafähnlichen, „hypnoiden“ Zuständen gesehen, die zur Abspaltung unangenehmer Erlebnisse aus dem Bewusstsein führen, so war FREUD der Meinung, dass die sogenannte Abspaltung, die er später „Abwehr“ bzw. „Verdrängung“ nannte, durchaus nicht zufällig, sondern die Wirkung bestimmter Absichten und Tendenzen sei; BREUER meinte, wie FREUD in der „Selbstdarstellung“ schreibt, dass hysterische Symptome „in aussergewöhnlichen – hypnoiden – Seelenzuständen entstanden seien. (…) Ich hingegen vermutete eher ein Kräftespiel, die Wirkung von Absichten und Tendenzen, wie sie im normalen Leben zu beobachten sind.“ (FREUD 1925, 24) Beide stimmten darin überein, dass ein traumatisches Erlebnis abgespalten oder, wie FREUD es später nannte, verdrängt werde, so dass der damit verbundene Affekt nicht angemessen entladen werden kann. Und beide gingen davon aus, dass das Symptom ein symbolischer Ausdruck des abgespaltenen Erlebnisses sei und dass das hysterische Symptom geheilt werden könne, indem man die zugrundeliegende traumatische Erfahrung ins Bewusstsein zurückruft (vgl. THOMPSON 1952, 93).

Mitte der 1890er Jahre verzichtete FREUD immer mehr auf die Hypnose als Behandlungstechnik. In der Geschichte der Elisabeth von R., dargestellt in den „Studien zur Hysterie“, beschrieb er die Methode der „freien Assoziation“, die ihm die Patientin selbst nahegelegt hatte. Allerdings stiess er bei der Arbeit auf einige Schwierigkeiten; bei der Suche nach dem traumatischen Erlebnis fand FREUD oft mehr oder weniger unbedeutende Erinnerungen an Erlebnisse, die entweder nichts oder nur wenig mit den Symptomen zu tun hatten. Es schien unwahrscheinlich, dass sie die Hysterie ausgelöst haben. So kam FREUD zu der Theorie, dass sie nur auslösende Anlässe waren, die unbewusste Erinnerungen an viel frühere traumatische Erfahrungen in der Kindheit wieder erweckten, die immer sexueller Natur seien. „FREUD behauptete, in achtzehn vollständig analysierten Fällen habe er gefunden, daß der Patient das Opfer einer Verführung durch einen Erwachsenen gewesen sei …“ (ELLENBERGER, Band II. 1973, 673) So kam FREUD dazu, Hysterie auf sexuelle Verführung zurückzuführen, und später „die Neurosen ganz allgemein als Störungen der Sexualfunktion zu erkennen …“ (FREUD 1925, 26)

Im Jahr 1896 entwarf FREUD, darauf aufbauend, eine systematische Einteilung der Neurosen in Hysterie und Zwangsneurosen. Die Ursache der Hysterie sah er in einer in der Kindheit passiv erlittenen sexuellen Verführung durch einen Erwachsenen, die Ursache der Zwangsneurose war grundsätzlich dieselbe, mit dem einen Unterschied, daß das Kind dabei selbst Lust empfand und infolgedessen eine aktivere Rolle spielte (vgl. ELLENBERGER, Band II 1973, 672). Das Schuldgefühl, das auf das Empfinden der eigenen Lust folgte, muss dann in neurotischen Zwangshandlungen besänftigt werden, die als neurotische Symptome zum Vorschein kommen. Nur ein Jahr später gab FREUD seine Verführungstheorie wieder auf und ordnete „Erinnerungen“ seiner Patienten über sexuelle Verführungen als Phantasien ein (vgl. LAPLANCHE/PONTALIS Band II. 1975, 589); die Bedeutung äusserer Traumen durch sexuelle Verführung wurde zugunsten sexueller Phantasien eingeschränkt. „Es folgte bald die Einsicht“, schreibt FREUD in seiner Abhandlung „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“,

„… daß diese Phantasien dazu bestimmt seien, die autoerotische Betätigung der ersten Kinderjahre zu verdecken, zu beschönigen und auf eine höhere Stufe zu heben, und nun kam hinter diesen Phantasien das Sexualleben des Kindes in seinem ganzen Umfange zum Vorschein.“ (FREUD 1914d, 56)

Damit hatte FREUD die infantilen Sexualität und ihre Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Seelenlebens entdeckt, die er später in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (FREUD 1905d)“ umfassend darstellt.

 

2.3. … und die Folgen

Im Grunde waren zu jener Zeit die Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie geschaffen. FREUD hatte die Hypnose durch die Methode der „freien Assoziation“ ersetzt; so konnte er feststellen, dass seine Patienten, während sie frei assozierten, Gefühle entwickelten, die sie auf den Arzt übertrugen; diesen Vorgang nannte er „Übertragung“. Wehrten sich seine Patienten dagegen, diese Gefühle aufkommen zu lassen, so erkannte FREUD darin die Vorgänge von „Abwehr“ und „Widerstand“. Den Versuch seiner Patienten, unangenehme Eindrücke aus dem Bewusstsein auszuschalten, nannte er „Verdrängung“. FREUD resümiert selbst:

„Die Lehren vom Widerstand und von der Verdrängung, vom Unbewussten, von der ätiologischen Bedeutung des Sexuallebens und der Wichtigkeit der Kindheitserlebnisse sind die Hauptbestandteile des psychoanalytischen Lehrgebäudes.“ (FREUD 1925, 44 f.)

Da FREUD nun davon ausging, dass von der „Verdrängung“ vor allem sexuelle Vorstellungen betroffen seien, musste er annehmen, dass diesen auch „etwas“ entsprach, das verdrängt wird, die sexuellen oder – wie er sie auch nannte – die libidinösen Triebe. Und es musste eine entsprechende Kraft geben, die die Verdrängung erzwingt, die Selbsterhaltungstriebe. So kam FREUD dazu, die im psychischen Konflikt einander widerstreitenden Vorstellungen auf „einen Konflikt zwischen den sexuellen oder libidinösen Trieben und den Selbsterhaltungstrieben, die er später „Ichtriebe“ nannte“ (NAGERA 1978, 26) zurückzuführen. Damit waren in den Jahren 1894-1911 die triebpsychologischen Grundlagen der Psychoanalyse geschaffen. FREUDs Triebtheorie blieb, auch wenn er sie später (1911-14, 1915-20 und 1920-39) mehrfach modifizierte, eine dualistische; die Auffassung vom Seelenleben als einem ständigen Konflikt zwischen Trieben und Instanzen wurde konstitutiv für FREUDs gesamte Theorie.

Eng verbunden mit der Triebtheorie FREUDs ist das sogenannte Struktur- oder Instanzenmodell der menschlichen Persönlichkeit. In Ansätzen war es bereits vor der Abhandlung über „Das Unbewusste“ (1915e) vorhanden; es wurde jedoch in „Das Ich und das Es“ (1923b) revidiert und ausformuliert. Da die Triebe zur biologischen Ausstattung des Menschen gehören, mussten sie – nach damaligen gehirnanatomischen Erkenntnissen – auch irgendwo lokalisiert sein. So entstand die Vorstellung vom „Unbewussten“ als einem „Ort“, wo die Triebe ihren Ursprung haben; später, als FREUD erkannt hatte, dass die Unterteilung der Seele in das „Unbewusste“, „Vorbewusste“ und „Bewusste“ unzulänglich war, entwickelte er ein sogenanntes Strukturmodell der menschlichen Persönlichkeit in Analogie zum anatomischen Aufbau des Gehirns. So entspricht die dreiteilige Struktur von Es, Ich und Über-Ich dem anatomischen Aufbau des menschlichen Gehirns. Im Stammhirn sind – analog zum Es – die aus der Evolution ererbten „niederen“, Instinkte und Triebe lokalisiert. Das Zwischenhirn entspricht den psychischen Funktionen des Ich, während das Grosshirn die „höheren“ Funktionen des Über-Ich repräsentiert. Hier macht sich der Einfluss MEYNERTs, bei dem FREUD früher studierte, bemerkbar, der schon früher versuchte, psychische Funktionen in Analogie zum menschlichen Gehirn zu beschreiben. Auch die Einflüsse DARWINs und HAECKELs sind deutlich zu erkennen, insofern als die stammesgeschichtlich früheren Instinkte und Triebe des Es durch die Funktionen des Ich und des Über-Ich kulturell überformt sind.

Es kann hier nicht darum gehen, die Psychoanalyse FREUDs in allen Einzelheiten nachzuzeichnen; es sollen nur die Aspekte dargestellt werden, die – durch die Rezeption von DARWIN und HAECKEL – zur Ausformulierung der Psychoanalyse führten. Es fehlte noch die „Entdeckung“ des Ödipuskomplex, der – vermischt mit Spekulationen DARWINs über den Ursprung der Menschheit – zur Grundlage einer umfassenden psychoanalytischen Theorie der Kultur, der Moral, der Sittlichkeit und der Religion werden sollte.

 

2.4. Ödipus-Komplex

FREUD bezeichnete in seiner Schrift „`Psychoanalyse` und `Libidotheorie`“ (1923a)“ den Ödipus-Komplex als den Grundpfeiler seiner Theorie (FREUD 1923a, 223). Der Name ist bekanntlich der griechischen Tragödie „Ödipus Rex“ von Sophokles entlehnt. Sie handelt von dem antiken König Ödipus, der, ohne es zu wissen, seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete, bevor er sich schliesslich zur Strafe selbst blendete. In der griechischen Tragödie des Sophokles sah FREUD schliesslich einen Grund für die Annahme der Ubiquität des Ödipus-Komplex, auf der er seine gesamtes psychoanalytisches Lehrgebäude und schliesslich – vermengt mit DARWINs sogenanntem Urhorden-Motiv – seine Theorie der Kultur aufbaute.

Der Ausdruck „Ödipus-Komplex“ erscheint in FREUDs Schriften zum erstenmal im Jahre 1910 in der Schrift „Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne“; die Zusammenhänge scheint FREUD aber durch die Analyse seiner Patienten bereits in der Zeit um 1897 geahnt zu haben (vgl. LAPLANCHE/PONTALIS Band II. 1975, 351). Hinzu kam eine Selbstanalyse, durch die er auf die Liebe zu seiner Mutter und auf die Eifersucht gegenüber seinem Vater stiess, die im Konflikt mit der Zuneigung stand, die er für ihn empfand. Am 15. Oktober 1897 schreibt er an FLIESS: „… man versteht die packende Macht des Königs Ödipus …, die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat“. (FREUD 1887-1902, 238; zit. nach LAPLANCHE/PONTALIS Band II. 1975, 352)

In der „Traumdeutung (1900a)“ stellt FREUD den Ödipus-Komplex in Zusammenhang mit der infantilen Sexualität, jedoch ohne den Begriff zu verwenden. Dort schreibt er, dass die erste Neigung des Mädchens dem Vater, die ersten infantilen Begierden des Knaben der Mutter gelten“. (FREUD 1900a, 264) Demnach richtet der Knabe seine ersten libidinösen Wünsche auf die Mutter und tritt in Rivalität mit dem Vater. Der Ödipuskomplex besteht also aus der Liebe für den gleichgeschlechtlichen Elternteil und dem eifersüchtigen Hass auf den gegengeschlechtlichen Elternteil, der bis zum Todeswunsch geht (vgl. FREUD 1923b, 261). Der Ödipuskomplex wird nach FREUD zwischen dem dritten und fünften Jahr auf seinem Höhepunkt erlebt, also in der sogenannt phallischen Phase, wie FREUD sie in der Abhandlung über „Die infantile Genitalorganisation (1923e)“ beschrieb. Nach der sogenannten „Latenzperiode“ wird der Ödipuskomplex in der Pubertät wiederbelebt und dann mit mehr oder weniger Erfolg überwunden.

Die Überwindung des Ödipuskomplexes, wie FREUD sie in „Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924d)“ darstellte, wird durch eine phantasierte oder reale Kastrationsdrohung eingeleitet, meist von seiten des Vaters, mit dem der Knabe rivalisiert. Verstärkt wird die sogenannte Kastrationsangst des Knaben noch durch den Anblick des weiblichen Genitales (vgl. FREUD 1924d, 395-397), wodurch sich seine Kastrationsangst zur schieren Gewissheit steigert. Der Knabe überwindet nun diese Kastrationsangst, indem er sich dem Verbot (Inzestverbot) des Vaters unterwirft, das Verbot des Vaters oder der Mutter introjiziert, so dass es zum Kern des Über-Ich wird. Die libidinösen Wünsche gegenüber der Mutter werden aufgegeben und durch verstärkte Identifizierung mit dem Vater ersetzt. „Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert … zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt.“ (FREUD 1924d, 399) Das führt zur Bildung des Über-Ich, d.h zur Gewissensbildung durch Introjektion der elterlichen Verbote. Und damit sind nach FREUD alle Vorgänge eingeleitet, „die auf die Einreihung des Einzelwesens in die Kulturgemeinschaft abzielen“. (FREUD 1931b, 521)

Daneben betont FREUD den Aspekt der Reifung, der zum Untergang des Ödipuskomplex`, zur Gewissensbildung und somit zur „Einreihung des Einzelwesens in die Kulturgemeinschaft“ führt:

„… der Ödipuskomplex muss fallen, weil die Zeit für seine Auflösung gekommen ist, wie die Milchzähne ausfallen, wenn die definitiven nachrücken. Wenn der Ödipuskomplex auch von den meisten Menschenkindern individuell durchlebt wird, so ist er doch ein durch die Heredität bestimmtes, von ihr angelegtes Phänomen, welches programmgenäss vergehen muss, wenn die nächste vorherbestimmte Entwicklungsphase einsetzt.“ (FREUD 1924d, 395)

FREUDs Auffassung, dass der Ödipuskomplex ein stammesgeschichtlich angelegtes Phänomen sei, das individuell durchlebt wird, darf durchaus als Hinweis auf HAECKELs „biogenetisches Grundgesetz“ gewertet werden. FREUD spricht auch von der „Überwindung des Ödipuskomplexes“ als der „zweckmässigsten Bewältigung der archaischen, animalischen Erbschaft des Menschen“ (FREUD 1919g, 328), was ebenfalls von DARWINs Einfluss auf FREUD zeugt.

Anzumerken ist hier jedoch folgendes: Während für DARWIN das Gewissen primär im „sozialen Instinkt“ des Menschen gründet, konnte FREUD eine primär soziale Disposition für die Entwicklung des Gewissens nicht finden; entsprechend seinem Instanzenmodell der menschlichen Persönlichkeit steht das Über-Ich, d.h. das Gewissen im ständigen Konflikt mit dem asozialen, animalischen, archaischen Erbe des Menschen, den Trieben.

Es wird hier schon eine wesentliche Eingentümlichkeit der DARWIN-Rezeption FREUDs deutlich: Obschon FREUD auf DARWIN zurückgreift, ordnet er evolutionstheoretische Erkenntnisse in sein psychologisches Modell ein, wobei diese eine völlig andere, zum Teil sogar entgegengesetzte Bedeutung erhalten, wie dies an der Entstehung des Gewissens als der psychisch-sittlichen Grundlage der Kulturentwicklung gezeigt werden konnte.

Dieselbe Eigentümlichkeit finden wir in der Kulturtheorie FREUDs, die auf dem von DARWIN übernommenen Urhordenmotiv aufbaut. Auch hier zeigt sich, dass FREUD zwar auf DARWINs Theorie zurückgreift, aber, in seine Theorie integriert, eine ganz andere Bedeutung erhält. Im folgenden soll deshalb die Entwicklung FREUDschen Kulturtheorie unter dem Einfluss von HAECKEL, DARWIN und anderen Evolutionisten etwas breiter dargestellt werden, um sie schliesslich im Vergleich mit DARWINs eigener Theorie der Kultur, Moralität, Sittlichkeit und Religion einer kritischen Würdigung zu unterziehen.

 

2.5 Kultur

FREUDs Interesse galt – wie gezeigt – zunächst dem einzelnen Menschen und seinem persönlichen Schicksal; viele Menschen, so fand er, litten an den Folgen verdrängter sexueller Wünsche und es war nur eine Frage der Zeit, bis FREUD darauf kam, die Ursachen der Verdrängung beim Einzelnen nicht nur in familiären Erfahrungen der Kindheit zu suchen, sondern dahinter ganz allgemein die allgemein vorherrschende Sexualmoral der christlich-abendländischen Religion und Kultur zu sehen.

Neben einigen vereinzelten Äusserungen in „Die Traumdeutung“ (1900a) und in „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ (1901b) findet dieser Gedanke breiteren Ausdruck in seiner Schrift „Zwangshandlungen und Religionsübungen“ (1907b). FREUD weist hier auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Zwangshandlungen von Neurotikern und religiösen Ritualen von Gläubigen hin; er hebt besonders das Schuldgefühl hervor, etwas nicht recht getan zu haben, das sowohl den Zwangshandlungen der Neurotiker ebenso wie den Religionsübungen der Gläubigen zugrundeliegt. Beide verhielten sich so, als stünden sie „unter der Herrschaft eines Schuldbewusstseins“ (FREUD 1901b, 135), von dem sie nichts wissen, „eines unbewussten Schuldbewusstseins also“ (FREUD 1901b, 135). Das Schuldgefühl tritt bei jeder erneuten Versuchung sexueller Art auf und ist verknüpft mit einer Unheilserwartung, die von früheren Bestrafungen herrührt. Mit Zwangs- bzw. Busshandlungen versucht sich nun der Betreffende vor aufkeimenden Triebregungen zu schützen oder, genauer gesagt, die damit einhergehenden Schuldgefühle abzuwehren.

Wir sehen: Die Zwangshandlung bzw. das religiöse Zeremoniell gilt für FREUD als eine „Abwehr- oder Versicherungshandlung“ (FREUD 1901b, 135f.). Gelingt die Abwehr der sexuellen Triebregungen nicht, die ja der Gläubige verdrängen muss, um sich vor der erwarteten Strafe zu sichern, so schützt sich der Fromme mit seinen „Busshandlungen, zu denen man in der Zwangsneurose die Gegenstücke findet“ (FREUD 1901b, 137). FREUD kommt, in einer kühnen Erweiterung seiner Gedanken, zu dem allgemeinen Schluss,

„die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.“ (FREUD 1901b, 138f.)

Die Ähnlichkeiten zwischen Erscheinungen der Zwangsneurose und denen religiöser Zeremonielle scheinen ihn zu diesen „Analogieschlüssen“ zu berechtigen (vgl. auch SCHLEDERER 1977, 1000); sein Denken in Analogieschlüssen verleitet ihn auch – wie noch gezeigt wird – unter Rückgriff auf HAECKELs „biogenetisches Grundgesetz“, die „Analogie“ der individuellen psychischen Entwicklung und der allgemeinen kulturellen Entwicklung zu behaupten, ein Gedanke, den er, vermischt mit DARWINs hypothetischer Annahme über das Leben in der sogenannten Urhorde und seinen eigenen Überlegungen zum Ödipuskomplex, in „Totem und Tabu“ (1912-13) ausführt.

Tatsächlich greift FREUD in seinem umfassenden kulturpsychologischen Werk „Totem und Tabu“ (1912-13) Gedanken aus „Zwangshandlungen und Religionsübungen“ (1907b) wieder auf und entwickelt sie im genannten Sinne weiter; wiederum soll die Neurose zum Verständnis allgemeiner kultureller Erscheinungen dienen. So lautetet auch der Untertiltel des Werkes: „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“. Der Untertitel weist auch „auf den anfänglich gesellschaftlich und kulturell gemeinten Ansatz hin, der sich freilich im Anliegen FREUDs als religiöser verstand“ (SCHLEDERER 1977, 1003).

FREUD glaubte, Ähnlichkeiten zwischen dem Weltbild von Neurotikern und dem animistischen Weltbild primitiver Völker gefunden zu haben. Grundlegend sei der Glaube an die „Allmacht der Gedanken“ (FREUD 1912-13, 107), der dem Zwangsneurotiker ebenso wie dem sogenannten Wilden eigen sei. Beide setzten gegen ihre Befürchtungen magische Rituale, im Glauben, damit die Ursache ihrer Befürchtungen bannen zu können.

„… das heisst nur das intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte ist bei ihnen wirksam, dessen Übereinstimmung mit der äusseren Realität aber nebensächlich. … So erweist sich die Allmacht der Gedanken, die Überschätung der seelischen Vorgänge gegen die Realität, als uneingeschränkt wirksam im Affektleben des Neurotikers mit allen von diesem ausgehenden Folgen. … Durch dieses Verhalten wie durch seinen im Leben bestätigten Aberglauben zeigt er uns aber, wie nahe er dem Wilden steht, der durch seine blossen Gedanken die Aussenwelt zu ändern scheint.“ (FREUD 1912-12, 107)

Die Befürchtungen, die Neurotiker wie „Wilde“ mit magischen Ritualen zu bannen versuchen, lassen sich nach FREUD auf Verbote zurückführen. Wo Befürchtungen bestehen, ein Verbot zu übertreten, müssen auch Wünsche vorhanden sein, dies zu tun; diese Wünsche sind nach FREUD die unbewussten Triebwünsche des Menschen.

Bleibt noch die Frage, woher das Verbot rührt? Die Antwort kann nach FREUD nur in Erscheinungen der menschlichen Kultur liegen. So spürte FREUD, nachdem er sich mit den ethnologischen Studien FRAZERs (1910), TYLORs, ATKINSONs und LANGs (1903) befasst hatte, dem Ursprung der menschlichen Kultur, Religion, Gesellschaft, Recht und Moral anhand von Erscheinungen des Totemismus in sogenannt primitiven Kulturen nach. Totemismus ist eine Bezeichnung für ein bestimmtes System sozialer, religiöser und moralischer Einrichtungen in ursprünglichen Clans oder Sippen, in deren Mittelpunkt das Totem steht. Das Totem ist ein Tier, eine Pflanze oder eine Naturkraft, „welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht“ (FREUD 1912-13, 7). Es ist „Stammvater“ und „Schutzgeist“ der Sippe, und die Mitglieder der Sippe, die dem Totem angehören, gelten einander als blutsverwandt. Mitglieder desselben Totems dürfen einander nicht heiraten, sie sind für den Sexualverkehr tabu. Das sogenannte „Inzesttabu“ schafft demzufolge exogame Verhältnisse. Verstösst ein Mitglied des Totem gegen dieses Tabu, so bedroht es die ganze Gemeinschaft, was mit schwerer Schuld bestraft wird. Es macht sich gegen das Totem selbst, gegen den „Stammvater“ und „Schutzgeist“ der Sippe oder des Clans schuldig.

Nun hatte FREUD im Ödipuskomplex ähnlich Verhältnisse beschrieben, wie er sie in den primitiven Urgesellschaften fand. Im Kern des Ödipuskomplex steht nach FREUD der Inzestwunsch, das sexuelle Begehren der Mutter und der Schwestern, bei Mädchen die entsprechenden Gefühle für den Vater und die Brüder; schliesslich findet man auch des Inzestverbot des gegengeschlechtlichen Elternteils einschliesslich der Androhung von Strafe. Die Analogie der Verhältnisse liess FREUD mutmassen, dass sich hinter der Totemverehrung, dem Inzesttabu und der Exogamieforderung in primitiven Kulturen die von ihm beschriebene Ödipusproblematik verberge.

Die Hypothese DARWINs aufgreifend, wonach die urzeitlichen Menschen in Horden unter der Herrschaft eines tyrannischen gewalttätigen Urvaters gelebt hätten (vgl. FREUD 1912-13, 170), rekonstruiert FREUD in einem gewaltigen spekulativen Wurf die Anfänge von Kultur, Religion, Sittlichkeit und Moral: Der despotische Urvater habe eifersüchtig über die Weibchen gewacht (Inzestverbot) und die heranwachsenden Söhne vertrieben (Zwang zur Exogamie), sobald diese geschlechtsreif geworden seien.. Eines Tages nun hätten sich die vertriebenen Brüder zusammengetan, den Urvater ermordet und verzehrt, der sie einst grausam unterdrückt und verjagt hatte. Dass die Brüder den Getöteten verzehrt hätten, sei für kannibale Wilde selbstverständlich gewesen. Im Verzehren hätten sie sich jeder ein Stück seiner Stärke angeeignet und die Identifikation mit ihm durchgeführt. Die Totemmahlzeit, die wir in vielen urtümlichen Clans und Sippen finden, sei nach FREUD eine Wiederholung und Gedenkfeier jener „ersten verbrecherischen Tat“ (FREUD 1912-13, 172), „mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.“ (FREUD 1912-12, 172)

Unmittelbar nach ihrer verbrecherischen Tat seien die Söhne des Urvaters von denselben einander widersprechenden Gefühlen beherrscht gewesen, die wir auch auch von der ödipalen Problematik unserer Kinder her kennen (vgl. Kap. 2.4. Ödipuskomplex):

Sie hassten den Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch. Nachdem sie ihn beseitigt hatten, ihren Hass befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mussten sich die dabei überwältigenden zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. Es geschah in der Form der Reue, es entstand ein Schuldbewusstsein, welches hier mit der gemeinsam empfundenen Reue zusammenfällt.“ (FREUD 1912-13, 173)

Aus dem Schulgefühl, das auf die verbrecherische Tat folgte, begannen die Mitglieder der Brüderhorde den getöteten Urvater als Totem, später als Gott Vater zu verehren und sich in einem allgemeinen Akt „nachträglichen Gehorsams“ (FREUD 1912-13, 173) seinem Inzestverbot zu unterwerfen. Gleichzeitig verurteilten sie ihre mörderische Tat und verboten sich nachträglich den Vatermord, woraus später der allgemeingültige Satz „Du sollst nicht töten!“ der Zehn Gebote hervorging. Auif diese Weise sei so etwas wie ein kollektives Über-Ich entstanden. Und dies sei nach FREUD der Ursprung der menschlichen Kultur, Moral und Religion gewesen.

Rückblickend schreibt FREUD:

Im Jahre 1912 habe ich die Vermutung von Ch. DARWIN (!) aufgenommen, dass die Urform der menschlichen Gesellschaft die von einem starken Männchen unumschränkt beherrschte Horde war. Ich habe darzulegen versucht, … dass die Entwicklung des Totemismus, der die Anfänge von religion, Sittlichkeit und sozialer Gliederung in sich fasst, mit der gewaltsamen Tötung des Oberhauptes und der Umwandlung der Vaterhorde in eine Brüdergemeinde zusammenhängt.“ FREUD 1921c, 136)

Nun sei nach FREUD das Geschehen in der Urhorde (Mord am Urvater, Entstehung von Schuldgefühlen als Grundlage von Religion, Sittlichkeit und Moral) ins Artgedächtnis der Menschheit übergegangen (vgl. GÖRLICH/LORENZER/SCHMIDT 1980, 16), so dass jedes Kind mit einer ererbten Neigung zur Blutschande (Inzestwunsch und instinktiver Hass auf den Vater) geboren wird und diese in der sogenannten ödipalen Phase durchlebt. Diese Phase ist dann glücklich durchlebt, wenn das Kind schliesslich seinen Inzestwunsch gegenüber seiner Mutter verdrängt, sich mit den Geboten und Verboten des Vaters identifiziert und diese ins Über-Ich intzrojiziert. Die Eingliederung des Kindes in die Kultur ist somit eine verkürzte Wiederholung der gesamten Kulturentwicklung der Menschheit.

Unschwer ist hier zu erkennen, dass FREUD das „biogenetische Grundgesetz“ HAECKELs, wonach die Individualentwicklung eine verkürzte Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung ist, auf das Seelenleben des Menschen überträgt. Darüber hinaus nahm FREUD an, indem er sich auf LAMARCKs Theorie von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ berief, dass es um eine genetisch bedingtes Wiederholen eines phylogenetischen Erbes sei. Beide Annahmen, sowohl die HAECKELs wie auch die LAMARCKs sind von seiten der biologischen Wissenschaften längst bestritten und widerlegt.

Was bleibt, ist die Annahme FREUDs, gestützt auf DARWINs hypothetischer Annahme von der „Urhorde“, dass im Ödipuskomplex die Anfänge der Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kultur zu finden seien:

So möchte ich zum Schluss dieser mit äusserster Verkürzung geführten Untersuchung das Ergebnis aussprechen, dass im Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen … (FREUD 1912-13, 188)

Am Anfang der Menschheitsentwicklung stand nach FREUD die verbrecherische, asoziale Tat; und dieses asoziale Geschehen (Neigung zur Blutschande, Hass auf den Vater), so behauptet er in Anlehnung an LAMARCK, sei ins Erbgut des Menschen übergegangen. Der Mensch ist also nach FREUD ein asoziales Triebwesen, das nur durch Unterdrückung, d.h. Verdrängung und Sublimierung seiner asozialen Neigungen und Triebe zum Zusammenleben in Kultur fähig wird. FREUD kommt deshalb zu dem Schluss:

„Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder Einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden. Ausser der Lebensnot sind es wohl die aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche die Individuen zu diesem Verzicht bewogen haben.“ (FREUD1908d, 150)

Wir sehen deutlich, dass FREUD das „soziale Gefühl“ als unabdingbare Grundlage der Kultur aus dem Triebverzicht ableitet;  Nun hat sich DARWIN, auf den sich FREUD beruft, ausdrücklich gegen die

 

 

III. Die Darwin-Rezeption Alfred Adlers

3.1. Einführung

ADLER hat zur wissenschaftlichen, anthroplogischen Begründung der Individualpsychologie auf die Evolutionslehre DARWINs zurückgegriffen, jedoch in einem ganz anderen Sinn als FREUD. Aus dem Vergleich der DARWIN-Rezeption ADLERs und FREUDs lassen sich unterschiedliche anthropologische Auffassungen über das Wesen Mensch herausarbeiten, die der Psychoanalyse FREUDs und der Individualpsychologie ADLERs zugrundeliegen; diese verschiedenen Grundannahmen über die Natur des Menschen sind es auch- so die These -, die zu der gegensätzlichen Rezeption der Evolutionslehre DARWINs bei FREUD und bei ADLER geführt hat.

Im Jahr 1899, als FREUDs „Traumdeutung“ erschienen war, begegneten sich FREUD und ADLER zum erstenmal. ADLER hatte FREUDs Auffassungen, die damals ausserordentlich umstritten waren, vor dem Wiener Ärzteverein verteidigt (vgl. SPERBER 1926, 18), worauf FREUD ihn zu den Mittwochabend-Diskussionen in der Berggasse eingeladen haben soll. Von 1902 an nahm ADLER an der sogenannten „Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft“, in der sich die Tiefenpsychologen der ersten Stunde trafen, um sich über die verschiedensten Fragen der Psychologie auseinanderzusetzen. 1907 erschien ADLERs erstes grösseres Werk, die `Studie über die Minderwertigkeit von Organen`, in der er Zusammenhänge zwischen organischen Gegebenheiten und der Psychogenese von Neurosen darstellt.

Noch im Jahr 1908 stand ADLER auf dem Boden einer biologischen begründeten Triebpsychologie, die ihn mit FREUD verband; so hatte er in seinem Vortrag über den „Sadismus im Leben und in der Neurose“ (1908) die Existenz eines Aggressionstriebes im menschlichen Seelenleben angenommen, eine spekulative Annahme, die FREUD im Jahr 1920 wieder aufgriff und erst dann in seine Theorie einführte. ADLER jedoch hatte bereits in den Jahren 1909-1910 seine Auffassung wieder verworfen, wobei er sich grundsätzlich von der Triebpsychologie abwandte. Rückblickend schreibt er:

„Im Jahre 1908 kam ich auf den Gedanken, dass sich jedes Individuum eigentlich stets in einem Zustand der Aggression befindet, und unvorsichtigerweise habe ich diese Stellungnahme Aggressionstrieb genannt. Wer diese Arbeit zur Hand nimmt, wird darin die Grundlage jener psychologischen Schule finden, die sich später als Triebpsychologie entwickelte. Bald erkannt ich jedoch, dass es sich dabei gar nicht um einen Trieb handelt …“ (ADLER 1931c, 2)

„Diese Auffassung litt an dem Mangel, dass sie eine biologische war und sich zum lückenlosen Verständnis der … Erscheinungen nicht eignete.“ (NUNBERG/FEDERN Bd.2 1977, 385) Psychische Erscheinungen, so legt ADLER nunmehr dar, können nicht biologisch verstanden werden; er betont, „dass man sie nicht biologisch fassen kann, sondern psychologisch fassen muss oder kulturpsychologisch.“ (NUNBERG/FEDERN Bd.2 1977, 385) An die Stelle des Aggressionstriebes tritt nun die Dynamik des „männlichen Protests“ im Sinne eines kulturell bedingten „Strebens nach Macht“ und „männlicher Überlegenheit“ in all seinen aggressiven Erscheinungsformen. An die Stelle einer biologischen Erklärung tritt damit eine psychologische bzw. kulturpsychologische Betrachtungsweise.

In den Jahren 1910-1913 ist der „männliche Protest“ das Kernstück der ADLERschen Neurosenlehre. „Alle Neurotiker“, so findet ADLER, „haben eine Kindheit hinter sich, in der sich der Zweifel in ihnen regte, ob sie zur vollen Männlichkeit gelangen könnten.“ (ADLER 1910a, 86) „Der Verzicht auf die Männlichkeit aber scheint für das Kind gleichbedeutend mit Weiblichkeit“ (ADLER 1910a, 86), wobei Männlichkeit mit Macht und Überlegenheit, Weiblichkeit hingegen mit Unterlegenheit und Minderwertigkeit gleichgesetzt wird. (ADLER 1910a, 38) Das Streben nach Männlichkeit, Macht und Überlegenheit entsteht – bei Knaben wie bei Mädchen – aus einem Gefühl der Minderwertigkeit und Unterlegenheit. Der „männliche Protest“ erfolgt also als eine Reaktion, „zwangmässig als Überkompensation“ eines Minderwertigkeitsgefühls, und gründet in den kulturell bedingten Wertungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.

Das Streben nach Macht und Überlegenheit, das er im Begriff des „männlichen Protests“ fasste, ist nach ADLER eine Erscheinung der abendländisch patriarchalen Kultur, die das Weibliche als minderwertig, das Männlich hingegen als überlegen wertet. ADLER hebt hervor, dass wir es dabei „keineswegs mit biologischen Wertungen zu tun haben.“ (NUNBERG/FEDERN Bd.2 1977, 239) Demgegenüber betont FREUD, dass diese Wertungen nicht kulturell bedingt, sondern eine unabänderliche biologische Tatsache seien: „Die Ablehnung der Weiblichkeit kann ja nichts anderes sein als eine biologische Tatsache, ein Stück jenes grossen Rätsels der Geschlechtlichkeit.“ (FREUD 1937c, 99) Die Frau ist, weil sie keinen Penis hat, dem Mann gegenüber biologisch minderwertig; sie ist für FREUD nichts anderes als ein kastrierter Mann. Bereits im Mädchenalter leidet sie an Penisneid und Katrationskomplex und fühlt sich dem männlichen Geschlecht gegenüber minderwertig. Aber auch der Knabe fühlt sich – so der Inhalt des Ödipus-Komplex -, weil er die Mutter sexuell begehrt, von seinem Vater bedroht und fürchtet um die Attribute seiner Männlichkeit; auch erleidet an Penis- oder Kastrationsangst. Der Wunsch nun, ein „ganzer“ Mann zu sein, ist nach FREUD die Reaktion auf die Furcht vor dem Verlust der Männlichkeit. „Mit anderen Worten“, so entgegenet FREUD, indem er die triebpsychologische Erklärung dieser Erscheinungen gegen ADLER zu behaupten versucht, „der männliche Protest ist nichts anderes als Kastrationsangst.“ (FREUD 1937c, 392) Während FREUD die Furcht vor dem Verlust der Männlichkeit auf das Genitale beschränkt, sieht ADLER darin „symbolisch gefasste Befürchtungen, die ihren Ursprung in der kulturellen Höherbewertung des Männlichen und der Minderbewertung des Weiblichen haben. (vgl. ADLER 1911a, 97)

Damit aber hatte ADLER den entscheidenden Schritt von einer biologisch orientierten Triebpsychologie zu einer und kulturpsychologisch orientierten Sozialpsychologie getan, was zur Auseinandersetzung mit FREUD führte. Gleichzeitig hatte er jene Begriffe bereits gefunden, die zur Grundlage der Individualpsychologie wurden: Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Streben nach Macht, die später, als er von der Neurosenpsychologie zur allgemeinen Psychologie übergegangen war, eine umfassendere Bedeutung bekamen.

 

3.2. Zur Kritik der FREUDschen Sexualtheorie

In den Jahren 1910/11 erreichte die Auseinandersetzung zwischen FREUD und ADLER ihren Höhepunkt; ADLER war zu Auffassungen gelangt, die von denen FREUDs so grundlegend verschieden waren, dass dieser sie nicht mehr mit der Psychoanalyse vereinbar hielt. Der Wiener Psychoanalytische Verein beschloss deshalb, da die Gegensätze unübersehbar geworden waren, eine Zusammenfassung der ADLERschen Theorien zu hören; im Anschluss daran wurde der Austritt ADLERs aus der Vereinigung gefordert. ADLER zog die Konsequenzen und trat aus der psychonalytischen Vereinigung aus, als er erkannte, dass eine Diskussion unmöglich geworden war. (vgl. SEELMANN 1977, 527 und 578)

ADLER bestritt in seiner Vortragsreihe vor dem Wiener Psychoanalytischen Verein, die später unter dem Titel „Zur Kritik der FREUDschen Sexualtheorie des Seelenlebens“ (1911a) veröffentlicht wurde, nahezu alles, was FREUD zur Grundlage seiner Theorie gemacht hatte: die Libidotheorie, die Lehre von der Verdrängung, den Ich-Libido-Gegensatz, FREUDs Auffassung vom Unbewussten sowie das Gesetz der psychischen Kausalität und den Ödipuskomplex.

Sah FREUD in der Sexuallibido die grundlegende dynamische Kraft des menschlichen Seelenlebens, so erkannte ADLER nun als die treibende Kraft in der Neurose den „männlichen Protest“ als ein kompensatorisches „Streben nach Macht“ und „männlicher Überlegenheit“; dadurch stellte er die triebpsychologische Grundlage der Psychoanalyse in Frage: „Meine Funde zeigen, dass hinter allem, was man als sexuell bezeichnen kann, weitaus bedeutendere Konnexionen stecken, nämlich der hinter der Sexualität verborgene männliche Protest.“ (ADLER zit. nach RATTNER 1972, 26)

ADLER leugnet nicht, wie immer wieder unterstellt wird, die Bedeutung des Sexuallebens in der Neurose: „Die Frage ist müssig, ob eine Neurose ohne Einbeziehung des Sexualtriebes möglich sei.“ (ADLER 1911a, 94) Fragt sich aber, „ob in seinen Schicksalen der Anfang und das Ende, alle Symptombildungen der Neurose zu erblicken seien.“ (ADLER 1911a, 94) Der Sexualtrieb und seine Ableitungen, wie FREUD sie beschrieb, sind „niemals Ursachen, sondern bearbeitetes Material und Mittel des persönlichen Strebens.“ (ADLER 1911a, 101) „Was wir sehen, ist niemals etwas Ursprüngliches …“ (NUNBERG/FEDERN Bd.3 1978, 140) Das Triebleben des Menschen, so schliesst ADLER daraus, die Art der Triebbefriedigung sei immer durch eine umfassendere seelische Dynamik gerichtet und modifiziert.

ADLERs Kritik wendet sich nicht nur gegen die triebpsychologischen Grundlage der FREUDschen Neurosenlehre, sondern auch gegen die Annahme, dass die Verdrängung der allgemeine Faktor der Neurose schlechthin sei. „Die Frage lautet doch: ist das treibende Moment in der Neurose die Verdrängung oder … die andersartige, irritierte Psyche, bei deren Untersuchung auch die Verdrängung zu finden ist.“ (ADLER 1911a, 103) ADLER sieht in der Verdrängung nur eine Teilwirkung des „männlichen Protests“; denn der „männliche Protest ist nach ADLER die umfassendere neurotische Dynamik im menschlichen Seelenleben, die hinter der Verdrängung steht.

Damit aber kommen wir „zu den Quellen der Neurose“, „dem Gefühl der Minderwertigkeit und dem männlichen Protest“ (ADLER 1911a, 109). Das Minderwertigkeitsgefühl und der männliche Protest als ein kulturell bedingtes Streben nach Macht und männlicher Überlegenheit sind nach ADLER die Ursache der Neurose. Und Triebverdrängungen sind „Begleiterscheinungen“, „die sich unter dem erhöhten Zwang des männlichen Protestes “ (ADLER 1911a, 109) ergeben. Das „Streben nach Macht“ und „männlicher Überlegenheit“ erzwingt nach ADLER ein neurotisches „Sicherungssystem“, das das mindere Selbstwertgefühl des Neurotikers vor allen vermeintlichen Angriffen schützt. Der Vorgang der Verdrängung ist also nach ADLER nur ein Teil dieses „Sicherungssystems“. (vgl. ADLER 1911a, 109)

Indem ADLER die Ursache und den Sinn, also die Finalursache der psychoneurotischen Reaktion als eine Sicherung gegen vermeintliche Angriffe der sozialen Umwelt ansieht, misst er der sozialpsychologischen Dimension neurotischer Erscheinungen mehr Bedeutung zu als der triebenergetischen. Die Neurose ist nicht verursacht durch die Verdrängung infantiler Triebregungen, die aus einem Konflikt zwischen Ich- und Sexualtrieben hervorgeht (vgl dazu ADLER 1911a, 104), sondern sie stellt eine Abwehr bzw. Sicherung des Individuums gegen traumatisch erlebte Eingriffe der Aussenwelt dar.

ADLER gibt neben der Libidotheorie und der Ich-Libido-Antithese auch die Lehre von der Verdrängung als Allgemeinfaktor der Neurose auf. An die Stelle der Libido und des Lustprinzips tritt nun das einheitliche und zielgerichtete Streben des Menschen zum Zweck der „Anpassung und Einstellung gegen die Aussenwelt“ (ADLER 1911a, 78), an die Stelle des Ich-Libido-Gegensatzes tritt die „zielgerichtete Einheit der Persönlichkeit“ (vgl. ANSBACHER 1972, 176ff.), die Neurose erscheint in seiner Theorie nun als „Sicherungssystem“ (ADLER 1911a, 104), die Verdrängung als Sicherungstendenz (vgl. ADLER 1911a, 102ff.). Damit erkannte ADLER zum ersten Mal in der Geschichte der Tiefenpsychologie die Verdrängung als eine Sicherung des Ich bzw. als eine neurotische Abwehrfunktion des Ich, was ihm von seiten FREUDs den Vorwurf einbrachte, er befasse sich mit „Oberflächenpsychologie, das heisst mit Ich-Psychologie“ (ANSBACHER 1972, 85) anstatt mit der Psychologie des Unbewussten. ADLER hatte nämlich seine Aufmerksamkeit von dem abgewendet, „was man für die eigentliche Provinz der Psychoanalyse hielt, vom unbewussten Triebleben; dafür hatte er ein neues Forschungsgebiet entdeckt, das FREUD selber zehn Jahre später durcharbeitet, die unbewussten Abwehrfunktionen des Ich.“ (THOMPSON 1952, 166)

ADLER beschreibt nun auch das Unbewusste als eine Erlebnisfunktion des Ich. Er lehnt es ab, das Unbwusste im Sinne FREUDs als einen topisch begrenzten Ort „in der Tiefe“ der Seele zu betrachten. Das Unbewusste ist für ihn ein Teil des Ich und unterliegt derselben seelischen Dynamik wie die gesamte Persönlichkeit. Während FREUD die menschliche Persönlichkeit dynamisch und topisch in einzelne Instanzen- Unbewusstes, Ich und Über-Ich – unterteilt, die im Konflikt miteinander stehen, spricht ADLER von der unteilbaren (daher: In-dividual-psychologie, von in-dividuum = lat. unteilbar) Einheit der menschlichen Persönlichkeit oder von der individuellen Einheit des Ich.

Mit der Kritik an der Sexualtheorie FREUDs stellt ADLER auch den Ödipus-Komplex als Kern der Neurose, der Religion, der Sittlichkeit und der Kultur in Frage. ADLER betrachtet den Ödipus-Komplex als „Teilphänomen eines grösseren Dynamismus“, nämlich als „Phase des männlichen Protests“ (vgl. SCHREY 1975, 69) So wird man, schreibt ADLER „den scheinbaren `Ödipuskomplex` als kleinen Teil der überstarken neurotischen Dynamik verstehen lernen, als ein an sich belangloses, im Zusammenhang allerdings lehrreiches Stadium des männlichen Protestes.“ (ADLER 1911a, 113) Es ist nach ADLER der „männliche Protest“, der dazu führt, dass der Knabe mit seinem Vater konkurriert und ihn übertreffen will, wobei zuweilen der Knabe den Wunsch äussert, er wolle seine Mutter heiraten, wenn der Vater tot sei, nicht etwa weil er sie sexuell begehrt (Inzestwunsch nach FREUD), sondern weil er so gross, stark und männlich sein will wie sein Vater (männlicher Protest nach ADLER), dessen Stelle bei der Mutter er einnehmen möchte.

Auch der Ödipus der griechischen Mythologie „erschlägt nicht deshalb den Vater und heiratet die Mutter, weil er mit der Mutter zu schlafen wünscht, sondern weil er König werden will.“ (JACOBY 1974, 56) Er verkörpert daher nicht FREUDs Inzest und Ödipuskomplex, sondern das Streben nach Macht und männlicher Überlegenheit im Sinne des männlichen Protests.

FREUD hatte, ausgehend von seiner Deutung der griechischen Tragödie `Ödipus` von SOPHOKLES und später der Interpretation von SHAKESPEAREs Hamlet, die Entwicklung von Kultur, Sittlichkeit und Religion, als ein „Fortschreiten der Verdrängung“ (FREUD 1900a, 271) betrachtet. ADLER klagt FREUD nun eines Zirkelschlusses an, denn FREUD war einerseits der Meinung, die Verdrängung ergebe sich aus den Forderungen der Kultur, andererseits jedoch erklärte er die Kultur als ein Fortschreiten der Verdrängung. „Die Verdrängung geschieht unter dem Drucke der Kultur“, so greift ADLER den Gedanken FREUDs auf und fährt weiter: „Frage: Woher stammt die Kultur? Antwort: Aus der Verdrängung.“ (ADLER 1911a, 103f.) Für ADLER lässt sich die Entwicklung der Kultur nicht einfach als Folge der Verdrängung verstehen, er sieht in der Kulturentwicklung des Menschen ein vorwärtsgerichtetes Streben „als etwas, das dem Leben angehört, ein Streben, ein Drang, ein Sichentwickeln, ein Etwas, ohne das man sich Leben überhaupt nicht vorstellen kann.“ (ADLER 1933a, 258f.) In der abendländisch-patriarchalen Kultur nimmt dieses Streben die Form des männlichen Protests an als ein Streben nach männlicher Überlegenheit und Macht. Die Verdrängung ist nun nach ADLER eine Teilwirkung des männlichen Protests und damit eine Erscheinung des abendländisch-patriarchalen Kulturbewusstseins und nicht – wie FREUD behauptete – das sine qua non der Kulturentwicklung überhaupt.

FREUD reagierte auf ADLERs umfassende Kritik mit dem Vorwurf, er `desexualisiere` die psychoanalytische Theorie (vgl ROAZEN 1976, 196); er verlangte von den Mitgliedern des Wiener Psychoanalytischen Vereins ein Bekenntnis zur Sexualtheorie und machte die Anerkennung des Ödipuskomplex „für die gesamte psychoanalytische Orthodoxie verbindlich“ (REICHE 1972, 160; vgl. auch FREUD 1905d, 127f.). Da somit die Mitgliedschaft in der Vereinigung von einem Bekenntnis zur psychoanalytischen Theorie abhängig gemacht wurde, legte ADLER seine Ämter in der Vereinigung nieder, schied aus der Redaktion des psychoanalytischen Zentralblattes aus, zog sich zurück und gründete eine eigene Vereinigung.

 

3.3. Individualpsychologie und Evolution

Bereits im Jahr 1907, in der `Studie über die Minderwertigkeit von Organen`, verweist ADLER auf die Evolutionslehre DARWINS: „Die Individualpschologie steht ganz auf dem Boden der Evolution (s. `Studie über die Minderwertigkeit von Organen`, l.c.) …“ (ADLER 1933a, 35) Damit macht er klar, dass die Evolutionslehre DARWINs Grundlage seines Denken von den Anfängen an war.

ADLER sieht den Menschen ganz im Sinne DARWINs als ein Lebewesen, das im Prozess der Evolution durch „naturaselection“ (ADLER 1907, 92) entstanden ist. „In den Billionen von Jahren, da Leben auf dieser Erde besteht, war offenbar Zeit genug, aus dem Lebensprozess der einfachsten Zellen den Menschen zu gestalten, ebenso Myriaden von Lebewesen untergehen zu lassen, die der Wucht der Angriffe ihrer Umgebung nicht gewachsen waren.“ (ADLER 1933a, 53) Alle leiblichen und seelischen Funktionen – so die evolutionäre Betrachtungsweise -, die dem Menschen von Natur aus zukommen, haben sich in der Evolution herausgebildet und dienen dem Zweck, das Überleben zu sichern (vgl. ADLER 1927a, 29ff.).

ADLER betrachtet den menschlichen Organismus, als körperlich-seelische Einheit: „Vielfältige Organe und Funktionen sind nach dem Prinzip der Arbeitsteilung dem einen Ziel der Selbsterhaltung zugeordnet.“ (WEXBERG 1928, 13) Und so dienen auch die seelischen Funktionen – ganz im Sinne der Entwicklunglehre DARWINs – dem Organismus dazu, das Überleben zu gewährleisten.

„Seelenleben“ ist für ADLER – wie für DARWIN – nichts, was nur dem Menschen zu­kommt; es ist eine besondere Fähigkeit lebender, beweglicher Organismen, die in der Evolution des Lebendigen entstanden ist. „Beseelung“, so führt ADLER aus, „schreiben wir eigentlich nur beweglichen, lebenden Organismen zu.“ (ADLER 1927a, 29) „Bei Organismen, die festwurzeln, gibt es kaum ein Seelenleben, es wäre für sie auch ganz überflüssig.“ (ADLER 1927a, 29) Unschwer ist hier die evolutionäre Betrachtungsweise zu erkennen. „Man muss nur die Ungeheuerlichkeit bedenken, einer festwurzelnden Pflanze Gefühle und Gedanken zuzumuten …“ (ADLER 1927a, 19) Das Seelenleben – Wahrnehmung, Gefühle, Assoziation, Denken usw. – ist nach ADLER daher eine Funktion lebender, beweglicher Organismen, die dazu dient, sich in der beweglichen Praxis des Lebens zu orientieren, Erfahrungen zu sammeln, ein Gedächtnis zu entwickeln, zu lernen, vorherzusehen (vgl. ADLER 1927a, 29), um sich vor drohenden Gefahren zu schützen und sich so am Leben zu erhalten.

Selbsterhaltung als immanente Zielsetzung beweglicher Organismen bedeutet für ADLER stets aktive, zielstrebige Anpassung an die wechselnden Bedingungen der Umwelt. „Schon im Begriff der Anpassung liegt dieses Zielstrebige.“ (ADLER 1927a, 31) Alle Lebenstätigkeit bliebe nach ADLER richtungslos ohne ein Ziel; dies gilt auch für den Menschen „… wir sind nicht in der Lage zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne dass uns ein Ziel vorschwebt.“ (ADLER 1925, 21) Es ist deshalb die Aufgabe des „seelischen Organs“ (ADLER 1927a, 29), Informationen aus der Umwelt aufzunehmen, sie im Gedächtnis zu behalten und zu verar­beiten im Hinblick auf ein richtungsgebendes Ziel der Anpassung. Erst das im Seelenleben antizipierte Ziel sagt dem Menschen, wie er sich zum Zweck der Anpassung an die Bedingungen der Umwelt verhalten soll.

„Durch diesen Zwang zu einem auf ein Ziel gerichtetes Geschehen kommt in das ganze Seelenleben ein Drang nach vorwärts, und in diesem Strom des Geschehens erfahren alle seelischen Kategorien und Kräfte ihre Form, Richtung und Modellierung. … Das Ziel des menschlichen Seelenlebens wird so zum Dirigenten, zur causa finalis, und reisst alles see­lisch Bewegliche in den Strom des seelischen Geschehens hinein.“ (ADLER 1923a, 1)

Das Ziel der Anpassung oder die causa finalis ist nach ADLER die bestimmende Kraft des menschlichen Seelenlebens, nicht angeborene Instinkte oder Triebe, die das Verhalten des Menschen im Sinne wirkender Ursachen kausal determinieren. Denn alle Kausalität genügte nicht, das Chaos des Zukünftigen zu bewältigen: „Nur Lebloses gehorcht einer erkennbaren Kausalität. Das Leben aber ist ein Sollen.“ (ADLER 1914c, 21) Damit schränkt ADLER die kausal-deterministische Betrachtungsweise des menschlichen Seelenlebens zugunsten einer kausal-finalen ein.

Das Seelenleben des Menschen ist nach ADLER nicht – wie er dies auch in der Kritik der FREUDschen Sexualtheorie dargelegt hat – durch Triebe bestimmt sein. Die menschliche Psyche tritt zum Zweck der Anpassung „auf dem Wege der Vorempfindlichkeit aus der Gegenwart also zeitlich, ausser die Grenzen“ (ADLER 1911a, 104) der „primitiven Triebbefriedigung“ (ADLER 1911a, 104) in eine mehr oder weniger ferne und unbestimmte Zukunft. Die Zukunft aber, wie sie in der Gegenwart erfahren wird, ist fiktiv. ADLER gelangt deshalb, unter Berufung auf VAIHINGERs Fiktionalismus, zu der Auffassung, dass dem Seelenleben eine „schöpferische Kraft“ (ADLER 1932b, 266) zuzusprechen sei, die alle Möglichkeiten und Erfahrungen ordnet im Hinblick auf ein fiktives Ziel der Zukunft. Es ist die „schöpferische Kraft“ des menschlichen Seelenlebens, die alle Einflüsse und Erfahrungen ordnet und verarbeitet zum Zweck einer erfolgreichen Anpassung an die Bedingungen der Umwelt.

Die kausal-finale Betrachtungsweise ADLERs, die alle Ausdrucksformen des menschlichen Seelenlebens als schöpferische, zielgerichtete Versuche der Anpassung an die Bedingungen der Aussenwelt auffasst, stimmt mit den Erkenntnissen DARWINs überein, die er in seinem Buch „The expression of emotions in man and animals“ (1872) zusammengefasst hat. ADLER überwindet jedoch – ganz im Gegensatz zu FREUD – DARWINs LAMARCKISMUS, wonach der Mensch seelische Ausdrucksformen, die als zweckdienliche Gewohnheiten entstanden waren, sozusagen als Instinkte oder Triebe von seinen tierischen Vorfahren geerbt habe.

 

3.4. Der Mensch als Mängelwesen

Der Mensch ist nach ADLER, biologisch betrachtet, „ein minderwertiges Wesen“ (ADLER 1927a, 39; vgl. auch GEHLEN 1961); er verfügt nicht über die Instinkte der Tiere, nicht über ihre Sinne, auch nicht über ihre körperliche Kraft. Er hat keine Reisszähne, keine Hörner, er kann nicht klettern, nicht fliegen, er hat nicht die Schärfe des Auges, des Gehörs, des Geruchs usw. (vgl. ADLER 1930d, 17), wodurch andere Lebewesen fähig sind, ihr Leben zu sichern (vgl. auch DARWIN 1966, 77).

Der Mensch, so greift ADLER einen früheren Gedanken aus der `Studie über die Minder­wertigkeit von Organen` wieder auf, „verfügt über schwache Organe“ (ADLER 1930d, 17); er ist vom „Standpunkt der Natur aus gesehen“ (ADLER 1927a, 39) ein „minderwertiges“ Wesen. Diese „Minderwertigkeit“ aber wirkt „als ein fortwährender Reiz, einen Weg ausfindig zu machen, um die Anpassung an dieses Leben zu bewerkstelligen, vorzusorgen, sich Situationen zu schaffen, wo die Nachteile der menschlichen Stellung in der Natur ausgeglichen erscheinen.“ (ADLER 1927a, 39) Was „dem Menschen an organischer Wertigkeit fehlte“ (ADLER 1927a, 40) konnte er durch das „seelische Organ“ ausgleichen, denn es ermöglichte ihm, „Voraussicht“ zu entwickeln (vgl. ADLER 1927a, 40), um so die Anpassung an dieses Leben zu bewerkstelligen. „Und da war es“, so fasst ADLER diesen Gedanken zusammen, „sein seelisches Organ, das die Fähigkeit hatte, die Anpassung und Sicherung durchzuführen.“ (ADLER 1927a, 39)

Dem evolutionären Zwang zur Anpassung an die Bedingungen der Umwelt unterliegt nicht nur der Mensch als Gattung, sondern jeder einzelne Menschen vom ersten Tag seines Lebens an. Das menschliche Neugeborenen kommt unfertig und mit nur wenigen Reflexen ausgestattet zur Welt (WEXBERG 1928, 55); es ist ein völlig hilfloses Geschöpf, das von der Hilfe und Zuwendung erwachsener Bezugspersonen abhängig ist (vgl. ADLER 1929c, 30). Vom ersten Tag der Entwicklung an beginnt das Kind in stetigem Wechselspiel mit seinen Bezugspersonen, alle Eindrücke und Erfahrungen zu sich in Beziehung zu setzen und diese zum Zweck der Anpassung an die Bedingungen der Umwelt zu verarbeiten.

In einer spielerisch-schöpferischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der Umwelt baut das Kind ein rudimentäres Körperschema auf und entwickelt durch eine Vielzahl von Erfahrungen die Vorstellung von einem Ich, als dem „Subjekt des Handelns und Wollens, der Wahrnehmung, der Vorstellung und des Leidens.“ (WEXBERG 1928, 59) „Man kann dieses erste Stadium der erwachenden subjektiven Welt, der Ichbildung, kaum recht abgrenzen oder in Worte fassen.“ (ADLER 1912a, 67)

Das Kind wird, sobald es zwischen sich und den erwachsenen Bezugspersonen unterscheiden kann, sich selbst als klein, hilflos und ohnmächtig einschätzen, da es die Erwachsenen, Eltern oder ältere Geschwister verhältnismässig allmächtig erlebt. Die Selbsteinschätzung des Kindes entspringt der frühkindlichen Situation und ruft eine Gefühl der Kleinheit, Unsicherheit und Minderwertigkeit hervor. „Jedes Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit verlangt aber eine leitende, sichernde und beruhigende Zielsetzung …“ (ADLER 1933a, 148)

„Das Ziel: gross zu sein, stark zu sein, ein Mann, oben zu sein, wird in der Person des Vaters, der Mutter, des Lehrers, des Kutschers, des Lokomotivführers usw. symbolisiert, und das Gebaren, die Haltung, identifizierende Gesten, das Spiel der Kinder und ihre Wünsche, Tagträume und Lieblingsmärchen, Gedanken über ihre künftige Berufswahl zeigen uns an, dass die Kompensationstendenz am Werke ist und Vorbereitungen für die künftige Rolle trifft.“ (ADLER 1933a, 150)

Durch die Identifikation mit Eltern, älteren Geschwistern oder anderen wichtigen Personen gelangt das Kind zu einem konkreten Ziel, von dem es sich Grösse, Sicherheit und Voll­kommenheit verspricht. Sobald wir jedoch das konkrete Ziel erfassen wollen, „taucht eine ungeheure Schwierigkeit auf: dass wir es mit tausend Varianten zu tun haben, immer mit einem einmaligen Falle, mit einer einmaligen konkreten Zielsetzung.“ (ADLER 1929b, 144)

Diese einmalige Zielsetzung wird zum individuellen Persönlichkeitsideal des Kindes. Hat diese Persönlichkeitsideal einmal Gestalt gewonnen, so entwickelt das Kind zielstrebig im Sinne dieses Ideals seine individuelle Persönlichkeit. Das Persönlichkeitsideal wird so zur Leitlinie der Entwicklung. Über dieser Leistlinie, „von der das Menschenkind manches weiss, deren grundlegende Bedeutung es immer verkennt, baut sich die ganze seelische Struktur auf.“ (ADLER 1933a, 150) „Alles Wollen, der ganze Kreis der Gedanken, des Interesses, Assoziationsverlauf, Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen laufen im Geleise dieser Dynamik.“ (ADLER 1927a, 61)

Der gesamte Lebensstil des Menschen ist Ausdruck dieser Dynamik; er entwickelt sich unter bestimmten Bedingungen der Umgebung und umfasst neben der Selbsteinschätzung, dem Persönlichkeitsideal und der Leitlinie auch die nach aussen hin wahrnehmbaren Einstellungen und Haltungen zur Umwelt, die sich nach ADLER als schöpferische, zweckdienliche und zielgerichtete Anpassung an die Bedingungen der Umwelt erweisen; ihre Bedeutung erschliesst sich deshalb der kausal-finalen Betrachtungsweise.

Im Gegensatz zu ADLER, der das Seelenleben des Menschen als schöpferische, zielgerichtete Einheit betrachtet, hat FREUD das menschliche Seelenleben in einzelne Schichten und Instanzen unterteilt. In Analogie zum Aufbau des menschlichen Gehirns, das sich in Stammhirn, Zwischenhirn und Grosshirn unterteilt, entwickelte FREUD sein Schichtenmodell der menschlichen Persönlichkeit. Wie im Stammhirn die stammesgeschichtlich früher entwickelten Instinkte und Triebe lokalisiert sind, die von den höheren Schichten des Zwischenhirns und Grosshirns überlagert werden, so sind nach FREUD im Es die „niederen“ Triebe des Menschen beheimatet, die von den „höheren“ Schichten des Ich und des Über-Ich überformt werden.

Nach ADLER lässt sich jedoch das Seelenleben des Menschen nicht in verschiedene, stammesgeschichtlich gewordene Schichten unterteilen; in Anlehnung an SMUTS` `Holism and Evolution` (1926) entwirft er eine ganzheitspsychologische, holistische Sicht des menschlichen Seelenlebens und nimmt damit grundlegende Einsichten von GEHLEN und später PORTMANN vorweg. Das Seelenleben des Menschen ist nach ADLER eine leib-seelische Ganzheit. Alle seelischen Kräfte – Trieb, Wahrnehmung, Denken, Fühlen, Wollen und Handeln – sind nach ADLER auf das Ziel gerichtet, die immer bessere Anpassung an die Bedingungen der Umwelt durchzuführen. Deshalb können wir uns nach ADLER die menschliche Seele „nur vorstellen in der Form von sich bewegenden Kräften, die allerdings aus einem einheitlichen Grund hervorgegangen sind und einem einheitlichen Ziel zustreben.“ (ADLER 1927a, 31) ADLER spricht daher von der schöpferischen, zielgerichteten „Einheit des Seelenlebens“ (ADLER 1933a, 125), von der Einheit der Persönlichkeit oder von der Einheit des Ich.

„Man mag von der Einheit des Ich noch so wenig wissen, man wird sie nicht los. Man kann das einheitliche Seelenleben nach verschiedenen, mehr oder weniger wertlosen Gesichtspunkten zergliedern, man kann zwei, drei, vier verschiedene räumliche Anschauungen miteinander, gegeneinander auftreten lassen, um das einheitliche Ich begreifen zu wollen, man kann es vom Bewussten, vom Unbewussten, vom Sexuellen, von der Aussenwelt her aufzurollen versuchen – zum Schluss wird man nicht umhin können, es wieder, wie den Reiter auf dem Ross in seine allumfassende Wirksamkeit einsetzen zu müssen.“ (ADLER 1933a, 126) “

„Auch dass das sogenannte Bewusste oder das Ich voll steckt von `Unbewusstem`“, so führt ADLER gegen FREUDs Ich-Theorie aus dem Jahr 1914 an, „wird mehr und mehr … begriffen.“ (ADLER 1933a, 125)

„Das `Ich` hat in der Anschauung der modernen Psychologie seine Würde durchgesetzt, und ob man es nun aus dem Unbewussten oder aus dem `Es` delogiert zu haben glaubt, das `Es` benimmt sich zum Schlusse manierlich oder unmanierlich wie ein `Ich`.“ (ADLER 1933a, 125)

ADLERs Ich ist „ein hochpersonalisiertes, subjektives System“ (HALL/LINDZEY 1978, 140), das die jeweiligen Umwelterfahrungen interpretiert und ihnen Sinn verleiht. Und was als Ich bezeichnet wird, erscheint gegen aussen wahrnehmbar als der Lebensstil eines Menschen; der Lebensstil „verfügt über alle Ausdrucksformen“ (ADLER 1933a, 23) wie „das Ganze über die Teile“ (ADLER 1933a, 23). Und jede Ausdrucksform ist als individuelle, einzigartige und zielgerichtete Anpassung an die jeweiligen Bedingungen der Umwelt und an die besonderen Bedingungen der Kultur zu aufzufassen.

 

3.5. Soziale Natur

Die theoretische Grundlegung der Individualpsychologie ADLERs war vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitgehend abgeschlossen. Unter dem Eindruck der Kriegsgreuel, die er als Militärarzt aus nächster Nähe erlebte, wandte sich ADLER vermehrt kulturanthropologischen und -psychologischen, moralischen und ethischen Fragen zu. Insbesondere die Werke `Wozu leben wir?` (1931a) und `Der Sinn des Lebens` (1933a), die in den Zeiten eines kulturellen Wertezerfalls und einer sich erneut abzeichnenden Menschheitskatastrophe entstanden, sind kulturellen Fragen gewidmet, die für den vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind.

ADLER begründet die Entstehung der Kultur anthropologisch und ganz im Sinne DARWINs evolutionstheoretisch: Der Mensch ist nach ADLER ein „soziales Wesen“, das von Natur aus dazu neigt, mit anderen Lebenwesen in Gemeinschaft zusammenzuleben und im gemeinschaftlichen Zusammenleben all das zu schaffen, was wir unter dem Begriff Kultur zusammenfassen. Für ADLER ist das gesellschaftliche Zusammenleben des Menschen ein stammesgeschichtliches Faktum:

„Es gibt in der Geschichte der menschlichen Kultur keine Lebensform, die nicht als gesellschaftlich geführt worden wäre. Nirgends sind Menschen anders als in Gesellschaft aufgetreten.“ (ADLER 1927a, 38)

„Alles, was wir über die Urgeschichte des Menschen wissen, spricht dafür, dass er seit Anbeginn niemals isoliert, sondern stets in Gemeinschaft mit seinesgleichen gelebt hat.“ (WEXBERG 1928, 72) Alle Errungenschaften der Kultur, Sprache, Logik, Moral, Ethik und Ästhetik, gründen nach ADLER im Gemeinschaftsleben des Menschen und sind Erscheinungsformen desselben.

Bereits die ersten Hominiden, die „ursprünglichen Tiermenschen“ (ADLER 1927a, 39), sind stets in Gemeinschaft aufgetreten. Diese Erscheinung ist – wie ADLER unter ausdrücklicher Berufung auf DARWIN ausführt – leicht zu erklären: „Schon DARWIN (!) weist darauf hin, dass man nie schwächliche Tiere findet, die allein leben.“ (ADLER 1927a, 38) Durch das ganze Tierreich gehe das Gesetz, dass Gattungen, die der Natur gegenüber nur wenig gewachsen sind, sich zu Gemeinschaften zusammenschliessen:

„Der Organg-Utan zum Beispiel mit seiner aussergewöhnlichen Körperkraft lebt allein mit seiner Gefährtin, während die kleineren und schwächeren Mitglieder der Affenfamilie stets in Gruppen anzutreffen sind.“ (ADLER 1930a, 68)

„Die Gruppenbildung dient“, schreibt ADLER unter Verweis auf die Evolutionslehre weiter, „wie DARWIN (!) hervorgehoben hat, als Ersatz oder Kompensation“ (ADLER 1930a, 68) für die Schäche der einzelnen Tiere. Schwache Tiere, die als Einzelne der Natur nur geringen Widerstand bieten können, „gleichen ihre Schwäche durch Gruppenbildung aus.“ (ADLER 1931a, 53)

„Manche Affenhorden beispielsweise wissen Kundschafter auszusenden, um herauszufinden, ob Feinde in der Nähe sind. Auf diese Weise sind sie in der Lage, ihre geballte Stärke so zur Geltung zu bringen, dass sie die Schwäche jedes Gruppenmitglieds mehr als wettmacht.“ (ADLER 1930a, 68f.)

Viele Tiere neigen zur Gruppenbildung und schliessen sich zu Gemeinschaften zusammen, so schreibt ADLER, „aber nirgends sonst auf der Welt finden wir so verschiedenartige und tief reichende Formen der Gemeinschaft wie beim Menschen.“ (ADLER 1930a, 53)

Der Mensch ist, evolutionsbiologisch betrachtet, auf die Gemeinschaft seiner Artgenossen besonders angewiesen (vgl. Kapitel 3.2.: Der Mensch als Mängelwesen):

„Man braucht sich nur die Lage eines Menschen vorzustellen, der sich allein … in einem Urwald befände. Er würde ungleich bedrohter erscheinen als jedes andere Lebewesen. Er hat nicht die Schnelligkeit der Beine, verfügt nicht über die Muskelkraft der starken Tiere, er hat nicht die Zähne des Raubtiers, nicht die Feinhörigkeit und die scharfen Augen, um sich in solchem Kampfe zu behaupten.“ (ADLER 1927a, 38f.)

Der Mensch wäre in diesem Kampf – gemeint ist DARWINs(!) „Kampf ums Dasein“ – erlegen, denn „er ist nicht stark genug, um allein leben zu können.“ (ADLER 1927a, 38) Das Leben aber in Gemeinschaft ermöglichte ihm, „in einer Art Arbeitsteilung Aufgaben zu bewältigen, bei denen der Einzelne unterliegen musste.“ (ADLER 1927a, 39) Daraus folgt: „Nur die Arbeitsteilung war imstande, dem Menschen … alle Güter zu verschaffen, die er brauchte, um sich zu behaupten, die wir heute unter dem Begriff Kultur zusammenfassen.“ (ADLER 1927a, 39) Kultur ist daher per se nur durch Gemeinschaftbildung möglich, denn alle Güter der Kultur – Sprache, Gebrauch von Werkzeugen, Gebrauch des Feuers, Moral usw. – sind Produkte des Gemeinschaftslebens. ADLER betrachtet deshalb – wie DARWIN – den Zusammenschluss zum Leben in Gemeinschaft als den bedeutendsten Schritt in der Evolution. Das Leben in Gemeinschaft hat sich als besonderer evolutionärer Vorteil erwiesen, und zwar für den einzelnen ebenso wie für die gesamte Art.

ADLERs anthropologischer Ansatz sieht den Menschen – ganz im Sinne DARWINs, im Gegensatz jedoch zu FREUD – als ein primär „soziales Wesen“ (ADLER 1929b, 49). Er ist von Natur ein Wesen der Kultur. Seine körperliche Organisation, ebenso seine seelische Be­schaffenheit weisen in diese Richtung und dieser Sachverhalt gestaltet ganz entscheidend die psychische Entwicklung des einzelnen Menschen.

 

3.6. Gemeinschaftsgefühl

Das menschliche Neugeborene kommt – wie bereits erwähnt – klein und schwach, mit nur wenigen Reflexen ausgestattet zur Welt (vgl. WEXBERG 1928, 55); es ist, biologisch be­trachtet, ein unfertiges und völlig hilfloses Geschöpf (vgl. ADLER 1929c, 30), das „vor der Reife einen viel längeren Zeitraum der Abhängigkeit von anderen benötigt als jedes Tier.“ (ADLER 1929b, 49)

„Im gesamten tierischen Bereich finden wir ausser dem Menschen kein Lebewesen, dessen Junge mit einer solch vollständigen Hilflosigkeit zur Welt kommen. Wie wir wissen, braucht das Menschenkind auch die längste Zeit, um den Reifezustand zu erreichen.“ (ADLER 1930a, 69)

Die lange Zeit der Abhängigkeit vor der Reife, die durch die Hilflosigkeit von Kindern und Säuglingen gefördert wird (vgl. ADLER 1930a, 69), macht den Menschen zu einem sozial durch und durch prägbaren, erziehbaren Wesen. Aus der Biologie des Menschen ist die Tatsache der sozialen Prägbarkeit bzw. Erziehbarkeit nicht wegzudenken; man findet sie im psychologischen Verhalten des heranwachsenden Menschen wieder.

„Aufgrund der körperlichen Unreife des Kindes ist Erziehung eine unabdingbare Notwendigkeit, und das Erziehungsziel ergibt sich aus der Tatsache, dass die Überwindung der kindlichen Unreife nur durch das Hinwachsen in das Beziehungsfeld der Gruppe gelingen kann. Erziehung muss notwendigerweise einen sozialen Zweck verfolgen.“ (ADLER 1930a, 69)

Vom ersten Augenblick nach der Geburt sucht der Säugling die Verbindung zur Mutter. „Viele Monate hindurch spielt die Mutter eine überwältigend wichtige Rolle in seinem Le­ben“ (ADLER 1931a, 101); er hängt fast völlig von ihr ab und es ist die Abhängigkeit des Säuglings, die die Verbindung erzwingt. Ein Kind, so nimmt ADLER wesentliche Einsich­ten der modernen Entwicklungspsychologie von SPITZ, BOWLBY, SCHENK-DANZINGER und AINSWORTH, MAIN und GROSSMANN vorweg, „das überhaupt keine Verbindung mit seiner Mutter oder einem anderen Menschen, der ihre Stelle einnimmt, herstellen könnte, müsste unweigerlich zugrunde gehen.“ (ADLER 1930a, 101)

ADLER hat im umfassenden Sinne auf die grosse Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung hingewiesen. Die Beziehung zur Mutter ist die erste soziale Beziehung im Leben des Kindes überhaupt (vgl. ADLER 1930d, 18). Im Kontakt mit der Mutter entwickeln sich alle Mög­lichkeiten und Fähigkeiten. Es lernt „schauen, hören, sprechen in der Beziehung zur Mutter“ (ADLER 1930d, 18), „denn es ist seine Mutter, mit der jedes Kind seinen ersten Kontakt … herstellt.“ (ADLER 1929b, 40)

Bereits das Kleinkind sucht den Kontakt mit der Mutter aufzunehmen; es lächelt, will gehät­schelt, geliebkost, gelobt werden (vgl. ADLER 1908b, 64). Es sind dies nach ADLER Er­scheinungsformen des frühkindlichen, nicht-sexuellen Zärtlichkeitsbedürfnisses (vgl. ADLER 1908b, 63ff.). Das Bedürfnis nach Zärtlichkeit ist, wie ADLER ursprünglich annahm, „organisch bedingt“ (ADLER 1927a, 50); es ist von Anfang an, also primär vorhanden und richtet sich zunächst auf die Mutter. Wird das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes von der Mutter befriedigt, so entsteht daraus ein tiefgreifendes Gefühl der Verbundenheit oder, wie ADLER es nennt, Gemeinschaftsgefühl, das sich auf die Familie, die Verwandten, schliesslich auf die ganze Menschheit erstreckt. „Es kann sogar über diese Grenzen hinausgehen und sich dann auch auf Tiere, Pflanzen und andere leblose Gegenstände, schliesslich sogar auf den Kosmos überhaupt ausbreiten.“ (ADLER 1927a, 51) Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes ist somit nach ADLER die Wurzel des umfassenden, kosmischen Gemeinschaftsgefühls, auf dem – individualpsychologisch betrachtet – alle Errungenschaften der Kultur, Moral und Sittlichkeit aufbauen.

DARWIN sah das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes als Ausdruck eines angeborenen „sozialen Instinkts“, aus dem schliesslich alle weiteren sozialen Empfindungen hervorgehen. Er war sich jedoch nicht sicher, „ob sie instinktiv sind … oder ob sie von einem jeden unter uns in der Kindheitsperiode erworben worden sind.“ (DARWIN 1966, 136f.) Noch in der Zeit der Studie `Über das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes`(1908b) war ADLER der Ansicht, dass das kindliche, nicht-sexuelle Bedürfnis nach Zärtlichkeit angeboren ist; es galt ihm als organisch bedingtes, angeborenes Bedürfnis, durch das das Kind zu seiner Umgebung in Beziehung tritt. Und es galt ADLER als die erste sichtbare Regung des Gemeinschaftsgefühls, dem Kultur, Sittlichkeit und Moral vor allem ihr Entstehen verdankt.

In den späteren Werken führt ADLER das Gemeinschaftsgefühl nicht mehr auf ein angeborenes Zärtlichkeitsbedürfnis im Kind zurück, er betrachtet es nunmehr als eine psycho-physische Disposition, die es im Umgang mit den ersten Beziehungspersonen erst zu entwickeln gilt; FURTMÜLLER, ein Schüler ADLERs, spricht – ebenfalls in Anlehnung an DARWINs Evolutionslehre – von einer „phylogenetisch erworbenen Disposition“ (FURTMÜLLER 1912, 10), die erst im feinfühligen Sozialkontakt zwischen Mutter und Kind zur vollen Entwicklung gelangt. „Gemeinschaftsgefühl“, so stellt ADLER fest, „is not inborn; it is an innate potentiality which has to be consciously developed.“ (ADLER 1929b, 31) Es ist also „nicht angeboren, sondern es ist lediglich eine angeborene Möglichkeit, die es bewusst zu entfalten gilt.“ (ADLER 1929b, 49) Es entwickelt sich in der ersten, uranfänglichen Beziehung zwischen Mutter und Kind, weil die Mutter in der Regel die erste Person ist, mit der das Kind verbunden ist.

Die Frage DARWINs, ob soziale Gefühle angeboren oder in der frühen Kindheit erworben würden, beantwortet sich aus individualpsychologischer Sicht dahingehend, dass das Gemeinschaftsgefühl zwar eine angeborene, phylogenetisch erworbene Disposition sei, dass soziale Gefühle aber insofern in der Kindheit erworben seien, als sie sich erst im Kontakt mit der Mutter, dann mit anderen Beziehungspersonen entwickeln.

Die ungeheuere Bedeutung der Mutter tritt in dieser Hinsicht klar hervor: „Sie steht an der Schwelle der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls.“ (ADLER 1933a, 134) „Man darf wohl feststellen, dass die Bedeutung des mütterlichen Kontakts für die Entwicklung des menschlichen Gemeinschaftsgefühls von allergrösster Bedeutung ist.“ (ADLER 1933a, 135) „Wahrscheinlich verdanken wir dem mütterlichen Kontaktgefühl den grössten Teil des menschlichen Gemeinschaftsgefühls, und damit auch den wesentlichen Bestand der menschlichen Kultur.“ (ADLER 1933a, 135)

FREUD sah den Säugling nicht als sozial prädisponiertes, sondern als ein von Natur aus egozentrisches Wesen. WEXBERG, der Herausgeber des `Handbuchs der Individualpsychologie` räumt zwar ein, dass der Säugling nach der Geburt hauptsächlich nimmt und empfängt, insofern also durchaus „egozentrisch“ ist (WEXBERG 1926, 74). Der kindliche Egozentrismus ist aber durch die Situation der Hilflosigkeit und Abhängigkeit bedingt und nicht, wie FREUD und andere meinten, durch angeborene egozentrische, auto-erotische oder primär-narzistische Triebe, die von Anfang an im Gegensatz zu den Forderungen der menschlichen Kultur ständen.

Nur in der ersten Zeit seines Lebens scheint das Kleinkind hauptsächlich nehmend und empfangend; schon mit dem ersten Lächeln erlebt es, dass es der Mutter „etwas zu geben“ vermag und es versucht, „der Liebe der Mutter entgegenzukommen, sie zu steigern, indem es ihr etwas `zuliebe tut`.“ (WEXBERG 1926, 76) Auf diese Weise nimmt die Beziehung zur Mutter bereits sehr früh die Form des Gebens und Nehmens an. Je tiefer und inniger sich das Geben und Nehmen in der Beziehung zur Mutter gestaltet, desto mehr Gemeinschaftsgefühl entwickelt das Kind (vgl. WEXBERG 1926, 76f.) Daran lässt sich nach ADLER ersehen, dass die Beziehung zur Mutter „eine der grössten und entscheidenden Quellen des Gemeinschaftsgefühls ist.“ (RATTNER 1974, 35) Es ist die Beziehung zur Mutter, in der das Gemeinschaftsgefühl als Grundlage von Sittlichkeit und Moral entsteht; es ist deshalb die Beziehung zur Mutter, „in der das Fundament der Kultur gelegt wird.“ (RATTNER 1974, 35)

Von der Beziehung der Mutter zum Kind hängt es ab, ob sich das Gemeinschaftsgefühl des Kindes entwickelt oder nicht. Lieblosigkeit, Härte und Strenge (vgl. ADLER 1927a, 47), ebenso Verwahrlosung und Verwöhnung verhindern die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls (vgl. ADLER 1931a, 108ff.). Wenn die Mutter zum Beispiel das Kind zu sehr an sich bindet, so verhindert sie die Ausweitung des Gemeinschaftsgefühls auf Vater, Geschwister, Kameraden usw., und das Kind bleibt ausschliesslich an die Mutter gebunden. Es kann sich dann eine andere Gemeinschaft als die symbiotische mit der Mutter nicht vorstellen und das Gemeinschaftsgefühl bleibt auf die Mutter beschränkt (vgl. ADLER 1931a, 105f.).

Der von FREUD beschriebene Ödipuskomplex gründet nach ADLER in eben dieser Dynamik; eine Mutter, die ihr Kind zu sehr verwöhnt (vgl. ADLER 1931a, 106), bindet es zu stark an sich. Es ist selbstverständlich, so ADLER, dass bei einer derartig starken Bindung, die „niemand anderen gelten lässt als die Mutter, der Sexualtrieb hineinmengt.“ (ADLER 1926b, 145) Der Ödipuskomplex ist aber nicht durch den Sexualtrieb bedingt. Er ist das Ergebnis einer fehlgeleiteten Erziehung und es ist nicht nötig, wie FREUD unter fälschlichem Rückgriff auf DARWIN es tat, eine phylogenetisch „ererbte Neigung zur Blutschande anzunehmen“ (ADLER 1931a, 106), die bereits beim Kind zum Vorschein kommt.

Wenn das Kind in der Beziehung zur Mutter, zum Vater, zu den Geschwistern, später mit Kameraden und anderen Menschen kooperieren lernt, überwindet es sein Hilflosigkeit und Abhängigkeit; es gewinnt Selbständigkeit und Selbstwertgefühl, indem es ins Beziehungsfeld der Gemeinschaft hineinwächst. Selbstwertgefühl und Gemeinschaftsgefühl stehen nach ADLER in einem engen inneren Zusammenhang: Je minderwertiger ein Mensch sich fühlt, umso egozentrischer ist er und umso weniger Gemeinschaftsgefühl besitzt er (vgl. WEXBERG 1928, 75). Je mehr Gemeinschaftsgefühl ein Mensch hat, umso mehr Selbstwertgefühl besitzt er.

Wir sehen, dass das Kind im Kontakt zu seinen ersten Beziehungspersonen Gemeinschaftsgefühl als Grundlage des kulturellen Zusammenlebens der Menschen erwirbt. Wenn es Gemeinschaftsgefühl erworben hat, bezieht es sich im späteren Leben nicht nur auf eine einzelnes Du, es fühlt sich, in Gefühl und Verstand, mit der menschlichen Kulturgemeinschaft verbunden. Das Gemeinschaftsgefühl ist für ADLER die Grundlage der Kultur, der Sittlichkeit und Moral.

 

3.7. Kultur

Wir haben gesehen, dass ADLERs Theorie der Kultur in den anthropologischen Grunderkenntnissen DARWINs über die Natur des Menschen gründet. „Vom Standpunkt der Natur aus gesehen“, so hatte ADLER im Anschluss an DARWIN geschrieben, ist der Mensch „ein minderwertiges Wesen“ (ADLER 1927a, 39), das die biologisch bedingte „Minderwertigkeit“ durch das Leben in Gemeinschaft, durch Arbeitsteilung und Kooperation ausgleicht.

Die biologisch bedingte „Minderwertigkeit“, die dem Menschen von Natur aus anhaftet, „wirkt als ein fortwährender Reiz, einen Weg ausfindig zu machen, um die Anpassung an dieses Leben zu bewerkstelligen, vorzusorgen, sich Situationen zu schaffen, wo die Nachteile der menschlichen Stellung in der Natur ausgeglichen erscheinen.“ (ADLER 1927a, 39) „Der Zwang, die bessere Anpassung durchzuführen, kann niemals enden.“ (ADLER 1933a, 164) ADLER spricht auch vom Zwang zur aktiven Anpassung, eben weil der Mensch dem Selektionsdruck der Natur (DARWIN) ausgesetzt ist. „Das Prinzip der natürlichen Auslese ist auch dem Menschen gegenüber gefährlich, da er der Natur gegenüber am stiefmütterlichsten ausgestattet ist.“ (ADLER 1926c, 102)

„Ich habe diesen Gedanken bereits im Jahr 1902 entwickelt und scharf darauf hingewiesen, … dass der Untergang von Völkern, Familien, Personen, Spezies von Tieren und Pflanzen dem Fehlschlagen der aktiven Anpassung zuzuschreiben ist.“ (ADLER 1933a, 164)

Bedenkt man nun, so führt ADLER diesen anthropologischen Gedankengang auf dem Gebiet der Psychologie weiter, dass der Mensch der Natur gegenüber „minderwertig“ ist, „dann muss man annehmen, dass am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder minder tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht.“ (ADLER 1927a, 71) Wer kann ernstlich daran zweifeln, dass dem von der Natur so stiefmütterlich bedachten Menschen ein mehr oder weniger starkes Minderwertigkeitsgefühl gegeben ist, das nach Sicherung verlangt (vgl. ADLER 1933a, 69), „denn gegenüber der Natur, gegenüber den Schwierigkeiten des Lebens, des Zusammenlebens, der Vergänglichkeit des Menschen kann sich ja niemand eines Minderwertigkeitsgefühls entschlagen.“ (ADLER 1926b, 144) „Es ist offenbar ein von Natur aus gegebenes und ermöglichtes Gefühl“ (ADLER 1933a, 67), „einer schmerzlichen Spannung vergleichbar“ (ADLER 1933a, 67), die mindestens so lange währt, als diese Spannung nicht gelöst ist.

Das Gefühl der „Minderwertigkeit“ wird zu Beginn eines jeden Lebens „in jedem Säugling aufs neue erweckt und wiederholt“ (ADLER 1933a, 69). Denn: Fasst man die Kleinheit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit des menschlichen Neugeborenen ins Auge, so muss man annehmen, dass es sich dem Leben gegenüber „minderwertig“ fühlt (vgl. ADLER 1933a, 69). Das Gefühl der „Minderwertigkeit“ ist an sich normal (ADLER 1931a, 53); es ist die treibende Kraft, von der alle Bestrebungen des Kindes ausgehen (vgl. ADLER 1927a, 71). Unermüdlich ist das Kind bestrebt, das Gefühl der „Minderwertigkeit“ zu überwinden. Und wie das Kind danach strebt, dieses Gefühl zu überwinden, so ist auch die Menschheit bestrebt, Unsicherheiten zu überwinden (vgl. ADLER 1933a, 68).

Wir erkennen hier, dass ADLER die emotionale Befindlichkeit des einzelnen Menschen am Anfang seiner Entwicklung mit der der Menschheitsentwicklung vergleicht, ohne jedoch jenen falschen Annahmen des „biogenetischen Grundgesetzes“ von HAECKEL zu verfallen, wonach die Entwicklung des einzelnen Menschen (Ontogenese) eine verkürzte Wiederholung der Artentwicklung (Phylogenese) sei.

Das Gefühl der „Minderwertigkeit“ gegenüber den Gewalten der Natur ist für ADLER „der Beginn“, „der Ansporn zur Entwicklung der Menschheit“ (ADLER 1926b, 144); es ist die Ursache aller Verbesserungen der Lage der Menschheit, denn es drängt zur Überwindung der gegenwärtigen Realität zugunsten einer besseren (vgl. ADLER 1933a, 69). Das Streben nach Besserung der menschlichen Lage ist „darauf gerichtet, zur Bewältigung der äusseren Welt zu gelangen“ (ADLER 1933a, 69)

„Selbst Wissenschaft beispielsweise … ist das Ergebnis der Bemühungen menschlicher Wesen, ihre ganze Lage zu verbessern, mehr vom Universum zu wissen und es in grösserem Umfang zu beherrschen.“ (ADLER 1931a, 53)

Dieses Bestreben des Menschen kann niemals ruhen, es kommt nie zu einem Ausgleich, nicht zu einem Ruhezustand (vgl. ADLER 1933, 69) und darf nicht – wie in FREUDs letzter Triebtheorie – „als zum Tode führend angesehen werden.“ (ADLER 1933, 68)

ADLER betrachtet das Streben des Menschen zur immer besseren Anpassung an die Bedingungen der Natur als ein „Streben nach Vollkommenheit“ (ADLER 1933a, 35).; es „lässt sich leicht aus dem Gefühl der Unvollkommenheit“ (ADLER 1933a, 71) und „aus dem ununterbrochenen Streben der Menschen und der Menschheit“ (ADLER 1933a, 71) verstehen. Die Richtung des Strebens ist immer wieder verschieden, so wie auch das Ziel der angestrebten Vollkommenheit verschieden ist. „Im Strom der Evolution gibt es keinen Ruhezustand. Das Ziel der Vollkommenheit zieht uns hinan.“ (ADLER 1933a, 39) Und: „Jede Kulturepoche formt sich dieses Ideal in der Reichweite ihrer Gedanken und Gefühle.“ (ADLER 1933a, 35)

Eine dem menschlichen Denken und Fühlen seit jeher naheliegende Konkretisierung dieses Ideals der Vollkommenheit ist nach ADLER der Gottesbegriff (ADLER 1933a, 165). „Es ist gar keine Frage, dass der Gottesbegriff eigentlich jene Bewegung nach Vollkommenheit in sich schliesst …“ (ADLER 1933a, 165) In seinem mit JAHN veröffentlichten Buch `Religion und Individualpsychologie` bezeichnet ADLER den Gottesbegriff als „Illusion“ (ADLER 1933b, 68) Die Ursache für eine derart übermächtige Illusion liegt im „primitiven Verstehen“ (ADLER 1933a, 70) des Menschen, dass er das Ideal der Vollkommenheit nie erreichen wird, „dass er niemals der Herr der Welt sein kann, so dass er diesen Gedanken, wenn er einmal auftaucht, in die Sphäre des Wunders oder der Allmacht Gottes versetzen muss.“ (ADLER 1933a, 70f.) Dennoch ist der Gottesbegriff nach ADLER, verbunden mit ethischen und moralischen Vorstellungen, die auf dem Gemeinschaftsgefühl aufbauen, Ausdruck des menschlichen Strebens nach Vollkommenheit.

FREUD hat das Streben nach Vervollkommnung als dem Menschen eigenes Streben nicht anerkennen können. Vielen mag es auch schwer werden, meint FREUD, auf den Gedanken zu verzichten, dass im Menschen ein Streben nach Vervollkommnung wohnt (vgl. FREUD 1920g, 44), das ihn auf „seine gegenwärtige Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht hat“ (FREUD 1920g, 45). Das rastlose Streben des Menschen nach Vollkommenheit lässt sich vielmehr „als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf welche das Wertvollste der menschlichen Kultur aufgebaut ist.“ (FREUD 1920g, 45) Aufbau und Entwicklung der menschlichen Kultur, Religion, Wissenschaft, Ethik und Ästhetik erscheinen daher als Folge der Verdrängung und Sublimierung, denn es bedarf nach FREUD dieser seelischen Abläufe, um die Entwicklung der menschlichen Kultur zu sichern.

FREUD konnte weder das Streben nach Vervollkommnung noch die Neigung des Menschen zum Geselligleben als primäre Gegebenheiten der menschlichen Natur anerkennen. Beides, das Streben nach Vervollkommnung und das Leben in Gemeinschaft, Grundlagen der kulturellen Entwicklung, sind für ihn sekundäre Folgen der Verdrängung und Sublimierung. Für ADLER hingegen ist, wie für DARWIN, der Mensch primär ein soziales Wesen, das von Natur aus danach strebt, im sozialen Verband die immer bessere Anpassung an die Bedingungen der Aussenwelt durchzuführen.

Hatte FREUD mit dem von DARWIN entlehnten Urhordenmotiv Mord und Totschlag an den Anfang der menschlichen Kulturgeschichte gestellt, so sieht ADLER den `Wilden` von Anfang an als ein soziales Wesen. „Alle glaubhaften Forschungsberichte“, so wendet ADLER gegen FREUDs Urhordenmotiv, Mord am Urvater usw. ein, zeigen uns das Bild des `Wilden` als eines Gemeinschaftswesens …“ (ADLER 1929d, 247) Während FREUD die asoziale Tat an den Anfang der Kulturentwicklung stellt, indem er in DARWINs Urhorde das ödipale Geschehen zurückprojiziert, sieht ADLER den `Wilden` ganz im Sinne DARWINs als ein Gemeinschaftswesen.

Das Leben in Gemeinschaft setzt nach ADLER die Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl voraus; es entsteht im Kontakt mit den ersten Bezugspersonen und erstreckt sich auf die Mitglieder der Familie, des Stammes, des Volkes, der ganzen Menschheit. Das Gemeinschaftsgefühl ist nach ADLER die Grundlage der menschlichen Kulturentwicklung; es verbindet die Menschen untereinander und sichert somit den Bestand der menschlichen Kulturgemeinschaft.

Im Gegensatz zu ADLER sieht FREUD in der Libido die Grundlage der menschlichen Kultur. Die Libido führt die Menschen zum Zweck ihrer Erhaltung und Fortpflanzung zusammen. Die Libido aber, so sehr sie das bindende Element unter den Menschen ist, widersetzt sich den Forderungen der Kultur, da sie, egoistisch schlechthin, nach Triebbefriedigung strebt. Es bedarf daher nach FREUD des Verzichts auf Triebbefriedigung, denn es scheint, wie er schreibt, „dass sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muss“ (FREUD 1927c, 328); erst durch Verdrängung und Sublimierung der Libido, beziehungsweise einzelner Komponenten derselben wird der Mensch kulturfähig (vgl. FURTMÜLLER 1912, 12). Alle kulturellen Errungenschaften des Menschen, Religion, Ethik und Moral, gründen deshalb nach FREUD in der Verdrängung und Sublimierung der menschlichen Libido.

FURTMÜLLER, ein früher Schüler ADLERs, sieht in FREUDs Libido die Darstellung eines im Grunde „kulturfeindlichen Urtriebes“ (FURTMÜLLER 1914, 38) im Menschen, der erst „durch Verdrängung und Sublimierung kulturell wirksam“ (FURTMÜLLER 1914, 38) wird. In der Tat wird diese Auffassung noch bestärkt durch FREUDs Äusserung, wonach der Einzelne „virtuell ein Feind der Kultur ist.“ (FREUD 1927c, 326) Die egoistischen Ansprüche der Libido bringen den einzelnen in einen unversöhnlichen Konflikt mit den Forderungen der menschlichen Kultur. DARWIN hingegen, der von FREUD zur Begründung seiner Kulturtheorie immer wieder angeführt wird, sieht den Menschen von Natur aus als ein geselliges Wesen, das nicht von Natur aus im Konflikt mit den Forderungen der Kultur lebt, sondern vielmehr, mit einem phylogenetisch erworbenen „sozialen Instinkt“ ausgestattet, dazu neigt, mit seinen Artgenossen in kulturellen Gemeinschaften zusammenzuleben.

ADLER betrachtet – wie DARWIN – den Menschen als ein soziales Wesen, das von Natur aus disponiert ist, Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Gemeinschaftsgefühl entsteht nicht erst durch Verdrängung und Sublimierung im Grunde kulturfeindlicher Antriebe im Menschen; es ist auch nicht angeboren, es ist vielmehr eine phylogenetisch erworbene Disposition, die durch das kulturelle Leben in Gemeinschaft zur Entfaltung kommt.

Alle Erscheinungen der Kultur, Sprache, Vernunft, Moral und Ethik, gründen nach ADLER im Gemeinschaftsleben und letztlich im Gemeinschaftsgefühl des Menschen. Dies lässt sich nach ADLER besonders gut an der menschlichen Sprache zeigen, „jenem Wunderwerk, das den Menschen vor allen andern Lebewesen auszeichnet“ (ADLER 1927a, 40). Sprache ist ein „deutliches Resultat des gemeinschaftlichen Lebens“ (ADLER 1927a, 40). Ein Mensch, der für sich allein lebt, braucht keine Sprache. „Sprache ist für ein einzeln lebendes Wesen ganz überflüssig“ (ADLER 1927a, 40) und man gelangt zu der Erkenntnis, dass Sprache nur im gemeinschaftlichen Leben des Menschen ihren Ursprung haben kann.

Die Fähigkeit zur Sprache ist – wie die Soziabilität des Menschen – eine angeborene Möglichkeit, die sich jedoch erst im Kontakt mit anderen Menschen entwickelt. Einen Beweis für diesen Zusammenhang findet ADLER darin, dass Menschen, die unter Bedingungen aufwachsen, unter denen der Kontakt zu anderen Menschen erschwert oder verwehrt ist (vgl. ADLER 1927a, 40f.), „fast regelmässig an ihrer Sprache und Sprachfähigkeit Mangel leiden.“ (ADLER 1927a, 40) Es ist, als ob Sprache nur entwickelt und erhalten werden kann, wenn der Kontakt zu anderen Menschen gesichert ist. Wenn einem Kind der Kontakt zu anderen Menschen fehlt, „wenn es isoliert aufwächst, dann wird auch seine Sprachentwicklung gehemmt und verzögert sein.“ (ADLER 1930a, 70) Diesen Kindern fehlt es in der Regel an Gemeinschaftsgefühl und es scheint daher nach ADLER, dass die Entwicklung der Sprache ohne Gemeinschaftsgefühl gar nicht denkbar ist (vgl. ADLER 1930a, 70f.)

Die Sprache hat eine überaus tiefe Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Seelen­lebens: „Sprechen stellt deutlich Bindungen zwischen Menschen her …“ (ADLER 1930a, 70) und vertieft somit das Gemeinschaftsgefühl des Menschen. „Ich muss so sprechen, wie ich voraussetze, dass jeder andere sprechen müsste, damit jeder es versteht.“ (ADLER 1930d, 18) Wir sprechen deshalb in allgemeingültigen Begriffen und man kann sich, wie ADLER sagt, „von einer Erscheinung, wie sie die Sprache ist, den Begriff der Allgemeingültigkeit nicht wegdenken …“ (ADLER 1927a, 40) Die Sprache ist daher ein Ergebnis des Gemeinsinnes oder des Gemeinschaftsgefühls. Denn mit dem Gemeinschaftsgefühl hängen nach ADLER die wichtigsten seelischen Funktionen innig zusammen: Sprache, vernünftiges Denken, Moral und Ethik.

Die Kategorien der Vernunft sind nach ADLER untrennbar mit der Entwicklung der menschlichen Sprache verbunden. „Wir haben unter Vernunft eine allgemein gültige Kategorie zu verstehen“ (ADLER 1928, 224), wie schon aus dem „Anspruch der Allgemeinheit (KANT) hervorgeht.“ (ADLER 1926b, 143) „Wir gelangen so zu dem Schlusse KANTs“ (ADLER 1928, 225): „Vernunft hat Allgemeingültigkeit.“ (ADLER 1928, 225) Es gibt keine private Vernunft, keine Vernunft des einzelnen. Vernunft ist nach ADLER ein Ergebnis des Gemeinsinnes und eine menschliche Fähigkeit, „die durchaus zusammenhängt mit Gemeinschaftsgefühl.“ (ADLER 1928, 225)

Auch die Forderungen der Ethik und der Moral entspringen nach ADLER dem Gemeinschaftsleben der Menschen; es handelt sich dabei um Forderungen, die aus dem gemeinsamen Leben der Menschen entstanden sind: „Was wir Gerechtigkeit nennen …, ist im wesentlichen nichts anderes als Erfüllung von Forderungen, die aus dem gemeinsamen Leben der Menschen erflossen sind.“ (ADLER 1927a, 41) Totem und Tabu, Gesetzgebung usw. waren notwendig, um das Leben in Gemeinschaft zu regeln (vgl. ADLER 1927a, 41). ADLER spricht daher des öfteren von „Spielregeln“ des Gemeinschaftslebens: „Ich will nicht von Moral, von Ethik sprechen, es sind Spielregeln, erwachsen aus dem Gemeinschaftsgefühl.“ (ADLER 1930d, 18)

Moral und Ethik wurzeln im Gemeinschaftsgefühl des Menschen als einer phylogenetisch erworbenen Disposition, die im zwischenmenschlichen Umgang entwickelt werden muss. Das Gewissen, jene innere Stimme, welche uns Menschen sagt, was gut und richtig ist, ist nicht anderes als das Gemeinschaftsgefühl, das uns befähigt, uns in andere Menschen einzufühlen, Mitleid und Mitgefühl mit anderen zu empfinden und den Forderungen der Gerechtigkeit Folge zu leisten.

 

 

IV. Schluss

Wenn wir nun die DARWIN-Rezeption ADLERs mit der FREUDs vergleichen, so kommen wir zum Schluss, dass ADLERs Auffassung weitgehend der Erkenntnis DARWINs entspricht, wonach alle kulturellen Errungenschaften, Moral und Ethik im „sozialen Instinkt“ als einer phylogenetische erworbenen Eigenschaft des Menschen wurzeln. Bereits DARWIN wandte sich entschieden gegen die Auffassungen der Vertreter der derivativen Schule, GASSENDI oder HOBBES, die den Menschen von Natur als asoziales, egoistisches Wesen ansahen; nur weil der Mensch erkannte, dass das gesellschaftliche Leben zu Mord und Totschlag führt – homo homini lupus! -, gründete er nach deren Auffassung einen Gesellschaftsvertrag, aus dem ethische und moralische Verhaltensregeln abgeleitet wurden. FREUD nun erweist sich als Anhänger der derivativen Schule (von lat.: derivatum = abgelei­tet), die von DARWIN kritisiert wurden, denn auch FREUD betrachtet den Menschen als ein von Natur aus triebhaftes, asoziales Wesen. Er beruft sich ausdrücklich auf HOBBES: „Homo homini lupus“, so schrieb er, „wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (FREUD 1930a, 470) Erst durch Verdrängung und Sublimierung asozialer egoistischer Triebe entstehen nach FREUD jene sozialen, moralischen und ethischen Strebungen des Menschen, auf welchen die menschliche Kultur aufgebaut ist. Wir sehen also, dass FREUDs Rezeption der Evolutionslehre sich gegen DARWINs anthropologische Grundannahmen über die Natur des Menschen richtet; FREUDs DARWIN-Interpretation ist also – so wir bereits früher gezeigt – durch das sozialdarwinistische Vorurteil seiner Zeit geleitet.

Wenn ADLER – ganz im Sinne DARWINs – den Menschen als soziales Wesen betrachtet, das von Natur aus zum kulturellen Zusammenleben mit seinen Artgenossen neigt, so verkennt er ebensowenig wie FREUD den gegenwärtig dürftigen Stand der menschlichen Kulturentwicklung.

Zunächst führte ADLER kulturell destruktive Erscheinungen auf einen angeborenen Aggressionstrieb im Menschen zurück. Später erkannt er jedoch, dass es sich bei der menschlichen Aggression, die den Bestand der menschlichen Kultur bedroht, nicht um einen angeborenen Trieb handelt, sondern vielmehr um eine seelische Dynamik, die in einer kulturell verfehlten Anpassung des Menschen gründet. So wie das Kind in seiner Entwicklung zu Irrtümern gelangt, so auch der Mensch in seiner Kulturentwicklung.

Einer der folgenschwersten Irrtümer, zu denen der Mensch im Verlauf der Entwicklung gelangt war, ist nach ADLER die kulturelle Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau, „die noch aus der Zeit des Kampfes gegen das Mutterrecht herrühren dürfte“ (ADLER 1927a, 121). „Wir stossen nämlich in Geschichte und Literatur jeden Augenblick auf Hinweise dieser Art.“ (ADLER 1927a, 121) Auf geistlichen Konzilien wurde lebhaft die Frage besprochen, ob die Frau eine Seele habe, es wurden gelehrte Abhandlungen darüber geschrieben, ob sie überhaupt ein Mensch sei.“ (ADLER 1927a, 121) Auch „in der Bezahlung der Frauenarbeit, die, unbekümmert darum, ob sie mit Männerarbeit gleichwertig ist oder nicht, kommt die Geringschätzung der Frau zum Ausdruck.“ (ADLER 1927a, 122) Die Minderbewertung der Frau ist – so stellte es sich ADLER dar – in der Kultur so weit verbreitet, „dass es den Anschein hat, als wäre sie Gemeingut aller Menschen.“ (ADLER 1927a, 121)

Unglücklicherweise ist, wie ADLER 1927 feststellt, die Struktur der Familie ebenfalls durch die kulturelle Vorrangstellung des Mannes, durch die „väterliche Autorität“ (ADLER 1927a, 245) geprägt. „Damit nimmt das Unheil seinen Lauf.“ (ADLER 1927a, 245) Das Kind nämlich ist dem Willen und der Autorität des Vaters völlig unterlegen. Es gerät dadurch in eine Angriffsstellung gegen den Vater, denn es will, um sich aus dem quälenden Gefühl der Inferiorität gegenüber dem Stärkeren zu befreien, so gross stark und männlich überlegen sein wie der Vater. ADLER hat das Streben nach Grösse, Macht und männlicher Überlegenheit im Begriff des „männlichen Protests“ gefasst. Der männliche Protest als ein kulturell bedingtes Streben nach Macht und männlicher Überlegenheit hat die ursprüngliche Annahme eines Aggressionstriebs im Menschen ersetzt.

Auch der von FREUD beschriebene Ödipuskomplex gründet – wie gezeigt – nach ADLER in der Dynamik des „männlichen Protests“; der „männliche Protest“ peitscht die Wünsche des Kindes auf, es will den Vater übertreffen, gerät in eine Angriffsstellung gegen ihn, und so kommt es zu den auf die Mutter gerichteten Begehrungsvorstellungen (vgl. ADLER 1910a, 93). Diese sind aber nicht Ausdruck einer natürlichen, inzestuösen Liebe zwischen Mutter und Kind (vgl. ADLER 1911a, 97ff.), sie gründen vielmehr im „männlichen Protest“ des Kindes, das seinen Vater besiegen und an seiner Stelle den Platz bei der Mutter einnehmen will. Der Ödipuskomplex erscheint daher nach ADLER nicht als naturgegebene Erscheinung, sondern als Ergebnis einer „falschen Erziehung“ (ADLER 1931a, 80), die letztlich kulturell bedingt ist.

Im Gegensatz zu ADLER hat FREUD den Ödipuskomplex nicht als Ergebnis einer kulturell verfehlten Erziehung gesehen, im Gegenteil: Unter Berufung auf DARWIN und LAMARCK gelangte FREUD zu der Ansicht, dass es sich beim Ödipuskomplex um ein archaisches Erbe aus der Urzeit menschlicher Kulturentwicklung handle. Das Geschehen in der Urhorde (Mord am Urvater, Entstehung von Schuldgefühlen als Grundlage von Religion, Sittlichkeit und Moral) sei ins Artgedächtnis der Menschheit übergegangen (vgl. GÖRLICH/LORENZER/SCHMIDT 1980, 16), von wo aus „das Kind zu diesem phylogenetischen Erleben greift“ (FREUD 1918b, 131) In der Anerkennung eines phylogenetischen Erbes stimmt FREUD mit JUNG überein (vgl. FREUD 1918b, 131)

ADLER hingegen lehnt die Existenz eines phylogenetischen Erbes, das bereits das Kind zum asozialen Wesen macht, ab: „Es ist nicht notwendig, eine ererbte Neigung zur Blutschande anzunehmen …“ (ADLER 1931a, 106). Das Kind hat „den Hass auf den Vater nicht als Instinkt von Wilden übernommen, die den Stammeshäuptling töteten und verzehrten.“ (ADLER 1931a, 106) Auch der Hinweis auf die archaischen Verhältnisse der `Wilden` kann dies nach ADLER nicht bestätigen, denn: „Alle glaubhaften Forschungsergebnisse zeigen uns das Bild des `Wilden`als eines Gemeinschaftswesens …“ (ADLER 1929d, 247)

ADLER wendet sich entschieden gegen FREUDs Annahme der „Urasozialität des Menschen“ (METZGER 1980, 21f.). Der Mensch ist für ADLER – und hierin stimmt er mit DARWIN überein – kein asoziales Triebwesen, das von Natur aus im ständigen Konflikt mit den Forderungen der Kultur lebt. „Hier wird zum erstenmal klar ausgesprochen, dass der Mensch als soziales Wesen zur Welt kommt, als ein Wesen, das auf Zusammenleben und zusammenwirken mit anderen“ (METZGER 1980, 22) in der Kultur ausgerichtet ist.

Die Grundlage der kulturellen Entwicklung ist für ADLER das Gemeinschaftsgefühl und das Streben des Menschen, die immer bessere Anpassung an die Bedingungen der Umwelt durchzuführen. DARWIN hatte die soialen Gefühle im „sozialen Instinkt“ des Menschen begründet, aus dem die höchsten ethischen und moralischen Werte der menschlichen Kultur hervorgingen. Es wurde gezeigt, dass FREUD, obwohl er auf DARWIN zurückgreift, die Annahme der sozialen Natur des Menschen nicht teilen konnte. Er blieb damit dem sozialdarwinistischen Vorurteil seiner Zeit verhaftet.

 

 

Literatur

ADLER, Alfred (1907): Studie über die Minderwertigkeit von Organen. Frankfurt/M. 1977

ADLER, Alfred (1908a): Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. In: ADLER, A.: Heilen und Bilden. S.53-62

ADLER, Alfred (1908b): Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. In: ADLER, A.: Heilen und Bilden. S.63-66

ADLER, Alfred (1910a): Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose.In: ADLER, A.: Heilen und Bilden. S.85-93

ADLER, Alfred (1911a): Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens. In: ADLER, A.: Heilen und Bilden. S.94-113

ADLER, Alfred (1912a): Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. 6. Auflage. Frankfurt/M. 1980

ADLER, Alfred (1914a): Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen. (Hrsg. mit Carl FURTMÜLLER und Erwin WEXBERG). Neu herausgegeben von Wolfgang METZGER. Frankfurt/M. 1973

ADLER, Alfred (1914c): Lebenslüge und Verantwortlichkeit in der Neurose und Psychose; ein Beitrag zur Melancholiefrage. In: ADLER, A.: Praxis und Theorie. S.115-120

ADLER, Alfred (1919-1929): Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte AufsätzeBd.1: 1919-1929. Frankfurt/M. 1980

ADLER, Alfred (1923a): Fortschritte der Individualpsychologie. In: ADLER, A.: Psychotherapie und Erziehung. Bd.1, S.33-47

ADLER, Alfred (1924): Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Vorträge. Zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. Frankfurt/M. 1977

ADLER, Alfred (1926b): Die Individualpsychologie als Weg zur Menschenkenntnis. In: ADLER, A.: Psychotherapie und Erziehung. Bd.1, S.135-157

ADLER, Alfred (1927a): Menschenkenntnis. 16. Auflage. Frankfurt/M. 1981

ADLER, Alfred (1928): Kurze Bemerkungen über Vernunft, Intelligenz und Schwachsinn. In: ADLER, A.: Psychotherapie und Erziehung. Bd.1, S.224-231

ADLER, Alfred (1929b): Neurosen. Fallgeschichten. Zur Diagnose und Behandlung. Hrsg. v. Heinz L. ANSBACHER und Robert F. ANTOCH. Frankfurt/M. 1981

ADLER, Alfred (1929c): Lebenskenntnis. Frankfurt/M. 1987

ADLER, Alfred (1929d): Die Individualpsychologie in der Neurosenlehre. In: ADLER, A.: Psychotherapie und Erziehung. Bd.1, S.238-248

ADLER, Alfred (1930-1932): Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze. Bd.2; 1930-1932. Frankfurt/M. 1975

ADLER, Alfred (1930a): Kindererziehung. Frankfurt/M. 1976

ADLER, Alfred (1930c): Die Technik der Individualpsychologie. Tl.1. Frankfurt/M. 1974

ADLER, Alfred (1930d): Die Technik der Individualpsychologie. Tl.2. Frankfurt/M. 1974

ADLER, Alfred (1931a): Wozu leben wir? Frankfurt/M. 1981

ADLER, Alfred (1931c): Zwangsneurose. In: ADLER, A.: Psychotherapie und Erziehung. Bd.2, S.85-105

ADLER, Alfred (1932b): Der Aufbau der Neurose. In: ADLER, A.: Psychotherapie und Erziehung. Bd.2, S.263-272

ADLER, Alfred (1933a): Der Sinn des Lebens. 4. Auflage. Frankfurt/M: 1976

ders./Jahn, Ernst (1933b): Religion und Individualpsychologie. Eine prinzipielle Auseinandersetzung über Menschenführung. Frankfurt/M. 1975

AINSWORTH, Mary D. Salter et al.(1962): Deprivation of maternal care: A reassessment of its effects. Public Health Papers No. 14. Genf: World Health Organisation 1962, S.97-165

ANSBACHER, Heinz und Rowena (Hrsg.) (1972): Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften. München/Basel 1972

BRENNER, Charles (1976): Grundzüge der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1976

BOWLBY, John (1976): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München 1976

DARWIN, Charles (1860a): Reise eines Naturforschers um die Welt. Übers. v. J.Victor CARUS. Stuttgart 1875

DARWIN, Charles (1860b): Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übers.v. Carl W. NEUMANN. Stuttgart1963 (= Reclam)

DARWIN, Charles (1871a): Die Abstammung des Menschen. Übers. v. J.V.CARUS. Wiesbaden 1986 (=Fourier)

DARWIN, Charles (1871b): Die Abstammung des Menschen. Übers. v. H.SCHMIDT-JENA nach der revidierten 2. Auflage (1874). Stuttgart 1966 (=Kröner)

DARWIN, Charles (1874): Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor CARUS. Stuttgart 1910

ELLENBERGER. Henry F. (1973): Die Entdeckung des Unbewussten. Ins Deutsche übertragen von Gudrun THEUSNER-STAMPA. Bern/Stuttgart/Wien 1973

FEUERBACH, Ludwig (1849): Das Wesen des Christentums.Stuttgart 1978

FRAZER, J.G. (1910): Totemism and Exogamy. 4 Bde., London 1910

FREUD, Sigmund: Gesammelte Werke. Bd.1-18. Imago Publishing Co., London 1940-1952. Frankfurt/M. 1968; seit 1960 die gesamte Edition bei S.Fischer Verlag, Frankfurt/M. (= G.W.)

FREUD, Sigmund: Studienausgabe. Bd.1-10, Ergänzungsband. Frankfurt/M. 1969-1975 (= STA.)

FREUD, Sigmund / BREUER, Josef (1895d): Studien über Hysterie. Wien; Neuausgabe Frankfurt/M. 1970

FREUD, Sigmund (1900a): Die Traumdeutung. G.W. Bd.2/3; STA. 2

FREUD, Sigmund (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. G.W. Bd.4

FREUD, Sigmund (1905d): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Wien. G.W. Bd.5, S.27.; STA. 5, S.37

FREUD, Sigmund (1907b): Zwangshandlungen und Religionsübungen. G.W. Bd.7, S.127; STA. 7, S.11

FREUD, Sigmund (1908d): Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität. G.W. Bd.7, S.141; STA. 9, S.9

FREUD, Sigmund (1912-13): Totem und Tabu. G.W. Bd.9; STA. 9, S.2812-13)

FREUD, Sigmund (1914d): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. G.W. Bd.10, S.43

FREUD, Sigmund (1918b): Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. G.W. Bd. 12, S.27; STA. 8, S.125

FREUD, Sigmund (1920g): Jenseits des Lustprinzips. G.W. Bd.13, S.1; STA. 3, S.213

FREUD, Sigmund (1921c): Massenpsychologie und Ich-Analyse. G.W. Bd.13, 71; STA. 9, S.61

FREUD, Sigmund (1923a): „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“. G.W. Bd.13, S.209

FREUD, Sigmund (1923b): Das Ich und das Es. Wien. G.W. Bd.13, S.235, STA 3, S.273

FREUD, Sigmund (1923e): Die infantile Genitalorganisation. G.W. Bd. 13, S.291, STA. 5, S.235

FREUD, Sigmund (1924d): Der Untergang des Ödipuskomplexes. G.W. Bd.13, S.393; STA. 5, S.243

FREUD, Sigmund (1925d): „Selbstdarstellung“. Frankfurt/M. 1989

FREUD, Sigmund (1927c): Die Zukunft einer Illusion. G.W. 14, S.323; STA. 9, S.135

FREUD, Sigmund (1930a): Das Unbehagen in der Kultur. G.W. Bd.14, S.419; STA. 9, S.191

FREUD, Sigmund (1931b) Über die weibliche Sexualität. G.W. Bd.14, S.515; STA. 5, S.273

FREUD, Sigmund (1937c): Die endliche und die unendliche Analyse. G.W. 16, S.57; STA Ergänzungsband, S.351

FURTMÜLLER, Carl (1912): Psychoanalyse und Ethik. Ein vorläufige Untersuchung. In: ADLER, A,: (Hrsg.): Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung. Nr.1. München 1912

FURTMÜLLER, Carl (1914): Zur Entwicklung der Individualpsychologie. In: ADLER, A.: (Hrsg.): Heilen und Bilden. S.25-41

GEHLEN, Arnold (1961): Anthropologische Forschung. Hamburg 1961

GÖRLICH, B./LORENZER, A./ SCHMIDT, A. (1980): Der Stachel Freud. Beiträge zur Kulturismus-Kritik. Frankfurt/M. 1980

GROSSMANN, Klaus E./Hrsg. (1977): Entwicklung der Lernfähigkeit. München 1977

HAECKEL, Ernst (1906): Prinzipien der generellen Morphologie der Organismen. Berlin 1906

HALL, C.S./ LINDZEY, G. (1978): Theorien der Persönlichkiet. Aus dem Amerikanischen übertragen von Horst Dieter ROSACKER, Bd.1-2. München 1978

JACOBY, Henry (1974): Alfred Adlers Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde. Frankfurt/M. 1974

KANT, Imanuel (1965): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg 1965 (= Verlag Felix Meiner)

LAMARCK, Jean B. de (1809): Zoologische Philosophie. Leipzig 1906

LAPLANCHE, J./PONTALIS, J.-B. (1975): Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bände. Frankfurt/M. 1975

LEAKEY, Richard E./ LEWIN, Roger (1980): Wie der Mensch zum Menschen wurde. Neue Erkenntnisse über den Ursprung und die Zukunft des Menschen. Hamburg 1980

MALTHUS, Thomas (1798): An Essay on the Principle of Population.

METZGER, Wolfgang (1980): Einführung. In: ADLER, A.: Über dern nervösen Charakter. S.7-24

METZGER, Wolfgang (1981): Einführung. In: ADLER, A.: Wozu leben wir? Frankfurt/M. 1981

NAGERA, Humberto (Hrsg.) (1978): Psychoanalytische Grundbegriffe. Eine Einführung in Sigmund Freuds Terminologie und Theoriebildung. Frankfurt/M. 1978

NUNBERG, H./ FEDERN, E. (Hrsg.): Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung. Übersetzung der Einleitung und Anmerkungen von Margarete NUNBERGH. Frankfurt/M. 1967-81. Bd.1: 1906-1908; Bd.2: 1908-1910; Bd.3: 1910-1911; Bd.4: 1912-1918

PORTMANN, Adolf (1956): Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel 1956

RATTNER, Josef (1972): Alfred Adler. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1972

RATTNER, Josef (1974): Die Individualpsychologie Alfred Adlers. Eine Einführung in Adlers verstehende Psychologie und Erziehungslehre. 3. Auflage. München 1974

REICHE, Reimut (1972): Ist der Ödipuskomplex universell? In: Kursbuch 29 (1972), S.159-178

RITVO, Lucille B. (1990): Darwin`s Influence on Freud. A tale of Two Sciences. New Haven/London 1990

ROAZEN, Paul (1977): Sigmund Freud und sein Kreis. Eine biographische Geschichte der Psychoanalyse. Zürich 1977

SCHALLER, G. (1963): The Mountain Gorilla. Chicago 1963

SCHLEDERER, Franz (1977): Die Gesellschafts-, Kultur- und Religionskritik bei Freud. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band II: Freud und die Folgen (1), Zürich 1977, S.995-1035

SCHMIDBAUER, Wolfgang (1975): Vom Es zum Ich. Evolution und Psychoanalyse. München 1975

SCHMITZ, Siegfried (1983): Charles Darwin. Leben, Werk, Wirkung, Düsseldorf 1983 (= Hermes Handlexikon)

SCHREY, Gisela (1975): Literaturästhetik der Psychoanalyse und ihre Rezeption in der deutschen Germanistik vor 1933. Frankfurt/M. 1975

SEELMANN, Kurt (1977): Adlers Individualpsychologie. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. III: Freud und die Folgen (2). Zürich 1977, S.552-623

SMUTS, J.C. (1926): Holism and Evolution. New York 1926

SPERBER, Manes (1926): Alfred Adler. Der Mensch und seine Lehre. München 1926

SPITZ, Rene / WOLF, K. (1964): Anaclitic depression. In: The psychoanalytic study of the child. Volume II. New York 1964

STEINMÜLLER, Angela und Karlheinz (1985): Charles Darwin. Vom Käfersammler zum Naturforscher. Biografie. 2. Auflage. Berlin 1985

THOMPSON, Clara (1952): Die Psychoanalyse. Ihre Entstehung und Entwicklung. Zürich 1952

WEXBERG, Erwin (1926): Handbuch der Individualpsychologie. Bd. 1-2. München 1926

WEXBERG, Erwin (1928): Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung. Leipzig 1928

WOLLHEIM, Richard (1972): Sigmund Freud. München 1972

WUKETITS, Franz M. (1987): Charles Darwin. Der stille Revolutionär. München

Autor

Joachim Hoefele, Prof. Dr. phil., Dozent, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache

Weiterempfehlen