Die Ideologen der Frankfurter Schule, Teil 3: Psychologie und Menschenbild

Moritz Nestor


Die Ideologen der Frankfurter Schule, Teil 3: Psychologie und Menschenbild


 

Den Gegenwartsfanatikern und den ihnen zugesellten Zukunftsträumern haben wir das Bewusstsein der Vergangenheit entgegenzusetzen, vor ihnen haben wir die Zukunft zu retten, indem wir für sie die Werte retten, die jene der Gegenwart opfern möchten.” (Manes Sperber, Wie eine Träne im Ozean)

 


 

Neben Herbert Marcuse gelten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als die Hauptvertreter der neomarxistischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. “Kritisch” nennt sich die Theorie von Adorno, Horkheimer und Marcuse wegen ihrer grundsätzlichen Negation der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Darin folgen sie Marx, Engels und Lenin. (Vgl. Zeitfragen Nr.4, April 1999 und 5, Mai 1999) Neu ist jedoch, dass sie die revolutionäre Strategie gegen die kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft auf alle gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen ausdehnten wie etwa die Schule, Universität, Familie, Kirche und Staat. Durch die gesellschaftlichen Institutionen, vor allem durch die Familie, würden die Menschen an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst, wodurch eine revolutionäre Umwälzung und Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne von Marx, Engels und Lenin verhindert werde. Deshalb gelte es, auch in die Psyche der Menschen einzudringen, um Kräfte im Menschen hervorzurufen, die zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse führten. Der folgende Artikel setzt sich mit der neomarxistischen Vereinnahmung psychologischer Theorien durch die kritische Theorie der Frankfurter Schule auseinander.

 

 

Von Reich zu den Frankfurtern

 

Nach der Marxschen „Verelendungstheorie“ entsteht die Revolution automatisch dort, wo die Unterdrückung am grössten ist. Schon der linke Freud-Schüler Wilhelm Reich hatte nach einer psychologischen Erklärung gesucht, warum sich das Volk nicht gegen die unterdrückerische Hitler-Diktatur wehrte, wie es dies gemäss der Verelendungstheorie hätte tun müssen. Dessen “Erfolge” liessen sich für Reich nicht mehr allein mit Marx erklären, sondern nur unter Zuhilfenahme der Psychoanalyse. Durch die „religiöse Sexualunterdrückung“ würden die Kinder in der Familie zu Untertanen erzogen: «Die moralischen Hemmungen der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist». Der liebes- und arbeitsfähige Mensch war für Reich der «bürgerliche Charakter», durch Sexualunterdrückung an die kapitalistische bzw. faschistische Gesellschaft angepasst. Sein «Charakterpanzer» müsse gesprengt werden. Klassenkampf und Revolution setzten daher die «Aktivierung der passiven Mehrheit» durch die «Beseitigung derjenigen Hemmungen, die der Entwicklung des […] Klassenbewusstseins entgegenwirken», voraus. Da für Reich die Religion ein Produkt gehemmter Sexualität ist und die natürliche Geschlechtlichkeit „der Todfeind der Religion“, ist für Reich die „sexuelle Befreiung“ das Ende der Religion und die Freisetzung der menschlichen Kräfte zur Revolution.

Die Frankfurter Schule setzte am gleichen Punkt wie Reich an. Auch sie lehnte die Verelendungstheorie ab. Es musste etwas in den Köpfen der Menschen (dem „subjektiven Faktor“) sein, das sie hemmte, Revolution zu machen, obwohl das in ihrem „objektiven Interesse“ gelegen wäre. Der heutige Mensch sei durch seelische Mechanismen total an die kapitalistische Gesellschaft angepasst. Adorno, Horkheimer und Marcuse sahen in den gehemmten Aggressionen des Individuums dessen ‹innere Arbeiterklasse›, das unterdrückte Potential, welches nur freigesetzt werden müsse, damit der Einzelne sich gegen das wehren könne, was ihn in Unfreiheit hält. Das Ausleben von Aggressionen wurde so zur emanzipatorischen, revolutionären Tat hochstilisiert. Im Gegensatz dazu wurde die Aufarbeitung von inneren Konflikten durch Therapie von linken Kreisen als Rückzug in die Innerlichkeit abqualifiziert, durch die der Mensch an die bestehende Gesellschaft angepasst werden soll.

Für die Frankfurter passte Freud zu Marx, weil beide davon ausgehen, dass der Mensch durch Materielles determiniert ist. Sie sehen den Menschen nicht als freie entscheidungsfähige Person, die im Zusammenleben mit anderen ihr Geschick lenkt. Der Freudsche Mensch ist kein soziales Wesen, sondern ein egoistisches Triebwesen, das gegen den Mitmenschen eingestellt ist. Er wird nur zwangsweise sozial, weil er einsieht, dass er gar nichts mehr bekommt, wenn er egoistisch bleibt. Geist und Seele des Menschen werden nach Freuds Auffassung von zwei organischen Trieben gesteuert: Sexual- und Aggressionstrieb. Freud dachte damit materialistisch wie Marx, für den alles Seelische und Geistige aus Materiellem entstand.

Für Freud entstehen Beziehung und Mitmenschlichkeit nicht aufgrund einer Disposition, die das Kind mitbringt und die von der Mutter richtig beantwortet werden muss. Sondern: Indem die Mutter die körperlichen Bedürfnisse des Kindes befriedigt, entstehen – sozusagen als Nebenprodukt – mitmenschliche Gefühle zur Mutter. Gerade an dieser Triebtheorie – eigentlich Freuds grosser Rückschritt – fanden die Frankfurter Gefallen. Dass im Menschen zwei gegensätzliche Triebe stritten und Antriebskraft des Seelenlebens seien, sei Freuds eigentliche revolutionäre Entdeckung: Der gesellschaftliche Gegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeiter sei in jedem Menschen durch den Gegensatz zwischen Sexual- und Aggressionstrieb verkörpert. Aggressionen psychotherapeutisch aufzulösen, lehnen die Frankfurter daher ab, weil damit der letzte mögliche Widerstand gegen diese Gesellschaft eingeebnet und das Individuum an die Gesellschaft noch stärker angepasst werde. Der Therapeut dürfe nur die eingeklemmten Aggressionen freisetzen, dann aber müsse er den (marxistischen) Soziologen als politischen Führern das Feld überlassen.

Die Psychoanalyse wurde- nicht zuletzt aufgrund ihrer Verbreitung unter Generationen von Intellektuellen durch die „Frankfurter Schule“ – in der Tiefenpsychologie und in allen Humanwissenschaften beherrschend. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein beachtlicher Teil der Tiefenpsychologen zu Adornos Zeiten die Freudsche Theorie bereits abgelehnt oder hinter sich gelassen hatte. Sie gingen von einer personalen Auffassung vom Menschen aus: die Individualpsychologie Adlers und die sogenannten Neoanalytiker wie Horney, Sullivan, Fromm, Fromm-Reichmann und andere. Im absoluten Gegensatz zu Freud ist nach Auffassung der personalen (Tiefen)Psychologie das Seelenleben des Menschen nicht von Trieben oder biologischen Bedüfnissen gesteuert. Der Mensch ist nach Auffassung der Individualpsychologie ein Beziehungswesen, das in der personalen Begegnung mit dem Du sein Ich entwickelt. Das Kind ist danach von Geburt an aktiv und individuell auf den Mitmenschen ausgerichtet, beziehungsbedürftig und beziehungsfähig – eine Person, die im Wechselspiel mit den Eltern zur eigenständigen Persönlichkeit heranwächst.

Anders als Sigmund Freud hatten Alfred Adler und viele Neoanalytiker erkannt, dass die Freudsche Trieblehre und die darauf aufbauende Theoriesprache Ausgangspunkt grundlegender Missdeutungen in der Psychoanalyse bildeten. Demgegenüber sahen sie in der Sozialnatur des Menschen die natürliche Disposition zur Mitmenschlichkeit. Sie bestätigten damit die Auffassung von der natürlichen Erziehungsbedürftigkeit und Erziehbarkeit des Menschen. Damit erkannten sie auch die zentrale Bedeutung ethischer Werte für den Werdegang des Individuums und der Gemeinschaft. Gerade dies aber war den Frankfurtern ein Dorn im Auge, denn Werte waren für sie lediglich Ausdruck eines falschen Bewusstseins. Lebensprobleme nicht triebtheoretisch zu begründen – wie Adler dies tat – war in ihren Augen die Preisgabe der einzigen Möglichkeit, den an der Gesellschaft leidenden Menschen zu befreien. Adler und die Neoanalyse sind daher in diesen Kreisen als die bürgerlichen «Klassenfeinde» verschrieen, liess in ihren Augen doch die bürgerliche Gesellschaft wenigstens noch innere Konflikte im Menschen unangetastet, welche Adler und die Neoanalytiker durch psychotherapeutische Behandlung auflösen möchten. Alfred Adler, Karen Horney, Harry Stuck Sullivan und auch Erich Fromm, um nur einige zu nennen, werden damit als “Revisionisten” beschimpft, die die Freudsche Theorie ihres wahrhaft revolutionären Kerns – der Triebtheorie nämlich – beraubten. Im Freudschen Gegensatz von Trieb und Kultur sahen die Vertreter der Frankfurter Schule den Ansatzpunkt, um die bürgerliche Gesellschaft zu erschüttern. Es galt danach, die durch die Kultur angeblich unterdrückten Triebe zu entfesseln und die Menschen in den Kampf gegen die Normen und Institutionen der “bürgerlichen Gesellschaft” zu führen. Mit den Ideen der Frankfurter und Wilhelm Reichs gewappnet, erhoben sich in der 68er Revolte Intellektuelle und Jugendliche gegen alle staatlichen und ethischen Autoritäten.

Diese Verschmelzung von Psychoanalyse und Marxismus, der sogenannte Freudomarxismus, brachte auch die sogenannte Antipsychiatrie eines Szasz, Basaglia, Cooper, Laing u. a. hervor. Diese marxistischen Psychiater und Soziologen wollten die “Entpsychiatrisierung” der Geisteskrankheit. «Macht und Allmacht der Psychiatrie» analysierten sie mittels des «wissenschaftlichen Sozialismus» und sprachen vom «Mythos der Psychotherapie». Eine «Kritische Medizin» entstand, die das wissenschaftliche Verständnis von Krankheit als sogenannt «bürgerlichen Krankheitsbegriff» abtat. Das Krankenhaus dieser Gesellschaft wurde als Institution der Machterhaltung mit dem Gefängnis gleichgesetzt. «Freiheit heilt» verkündeten sie und unterstellten dabei, dass die Psychiatriepatienten wie Verbrecher durch den «Agenten» – gemeint ist der Arzt – eingesperrt würden. Foucault propagierte, Wahn und Unvernunft des Geisteskranken seien noch im Mittelalter und in der Renaissance toleriert worden als «existentielle Entscheidung» derer, die nicht an der allgemeinen Ordnung hatten teilnehmen wollen. Die nachfolgende bürgerliche Periode sei die Zeit der «administrativen Ausgrenzung der Unvernunft» gewesen. Die bürgerliche Psychiatrie und Psychologie wachten über die Grenze zwischen normal/Vernunft und abnormal/Wahn/Unvernunft. Sie würden so zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse beitragen. Schlussfolgerung der Antipsychiater war, dass Normalität eine ausschliesslich historisch veränderliche Grösse sei, die – was die bürgerliche Gesellschaft betrifft – den Menschen unterdrücke.

Fürsorge, Pflege und Schutz gegenüber Kranken sei ebenso Ausgrenzung und Verwaltung des Abnormalen wie Strafe und Rehabilitation bei Gefangenen in Gefängnissen. Soziologen, Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter seien darauf getrimmt, «Konflikten vorzubeugen, Unruhe abzuwenden, Dissens zu entschärfen, kurz, die ‹Normalisierung› der Verhältnisse voranzutreiben. Es ist grotesk und tragisch, dass Intellektuelle, indem sie sich an die Institutionen der Macht anbinden, unter dem Schein der Hilfeleistung die Opfer der Macht vollends entwaffnen: In der Pose des Samariters geben sie ihnen den tödlichen Kuss.» So charakterisierte das Ehepaar Basaglia im Jahre 1975 die barmherzige Zuwendung, die Hilfeleistung gegenüber Schwachen und Bedürftigen. Diese radikale Kampfansage galt allen, die versuchen, in dieser Gesellschaft helfend und aufbauend zu arbeiten. Sie seien «Befriedungsverbrecher» einer «Ghettoisierungsmaschine», denn sie würden die friedliche Reform erstreben und den einzelnen nur wieder an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen.

Nach Freud taucht in den Träumen und Phantasien Verdrängtes wieder auf. Diese Idee benutzten die Antipsychiater und behaupteten, in der bürgerlichen Gesellschaft würden die Menschen durch äussere Gewalt, Erziehung und Pädagogik gezwungen, alles, was gegen die versklavende Anpassung gerichtet sei, zu verdrängen. Der in unseren Augen normale, in den Augen der Antipsychiater aber versklavte Mensch sei derart verschüttet, dass er nichts mehr von dieser verdrängten Rebellion bemerke. Der Psychiatriepatient aber spüre noch etwas davon. In seinem Wahn komme das Verdrängte wieder. Er sei also eigentlich «normaler» als der «Normale». Denn: Jeder Wahn sei – wie Cooper (1979) schreibt – politische Dissidenz, eine politische Aussage, Verrücktheit sei in Wirklichkeit Subversion gegen die Normen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.

 

 

Adornos Kritik am personalen Menschenbild

 

In seinem Aufsatz ,,Die revidierte Psychoanalyse“ (1952) befasst sich Adorno mit der „neofreudschen Abweichung von Freud“, insbesondere mit der Neopsychoanalyse, die in Karen Horneys Werk „Neue Wege in der Psychoanalyse“ (Stuttgart 1951) eine umfassende Darstellung erfuhr. Horney bezog sich auf moderne psychologische und kulturanthropologische Erkenntnisse, unter anderem die von A. Adler, H. Schultz-Henke, H.S. Sullivan, R. Benedict sowie auf Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis, die eine kritische Überprüfung der Freudschen Triebtheorie nahegelegt hatten. Die Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse, so vor allem der Entwicklungspsychologie, bewog in der Folge viele Psychologen zu einem Abrücken von Freuds Triebmodell zugunsten der Entwicklung einer Ichpsychologie, die den Menschen nicht mehr als von Triebkonflikten bestimmt, sondern als einheitliche Persönlichkeit betrachtete, deren Kern das Ich bildet.

Es ist schon deshalb unsinnig, von ,,Abweichung“ oder „Revision“ zu sprechen, da es bei diesem Prozess nicht um ideologische Grabenkämpfe, sondern um kontinuierlich aufbauende Forschung und Weiterentwicklung ging, wie sie unter wissenschaftlich Tätigen bis heute üblich ist. Es lohnt aber, sich mit Adornos polemisch-wütender Abrechnung mit den sogenannten „Revisionisten“ zu beschäftigen. Einerseits verdeutlicht sie die Ablehnung eines jeden Welt- und Menschenbildes, das nicht mit dem ,,kritischen“ Marxismus der Frankfurter Schule im Einklang steht. Andererseits wird auch erklärbar, weshalb gegenwärtig wertkonservative Personen und Institutionen mit massiven Anfeindungen zu rechnen haben, wenn sie von einer personalen Auffassung des Menschen ausgehen. Immerhin wurden Adornos Gedanken seit den 60er Jahren ideologische Nahrung ganzer Studentengenerationen, deren Vertreter heute vielerorts als politische Entscheidungsträger fungieren.

 

 

Humanität versus Klassenkampf

 

Nach Adorno geht es nicht an, das Verhalten des Menschen, wenn auch von der sozialen Umwelt geprägt, aus dem individuellen Charakter der menschlichen Person zu erklären: ,,Eine Totalität des Charakters, wie sie die Revisionisten als gegeben voraussetzen, ist ein Ideal, das erst in einer nicht traumatischen Gesellschaft zu verwirklichen wäre.“_). Hören wir hier nicht im Hintergrund die marxistisch-leninistischen Heilsversprechungen, die wahre Humanität erst in einer zukünftigen klassenlosen Gesellschaft für möglich halten – nicht zuletzt um die Verfolgung und Ermordung ungezählter Opfer kommunistischer Regimes zu legitimieren? Die Auffassung von der Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit bringe ,,einen harmonistischen Glauben an die Einheit der Person, die in der bestehenden Gesellschaft unmöglich, vielleicht überhaupt nicht einmal zu ersehnen ist“_, zum Ausdruck. Das ist nicht nur eine menschenverachtende Preisgabe der Humanität. In solchen Äusserungen liegt sehr wohl auch (neo)-marxistische Logik, die eine humane Gesellschaft erst in der Zukunft verspricht: Der Mensch ist nicht Mensch als natürliches Wesen, sondern es ist ,,nicht nur das Individuum, sondern schon die Kategorie der Individualität ein Produkt der Gesellschaft.“_ Mit anderen Worten: Individualität, personales Menschsein ist kein gegebener Wert, geschweige denn ein Menschenrecht. Erst durch die totale Negation des Bestehenden und die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung (bei Adorno nicht konkret beschrieben, aber im 20. Jahrhundert leidvoll erfahren) finde der Mensch sein wahres Wesen im Kollektivismus. Es ist in diesem Zusammenhang auch kein Zufall, dass Adorno Missfallen bekundet an der Feststellung der Ichpsychologen, wonach viele menschliche Gefühle sozialen Ursprungs sind (z.B. mütterliches Sorgen und Behüten) und nicht – wie Freud meinte – biologisch und triebbedingt. Für Adorno wird von den Ichpsychologen ,,die Familie in ihrer bestehenden Form glorifiziert.“_ Vielmehr gilt es für ihn, die Familie als soziale Keimzelle einer freien Gesellschaft zu bekämpfen, weil er in ihr den Ursprung der Erziehung zum autoritären Menschentypus sieht, der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vorherrschend sei.

Begreift man die ,,Logik“ dieser politischen Ideologie, so erhellt sich auch der Umstand, weshalb jede Form individueller und sozialer Hilfeleistung, jede Regung von Mitgefühl, jeder Impuls in Richtung eines konstruktiven Miteinanders und überhaupt jeder positive, vernünftige Aufbau innerhalb von Familie und Gesellschaft in Adornos Schriften mit ungeheurer Vehemenz diffamiert werden. Es wird auch deutlich, weshalb all dies der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll als eine Art „höhere Sozialfürsorge“, als naives Werk von ,,Sonntagspredigern“. Revisionisten sind für Adorno letztlich all jene, die einen Anspruch auf therapeutische Arbeit im Hier und Jetzt und am einzelnen Menschen haben; das heisst, die in der bestehenden Gesellschaft aufbauen und konstruktiv wirken wollen. All dies würde nämlich nach Adorno eine Stabilisierung und Verlängerung des Fortbestandes der demokratischen Ordnung bedeuten, die letztlich in den Faschismus geführt habe.

Konsequenterweise folgt Adorno auch Freuds kulturpessimistischer Sicht der Gesellschaft, derzufolge der Mensch, weil er seine Triebe unterdrücken müsse, ein grundsätzliches ,,Unbehagen in der Kultur“ empfindet. Für Adorno ist Freuds ,,Einsicht in die Unentrinnbarkeit kultureller Konflikte, in die Dialektik des Fortschritts also…“_ ein besseres Instrument für den Klassenkampf als der ,,gesellschaftliche Konformismus“ jener Psychologen, die dem Individuum zu seelischem Gleichgewicht und sozialer Anpassung in der bestehenden Gesellschaft verhelfen wollen. Individuelle Entstehungszusammenhänge von psychischen Störungen lässt Adorno also konsequent ausser Acht. Seelische Konflikte sind für ihn ausschliesslich auf die Verhältnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zurückzuführen. Denn: ,,Die Gesellschaft wird zusammengehalten durch die wenn auch vielfach mittelbare Drohung körperlicher Gewalt, und auf diese geht die ,potentielle Feindseligkeit‘ zurück, die sich in Neurosen und Charakterstörungen auswirkt.“_

Adorno verteidigt Freuds Theorie der Gesellschaft und der Kultur aber keineswegs, weil sie wissenschaftlich haltbar wäre, sondern ausschliesslich um ihrer Verwertbarkeit für den Marxismus willen. Diese unsinnige Verbiegung und zwanghafte Verschmelzung zweier Theorien, die historisch und wissenschaftlich nichts miteinander zu tun haben, führt Adorno schliesslich zu glanzvollen Schlussfolgerungen wie: ,,Freud hatte recht, wo er unrecht hatte.“_

 

 

Von der totalen Negation…

 

In seinem 1966 erschienenen philosophischen Hauptwerk „Negative Dialektik“ treibt Adorno seine radikale Verdammung aller positiv aufbauenden Kräfte auf eine einsame Spitze. Das System als Gesamtes müsse als das Unwahre abgelehnt werden, im gesamten Schlechten könne nichts einzelnes gut sein – als ob ein mächtiger Bann jedes soziale Gefühl und Tätigsein in der bestehenden Gesellschaft sofort in Unheil umwandle. Wer nur schon von Positivem redet, wird des Gebrauchs ,,der mordlustigen Phrase von den positiven Kräften“ bezichtigt, in der ,,das Positive an sich fetischisiert“ werde.

Adornos Kult der absoluten Negativität der bestehenden Verhältnisse nimmt derart absurde Formen an, dass Arnold Künzli in einem Aufsatz zur „Frankfurter Schule“ zurecht feststellt: ,,…nach den Begriffen der Psychologie und des gesunden Menschenverstandes ist das Bild, das Adorno von der Welt entwirft, tatsachlich das eines Paranoikers, aber die objektive Welt gleicht diesem Bild immer mehr, und indem sie so seine paranoische Projektion rechtfertigt, hebt sie deren pathogenen Charakter auf, denn pathogen ist nun die Realität selbst. Der Wahn ist keiner mehr, wenn die Wirklichkeit ihm entspricht. Die Frage wäre bloss: liegt der Wahn nicht eben darin, zu behaupten, die Wirklichkeit entspreche ihm absolut?“_ In einer so definierten Wirklichkeit lohnt es sich nicht mehr, etwas verbessern zu wollen. Jede Verbesserung verlängerte nur die Macht des bestehenden Schlechten. In seiner Theorie der absoluten Negation setzt Adorno voraus, ,,…dass die Welt dem Wahn des Paranoikers entspricht. Von dieser Voraussetzung ausgehend, erklärt er den Paranoiker zum einzig Gesunden, da nur er das Wesen des Wirklichen als das Unwesen erkannt hat. Die Frage mag immerhin erlaubt sein, ob hier nicht die Selbstrechtfertigung einer Paranoia auf höchstem philosophischen Niveau erfolgt.“_ In diesem Gedankengang ist also der Gesunde der eigentlich Kranke. Und nur der Kranke spiegelt in einer Art gesunder Reaktion die Realität einer angeblich krankmachenden Gesellschaft wider, die deshalb in ihrer Gesamtheit zerstört werden soll.

 

 

… zum totalen Heil

 

Ihre Weigerung, positiv auszuformulieren, was nach der Zerstörung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft folgen solle, begründet die Negative Dialektik mit dem sogenannten „Bilderverbot“. Philosophie dürfe sich nicht festnageln lassen, sie sei etwas ,,Schwebendes“. Wer sich um Klarheit bemüht und sozio-psychologische Sachverhalte beim Namen nennt, mache sich verdächtig, Absolutheitsidealen nachzustreben. Wer sich allerdings wie Adorno bei hochbrisanten philosophischen und politischen Konzepten der kritischen Überprüfüng durch Vernebelung entzieht, muss sich schon die Frage gefallen lassen, wozu er allem Konkreten ständig auszuweichen versucht.

Interessanterweise entlarvt diese Strategie einen eigenen Hang zu absoluter Heilserwartung (und totaler Herrschaft) im Diesseits. ,,Es überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit Horkheimer und Adorno von allem Anfang an das Bilderverbot von Religion und Theologie auf Gesellschaft und Theorie übertragen, ohne dieses Problem überhaupt je zu reflektieren. Aber nur wer sich a priori von einer ‚religiösen’, ‚heilsgeschichtlichen’ Konzeption der Gesellschaft leiten lässt, kann so ohne weiteres ein Verbot, das auf Gott bezogen ist, auf die Gesellschaft beziehen. Die Gesellschaft erhält dadurch numinosen Charakter, sie ist mit der Transzendenz vermittelt, ihre Totalität erhält ihr Licht vom Absoluten.“ Diese irrationale Sehnsucht nach Totalität bleibt leider nicht bloss ein philosophisches Hirngespinst. Wie die Geschichte lehrt, mündet die totale Negation des Bestehenden oft genug im absoluten Heils-Terror des Totalitarismus.

 

 

Erich Fromms Ausgrenzung durch das Institut für Sozialforschung

 

Erich Fromm gehörte zu den einflussreichen früheren Theoretikern der Frankfurter Schule. Er brachte die Psychoanalyse mit ein und versuchte, den Marxismus mit der Psychoanalyse zu verbinden. Diese Theorie eines „Freudomarxismus“ wurde von Horkheimer gerne aufgenommen und in das Konglomerat der Kritischen Theorie eingebaut. Horkheimer schätzte Fromm als anregenden Kommunikationspartner und arbeitete eng mit ihm zusam­men. In späteren Jahren jedoch wandte sich Fromm, der auch vom jüdischen Humanismus geprägt war, einer mehr personalen Auffassung des Menschen zu und näherte sich der Neo­analyse an (Fromm-Reichmann, Horney, Sullivan). Im Unterschied zur Kritischen Theorie betonte Fromm, dass es eine menschliche Natur gibt. Er verwarf das Triebmodell Freuds zugunsten der „Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen“ der Neoanalytiker; sie besagt, dass der Mensch auch in der bestehenden Gesellschaft durch die zwischenmenschliche Beziehung seelisch gesund werden kann.

Statt nun die Meinungsverschiedenheiten mit Fromm sachlich und wissenschaftlich auszutra­gen, begann das Institut Ende der dreissiger Jahre – vor allem unter dem Einfluss des eifer­süchtigen und misanthropischen Adorno – eine unablässige polemische und persönliche Attacke gegen Fromm zu führen. Adorno warf ihm vor, ihm fehle „der durch Hass geschärfte Blick auf das Bestehende.“[1] Fromm empfand die Art der Kritik Adornos ihm gegenüber als verletzend und gemein.[2] So beschimpfte Adorno Fromm z.B. als „Berufsjuden“[3] oder sprach unsachlich vom „läppischen Argument des Mangels an Güte“ – eine Kritik Fromms an Freuds Forderung nach emotionaler Distanziertheit des Therapeuten. Fromm hingegen wollte die Gleichberechtigung von Klient und Therapeut. Dazu Adorno: Ohne den Begriff der Autorität sei weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur (!) zu denken. Er empfahl Fromm dringend, Lenin zu lesen.[4] Horkheimer seinerseits lehnte es ab, die „Studies an Authority and the Familiy“, die er mit Fromm zusammen erarbeitet hatte, zu veröffentlichen.[5] Dass die Institutsmitglieder sich weigerten, dem an Tuberkulose erkrankten Fromm finanziell beizustehen, um seine (jüdische) Mutter nach der Reichspogromnacht aus Deutschland herauszubekommen, ist ein weiteres widerliches Beispiel ihres Umgangs mit ihm.[6] Um Fromm wohl endgültig loszuwerden, kündigte man ihm in kränkender Weise an, ihm in Zukunft kein Gehalt mehr zahlen zu können. Fromm fragte, dies bedeute also Entlassung? Die Antwort war: ja. Fromms Austritt aus dem Institut fiel mit dem endgültigen Eintritt Adornos zusammen, der mehr und mehr Einfluss auf Horkheimer gewonnen hatte. Von da an haben Adorno / Horkheimer Fromms Person und Werk genauso wie seinen Beitrag zur Bildung der Kritischen Theorie verleugnet und totgeschwiegen.[7]

 


 

Anmerkungen

[1] Wiggershaus, R. Die Frankfurter Schule. München 1988, S. ??
[2] vgl. Erich Fromm an Martin Jay. In: Kessler, M. / Funk, R., ebd., S. 255.
[3] Adorno, Th. zitiert in: Scheible, H. Theodor W. Adorno. Reinbek: Rowohlt 1996, S. 17.
[4] vgl. Wiggershaus, R. ebd., S. 299
[5] Bronner, St. E. E. Fromm in America. In: Kessler, M. / Funk, R., ebd., S. 42.
[6] vgl. Wehr, H. Erich Fromms Leben und Werk. Überarbeitete Fassung des 2. Kapitels aus Wehr, H. Erich Fromm zur Einführung. Hamburg 1990. Internetseite 3 of 6.
[7] Vgl. Kessler, M. / Funk, R., ebd., S. 7.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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