Die personale Auffassung vom Menschen als Grundlage des Zusammenlebens

13. Oktober 2024

Moritz Nestor

Vortrag und Diskussion bei «Bürger im Gespräch» am 21. Juni 2014, Köln

 

 

Michael Tomasello

Die Frage nach dem «personalen Menschenbild» ist ein riesiges Thema. Ich möchte mich ihm unter anderem von den jüngsten Veröffentlichungen von Michael Tomasello ausgehend nähern. Der US-Amerikaner Michael Tomasello lebt derzeit in Leipzig und ist Co- Präsident des Max Plank Instituts für evolutionäre Anthropologie. Seine Forschungen sind in unserer heutigen Welt, in der man manchmal verzweifeln könnte, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel Ideologie über den Menschen populär gemacht wird, eine Perle an personalem Denken und Forschen. Sie bilden auch eine moderne anthropologische Grundlage für die direkte Demokratie.

Theatermasken aus dem antiken Griechenland

Der Begriff der «Person» gehört seit den Anfängen im antiken Griechenland wie kaum etwas zu unserer 2’500 jährigen europäischen Kulturgeschichte. In den antiken griechischen Theatern war die «Persona» die Maske, die der Schauspieler trug. Das ist eigentlich ein gutes Bild dafür, was heute mit Person gemeint ist. Die Stimme des Schauspielers tönte durch die Maske hindurch zum Zuschauer. Das Lateinische «per sonare», heisst «hindurch ertönen». Das ist zum Sinnbild geworden dafür, dass der Mensch aus seiner Innerlichkeit – dem geisti- gen Zentrum, seinem Ich, ist gemeint –, heraus in die Welt hinein wirkt und sein Leben selbstbestimmt führen, gestalten kann – und nicht determiniert ist.

Mit «Person» ist dieses gestaltende geistige Ich gemeint: Der Mensch ist keine «Überlebensmaschine der Gene»,[1] kein «dritter Schimpanse»,[2] kein «lernendes System»,[3] keine Reiz-Reaktions-Maschine,[4] er ist kein Reflex des Weltgeistes oder des Standes von Wissenschaft und Technik («Produktionsverhältnissen»).[5] Unsere Lebensführung ist weder von Genen, Trieben oder Instinkten determiniert noch von Weltgeist oder Ökonomie. Das ureigene geistige Zentrum des Kindes äussert sich unmittelbar nach der Geburt bereits in spontanen schöpferischen seelischen Eigenbewegungen.[6] Aus diesem Grunde haben frühere Zeiten, den Menschen das mit Würde ausgestattete «Ebenbild Gottes» genannt.[7] Denn er könne, ähnlich wie Gott, schöpferisch tätig sein und Neues schaffen, ohne dass er dazu determiniert bzw. angestossen werden müsse. Die neuzeitlichen Humanwissenschaften haben das bestätigt und untermauert: Der Mensch kann lernen, Neues, nie Dagewesenes, frei schaffen.[8]

Tomasello ist einer der wenigen, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Anthropologie diesen personalen Standpunkt einnimmt. In seinem Buch «Warum wir kooperieren»,[9] berichtet er, man habe bei Schimpansen zum Beispiel – vor allem in den letzten 20, 30 Jahren – Gemeinschaftsformen beobachtet, die man im weitersten Sinne Kulturen nennen könne: Gruppen, die sich innerhalb der Spezies bilden und eigene Verhaltensweisen entwickeln, die sich von den Verhaltensweisen in anderen Affengruppen unterscheiden und typisch für diese Gruppe sind. Es habe sich eingebürgert, von tierischer Kulturbildung zu sprechen.[10] Tomasello arbeitet heraus, was die menschliche Kulturbildung von tierischen (Vor)Formen unterscheidet:

Der erste grundsätzliche Unterschied sei, sagt er, dass wir Menschen gar nicht ohne Kultur existieren können, dass wir das kulturelle Wesen schlechthin seien: das «Tier, das „wir“ sagt».[11]

Exkurs: Das ist nichts natürlich nichts Neues, sondern ist europäisches Kulturgut seit der antiken aristotelischen Philosophie in der Antike. Bei Cicero heisst es: «wir versuchen mit unseren Händen inmitten der Natur gleichsam eine zweite Natur zu schaffen.»[12] Aristoteles nennt es die «hetéra phýsis», die «andere Natur».[13] Darwin [14], Kropotkin [15], Herder [16], Adler [17], Portmann [18], Gehlen [19], Scheler [20], Montagu [21], Leakey/Lewin [22] und viel andere, um nur einige Neuere zu nennen, haben bereits beschrieben, dass des Menschen Natur die kulturelle Lebensweise ist. Nie in der Geschichte ist der Mensch anders aufgetreten als in Gruppen und Kulturen. Ohne das Kulturleben könnten Menschen nicht überleben. Das Kind stirbt ohne menschliche Gemeinschaft, ohne Kultur.[23] Ein Schimpanse kann auch ohne ein bestimmtes Verhalten auskommen, das er in seiner Gruppe gelernt hat, da es nicht so entscheidend ist für das Überleben wie beim Menschen. Der Mensch ist existentiell angewiesen auf das kulturelle Leben. Er muss sich im weitesten Sinne, nicht nur als «materielle Produktionskräfte» im Sinne des Marxismus, die Mittel zum Leben selbst erarbeiten: Techniken, Verhaltensweisen, Normen, Regeln und Institutionen usw., mit denen er sich an die jeweilige Umwelt anpasst.[24] Versetzen Sie aber einen Eisbären an den Äquator in den Urwald, wird er wird sterben, weil er sich an diese Umwelt nicht anpassen kann. Er kann die dazu nötige Anpassungsleistung durch Lernen nicht leisten – im Gegensatz zu den Möglichkeiten, die der Mensch durch das kulturelle Leben hat: Kooperation und eine schier unendliche Lernfähigkeit im Sozialverband ermöglichen es ihm, sich an die unwirtlichsten Verhältnisse der Erde anzupassen. Seine «Umwelt» kann die ganze Welt sein.[25]

Zurück zu Tomasello: Es sind zwei zentrale Punkte, sagt er, welche die Kulturbildung des Menschen von allen anderen Gemeinschaftsbildungen unterscheiden, die wir in der Natur beobachten können. Kein tierisches Sozialverhalten, Lernen und Mitfühlen mit den Artgenossen reicht daran heran. Der erste ist, dass unsere Form des Zusammenlebens kummulativ ist. Er nennt das etwas hemdsärmlig den kulturellen «Wagenhebereffekt». Unsere Spezies erfindet, um sich anzupassen und dadurch das Leben zu schützen und sichern, Mittel und Verhaltensweisen, um Aufgaben zu lösen. Und wenn jemand etwas Neues herausgefunden hat, übernehmen die anderen in unseren Gruppen das, bis es sich in der ganzen Gruppe ausgebreitet hat. Nach und nach sammelt sich so immer mehr an Wissen, Erfahrung und Können an.

Solange eine Verbesserung sich bewährt, verbreitet sie sich in der Gruppe. Wenn wieder jemand anderes eine Verbesserung herausfindet, dann wird diese auch wiederum allmählich von der ganzen Gruppe übernommen. Menschliches Lernen über Generationen hinweg, nichts anderes ist Kulturbildung, bekommt eine Geschichte. Der Mensch und seine Kultur sind gar nicht zu verstehen ohne diese Geschichte. Das ist bei keiner Tierart zu beobachten, sagt Tomasello, und macht die Einzigartigkeit der menschlichen Form des sozialen Lernens aus.

Und das Zweite, was die kulturelle Lebensweise des Menschen ausmacht, das ist nach Tomasello, dass wir in sozialen Institutionen und durch sie leben.

Auch hier ein kleiner Exkurs: Das ist natürlich auch nichts Neues. Seit der europäischen Antike ist es das Thema des europäischen Naturrechts schlechthin.[26] Es ist ja gerade der Kerngedanke des Naturrechts, dass der Mensch mit den Rechts-Institutionen, letztlich mit dem Rechtsstaat genau diese für das Leben in Kulturen lebensnotwendigen Institutionen geschaffen hat, wie sie Tomasello meint. Kulturbildung heisst ganz elementar, dass Gemeinschaften Traditionen, Sitten, Gebräuche und Rechtsverhältnisse entwickeln und dafür die sichernden Institutionen errichten. Die sichere Freiheit in Ordnung mit ihren gelebten Regeln, garantiert die Normen und Sitten und einer Ethik zum Schutz des Lebens. Das ist das Wesen menschlicher Kulturbildung. Und genau das ist das Thema des Naturrechts seit den Anfängen in der griechisch römischen Antike: Die Regeln und Institutionen dieser lebensschützenden Ordnung sollten an die Natur des Menschen angepasst werden, damit der Mensch glücklich, das heisst im Einklang mit seiner Menschennatur leben lernen kann. Denn es ist der Mensch, der durch den Staat und das Recht geschützt werden soll. Rechtsbeziehungen und Rechts-Institutionen sind Teil der Kultur. Und ohne Kultur kann er nicht überleben. Hieraus entstand «eine reale ‹gemeineuropäische Naturrechtstradition›, die über 2000 Jahre die gesamte europäische Rechtsentwicklung geprägt hat. Aus dieser Tradition sind in Europa Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die sogenannten ‹Naturrechtsgesetzbücher› hervorgegangen. […] Die eu- ropäische Rechtskultur ist ohne diese Wirklichkeit des Naturrechts nicht zu verstehen.» [27]

Von Rechtsbeziehungen und Institutionen ist der Schimpanse himmelweit entfernt: Tomasello verdeutlicht das etwas humorvoll am Beispiel eines Affen, der sehr gut versteht, dass ein Bäckerladen ein Ort ist, wo es Futter gibt. Er findet heraus, wie er hinein- und wieder herauskommt, denn er kann sich in Raum und Zeit frei bewegen, ist gut im in Suchen und Finden. Er kann auch anderen Affen zeigen, wo der Bäcker ist. Wenn aber ein Mensch einen Bäckerladen betritt, dann beginnt etwas vom äffischen Verhalten radikal Verschiedenes, eben Kultur: Er weiss nicht nur, dass es dort Brot gibt und dass das Brotbacken eine Erfindung ist. Er weiss auch, dass er einen sozialen Raum mit Rechten und Pflichten betritt, in dem mit den anderen Menschen der Gruppe geteilte Normen gelten, die er respektieren muss und die er respektiert, weil diese Regeln den Bestand der Ordnung garantiert, in der seine Gruppe lebt. Der Schimpanse kommt nie zu diesen Einsichten. Seine geistigen Fähigkeiten reichen dazu nicht aus.

Die Institutionen einer menschlichen Kultur bestehen aus Regeln, die die Gruppe gemeinsame im Laufe ihrer Geschichte (ich erinnere an Tomasellos «Wagenhebereffekt»!) gemeinsam entwickelt hat. Ich gehe als Mensch typischerweise eben nicht in den Bäckerladen und hole Brot, sondern ich frage und bespreche und bezahle, und zwar einen gerechten Preis, wie ich empfinde, nämlich den Preis, den alle bezahlen. Die Institution der Bäckerei und was dazu gehört, ist ein Wir-Verbund. Es geschieht in dieser Institution alles gemäss den von allen innerlich geteilten Normen und Regeln. An die halten sich alle, und sie sind mit Rechten und Pflichten verbunden. Wer einfach Brot nimmt, ohne zu zahlen, wie der Affe, erntet Protest. Sein Verhalten wird sanktioniert. Damit rechnet auch jeder, der sich über die Normen dieser Institution Bäckerladen hinwegsetzen will. Die Verletzung der Norm wird von allen als Ungerechtigkeit empfunden. Alle Mitglieder der Gruppe teilen miteinander die geistige Übereinkunft, die in den Regeln und Gesetzen des kulturellen Lebens zum Ausdruck kommt.

So leben wir Menschen immer in einem kulturellen Raum. Das kulturelle Leben ist unsere natürliche Lebensform. Dazu gehören auch Regeln der Heirat, des Kennenlernens, des Anstandes usw. Unser ganzes Leben ist kulturelles Leben in und durch Institutionen, bis hin zum Staat und zum Völkerrecht. Die Intention, die alle gemeinsame teilen, ist der Schutz des Lebens und der Freiheit durch Sicherung und Erhalt des kulturellen Zusammenlebens. Dieses Gruppen- und Kulturleben ist der natürliche Schutz des Menschen und die grösstmögliche Kompensation seiner langen nachgeburtlichen Hilflosigkeit und Bedürftigkeit.

Diese zwei Dinge, (1) das soziale Lernen und die geschichtliche Existenz und (2) die Schaffung sozialer Institutionen, unterscheiden also nach Tomasello die Kulturen des Menschen vom Zusammenleben aller anderen Menschenaffen und Tierarten. Das mache unsere einzigartige menschliche Lebensweise aus. Wir können gar nicht anders existieren.

Und so kommt Tomasello zur Frage: Womit bauen wir im Laufe der Geschichte eine kulturelle Sphäre auf? Das ist beim Menschen möglich durch eine ganz spezielle Form der Kooperation, die im Tierreich einzigartig ist. Es gibt auch unter den Tieren eine ungeheure Vielfalt an Formen der Kooperation. Schon Kropotkin hat bewundernd darauf hingewiesen. Aber die Kooperation des Menschen ist etwas Einzigartiges. Und zwar nennt Tomasello sie die «geteilte Intentionalität». Wir können uns auf Regeln einigen und können gemeinsame Absichten verfolgen. Er sagt, wir seien das Tier, das «wir» sagt. Der Schimpanse kann mit seinen Artgenossen auch die Arbeit teilen und gemeinsam jagen, aber er macht vorher keinen Plan mit den Artgenossen. Die Schimpansen jagen mit verteilten Rollen. Aber sobald das Beutetier gejagt ist, frisst jeder so viel, wie er kann, und es fehlt die geteilte Intentionalität, es fehlt das gemeinsame Wir, die gemeinsame Verpflichtung, die gemeinsame Absicht und der Sinn für Gerechtigkeit. Und was der Schimpanse auch nicht kann, das ist, dass er wie der Mensch seinen Kindern das aktiv lehrt, was seine soziale Gruppe im Laufe der Geschichte von Generationen erfunden und gebaut hat. Wir Menschen sind die Wesen, die unseren Kindern das beibringen, was wir wissen. Und der Punkt dieser geteilten Intentionalität, der ist der entscheidende Punkt, den ich jetzt ins Zentrum stellen möchte.

Tomasello berichtet das Beispiel eines einjährigen Kindes. Es sitzt in einem Raum, wo auch ein Erwachsener arbeitet. Es ist verabredet, dass nicht gesprochen wird. Der Erwachsene geht hinaus. Sin anderer Erwachsener kommt hinein, räumt Dinge des Vorgängers weg und geht auch wieder hinaus. Nach einer Weile kommt der erste Erwachsene wieder herein. Der Kleine kann mit einem Jahr kann noch nicht sprechen. Aber er sieht zu, wie der zweite Er- wachsene sucht. Was macht der Kleine? Er zeigt dorthin, wo der Gegenstand ist, den der Andere versteckt hat. Mit einem Jahr! Der kann noch nicht sprechen und kaum oder gar nicht aufrecht stehen! Aber: Dieser kleine Mensch kann schon seine Innerlichkeit mit der Innerlichkeit des Anderen verbinden, und zwar auf gefühlsmässiger Ebene: «Du suchst, ich weiss, was du suchst und wo es ist.»

Das muss man sich vergegenwärtigen, was das heisst: Der Einjährige versteht das Ziel des Verhaltens des Anderen, dessen Intention, und zwar ohne Wort-Sprache, ohne Logik, ohne reifen Verstand. Er teilt mit dem Suchenden dessen Ziel. Tomasello spricht daher von «geteilter Intention». Der Einjährige ist also eine kleine, aber immerhin eine Person: Ohne, dass er dazu aufgefordert worden wäre, versetzt er sich in den anderen hinein, erkennt und versteht, was er will, und tut das, was ein erwachsener Mitmensch tut: er hilft. Und zwar nicht, weil es ihm anbefohlen, anerzogen oder belohnt wurde, sondern spontan aus sich heraus, weil es ihm ein natürliches Bedürfnis ist..

Dann hat man das Experiment verändert. Was passierte, wenn man versucht, die geteilte Intention und das Helfen des Kindes durch Aufmunterung, Lob oder Belohnung zu «verstärken». Das verblüffende Ergebnis war: Dann hilft das Kind allmählich weniger. Das Lob ist also kein Verstärker, wie das erwartet wurde, sondern dämpft! Eine Warnung an alle Erzieher, die selbstverständliches Verhalten zu sehr loben. Offensichtlich kränkt es also den Einjährigen, dass man ihn für etwas belohnen, was er gerne von alleine macht. Offensichtlich hilft er nicht, um Lob oder Anerkennung zu bekommen. Offensichtlich ist es ist ihm ein inne- res Bedürfnis, gerne zu helfen, weil Helfen Freude macht. Das Bedürfnis zu helfen ist ein Teil der Sozialnatur. Aus der Entwicklungspsychologie, vor allem aus der Bindungsforschung wusste man längst, dass schon fünf, sechs Monate alte Kinder Menschen, die helfen, unter- scheiden können von Menschen, die nicht helfen.

Dass die geteilte Intention gerade am Ende des ersten Jahres erwacht, hängt mit der Sonderstellung des Menschen in der Natur zusammen, wie sie Adolf Portmann beschrieben hat. Man muss das bisher Gesagte in diesen anthropologischen Gesamtzusammenhang einordnen, was Tomasello wenig tut.

Das erste Lebensjahr des Menschen, an dessen Ende die geteilte Intention erwacht, ist die Zeit, in der andere Säugetiere noch im Mutterleib unter biologischen Gesetzen des Uterus heranreifen. Der kindliche Organismus durchläuft dieses erste Jahr bereits im Sozialen, aber immer noch unter biologischen Gesetzen des Uterus! Das Kind kommt bereits mit wachen Sinnen zur Welt, aber das unfertige Gehirn, das Steuerungsorgan des gesamten Organismus, reift nun ein volles Jahr lang ausserhalb des Mutterleibes zu seiner vollen Funktionsfähigkeit heran. Und zwar unter sozialen Bedingungen. Portmann nennt dieses Erstjahr daher «sozialer Uterus» und den Geburtszustand des Menschen eine «normalisierte Frühgeburt». Und das Erstaunliche ist dabei, dass während dieser Zeit das Kind an seinem eigenen Entwicklungsgang mitarbeitet. Mit seinem unfertigen Gehirn arbeitet es aktive an der Entwicklung dieses Steuerungsorgans selbst mit. Ein von Mutter und Kind gestaltetes Beziehungsgeschehen. Die kleine Person des Kindes ist aktiv ausgerichtet auf menschliche Beziehung und sucht sich mit spontanen Probierbewegungen im Unbekannten des Lebens zurechtzufinden.

Erst um den ersten Geburtstag herum hat das Menschenkind den Zustand erreicht, den alle höheren Säugetiere bereits bei Geburt aufweist. Was die Säuger im Mutterleib durchleben, vollzieht sich beim Menschen ein Jahr lang unter sozialen Bedingungen, bis dann mit einem Jahr (1) die menschliche Körperhaltung des aufrechten Ganges und (2) die Wort-Sprache und (3) das «objektive» Denken erwachen und sich beginnen zu entwickeln. Zu letzterem gehört eben die geteilte Intention. Nach dem ersten Lebensjahr verlaufen die Reifevorgänge nun nicht mehr nach den biologischen Gesetzen des Uterus. Das Wachstum verlangsamt sich, als wäre das Kind jetzt erst geboren. Es ist der Zeitpunkt, an dem es zur Welt käme, wenn der Mensch sich wie die anderen Säugern entwickeln würde.

Adolf Portmann

Während des «extrauterinen Frühjahrs» sind biologisches Reifen und soziales Lernen untrennbar miteinander verbunden: ein «lernendes Reifen und ein reifendes Lernen» (Portmann). Das macht das Menschenkind wie kein anderes Wesen der Natur erziehund bildbar. Das gilt auch für die Entwicklung nach dem ersten Lebensjahr. Weder das Sprechen noch der aufrechte Gang und auch nicht das objektive Denken mit der geteilten Intention muss der Erzieher dem Kind anerziehen. Sie sind «weltoffene Anlagen», Teile der sozialen Anlagen in der Menschennatur, die tief im Organismus angelegt sind. Wie sie aber ausgeformt werden, hängt von der erzieherischen Anleitung der Eltern ab.

Im ersten Jahr entwickeln sich nach und nach die sozialen Anlagen des Kindes, während es eine Bindung zur Mutter aufbaut. Nach ein paar Stunden schon kann es die Stimme der Mutter von anderen unterscheiden. Oder den Geruch der Mutter usw. Es vollzieht sich ein langsames Heranreifen verschiedener Fähigkeiten, die ständig durch soziales Lernen in der Beziehung zur Mutter geformt und überformt werden. Bis dann mit einem Jahr etwa die «kulturelle Intelligenz» heranreift, wie Tomasello die «geteilte Intention» auch nennt. Es ist ein von einem übergeordneten Standpunkt aus, die Welt ansehen können, wdas da erwacht.

Mit dem Gesagten betreten wir auch den Boden der Individualpsychologie Alfred Adlers. Die Aufgabe des Erziehers, so hat auch er es gesehen, besteht nicht darin, das Kind erst einmal sozial zu machen, ihm Moral wie eine Fassade anzuerziehen, damit egoistische Triebe oder Böses oder sonst etwas Nichtsoziales «zivilisiert» werde. Sondern die Aufgabe des Erziehers ist es, «Wächter» zu sein über die Entwicklung der sozialen Anlagen, die ja so bildbar und formbar und auch so zerbrechlich sind. Man muss das Soziale nicht in das Kind «hineingeben». Das Kind bringt die bildbare soziale Anlage mit zur Welt. Sie muss unter der Anleitung der Eltern gesund ausgebildet werden, kann aber auch entgleiten. Immer ist die ältere Generation zu diesem Wächteramt bestellt über die Menschwerdung der nächsten Generation, und zunächst einmal ist das die Mutter als Gebärende. Sie hat die Aufgabe das Kind dann mit dem Vater und den Geschwistern sozial zu verbinden.

Um das dritte Lebensjahr herum beherrscht das Kind längst den aufrechten Gang. Die Wort-Sprache und das objektive Denken haben sich konkret anschaulich entwickelt. Der Dreijährige versteht schon viel. Bis er in die Schule kommt, sind es aber noch drei Jahre. Die geteilte Intention ist differenzierter geworden. Es beginnt sich auf dem sicheren Boden des konkret anschaulichen Denkens auch abstraktes Denken zu entwickeln. Er versteht nun zum Beispiel beim gemeinsamen Spielen, dass es abstrakte Funktionen gibt, dass zum Beispiel zwei Spieler die gleiche Funktion oder Rolle in dem Spiel einnehmen können. Sich eine «Funktion» oder eine «Rolle» vorstellen zu können setzt die Fähigkeit voraus, sich abstrakte etwas vorstellen zu können.

Wenn zum Beispiel ein Erwachsener mit einem Kind spielt und plötzlich hört der Erwachsene auf, dann kommt der kindliche Protest prompt: «Wir haben doch vereinbart, Du brichst die Regel.» Das Dreijährige versteht hier das, was wir im gesellschaftlichen Zusammenleben Gesetz und Gesetzestreue nennen. Er teilt mit dem anderen ein Miteinander und vertraut darauf, dass Treu und Glauben gelten. Daher vertraut er darauf, dass die Verabredung beide bindet. Und er protestiert gegen den Bruch der Norm und von Treu und Glauben. Das heisst, er kann mit seinen drei Jahren etwas, was später Grundlage einer Rechtsordnung ist: Die Norm wird von allen Beteiligten als vernünftig akzeptiert, weil sie den Bestand der schützenden Ordnung garantiert.

Wenn ein 20jähriger dem Freund Geld stiehlt, dann hat er ein schlechtes Gewissen, denn er weiss um die Norm. Er überwindet sie aber innerlich mit einem fadenscheinigen Grund. Er missachtet Treu und Glauben wie der Erwachsene, der das Spiel mit dem Dreijährigen Kind abbricht, obwohl er auf Treu und Glauben versprochen hat zu spielen. Wenn der klauende 20jährige sein Gewissen überwindet, um klauen zu können, dann überwindet er sein eigenes Wir-Gefühl, das er als Teil seiner Kultur hat. Vorausgesetzt, dieses Gewissen ist nicht durch etwa anderes verschüttet worden. Um die asoziale Tat begehen zu können, muss der Mensch sein Gewissen, sein Wir-Gefühl überwinden – und das ist nichts anderes als die mit allen geteilte Intention: Diese Regel ist vernünftig für alle. Lügen ist also erst danach  möglich. Am Anfang steht das Wir-Gefühl. Ohne es wäre Lügen gar nicht möglich. Als Lügner muss ich damit rechnen, dass der Andere gerecht ist und sich in Treu und Glauben an die Wahrheit hält, was ich, der Lügner, nun genau nicht tue, und zwar bewusst.

Nun wird auch klar, dass die Abweichung von der Norm, dass das Brechen der Regel, die Sünde, dass das nicht aus etwas Bösem in der Natur des Menschen kommt, sondern Abweichung vom Guten ist, und damit prinzipiell auch besserungsfähig. Die Besserungsfähigkeit zeigt sich am schlechten Gewissen, das ja aus dem missachteten Wir-Gefühl kommt.

In der europäischen Kulturgeschichte stehen sich während 2’000 Jahren zwei gegensätzliche Auffassungen von der Menschennatur gegenüber. Frans de Waal hat in seinem Buch «Primaten und Philosophen» darauf hingewiesen: Das eine ist das Bild von der bösen, antisozialen Menschennatur. Luther nannte uns eine «wilde Bestie», die in Ketten gelegt und gezähmt werden müsse. Moralität sei der Zwang, um die «böse» und verderbte Natur in Schach zu halten, eine andressierte Fassade, hinter der die ursprüngliche Mordlust lauere. Die Menschennatur kenne keine moralische Anlage, worauf Bildung und Erziehung aufbauen könnten. Diese Sicht der Menschennatur rechtfertigt erzieherische Gewalt, wie wir das zum Beispiel bei Schreber sehen, um den Menschen zum Guten zu zwingen.

Das andere Bild von der Menschennatur geht davon aus, dass unsere Natur prinzipiell gut sei. Es ist das zoon politikon, das gesellige Wesen, das bild- und erziehbare soziale Fähigkeiten mit zur Welt bringe, auf die Erziehung und Bildung aufbauen könne. Das ist die Position von Rousseau: Der Mensch sei ein soziales Wesen, von seiner Anlage her, aber er werde verdorben durch die Einflüsse der Kultur.

Tomasello sagt, prinzipiell könne er sich als Anthropologe der Sicht von Rousseau und seiner Sicht von der Menschennatur anschliessen. Sie und nicht die These von der verderbten Natur werde durch die heutige Anthropologie wissenschaftlich untermauert – wenn auch aus heutiger Sicht einige Verbesserungen angebracht werden müssten, was aber nichts an dem grundsätzlichen wissenschaftlichen Befund ändere, dass unsere Menschennatur «bis ins Mark», wie das neben ihm auch Frans de Waal betont, sozial ist.

Das widerlegt die falschen medienwirksamen Mainstream-Theorien der letzten 30, 40 Jahre über den Menschen: Der Mensch ist kein Kosten-Nutzen-Maximierer. Er ist kein egoistischer homo oeconomicus. Er ist nicht das «selbstlernende System» des Konstruktivismus’. Sein soziales Handeln entsteht nicht durch Trieb- oder Bedürfnisbefriedigung. Nicht unser Gehirn denkt, nicht die Hormone steuern unsere Beziehungen. Sondern der Mensch denkt mit seinem Gehirn und er verliebt sich. Er ist auch nicht von der Ökonomie determiniert. Auch nicht von Hegels Weltgeist oder Marxens Dialektik. Menschliches Handeln ist immer frei, interpersonal und zukunftsoffen. Es gibt daher kein «Ende der Geschichte» (Fukuyama), wie uns die USA seit dem Fall des Eisernen Vorhangs beibringen wollte.

Alles läuft immer wieder auf die Frage hinaus: Was ist der Mensch? Michael Tomasellos Forschungen bestätigen das erneut. Lange vor ihm bereits hat sich im personalen Denken des europäischen Kulturraums die Grundzüge eines gemeinsamen Menschenbild herauskristalliert: Wir sind nicht durch Triebe oder Bedürfnisse gesteuert, und das Ziel der Erziehung ist nicht die prompte Bedürfnisbefriedigung.

Bedürfnisse wie die menschliche Sexualität zum Beispiel werden immer kulturell überformt von den individuellen und kulturellen Normen und Werten der Menschen. Sexualität ist gestaltet von der interpersonalen Beziehung zwischen den Liebenden. In allen Lebensbereichen überformt der Mensch seine biologische Ausstattung, die er mit auf die Welt bringt, und so entsteht Kultur.

Und so ist es auch bei den sozialen Anlagen des Menschen. Die erste Wächterin über ihre Entwicklung ist die Mutter, sind die Eltern, die Familie. Dann die kleineren und grösseren Gemeinschaften: Kindergarten, Schule, Vereine, Gemeinde, Talschaften, Staat usw. Jede dieser kulturellen Einheiten kann das Wir-Gefühl und die Kooperation erweitern.

Das kann positiv oder negativ verlaufen und ist immer nach der Zukunft hin offen, wie wir es gestalten. Keine kulturelle Errungenschaft erhält sich automatisch von alleine. Die Gestaltung ist immer eine Aufgabe aller. Dass die Gattung Mensch bis heute überlebt hat, zeigt, dass der Mensch genug Fähigkeiten hat, sicheres Wissen über die Welt und sich zu erlangen, um das Leben ausreichend schützen, mannigfaltige Kulturen aufzubauen und sich entwickeln zu können.

Der Prozess der Kulturbildung ist immer ein tastendes Suchen, Verstehen-wollen, Erfahrung-sammeln, auswerten, Schlüsse-ziehen – immer um Wege zu finden, den Bedingungen der Natur und der Erde ein Sphäre der Sicherheit abzutrotzen: die zur lebenssichernden Kultur umgeformten Natur. Dazu müssen die Menschen herausfinden, nach welchen Regeln oder Gesetzen sich die Dinge und Lebewesen der (belebten und der unbelebten) Natur verhalten.

Die Natur der Dinge und Lebewesen lernen wir so aus deren Wirkweise kennen. Wir versuchen zu verstehen, welche Kräfte in der belebten und unbelebten Natur wirksam sind und wie sich Dinge und Lebewesen zueinander «von Natur aus» verhalten. Das ist der Grundvorgang jeder Kulturbildung – und auch der Wissenschaften.

Wir versuchen natürlich auch immer zu verstehen, welche Kräfte und Motive im Menschen wirken, wie er sich verhält und wie er überhaupt zum Menschen wird, und suchen so nach Wissen um die menschliche Natur. Dabei suchen wir die Kräfte, die Motive und das Verhalten, die der Mensch schon bei Geburt zeigt, ohne dass er etwas gelernt hätte.

Wie realistisch eine Kultur diese Grundkräfte der belebten und unbelebten Natur versteht, entscheidet darüber, was die Menschen tun, welche Sitten und Gebräuche sie aufbauen, welche Institutionen sie errichten usw. Immer werden sie ihre kulturellen Einrichtungen an die Regeln und Gesetze der Natur anpassen, so wie sie sie meinen zu verstehen. Der Kulturaufbau hängt also grundsätzlich vom Menschen- und Weltbild der Völker ab.

Der Unterschied zu den Tieren springt dabei sofort ins Auge. Das Tier kann nicht er- kennen, welche Kräfte es bewegen und motivieren. Es kann auch nicht erkennen, welche Zie- le diesen Kräften innewohnen. Sein richtiges Verhalten ist durch mehr oder minder offene, angeborene Verhaltenskoordinationen gesteuert. In freier Wildbahn werden wir daher zum Beispiel in der Regel kein fettes Reh entdecken, wenn es auch vielleicht Nahrung in Hülle und Fülle zur Verfügung hat. Es muss nicht «richtig fressen» lernen, es frisst.

Der Mensch hingegen kann erkennen, daß er Hunger hat und warum er Hunger hat. Und er kann erkennen, daß im Hunger das Ziel der Lebenserhaltung und der Gesundheit liegt. Dieser Zweck liegt in der Natur selbst, weshalb man solche Zwecke mit dem österreichischen Sozialethiker Johannes Messner «natürliche» oder «existentielle Zwecke» nennen kann.

Da die Menschennatur in hohem Masse instinktreduziert und nicht von Trieben determiniert ist, sondern weltoffen geboren ist, müssen seine sozialen Anlagen im Wechselspiel mit der Sozialumgebung ausgebildet werden. Im Gegensatz zu den Tieren, muss der Mensch die Orientierung im Leben erst nachgeburtlich lernen.

Nun kann der Mensch − und er muss es, denn kein Trieb leitet ihn automatisch − neben den ihn bewegenden Kräften und Motiven und den existentiellen Zwecken noch ein Drittes erkennen: dass es nämlich in seiner Selbstbestimmung und Verantwortung liegt, inwiefern sein Handeln mit den natürlichen Zielen übereinstimmt − oder nicht!

Er kann also erkennen, ob sein Essverhalten, das er zufällig oder nicht entwickelt hat, den natürlichen Zwecken des Hungers entspricht oder ihnen zuwiderläuft. So kann er im eigenen Interesse vermeiden lernen, was gegen Lebenserhaltung und Gesundheit gerichtet ist, und sein Verhalten korrigieren – wenn er will. Was für das Essen gilt, gilt für alle Kulturbereiche: Kann ein Mensch sein Verhalten mit den Tatsachen und Gesetzmässigkeiten der Natur in Einklang bringen, dann hat er das rechte Mass gefunden, und kann das Richtige tun. So kann er nach und nach lernen, das Leben immer besser zu schützen.

Das rechte Mass durch Vernunfttätigkeit erkennen und anwenden lernen zu müssen, ist ein Naturgesetz, dem sich kein Mensch und keine Kultur entziehen kann, ohne an sich Schaden zu nehmen oder anderen Schaden zuzufügen. Das ist das arteigene Verhalten des Menschen, der zu Vernunft und Willen fähig ist.

Das rechte Handeln des Menschen ist eine Frage der Selbstbestimmung. Selbstbestimmung heißt, sein Handeln in Einklang mit den natürlichen Zielen bringen zu lernen. Wahre Selbstbestimmung kann nicht schrankenlos sein, sonst werden die natürlichen Zwecke verfehlt. Das hat schon John Stuart Mill erkannt, als er warnte, dass ein Mensch nie aus freien Stücken in seine eigene Versklavung einwilligen kann; dass also die Freiheit sich nie selbst aufheben darf. Wir sind zwar frei, zu tun, was wir wollen, aber unsere Freiheit ist erst dann wirkliche Freiheit, wenn sie im Einklang mit den Gesetzmässigkeiten der Natur steht, sonst verwandelt sie sich unerbittlich in eine mehr oder minder große Unfreiheit. Diese Logik hat für den Menschen die Kraft eines Naturgesetzes. Wer sich die sogenannte «Freiheit» nimmt, sich durch Gift in Raten das Leben zu nehmen, vernichtet damit sofort auch die Freiheit selbst. Aus dem gleichen Grund kann auch kein Mensch in seine eigene Tötung einwilligen.

Will der Mensch diesem Naturgesetz Rechnung tragen, so erfordert dies von ihm eine ganz bestimmte Grundhaltung gegenüber dem Leben. Er muß lernen, klug zu handeln: Der kluge Mensch nimmt die Menschen und die Welt so wahr, wie sie tatsächlich sind und nicht, wie er sie gern sehen will; und er misst «seine Entscheidungen Tag für Tag an der ganzen Wirklichkeit (…), ganz gleich, ob das angenehm ist oder nicht.»28 Er «läßt sich den Blick für die Wirklichkeit nicht trüben durch das Ja und Nein des Willens, sondern er macht das Ja und Nein des Willens abhängig von der Wahrheit der wirklichen Dinge.» [29] Jenes Wortspiel fasst das treffend in die Worte: «Klug ist, wem alle Dinge so schmecken, wie sie sind.»

Es gibt Kulturen, die diese Menschlichkeit bis hin zur Unkenntlichkeit verzerren, es gibt andere, welche die Kooperation zu einer hohen Blüte bringen. Immer ist es ein personales Gestalten der Völker. Immer stehen sie vor der Aufgabe, die sozialen Anlagen im Menschen zu erkennen, und die Institutionen, in denen und durch die sie leben, den Erfordernissen dieser Anlage entsprechen aufzubauen.

Um wieder auf Tomasellos Beispiel zurückzukommen, denn hier fängt Kultur an: Das Interessante ist doch, dass der Einjährige versteht, dass der andere genau jenen Gegenstand sucht, der im Schrank versteckt ist, und dass er das dem Anderen mitteilt. Das Menschenkind nimmt also schon mit einem Jahr einen objektiven Standpunkt ein! Der Zustand der «geteilten Intention» ist es nicht subjektiv. Hier bereits, vor dem Beherrschen von Wortsprache, Logik und Verstand, tritt die Anlage des Menschen in Kraft, sich in einen übergeordneten Standpunkt hineinversetzen zu können. Mit drei Jahren ist das dann soweit entwickelt, dass es protestieren kann: «Du bescheisst, komm zurück zur Regel.» Es versteht nun die Regel des Spiels als eine geistige Einheit, die von allen geteilt wird. So wie wir auch ein Stück Musik miteinander hören und teilen. Die Musik ist dabei nicht im Klavier, nicht im Lautsprecher, nicht in den elektrischen Leitungen. Obwohl ohne all diese materiellen Dinge keine Musik möglich wäre, spielt die Melodie sich in der gemeinsamen geistigen Welt unter und zwischen uns. Sie ist nicht allein in uns. Gerade weil sie in dieser gemeinsame geteilten geistigen Welt ist, könne wir damit andere erfreuen.

Diese geistige Welt besteht nicht aus chemischen Botenstoffen, Hormonen, Hirn- oder Nervenströmen, überhaupt nicht aus Materie. Sie ein geistiges Produkt. Wir Menschen kön- nen eine gemeinsame geistige Welt aufbauen und uns darin miteinander verbinden. Natürlich braucht es dazu den Leib, vor allem das Gehirn. Aber nicht mein Leib oder mein Gehirn denken. Sondern Ich denke mit meinem Gehirn. Es ist die Persönlichkeit des Menschen, welche mit den Mitmenschen eine gemeinsame kulturell geformte, geistige Welt teilt. Die Welt ist für uns immer eine menschliche Welt. Erst im Wahnsinn verliert sie diese Bedeutung, weil das Ich zerbricht.

Das geht bis zu der Frage des Staates. Auch er und seine Institutionen sind Teile der von allen geteilten geistigen Welt. Das fängt, wie wir nun gesehen haben, beim Einjährigen an. Der Dreijährige, man muss sich das wirklich einmal vor Augen halten, der ist imstande, ein Gesetz als Gesetz zu verstehen. Das braucht man ihm nicht als Fähigkeit anzuerziehen. Es muss im Vertrauen auf die Anlage dazu ausgebildet werden, indem es führend vorgelebt wird.

Frage eines Teilnehmers: Sie haben von der Mutter als «Wächterin» gesprochen. Wie muss man sich das vorstellen? Was im Kind entwickelt werden muss, ist doch die soziale Natur? Die Bezüge der Menschen untereinander, wie sie leben, sind so vielfältig. Was ist zu vermitteln?

Die erste natürliche Gemeinschaft, der Familie wirkt wie ein Nadelöhr. Durch diese Gemeinschaft «hindurch» lernt das Kind alles kennen, was die Kultur der Vorfahren geschaffen hat: Nur schon die Sprache, die eine über Jahrhunderte Kulturgeschichte entwickelt hat. Das Kind nimmt von Anfang an jede Sekunde Gesichtsausdruck, Körpersprache, Gestik und Wortsprache der anderen wahr. Es erlebt ihre Stimmen und die Bedeutung der Sätze in allen Lebenslagen, erlebt die gefühlsmässige Bedeutung der Laute, Wörter und Sätze usw. Die Familie ist die erste menschliche Gemeinschaft, wo der ganze Reichtum einer Kultur von einer Generation an die nächste übergeht. Was man kann und weiss und fühlt und denkt, und was richtig und was falsch ist, und was gut und was böse ist – oder eben nicht oder mangelhaft, je nach historischer Situation, Vorgeschichte der Eltern und ähnliches. Wenn es gut geht, hört das Lernen von den anderen ein Leben lang nicht auf. Die ersten 20-25 Jahre, also die für den Menschen so typische ausgedehnte Kindheits- und Jugendphase sowie der Eintritt ins Berufs- bzw. Erwachsenenleben, sind die wichtigsten Jahre, in denen der Reichtum einer Kultur weitergegeben wird, eben bis hin zu beruflichen Fertigkeiten wird das immer weiter und breiter – wenn es gut geht. Die «weltoffene Anlage», wie Portmann es nennt, kommt dem entgegen. Das Lernen der Kultur ist kein Prägungsvorgang, wird nicht durch Reiz-Reaktions-Vorgänge konditioniert. Es ist ein interpersonaler Lernvorgang zwischen Kind und Eltern, ein Beziehungsgeschehen zwischen Personen. Das Kind identifiziert sich mit den geliebten Eltern. Es ist von Anfang an ein Beziehungswesen mit einer eigenen «schöpferischen Kraft» (Adler), ausgerichtet und fähig, Beziehungen zu Menschen aufzunehmen. Das Lernen der Kultur kann mehr oder minder erfolgreiche Wege nehmen, wie wir nut zu gut wissen. Das Kind neigt zu Fehlern. Eltern sind nicht perfekt. Die Eltern als Vertreter der Kultur müssen die Leitplanken setzen und sie müssen vor allem das können was sie weiter geben wollen: als eigenständige, beziehungsfähige Persönlichkeiten leben. Diese erste Gemeinschaft der Familie ist so wie ein «sozialer Uterus». Die Eltern als natürliche Autoritäten und Vorbilder sind also die führenden «Wächter» über die sozialen Anlagen des Kindes. Ich habe dazu ein schönes Zitat aus dem Erziehungshand- buch «Entwicklungswunder Mensch»:

Entwicklungswunder Mensch

«Alle Erzieher bemühen sich bewusst oder unbewusst um die Gewährleistung dieser Autorität – dies mit verschiedenen Mitteln. Makarenko hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Er kritisiert falsche Methoden der Autoritätssicherung: Unterdrückung des Kindes und Machtmissbrauch, prahlerische Wichtigtuerei und kleinliche Pedanterie, predigerhaftes Moralisieren, verwöhnende und verzärtelnde Liebe und Güte, kumpelhafte ‚Freundschaft‘, Betechung durch Geschenke und Versprechungen. Diesen falschen Mitteln setzt er die seiner Ansicht nach richtigen entgegen. Den Eltern rät er: „Die wichtigste Grundlage der elterlichen Autorität kann nur das Leben und die Arbeit der Eltern, ihr Gesicht als Staatsbürger, ihr Verhalten sein … Sie müssen dieses Leben aufrichtig, tatsächlich leben und brauchen sich nicht zu bemühen, es ihren Kindern extra vorzuführen.“ … Das Plädoyer Makarenkos stellt die unbefangen gelebte Autorität des ehrlichen, offenen, kritischen, werktätig schaffenden, der Gemeinschaft verpflichteten Erziehers heraus; es brandmarkt jede Form geborgter, aufgeblähter, künstlich geschaffener Autorität. Eine solche natürliche Autorität … schafft zugleich Voraussetzungen dafür, die Lust der Verantwortung zu empfinden und daraus Kräfte zu schöpfen, um den Ernst, die Bürde der erzieherischen Arbeit freiwillig, ja freudig auf sich zu nehmen. Der Lohn bleibt nicht aus: Das natürliche Wunder der kindlichen Entwicklung blüht vor den Augen des Erziehers auf, er kann sich daran ergötzen, er kann es studieren, er kann stolz darauf sein, an seinem Vollzug und seinem Ergebnis – der aktiven, bewusst handelnden und gemeinschaftsfähigen kindlichen Persönlichkeit mitgewirkt zu haben.»[30]

Nach der Familie kommt die nächste Gemeinschaft, die schon grösser ist. Und auch dort warten Aufgaben, die zu bewältigen sind. Lernen der Kultur heisst im Grunde, die immer stärker sich ausdifferenzierenden Fähigkeit zu entwickeln, friedlich in Gruppen leben und kooperieren zu können, mit Anderen zusammenarbeiten zu können. Mit dem Erwachsensein setzt immer mehr auch der umgekehrte Prozess ein: Das Engagement in Vereinen, Gemeinden und so weiter kann eine Art «Nacherziehung» in Gang setzen. Persönliche Schwächen, Unsicherheiten oder Fehlhaltungen aufgrund einer unzulänglichen Familienerziehung können aufgefangen und überwunden werden, wenn der junge Mensch ausserhalb der Familie neue be- sonders tragende Beziehungen erlebt und/oder für politische Gemeinschaften verantwortungsvolle Aufgaben übernimmt und dadurch das Zusammenleben in seiner Gemeinde aktiv mitgestaltet. Der politische Verband wird mehr zu seiner Gemeinde. In diesem Sinne ist auch der Staat eine Gemeinschaft von Menschen, kein «System». Das Miteinander-gestalten des gemeinschaftlichen Lebens in der Gemeinde lässt diese zur «Bürgerschule» werden.

So übernimmt auch jeder Lehrer die Fortsetzung des Wächteramtes aus der Familie. Er vermittelt nicht nur Wissen, das auch. Aber er soll auch Wächter sein darüber, dass aus dem Kind einmal ein guter Mitspieler unter den Mitmenschen wird.

Pierre Joseph Proudhon

Aus diesen Wesenseigenschaften des Menschen ergeben sich übrigens auch wichtige Grundanforderungen an den Staat. Der Staat ist so gesehen, kein System von Regeln, wie schon erwähnt. Er ist eigentlich – beziehungsweise sollte sein – eine gelebte Gemeinschaft von Menschen. Wenn diese Gemeinschaft nicht von jedem mit seiner geteilten Intentionalität ausgefüllt wird, dann leidet eben die soziale Verbundenheit in den politischen Institutionen und Abläufen. So beschreibt Pierre Joseph Proudhon eine Gemeinde als kulturelle Einheit, die dieses und das Leben künftiger Generationen sichern soll. Das ist keine abstrakte Theorie, sondern geboren aus den historischen Erfahrungen Geschichte.

«Die Gemeinde ist ihrem Wesen nach, wie der Mensch, wie die Familie […] ein souveränes Wesen. Als solches hat die Gemeinde das Recht, sich selbst zu regieren, zu verwalten, zu besteuern, über ihr Eigentum und über ihre Einkünfte zu bestimmen, für ihre Jugend Schulen zu schaffen, Lehrer zu bestellen, ihre eigene Polizei, Gendarmerie und Bürgergarde zu haben, ihre Richter zu ernennen, ihre Zeitungen, Zusammenkünfte, ihre besonderen Gesellschaften zu haben, ihre Banken, ihre Speicher usw. Die Gemeinde fasst ihre Beschlüsse, gibt ihre Verordnungen heraus; was hindert [sie], dass sie soweit geht, Gesetze zu geben? Sie hat ihre Kirche, ihren Kultus, ihre frei gewählten Geistlichen, ja ihr Ritual und ihre Heiligen. Sie diskutiert öffentlich im Gemeinderat, in den Zeitungen, in allen ihren Kreisen, was in ihr und um sie herum geschieht, was ihre Interessen berührt und was ihre Meinung bewegt. Das ist eine Gemeinde; das bedeutet Gemeinschaftsleben, politisches Leben.»[31]

Frage einer Teilnehmerin: Ich kenne das Buch «Warum wir kooperieren». Tomasello beschreibt ja dort, dass wenn die Eltern zu viel loben oder für die Hilfe des Kindes Geld geben, dann wird dieses spontane Mitmachen des Kindes schwächer. Und wenn man Kindern Geschichten erzählt, schreibt er, und man erzählt die Geschichte anders, dann sagen die Kinder: «Nein, das ist nicht richtig, die Geschichte geht anders.» Tomasellos andere Sicht von der Natur des Menschen ist für Eltern sehr wichtig. Und auch sonst im Leben gilt doch, wenn ich andere Menschen nicht einfach für gefährlich oder böse halte, dann reagieren die anderen auch anders auf mich und die Welt sieht anders aus.

Genau! Das Zeigen des Einjährigen ist doch vor allem auch deswegen so interessant, weil das Kind ja auf den Schrank zeigt, wo der Gegenstand versteckt ist, nicht weil es belohnt werden will, sondern weil es erfasst, was der andere will und ihm in seiner Not gerne hilft. Es kann sich in den anderen hineindenken und teilt mit einem anderen Menschen die Intention – und das mit einem Jahr! Darum redet Tomasello auch von «geteilter Intention». Dieses Kind kann noch keine Wortsprache, aber sein Gefühlsleben ist so, dass es das schon kann. Diese Anlage reift bei allen Kindern um das erste Lebensjahr heran.

Viele Psychologen haben die Fähigkeit des Kindes, Regeln und Verstösse dagegen zu erfassen dahingehend interpretiert, dass das Kind die Regeln allein von der Autorität der Eltern lernt. Die Belehrung durch die Eltern ist aber nur die eine Seite des Vorgangs: Das Belehren und Anerziehen von Regeln greift die angeborene Fähigkeit zur geteilten Intention auf. Die angeborene Fähigkeit, verstehen zu können, dass es zu befolgende gemeinsame Regeln gibt (eben: mit anderen Intentionen zu teilen), wird sozusagen von der Erziehung der Eltern «beantwortet», gefördert und gebildet. Lernen und Reifen greifen ineinander und ergänzen sich. Wenn das Kind dann protestiert, weil eine Regel verletzt wird wie in dem Beispiel vom Geschichtenerzählen, dann tut es das, weil es die Regelverletzung als Bruch des Sicherheit spendenden «Wir» empfindet. Es ist diese innere Verbindung unsere gemeinsame Basis, auf der wir gemeinsam «wir» denken und als «wir» handeln.

Teilnehmerin: Es ist mir eigentlich noch nie so deutlich geworden wie heute in Ihrem Vortrag, wie fein und wie stark der Mensch immer bezogen ist auf den anderen. Ich habe gedacht: Das weiss du auch. Aber dass die natürliche Beziehungsfähigkeit schon des einjährigen Kindes derart stark ist, finde ich doch enorm. Das einjährige Kind zeigt ja, wohin der andere Mensch schauen und gehen soll, im Sinne der konstruktiven Lösungsfindung eines mitmenschlichen Problems. Er stellt eine feine, nahe, geistige Verbindung zum anderen her, versetzt sich in ihn hinein und erkennt, erfühlt, erfasst, was der andere will. Dieses Beispiel gehört zum gesicherten anthropologischen Wissen von der Sozialnatur des Menschen. Das sind keine abstrakte Theorien, sondern geprüfte Forschungsergebnisse, ausgehend von Erfahrung. Das hat doch eine enorme Bedeutung für die Lebensführung des Menschen: Es geht doch um ein gleichwertiges Zusammenwirken der Menschen, um eine kooperative Zusammenarbeit, und zwar zum Wohle des Menschen. Das leite ich jetzt aus Ihren anthropologischen Befunden, wie Sie sie uns heute vorgetragen haben, ab und entwickle sie weiter: Je mehr Eltern, Erzieher, Lehrer, je besser die Kultur, in die das Kind hineingeboren wird, das «Wächteramt» über die sozialen Anlagen des Heranwachsenden erkennt und im Einklang damit ihr erzieherisches Handeln ausgestaltet, desto mehr kann daraus ein kooperatives Zusammenleben der Menschen erwachsen. Wenn man einen Blick in die Bildungspolitik wirft, und das, was Sie heute gesagt haben, zeigt es sich doch, dass das «selbstgesteuerte Lernen» der Bildungspolitiker ganz genau konträr zur menschlichen Natur ist. Oder auch in der Wirtschaft: das Bild vom homo aeconomicus, das den Menschen als egoistischen Kosten-Nutzen-Maximierer sieht, ist ebenfalls diametral entgegengesetzt zur menschlichen Sozialnatur. Das Wissen darum, wie die Menschennatur wirklich ist, das gibt sehr viel Zuversicht und bewirkt ein schärferes Erkennen, wo es im Zusammenleben schief läuft. Diese Grundlagen sind in allen Bereichen des Zusammenlebens wie ein Kompass.

Wenn man sich die Geschichte der europäischen Psychologie und Anthropologie anschaut, dann findet man die Schlussfolgerungen, die Tomasello aus seinen Untersuchungen zieht, bei vielen anderen Autoren vor ihm bereits vor als gut gesichertes Wissen. Er bringt in dem Sinn nichts Neues. Er kümmert sich leider wenig um die europäische Tradition der personalen Psychologie und Anthropologie. Er nimmt Portmann, Gehlen, Scheler und andere zum Beispiel und nicht zur Kenntnis. Trotzdem bringt er wertvolle empirische Befunde, und das haben Sie gerade sehr gut formuliert, die einen das, was «man schon gewusst hat» noch schärfer und deutlicher zeigen. Und seine Forschungen fügen sich nahtlos in das – umfassendere und genauere – Bild vom Menschen von Adolf Portmann, Alfred Adler und anderen ein.

Was Tomasello etwas hemdsärmlig «Wagenhebereffekt» nennt, hat Herder schon im 18. Jahr- hundert viel umfassender herausgearbeitet. Das

Johann Gottfried Herder

Wertvolle an Tomasello ist, dass er mit der «evolutionären Anthropologie» her neu ansetzt – und zwar ohne sich auf den unheilvollen Sozialdarwinismus und die Soziobiologie einzulassen. Dabei «unterfüttert» und bestätigt er mit seinen empirischen Befunden anthropologische Ansätze, die nach dem Zweiten Weltkrieg einer politisch motivierten Amnesie zum Opfer gefallen sind. Vieles, was wir Europäer aus dem personalen Denken unserer Kulturgeschichte gut kennen, aber selbst bald nicht mehr wissen, wird dadurch erneut ans Licht gehoben. Vor allem diejenigen, die europäische Tradition ignorieren, müssen sie nun, aus dem Forschungslabor eines in Deutschland arbeitenden Amerikaners kommend, akzeptieren.

Um nochmals auf das Spiel zurückzukommen. Das Kind protestiert gegen die Verletzung der Regel, und es will die Regel mit drei Jahren durchsetzen, weil es nun verstehen kann, dass nur das Befolgen der Regel das gemeinsame Spiel garantiert. Das ist im Grunde die Vorwegnahme dessen, was ein Gesetz im Staat ist: Das Befolgen der gemeinsamen Regeln garantiert das Gemeinschaftsleben. Im Strafrecht nennt man das die Frage der «Legitimität» eines Gesetzes: Ich halte an einer roten Ampel nicht nur, weil ich sonst bestraft werde, das auch. Ich halte aber vor allem aus der inneren Bejahung diese Regel für uns alle als vernünftig. Und genau so handelt doch das Dreijährige, wenn es versteht, dass die Spielregel in einem ganz elementaren mitmenschlichen Sinn «vernünftig» ist und uns allen garantiert, dass unser Spiel läuft. Es setzt sich für seinen, sage ich jetzt einmal, kleinen «Staat» und dessen «Gesetz» ein.

Wenn dieses kindliche Vermögen von der Kultur aufgegriffen und gebildet wird, dann wird aus dem Dreijährigen ein guter Staatsbürger, der sich für das Recht einsetzt, weil er weiss, dass es seine Regel und unser aller Regel ist, die geschützt werden muss, wenn das Zusammenleben gelingen soll: das allgemeine Wohl. Es ist dann seine Regel, aber auch unsere Regel. Meine Regel ist dann unsere Regel. Auf dieser Ebene ist kein Unterschied zwischen meinem und unserem Interesse. Es ist unsere Freiheit, die durch den Gesetzesverstoss verletzt wird. Denn nur die vernünftige Regel garantiert eine Freiheit in Ordnung. Und das ist der Kern des demokratischen Gedankens. Freiheit ist diese von allen geteilte vernünftige Ordnung, die alle etwas angeht und die vom Handeln aller abhängt. Mit Tomasellos Worten eine von allen «geteilte Intention». Es geht um die Sicherung des Lebens, der Freiheit, der Sicherheit, des Eigentums usw. Hieraus erwächst alles, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte allen Menschen garantiert ist. Und die Vorform davon bringt der Mensch als bildbare soziale Anlage mit auf die Welt. Keine Frage, dass die Ausbildung dieser Anlage zum demokratischen Staatsbürger auch schiefgehen kann!

Es kann aber auch schiefgehen, wie folgendes Beispiel zeigt: Eine fünf Monate alte Kleine sitzt am Tisch, und da liegt vor ihr, unerreichbar für die kleinen Arme, eine wunderschöne weiche Wurstscheibe. Die Mutter steht am Herd, und die Kleine probiert vergeblich, die Wurst zu erreichen. Auf einmal hält sie inne, und ein Schrei, den man vorher nie gehört hat, ertönt. Das hat nicht geheissen «mir tut etwas weh» oder «ich habe Hunger», sondern das war Unmut und Zorn in Richtung Mutter. Die Mutter sprang, als hätte sie einen Befehl erhalten, vom Kochtopf zum Tisch und gab ihr die Wurst. Worauf sich zur Erleichterung der Mutter der Zorn ihrer Kleinen wieder in eine glückliches Lächeln verwandelte. Die Kleine hat sich auch mit ihrer Mutter verbunden, schon früh, aber auf falsche Art. Die gleiche Anlage zur geteilten Intention kann auch eine geteilte neurotische Intention

Alfred Adler

Alfred Adler

werden: Befehl und Gehorsam. Die gleiche Anlage, aber auf der «unnützen Seite des Lebens», wie Adler sagt. Da gleitet die soziale Anlage ins Dominanz- und Machtstreben ab. Dadurch wird aber von Mutter und Kind gegen den existentiellen Zweck der geteilten Intention verstossen. Und das ist entscheidend. In der evolutionären Anthropologie, darauf weist auch Tomasello hin, ist heute unumstritten, dass die gegenseitige Hilfe, also die Kooperationsfähigkeit, der entscheidende Evolutionsfaktor in der letzten Phase der Menschheitsevolution darstellt. Darin zeigt sich der existentielle Zweck: Schutz des menschlichen Lebens durch Gemeinschafts- und Kulturbildung. Die typisch menschliche «Lösung» der Evolution für das Überleben der Gattung war eine einzigartige Form der Kooperation, wie sie sonst bei keiner Spezies auf der Erde erreicht worden ist: die geteilte Intention.

Wenn als in dem obigen Beispiel Mutter und Kind gegen den existentiellen Zweck der geteilten Intention verstossen, dann besteht dieser Verstoss darin, dass in der neurotischen Form die Kooperation in Zwingen und Bezwungen-werden ausartet, was keine Kooperation mehr ist, sondern ein Machtspiel, ein Oben und Unten. Echte geteilte Intention hat den Zweck der Vertrauensbildung, und diese gelingt nur in Gleichwertigkeit. Adler nennt das die Kooperation auf der «nützlichen Seite des Lebens». Das «Wächteramt» der Erzieher besteht also darin, die werdende soziale Anlage des Kindes auf dieser nützlichen Seite des Lebens halten zu können, sodass das Kind lernt, in Frieden mit dem anderen Menschen kooperieren zu können.

[Pause]

Bei den Wirtschaftstheoretikern gibt es ein sogenanntes «Ultimatum-Spiel», mit dem sie beweisen wollen, dass der Mensch der geborene Kosten-Nutzen-Maximierer sei. Tomasello erklärt aber an diesem Spiel, dass es eigentlich das Gegenteil zeigt. Die Spielregel ist: Person A bekommt 100 Euro und soll einen Teil x davon Person B geben. Wenn B den Teil x akzeptiert, bekommen beide ihre Teile. Ist aber B nicht einverstanden, dann verfällt alles. Man hat dieses Spiel in vielen Kulturen und Gesellschaften spielen lassen. Tomasello hat die vielen Ergebnisse zusammengetragen und miteinander verglichen. Und das Interessante ist: In alle Kulturen, in denen man dieses Spielchen gespielt hat, lag die Grenze etwa bei 30 Prozent. Wenn B weniger als 30 Prozent von A bekam, dann protestierte er, weil er das ungerecht fand. Also, folgert Tomasello zu recht: Es ist umgekehrt, als es die Theoretiker gerne hätten: Dieses Spiel zeigt, dass in allen Kulturen beide Spieler gerecht handeln und behandelt werden wollen. Es findet ein Mitdenken der Spieler mit dem Mitspieler statt.

Dass das Einjährige sich so eng mit dem Anderen geistig verbindet, das ist doch eigentlich der schlagende Beweis dafür, dass alle Theorien von der angeborenen «Aggression» aus der Luft gegriffen sind. Das Kind ist von seiner Anlage her ein kooperatives Beziehungswesen. Am Anfang des Lebens steht diese geistig-seelische Verbindung mit dem anderen Menschen und nicht das egoistische Nützlichkeitsstreben: Ich will haben, und Du bist mein Feind, weil du auch haben willst!

Der Ausgangspunkt des Lebens, also das kooperative Beziehungswesen Kind, das ist doch zugleich auch das Ziel von Erziehung und Bildung. Auf diese soziale Fähigkeiten, die das Kind mit auf die Welt bringt, in allen Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen auf- gebaut werden. Das ist doch der Sinn eines friedlichen Gemeinschaftslebens. Je besser in der Gemeinde jeder Einzelne diese Persönlichkeit ausbildet und fähig ist, in Gleichwertigkeit zu kooperieren, umso sozialer gebildet ist die ganze Gemeinschaft. Und je sozialer durchbildet die ganze Gemeinschaft ist, umso mehr kann sie wiederum auf den Einzelnen zurückwirken und ihn bilden.

In dem, was ich am Schluss vor der Pause kurz erwähnt habe, das wollte ich noch einmal aufgreifen, liegt im Grunde ein Friedenskonzept und ein Konzept für seelische Gesundheit. Wenn es gelingt, das Ziel zu verwirklichen, das in der Sozialnatur des Kindes als Anlage besteht, dann entsteht eben eine friedliche Kooperation, bei der alle gewinnen, das Sozialwesen blüht. Und für jeden Einzelnen ist das in seiner seelischen Entwicklung ein gesunder Weg.

So etwas wie neurotisches Verhalten ist nichts anderes als eine Unfähigkeit, in Frieden mit sich und mit anderen leben zu können. Das gilt für das Individuum, sein Selbstwertgefühl und seine persönlichen Beziehungen als auch für grössere Gemeinschaften. Auch die Gemeinde lebt gesund, wenn sie im Frieden leben kann. Es ist der gleiche Massstab, ins Grosse und ins Kleine gedacht. Es ist eigentlich das Menschenbild, das den Massstab bildet für das Zusammenleben im Staat und in den kleinen Gemeinschaften wie Ehe, Familie, Geschwis- tern, Schule usw.

Und das Interessante: Der Anfang ist eben der kleine Kerl, der mit einem Jahr den An- deren als seinesgleichen wahrnimmt, dessen Willensäusserung versteht und sich mit ihm geis- tig verbinden kann. Dass und wie diese Fähigkeit ausgebaut wird, ist entscheidend. Die Spra- che kommt erst später dazu.

Die Lernfähigkeit des Kindes ist ja so gross. Dieses kleine Wesen verdirbt unweigerlich, wenn es alleine irgendwo ausgesetzt wird. Es wird nicht wie die anderen höheren Säugetiere als verkleinerte Form des Erwachsenen geboren, das nur noch ausreifen muss, und schon wenige Stunden nach der Geburt mit der Herde mitläuft. Es hat keine natürlichen Waffen oder die Stärke oder Schnelligkeit anderer Säugetiere. Aber es hat die Gemeinschaftssphäre, das Gemeinschaftsleben, den Mitmenschen. Das ist seine «Stärke»: die am höchsten ausgebildete Form der Kooperations- und Beziehungsfähigkeit in der ganzen Natur.

Was das Menschenkind zum Überleben braucht, muss es lernen auf der Basis seiner sozialen Anlagen. Und das wird mit den Jahren komplizierter, und die möglichen Missverständnise werden grösser. Das braucht ein feinfühliges Darüber-Nachdenken und Abstimmen. Das ist im Grunde das, was Alfred Adler gemeint hat, wenn er gesagt hat, dass das Leben für den Menschen eben eine Aufgabe ist.

Was ich tun soll, das zeigt mir im Grunde die Natur dieses kleinen Wesens: Du sollst das erhalten und pflegen. Das ist die Aufgabe für den Erzieher und das ist das Recht des Kindes, dass diese Anlage aufgegriffen wird und es ist ein Verbrechen an den Kindern sie als Robinsons zu behandeln und sie geistig seelisch verhungern zu lassen.

Frans de Waal hat einmal gesagt, dass im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts soviel falsche Theorien über den Menschen produziert worden sind wie in den ganzen 2’500 Jahren vorher nicht. Das liegt eben auch daran, dass die Machttheorien, die Herrschaftstheorien seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Psychologie arbeiten. Sie missbrauchen das Wissen um die menschliche Sozialnatur für die Zwecke der (globalen) Machterhaltung. In Guantanamo verdienen Psychologen ihr Geld damit, zu erforschen, wie man mit dem Wissen um die Sozialnatur am besten foltert. In den Literaturlisten der Folterhandbücher findet man zum Beispiel Harry S. Sullivan. Das ist ein finsteres Kapitel.

Sie haben vorhin doch gesagt: «So habe ich das noch nie gehört.» Vielleicht sollte man es so sagen: Das Wissen um das, was der Mensch ist, ist doch für jeden Menschen ein innerer Fixpunkt, von dem aus er das immer sicherere Gefühl und das immer festere Bewusst- sein entwickeln kann: Ich bin mit meinem Wirken eine wertvolle Kraft für alle. Alle Propaganda gleitet daran ab. Die Theoretiker der Propaganda-Maschinerie wissen das nur zu genau, dass die Manipulation nur wirkt, wenn man beim Bürger jenen inneren Teil seiner Persönlichkeit trifft, wo er sich selbst nicht versteht. Aber nur so lange. Lernt der Mensch sich verstehen und merkt, wie er bewusst betrogen wurde, hört die Propagandawirkung auf, die ihm zum Beispiel vorgaukelt, dass Rauchen die Gleichstellung der Frau fördert, die Zigarette die «Fackel der Freiheit» sei. Oder dass der Kauf eines Chryslers den Mann zum Manne erhebt. So wie das tödliche Rauchen mit psychologischen Tricks verkauft wurde, so hat man auch Politik und Kriege «verkauft» und tut es auch heute noch. Es ist der Versuch, in die Seele an den «weichen» Stellen einzudringen. Aber das funktioniert eben nur dort, wo man sich nicht selbst kennt. Und das, finde ich, ist letztlich der Haltepunkt für jede Bürgerbewegung.

Frage einer Teilnehmerin: Ich wollte sagen, dass mich das angesprochen hat, dass Sie das ganz gut, verständlich erklärt haben. Es hat mir viele Fragen beantwortet. Ich habe seit einem Jahr das Glück, das Leben eines kleinen Menschleins so eng zu verfolgen. Und da spielen sich dann genau dieses Momente der geteilten Aufmerksamkeit ab, diese Momente, wo der Kleine zum Beispiel mir etwas schenkt und ich sage «Danke schön». Oder wo ich ihm etwas gebe und er auch lächelt, oder wo er sich freut, wenn ich ihn in den Kinderwagen lege und er lacht, weil er sich an den letzten Spaziergang erinnert. Solche Momente sind beglückend. Ich habe gerade noch einmal darüber nachgedacht, dass er auch deshalb so beglückend ist, weil es einfach die unsere Natur ist, die da wirkt. So ein kleiner Mensch, der anfängt zu kooperieren, ist ein Glück. Das ist unsere Natur. Mir ist heute noch einmal vieles grundsätzlich klarer ge- worden, was die autoritäre Erziehung betrifft. Ich fand es sehr bereichernd.

Es ist eben der mitmenschliche Nutzen der geteilten Intention: Es ist unsere Freiheit, und wir Kooperierende kommen beide nicht zu kurz, sondern ergänzen uns. Es ist dieses Gegenseitige, diese Ergänzung. Es ist wie eine Tischgesellschaft, die mit ein Meter langen Gabeln nicht verzweifelt, weil diese zu gross sind, sondern die sich vergnügt gegenseitig füttert. Die Ehe, die Familie ist eine Ergänzungsgemeinschaft, der demokratische Staat ist es auch. Es geht um den gemeinsamen Nutzen im Sinne des allgemeinen Wohls, wobei Nutzen fast das falsche Wort ist, es ist die gemeinsame Freiheit, die allen ihre Freiheit lässt. In dieser Mitmenschlichkeit gibt sich der Mensch nicht auf, sondern lebt eben in der Beziehung. Da beginnt Moralität. Es ist gut für beide.

Teilnehmer: Ich wünschte mir, dass man das auch einmal in der Zeitung lesen könnte!

Teilnehmerin: Während Ihren Ausführungen habe ich mich immer wider gefragt: Was hat das denn jetzt mit dem demokratischen Zusammenleben zu tun? Das dreijährige Kind, das die Regeleinhaltung beim Spielen einfordert, fand ich sehr interessant. Ein Dreijähriges fordert ein: Wir haben eine andere Regel vereinbart. Ein Dreijähriges! Dann ist mir eingefallen, dass der Bundespräsident wieder erneut Auslandseinsätze der Bundeswehr gefordert hat. Der Kölner Stadt-Anzeiger schreibt dazu: Er könne diese Forderung aufstellen, aber er müsse dafür die Verfassung ändern. Der Bundespräsident fordere zu einem Regelbruch mit der Verfassung und mit dem geltenden Völkerrecht auf. Wörter wie «Auslandseinsätze» und «Militäreinsätze» seien Propagandabegriffe. Real fordere der Präsident: Deutsche Soldaten sollen Krieg führen. Das verstosse aber gegen das Grundgesetz, also gegen diese Regel, die wir vereinbart haben, und gegen das Völkerrecht. Es gebe keine Legitimation durch nationale oder internationale Regeln. Und es stand auch im Stadt-Anzeiger, dass die Mehrheit der Bundesbürger dagegen sei. Der Präsident ruft also zu einem Regelbruch auf, und zwar in einer viel grundsätzlicheren Frage als beim Spiel des dreijährigen Kindes. Wir haben es hier nicht mit einer Verkehrsregel zu tun, sondern mit der Verfassung und mit dem geltenden Völkerrecht, mit dem, was in der UNO-Charta vereinbart ist, mit dem Gewaltverbot! Krieg darf nie Mittel der Politik sein und Krieg ist nur als Verteidigung möglich. Und das ist doch die Verbindung zu dem dreijährigen Kind: Das Kind fordert die Einhaltung der Regel und setzt das durch! Was aber, wenn der Präsident mit Hilfe des Parlamentes eine Grundgesetzänderung durchsetzen würde, wonach der Krieg kein Regelverstoss mehr wäre? Was wäre dann? Diese Verfassungsänderung würde gegen das Völkerrecht verstossen, aber nicht mehr gegen unsere Verfassung. Kann es aber sein, dass die Verfassung einer Demokratie gegen das Völkerrecht verstösst? Die Antwort auf diese Frage liegt doch in dem, was Sie heute so schön aufgezeigt haben: Die Natur des Menschen, sein personales Menschsein ist so, dass der Mensch mit dem anderen friedlich und in Kooperation leben möchte. Und das Zusammen-leben, das Zusammenarbeiten und das Zusammenwerden gehen ohne Frieden nicht. So ist die menschliche Natur. Und die ist nicht heute so und morgen anders. Das heisst aber für die Frage des Verfassungsbruchs: Eine Änderung der Verfassung, die den Krieg erlaubt, wäre ein Bruch mit der Menschennatur und mit dem Allgemeinen, was Recht ist:  Frieden und Kooperation. Aus der Sozialnatur ergibt sich das Allgemeine, was Recht ist. Und wie das dreijährige Kind beim Regelverstoss reklamiert, also gegen den durch den Verstoss gestifteten «Unfrieden» (weil es ihm ernst ist mit der Logik des Lebens), dass es uns erst recht ernst sein muss, den Regelverstoss gegen das Allgemeine, was Recht ist, gegen das Friedensgebot, also gegen den Unfrieden, zu reklamieren – jeder, weil alle staatliche Gewalt vom Volke ausgeht. Es scheint, so habe ich das verstanden, und das ist meine Rückfrage an Sie, so zu sein, dass es zum Wesen des Menschen gehört – wie das Kind, das dem Anderen hilft, das Versteck zu finden –, auf die Regeleinhaltung zu pochen, hinzuwirken und das durchzusetzen, wenn gegen Frieden und Kooperation verstossen wird. Und das wäre jetzt meine Frage an Sie: Habe ich es richtig verstanden: Aus all den anthropologischen Befunden, die wir heute gehört haben, folgt, — das ist ja die Quintessenz der Beispiel des Einjährigen und des Dreijährigen – dass der Menschennatur innewohnt, sich mit den Mitmenschen verbinden und daher empören zu können, wenn die allgemeinen Regeln des Friedens gebrochen werden, und auf die Einhaltung dieser Regeln zu pochen und sie wieder durchsetzen zu wollen, auch wenn andere gegen Frieden und Kooperation verstossen. Diese mitmenschlichen Regungen können auch wirksam werden, obwohl die Propagandamaschine läuft, weil sie eben ganz elementar zum Menschsein gehören. Und daraus folgt, dass man nicht sagen kann: Ein Gesetz ist allein deswegen gut, weil sie im Grundgesetz geschrieben steht. Sondern es kommt eben darauf an, dass die Verfassung, wie alles schriftliche Recht, mit dem Allgemeinen übereinstimmt, was Recht ist: Wie Hugo Grotius das 1625 gesagt hat: Die «Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man recht eigentlich mit dem Namen Recht bezeichnet.» Grotius meinte die menschliche Fürsorge, in deren Zentrum das Friedensgebot und die Kooperation stehen.

Hugo Grotius

Besser könnte man es kaum sagen. Das ist die Bedeutung der Anthropologie für das Zusammenleben im Grossen. Das ist das Entscheidende, worauf die Frage nach der Natur des Menschen hinausläuft, wenn man es von der Seite des Rechtes her anschaut und die Frage stellt: Wann ist ein Gesetz gerecht? Wenn Grotius meinte, die «Sorge für die Gemeinschaft» sei «die Quelle dessen, was man recht eigentlich mit dem Namen Recht bezeichnet», dann ist das genau das, was Sie vorhin mit den Worten ausdrückten: Dass der Massstab, an dem das geschriebene Recht gemessen werden müsse, ob es gerecht sei, das «Allgemeine» sei, «was Recht ist», wie Sie es formulierten, nämlich das Friedensgebot und die Kooperation. Gesetzt den Fall, diese Grundgesetzänderung käme zustande, dann wäre sie nicht gerecht. Es wäre gesetzliches Unrecht. Der in Gesetzesparagraphen gegossene Bruch mit dem Friedensgebot ist Unrecht. Und das Friedensgebot ist über- bzw. vorstaatliches Prinzip.

Damit stossen wir aber auf das Dilemma: Die Verfassung ist genauso von Menschen geschriebenes Recht wie das andere staatliche Recht auch, also Strafrecht, Zivilrecht usw. Wir halten die Verfassung zu recht für das Grundlegendere. Die ursprüngliche Idee der Verfassung ist ja, dass sie die allgemeinen vorstaatlichen Rechte des Menschen, die mit ihm geboren werden, in Form von Grund- und Freiheitsrechten kodifiziert. Hinter der Verfassung selbst stehen also wiederum übergeordnete vorstaatliche Rechte, die aus der Menschennatur fliessen – Naturrecht, das den Massstab bildet für die Verfassung. Oder, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert, Rechte, mit denen der Mensch geboren wird: «Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren …» heisst es dort in Artikel eins.

Bei allen Bemühungen, den übergeordneten Massstab der Menschennatur in Regeln zu giessen, gibt es immer das gleiche Problem: Die Verfassung schützt das Grundrecht auf Leben. Das Strafgesetz sanktioniert den Mord. Die Moral verlangt: Du sollst nicht töten. Aber, wenn ein Mensch nicht die Vernünftigkeit dieser Regeln bejaht, dann nützt alles geschriebene Recht, also Strafrecht oder Grundrechte, oder auch die Forderungen der Moral rein nichts. Ein Staat verkraftet ein gewisses Mass an Nihilismus unter politischen Amtsträgern. Auch von diesen gilt, was für jeden Menschen im Staat gilt: Er muss die vorstaatlichen Menschenrechte leben können. Dann erst ist einigermassen Verlass auf den Amtsträger, dass er nicht die Verfassung etwas einbaut, was gegen die vorstaatlichen Rechte verstösst, also gegen die Friedenspflicht und das Kooperationsgebot.

Gerechtigkeit muss eine von den Menschen «gelebte. Qualität» (Buchholz-Kaiser) sein. Sonst gerät alles geschriebene Gesetz in Gefahr, dass ihm der allgemeine Massstab der Gerechtigkeit entzogen wird. So könnte es kommen, dass das Parlament eine Erlaubnis Krieg führen zu dürfen, beschliesst. Sie wäre geschriebenes Gesetz. Aber dieses Gesetz gegen das Allgemeine des Rechts, nämlich die Friedenspflicht, verstösse, wäre es ein ungerechtes Gesetz, bzw. gesetzliches Unrecht.

Im Grund schlägt Tomasello mit seinen anthropologischen Befunden, ohne dass er das beabsichtigen würde, eine Brücke zum Problem des Naturrechts. Seine Forschungen bestätigen, was das Naturrecht schon lange sagt: Es gibt etwas von Natur aus Richtiges. Gerechtes Recht ist richtiges Recht. So hat sich das europäische Rechtsdenken entwickelt und steckt tief in unserer Rechtsordnung. Es wird heute zum Beispiel bestraft, wer an einem Unfall vorbeifährt, ohne Hilfe zu leisten. Er wird wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft. Also für ein Unterlassung, nicht für eine Tat. Normalerweise bestrafen wir nur zurechenbare (Un)Taten. Der Bürger kann nicht verpflichtet werden, qualitativ gute Hilfe zu leisten, er leistet sie so gut, wie er es eben kann. Aber es wird von ihm verlangt, dass er seinem Mitmenschen hilft, so gut er eben kann. Das wird von allen verlangt, sonst funktioniert kein Gemeinschaftsleben in Frieden. Es wird vom Bürger also durch das Strafrecht (zu recht) verlangt, dass er (bei Androhung von Strafe) der menschlichsten aller Pflichten gehorcht, nämlich der Samariter seines Nächsten zu sein, der Hüter seines Bruders, Mitmensch. Das Strafrecht macht also die Mitmenschlichkeit zur strafbewehrten Norm. Es geht von dieser Pflicht zur Mitmenschlichkeit aus, weil sie das von Natur aus Richtige ist. Und der Verstoss gegen dieses von Natur aus Richtige, sagt das Strafrecht, ist Unrecht, und das bestrafen wir. Zu recht. Das ist das, was Grotius mit der «Sorge für die Gemeinschaft» gemeint hat, aus der das Recht fliesse. Die Pflicht zur Menschlichkeit ist nichts anderes als die Friedenspflicht. Sie ist das von Natur aus Richtige. Und ein Gesetz oder ein Verfassung, die mit diesem von Natur aus Richtigen übereinstimmt, ist richtiges Recht und damit gerecht. Daran ändert kein Mehrheitsentscheid etwas. Im höchsten Falle entsteht gesetzliches oder verfassungsmässiges Unrecht.

Das Strafrecht geht von der Pflicht zur Mitmenschlichkeit aus, weil sie das von Natur aus Richtige ist. Was heisst das? Das heisst: Recht muss von der Natur des Menschen ausgehen. Es gehören eben Fürsorge und Mitmenschlichkeit zur Menschennatur, und sie sind gerade Pflicht für alle, weil jeder Mensch dazu von seiner Natur her fähig ist. Allein deswegen dürfen wir die Unterlassene Hilfeleistung bestrafen, weil wir Fürsorge und Mitmenschlichkeit von allen Menschen verlangen können, da sie Bestandteil der Menschennatur sind.

Und worauf beruhen Fürsorge und Mitmenschlichkeit? Da ist der Bogen zu Tomasellos Beispiel des einjährigen Kindes: Es hilft spontan, nicht weil das gefordert oder nützlich wäre, sondern weil es sich mit dem anderen als Menschen (in einer gewissen Not) innerlich verbindet, sein Motiv erspürt und hilft. Es zeigt ja auf den Schrank, weil es den Anderen als Seinesgleichen erlebt und sich in ihn hineindenkt.

Das ist die anthropologische Basis der Menschenrechte. Der Mensch ist Träger von Rechten auf Leben, auf Freiheit, nicht weil er Muslim oder Schwarz oder Weiss ist, oder Mann oder Frau, oder Katholik, oder was auch immer, sondern weil er zur Gattung Mensch gehört. Weil er mein Mitmensch ist, schulde ich ihm ein Grundmass an Brüderlichkeit. Dazu ist jeder Mensch fähig, weil er Mensch ist. Weil er mit dieser Fähigkeit geboren wird, sich in den anderen hineinzudenken und mitzufühlen und daher helfen zu wollen. Das ist der kleine Einjährige von Tomasello. Er drückt mit seinem Zeigen aus: Ich kann dich als Menschen er- kennen und verstehen, ich verstehe deine Not, ich helfe dir, weil du Meinesgleichen bist.

Die Naturrechtler zu Beginn der Neuzeit haben diesen Sachverhalt so formuliert, dass sie gesagt haben, dass die natürlichen Pflichten des Menschen aus den natürlichen Regeln des Gemeinschaftslebens erwachsen. Die erste Regel ist die Verpflichtung zur Fürsorge gegen alle, dass jeder so viel Mitmenschlichkeit zum Gemeinwesen beiträgt, wie es ihm ohne Schaden möglich ist. Und darauf fusst dann die Pflicht, dass keiner den anderen behandelt als wäre er nicht seinesgleichen.

Die Juristerei ist ein Kind der Moralphilosophie. Das von Natur aus Richtige, das Na-turrecht wird heute oft schwer diffamiert. Aber ist immer noch die Basis unseres kontinentaleuropäischen Rechts. Der schlimmste Nihilist, der das Naturrecht verhöhnt, ist trotzdem sehr froh, wenn die Polizei seine Tochter davor schützt, von einem Anderen vergewaltigt zu werden. Solange es ihm an den «eigenen Kragen» geht, liebt er das von Natur aus Richtige, das Tötungsverbot, und will, dass derjenige verfolgt und betraft wird, der gegen das von Natur aus Richtige verstösst. Wenn er aber ohne Gefahr an Leib und Leben theoretisiert, verneint er das Naturrecht.

Die anthropologische Begründung des Naturrechts ist: Es wird mit dem Menschen geboren, ein Massstab für richtig und falsch. Albert Schweizer hat es die Achtung vor dem Leben genannt. Das Christentum hat es im Gebot der Nächstenliebe formuliert. Alle Hochkulturen haben versucht, dieses von Natur aus Richtige zu begreifen, und haben (je unterschiedlich stark) betont: Es kann nicht sein, dass Macht allein Gerechtigkeit schafft. Wo ist der vorstaatliche Fixpunkt für Frieden und Gerechtigkeit? Daran droht die westliche Welt zurzeit zu zerbrechen. Sie handelt, als ob sie die Auserwählte wäre in der Geschichte, und sie benimmt sich, als ob sie durch Machtfülle globale Gerechtigkeit schaffen könnte. Und das stimmt nicht. Das ist der entscheidende Punkt.

Was gerecht ist, ist ein Massstab für das geschriebene Gesetz und ist übergeordnet, ist vorstaatlich. Und liegt nicht im Belieben des Einzelnen. Er kann es verletzen, aber je mehr er es verletzt, um so stärker leuchtet das Unrecht im Verstoss gegen das Mitmenschliche auf.

Teilnehmerin: Ich habe mich sehr über den heutigen Nachtmittag gefreut. Ich habe gedacht, dass man, um eine Demokratie lebendig zu halten, immer wieder an dem eigenen Menschenbild arbeiten muss. Das kommt nicht von alleine. Man muss sich bewusst werden, dass man auf diese inneren Dinge achten muss, auf diese Grundlagen des menschlichen Zu- sammenlebens. Aber auch, dass man selbstbewusster sein muss.

Ja, genau. Die Freiheit hängt mit der Sicherheit und mit der Gerechtigkeit unmittelbar zusammen und mit der Ordnung, die dadurch aufgespannt wird. Das Strafrecht schneidet aus der Summe aller moralischen Regeln jenen Teil aus, der unentbehrlich ist für den Lebensschutz und den Frieden, sanktioniert ihn, weil sonst das Ganze gefährdet ist. Es darf zum Beispiel keiner bei Strafe den Anderen töten. Und die Sanktionierung des Tötens stabilisiert das Zusammenleben in Frieden. Das Naturrecht, das von Natur aus Richtige ist: Es ist falsch zu töten. Das ist die Grenze, an der entlang die Sanktionen drohen.Das dreijährige Kind versteht gut, wie das ist mit den Regeln, dass nämlich ohne Regeln alles in Unfrieden endet. Wenn das im Kind gepflegt du gefördert wird, wächst ein guter Staatsbürger heran, der das Ganze im Auge behält. Das ist der entscheidende Punkt, die Frage nach dem von Natur aus Richtigen.

Teilnehmer: Ich habe den vorhin zitierten Artikel und die Leserbriefe dazu im Stadt- Anzeiger auch verfolgt. Die wichtigste Bemerkung, und damit komme ich auf den dreijährigen Jungen zurück, stand in einem Leserbrief: Die Mehrheit ist eigentlich dagegen, dass wir einen Krieg führen. Und jetzt komme ich zu dem dreijährigen Jungen: Ist damit nicht Ihre Theorie bewiesen, dass die gute Veranlagung, die von Kindesbeinen an gegeben ist, eigentlich auch bei den Menschen erhalten bleibt und dass die Mehrheit eigentlich das Positive wählen würde, wenn sie denn etwas sagen dürfte? Ich meine, wenn wir eine direkte Demokratie hätten, wo die Bürger positiv mitwirken und konstruktiv mitwirken dürften, dann würden manche extreme Entscheidungen unterbleiben.

Je, genau das folgt aus den anthropologischen Befunden. Das war der Zweck meines Vortrags.

Teilnehmer: Ich habe eine Frage, die noch nicht gestellt worden ist: Die grossen Profiteure von Freihandelsabkommen sind die Milliardäre. Was ist denn eigentlich mit denen los? Die haben doch schon sehr, sehr viel Geld, also eine Million mal Tausend, ist eine Milliarde oder 10 Milliarden Vermögen, und die wollen immer mehr Geld. Was ist denn mit denen eigentlich los? Sind die krank? Was ist da schiefgelaufen? Der Dreijährige ist ja, man könnte fast sagen, Gott sei Dank, nicht belastet von der Gesellschaft. Er wächst in eine Gesellschaft hinein und dann wird die Rolle der Ideologie wichtig. Man kann diese Anlage so weit verderben, dass wir verrückte Henker erziehen. Was kann man aber mit den aneren machen?

Ich habe jetzt den schlimmsten Fall erwähnt: Er gibt vor, etwas «Gutes» zu tun und handelt als Verbrecher. Genauso wie der, den er umbringt. Er lebt aber im Bewusstsein, dass er der höher Gestellte ist, der Auserwählte, der im Auftrage irgendeines Absoluten handelt. Wenn ein Mensch in so ein Ideologiegebäude hineingerät, gibt es gewisse Wege zurück. Aber die sind bitter und schwer. Der erste Mord ist der schwerste, denn er muss das Gewissen überwinden. Der Zweite ist schon leichter, und nach und nach wird das Töten leichter, weil er abgebrühter wird, kälter, unmenschlicher und keine innere Stimme mehr warnt, die Tötungshemmung erlahmt ist. Bald ist der Weg ins Leben zurück zu schwer, denn er müsste einsehen, dass alles falsch war, was er bis jetzt an Auserwähltheits- und Selbsterherrlichkeits-Ideen aufgebaut hat und wovon er sein Machstreben ernährt hat. Und ohne das ist er nichts. Das ist zu schwer. Wir erleben in der Psychiatrie Fälle, da reicht ein Leben nicht, um das wieder gut zu machen. Wir sind keine Maschinen. Auch die «Heilung» des von der Menschlichkeit Abgewichenen geht nur über den mitmenschlichen Weg. Wenn ich den Psychopathen nicht mitmenschlich erreiche, dann nicht deswegen weil ich es nicht könnte, sondern weil er es nicht will. Dann bleibt nur noch die Sicherheitsverwahrung. Und es kommt noch hinzu: Ein Psychopath in einer Diktatur mit bestehenden Befehlsketten ist etwas anderes als einer nach dem Zusammenbruch der Diktatur und ihren Befehlsketten und mit ihren totalen Ideologiegebäuden. Irgendwo in seinem Schrebergärtchen täte er dann wohl gerne gross, aber die gesellschaftlichen Strukturen, wodurch er einmal so gefährlich war, fehlen.

Ich war froh, dass Sie diese Frage gestellt haben. Ich würde schätzen, dass etwa fünf bis zehn Prozent der Menschheit aktiv führend Verbrechen im Namen der Staaten planen und begehen. Der Rest der Menschheit will etwas ganz anderes, will seine Kinder erziehen und in Frieden leben. Und sie tun das auch, sie erscheinen einfach nicht im Licht der Medien.

Um sich unter erwachsenen Mensch miteinander zu verbinden, braucht es eine Gemeinsamkeit in den Zielen und den Respekt vor den Unterschieden, wo der Andere einfach anders denkt als ich. Es braucht nicht die gesamte Harmonie in allem, aber in den wichtigen Dingen können sich die Menschen einig werden.

Ein Volk überfällt nicht aus spontanem Antrieb in geordneten Formationen ein anders. Kriege stammen nicht aus der Menschen Natur. Kriege müssen herbeigelogen werden. Man peitscht die Angst vor anderen Nationen mit Lügen und Halbwahrheiten hoch, bis sie gross genug ist, um zu fordern: Es reicht, jetzt müssen wir handeln, ehe alles zu spät ist. Es ist eben gerade das Ausnützen der sozialen Anlage des Menschen für Machtinteressen, was so gefährlich ist. Ohne das kann man keine Kriege anzetteln. Es braucht den Missbrauch des Gemeinschaftsgefühls. Das war ja der Ansatz der Adlerschen Individualpsychologie nach dem Ersten Weltkrieg, dass das Gemeinschaftsgefühl, das ehrliche Nationalgefühl so missbraucht werden konnte, hat in Adler und anderen die Frage wachgerufen: Wie können wir die Völker bilden, dass sie darauf nicht mehr hereinfallen, dass ihr gesundes Geltungsstreben nicht mehr auf diesen falschen Weg gelenkt werden kann? Darauf beruht das ganze Bildungsanliegen der Individualpsychologie, «Erziehung der Erzieher», wie es Adler nannte. Und anders wird es auch nicht gehen.

Teilnehmer: Brauchen wir nicht die direkte Bürgerbeteiligung? Da hat unsere Politik so gründlich versagt.

Ja, natürlich, genau das habe ich ja heute versucht zu vermitteln. Es ergibt sich aus unserer Natur als Mensch.

Teilnehmerin: Sie haben gesagt, das Kind müsse nicht dazu erzogen werden, ein soziales Wesen zu sein. Es bringe diese Anlage mit zur Welt, und es braucht gute «Wächter» über die Anlage. Was muss eigentlich der Wächter tun? Er muss eine gutes Vorbild sein, das ist sicher wichtig, und er muss das Kind anleiten. Er kann nicht nur aufpassen, dass nichts passiert? Was muss der Mensch da genau tun, wenn er das Wächteramt über die gute Ausbildung der sozialen Anlage sein will?

Wächter über die gute Entwicklung der sozialen Anlage sein, heisst als Persönlichkeit sicher sein, soziale Verbundenheit leben zu können, und von dieser inneren Sicherheit her das Kind anleiten, Mitmensch zu werden, was es von seiner Anlage her sein kann, wozu ich ihm den Weg weise, dass es wird, was es sein kann. Ich muss das mitmenschliche Vorbild sein können. Das kann ich nur, wenn ich mitmenschliche Verbundenheit, Eigenständigkeit und Würde leben kann. Damit ist die Frage aufgeworfen, was ist eine gute Mutter, was ist ein guter Vater, was ist eine tragfähige Familie? Es haben die Bindungsforscher Spitz, Ainsworth, Bowlby, Grossmann/Grossmann dazu wertvolles erarbeitet, was wir hier natürlich nicht in der nötigen Breite erörtern können. Ainsworth beschreibt, wie eine «gute Mutter» im Sinne der Förderung einer sichere soziale Bindung des Kindes sein müsste. Aber diese entwicklungspsychologischen Studien muss man immer auch im gesellschaftlichen Kontext erörtern. Wenn ein Mensch heute mit den Ohren des hedonistischen Zeitgeistes hört, dass die Mutter die «Bedürfnisse» des Kindes «einfühlsam» und «spontan» beantworten können soll, dann wird das schnell dahingehend verstanden, dass die Mutter die Dienerin des Kinders sein solle. Das prägt die zunehmende Laisser faire-Haltung heutiger Erzieher. Das Kind braucht Anleitung und Belehrung. Der Erzieher muss eine sichere Autorität darstellen. Er darf keine übertriebene Härte an den Tag legen, um das Kind beherrschen zu können. Und er darf nicht zum Kumpel des Kindes werden wollen und um die Anerkennung des Kindes buhlen, was der Grund für den Laisser faire-Erziehungsstil ist. Weder Härte noch Kumpel, sondern «Stärke», wissendes Führen, das durchaus auch direkt sein kann, und muss.

Der starke Erzieher, der «Wächter» eben, straft nicht mit Härte oder entschuldigt die Missetaten seines Kindes psychologisierend oder aus falsch verstandenem Mitleid oder appelliert vernünftelnd an das Kind. Er sucht die Scham im Kind über ein falsches Tun wecken, wenn es auf unsoziale Abwege gerät. Die soziale Anlage der «geteilten Intention» bringt es eben auch mit sich, dass das Kind sich schon früh vorstellen kann, was schädigendes Handeln für andere Menschen bedeutet: Dass es dem anderen etwas angetan hat, was es selbst nicht möchte, dass man es ihm antut. Das ist eine angeborene Fähigkeit, die aber leicht auf Abwege geraten kann. Ich muss diese Fähigkeit nicht ins Kind «hineinerziehen». Die Kin- desnatur kommt mir «entgegen», wenn ich es zum Beispiel mit einem Kind zu tun habe, das einem anderen weh getan hat. Ich muss es spüren lassen, dass zwischen uns eine Beziehungs- «Eiszeit» besteht, solange der schädigende Vorfall nicht bereinigt ist. Und gleichzeitig suche ich nach Wegen, wie ich das Kind innerlich an sich selbst nachvollziehen lassen kann, was es dem anderen gerade Schlimmes angetan hat. Dazu muss ich keine Gewalt anwenden. Wenn es vor seiner eigenen Tat dadurch erschrickt und sich schämt, dann hat es das soziale Gefühl kritisch auf sich selbst angewendet. Und ich bleibe distanziert, bis das Kind die Scham entwickelt und sich entschuldigt.

Echte Scham (ich meine nicht das mitleidige Moralin oder die verzehrende innere Härte) ist ein soziales Gefühl, das die Funktion der Sicherung hat, dass das Gemeinsame gelingt, nämlich das friedliche Zusammenleben. Ich muss das im Auge behalten können. Daraus be- steht die «Stärke» als Erzieher, dass ich felsenfest mit Verstand und Gefühl weiss: Dort im Frieden ist das Ziel, und du Schlingel, den ich liebe, was ich dir sicher jetzt nicht gross zeige, kommst dorthin mit. Vorher gibt’s keine Zuwendung. Meine Zuwendung ist jetzt, dass ich dich nachfühlen lassen werde, was du dem anderen getan hast. Du kannst nachvollziehen, was du getan hast, aber du wendest es nicht an, was du kannst, hast «gute» Ausreden. Ich werde es dich lehren, dich darüber zu schämen. Sicher gehen wir nicht dorthin, wo du jetzt mit deiner Schlägerei hin willst. So oder ähnlich würde ich es beschreiben. Aber es kommt sehr darauf an, welches Kind ich vor mir habe. Jedes ist wieder anders. Und ich muss immer wieder neue Wege suchen.

Wenn die Scham nicht ins Spiel kommt beim Kind, sondern es einfach reagiert: «Ja, ja, lass ihn reden, der wird schon aufhören mit Belehrung, wenn ich nicht deutlich genug rede, etwas von „Tschuldjung“ murmle, dann gibt er Ruhe und ich habe das Problem hinter mir», dann haben wir etwas falsch gemacht. Dann steht die Haltung des Erziehers zur Diskussion und muss geklärt werden. Denn ist bereits einiges zuvor passiert, dass das Kind nicht mehr einlenken will und sich nichts sagen lässt.

Dieses Hineindenken-können in den Anderen, das ihn empfinden-können als Seines- gleichen, das macht die Gewissensbildung möglich und ist gleichzeitig das Erziehungsmittel, um die Korrektur einzuleiten. Ein Stop ist nur der erste Schritt, es muss dieses durch den Pädagogen angeleitete Durcherleben folgen: Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem Andern zu. Ein solchermassen sinnvolles Strafen des Kindes hat Wiedergutmachung, Besserung und Stabilisierung des Zusammenlebens zum Ziel, wie das Strafrecht in der Gesellschaft auch.

Teilnehmer: Ich bedanke mich für das heutige Gespräch bei Ihnen. Es war sehr aufschlussreich und hat mich an meine Grundschulzeit erinnert. Damals lief im Fernsehen die Serie «Michael Kohlhaas». Es hat mich damals sehr mitgenommen, dass jemand so schlecht behandelt wird und nichts dagegen tun kann und darf. Der Darsteller hat mich beeindruckt, denn er hat so anschaulich gespielt: «Es ist Unrecht, und ich lasse es mir nicht gefallen, es ist mein Recht mich zu wehren.» Dieses Gefühl müsste man eigentlich haben, wenn man zum Beispiel liest, dass der Bundespräsident die Erlaubnis zum Kriegführen ins Grundgesetz schreiben will. Das verletzt auch meine Rechte. Es sind auch meine Bürgerrechte, dass ich in Frieden leben kann und nicht Angst haben muss, dass ich die Schüler, die ich heute unterrichte, dann in acht Jahren in den Krieg schicken kann. Was heute im Irak passiert, ist genau das, was man seit 20 Jahren plant: Die Zerschlagung in vier Teile. Das haben wir vor 15 Jahren schon gehört. Deshalb passiert auch nichts, weil sie es genau so wollen. Die Ölfirmen haben Zugriff, die Kurden haben mit diesen Ölfirmen Verträge geschlossen. Es ist schlimm, was da passiert, aber ich finde es ganz wichtig, dass man weiss, dass es eigentlich auch nicht der Wille des Volkes im Irak ist, was was da passiert. Die wollen wie wir auch in Ruhe miteinander zusammenleben.

Teilnehmer: In dem Roman «Im Westen nichts Neues» gibt es eine Szene, wo ein Soldat in einem Bombentrichter Deckung sucht und ein schwerverletzter französischer Soldat in den gleichen Trichter fällt. Der Deutsche zückt das Messer und will ihn töten, merkt aber, dass der Franzose stirbt und tut ihm nichts. Er entnimmt den Taschen des Toten persönliche Unterlagen und sieht einen Namen, sieht Fotos und plötzlich ist der Namenlose ein Mensch.

Damit zerreisst der Propagandaschleier und der Weg wird wieder frei für Menschlich- keit.

Teilnehmer: Wenn jemand ein Gesicht hat, einen Namen, dann ist eben doch Mit- menschlichkeit da!

Es gibt einen Band «Kriegsbriefe gefallener Studenten», von dem Freiburger Germanisten Philip Witkop von 1929. Er hat aus Tausenden von einzelnen Briefen junger Soldaten im Ersten Weltkrieg die anschaulichsten ausgewählt. Von jedem der Gefallenen eine Serie, vom ersten «Hurra» bis zum Tod «auf dem Felde der Ehre» oder dem «Altar des Vaterlandes», wie es in den Todesanzeigen hiess. Spätestens beim ersten Granateinschlag und den ersten Toten hört die Massenpsychose meistens auf. Aber da ist die Befehlskette, und dann ist kein Entkommen mehr. Aber es zeigt: Soldaten gehen, gegen jede Propaganda, nicht «freiwillig» in den Krieg.

Ich danke Ihnen für das Gespräch. Kommen Sie alle gut nach Hause.

 

***

 

 

Anmerkungen

[1]  Das falsche Menschenbild der Soziobiologie gründet auf: Dawkins, Richard: Das egoistische Gen.
[2]. Die falsche Theorie, Mensch und Schimpanse seien eine Spezies, stammt unter anderem von: Diamond, Jared: Der Dritte Schimpanse. Frankfurt/Main: Fischer 1998. Vgl. auch: Neffe, Jürgen: Geschwister im Geiste. In: SPIEGEL vom 28. 8. 2000, Nr. 35/2000
[3] Das falsche Bild der Kybernetik vom Menschen als «Information» und (wie der Computer) digital «denkendes» «System» stammt von: Wiener, Norbert: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. MIT Press 1948. [Deutsche Ausgabe: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine. 1948]
Vgl. auch: Wiener, Norbert: The Human Use of Human Beings – Cybernetics and Society 1950. [Deutsche Ausgabe: Mensch und Menschmaschine – Kybernetik und Gesellschaft. Frankfurt/Main: Alfred Metzner 1952]
Die systematische Übertragung der Regelungstechnik auf den Menschen betrieb Wiener auch im Rahmen der Macy-Konferenzen unter Leistung von Gregory Bateson, der sie 1943 als OSS-Agent ins Leben rief.
Vgl. Hardin, Garret: Tragik der Allmende 1968. Hardin, Garret: Lifeboat-Ethics 1974. Hardin, Gar- ret: Limited World, Limited Rights.
Gregory Bateson, James Lovelock und Margulis geben (zusammen mit Henri Atlan, Humberto Ma- turana, Francisco Varela, William Erwin Thompson und John Todd) im Rahmen der Lindisfarne Association die Schriften „GAIA, A WAY OF KNOWING, Political Implications of the New Bio- logy“ und „GAIA 2. EMERGENCE. The New Science of becoming» heraus [THE LINDISFAR- NE ASSOCIATION. URL: http://williamirwinthompson.org/lindisfarne/history.html (eingesehen am 6.8.2010)]
[4] Skinner, Burrhus Frederic: Jenseits von Freiheit und Würde. Reinbek: Rowohlt 1982. Ders.: Futurum Zwei. Die Vision einer aggressionsfreien Gesellschaft. Hamburg: Wegener 1970
[5] Marx, Karl: Zur Kritik der Politischen Ökonomie». In: Marx-Engels-Werke, Band 13, Berlin/Ost: Dietz 1972 [EA: Berlin: Duncker 1859]
[6] Adler, Alfred: Der Sinn des Lebens, S. 116
[7] Vgl. zum Beispiel: Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Herausgegeben von August Buck. Hamburg: Meiner 1990 [= lateinischer Text mit einer deutschen Übersetzung von Norbert Baumgarten]
[8] Adler, Alfred: Der Sinn des Lebens. 1933, S. 26
[9] Tomasello, Michael: Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp 2010.
[10] Vgl. Boesch, Christophe & Whiten, Andrew: Die Kultur der Schimpansen. In: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, S. 30ff. [URL: http://www.spektrum.de/magazin/die-kultur-der-schimpansen/827477]
[11] Greffrath, Mathias: Das Tier, das «Wir» sagt. Michael Tomasello sucht nach der Einzigartigkeit des Menschen und findet sie in dessen Kooperationsfähigkeit. In: Die ZEIT vom 8. April 2009.
[12]  Lat. Original: «nostris denique manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur». In: Cicero: Vom Wesen der Götter. Drei Bücher / De natura deorum. Libri III (lat./dt.), II, 60, 152, hrsg., übersetzt und erläutert von W. Gerlach und K. Bayer (Slg. Tusculum), München – Zürich, 3. Aufl. 1990, S. 325-327
[13]  Aristoteles: Metaphysik A 6, 987 b 33
[14]  Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart: Schweizerbart 1872. Ders.: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. 2 Bände. Aus dem Eng- lischen übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart: Schweizerbart 1871
[15]  Kropotkin, Peter: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt., Leipzig: Thomas1908
[16]  Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit 1774. Ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1784-91. Ders.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. 1772
[17]  Vgl. Kapitel über Adlers Konzept des Gemeinschaftsgefühls als anthropologische Konstante. In: Kaiser, Annemarie: Das Gemeinschaftsgefühl: Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung : eine Darstellung wichtiger Befunde aus der modernen Psychologie. Diss. Univ. Zü- rich 1973. Vgl. auch: Adler, Alfred: Menschenkenntnis 1927
[18]  Portmann, Adolf: Zoologie und das neue Bild des Menschen 1956 Ders. Biologie und Geist. Zürich: Rhein-Verlag 1956. Ders.: Zoologie und das neue Bild des Menschen. 1956. Ders.: Das Tier als soziales Wesen. 1953
[19]  Gehlen, Arnold: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1940. Ders.: Anthropologische Forschung. [=rde, Nr. 138] Reinbek Rowohlt 1961
[20]  Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. 1928
21  Montagu, M. F. Ashley (Hg.): Man and Aggression. New York: Oxford University Press 1968. Ders.: Mensch und Aggression. Weinheim: Beltz 1974
[22]  Leakey, Richard & Lewin, Roger: Wie der Mensch zum Menschen wurde. Neue Erkenntnisse über den Ursprung und die Zukunft des Menschen. Hoffmann und Campe 1978
[23]  Das ist der anthropologische Ausgangspunkt, von dem aus das neuzeitliche Naturrecht die natürlichen Rechte des Menschen ableitet.
[24]  Vgl. Kaiser, Annemarie
[25]  Portmann, Adolf: Vorwort: Ein Wegbereiter der modernen Biologie. In: Uexküll, Jakob von & Kriszat, Georg: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Hamburg: Rowohlt 1956, S. 7-17
[26]  Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Frankfurt/Main & Leipzig: Insel 1994. Grotius, Hugo: De jure belli ac pacis. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625. Tübingen 1950. Martin Kriele: Die demokratische Weltrevolution und andere Beiträge. Berlin 1997. Johannes Messner: Das Naturrecht. Berlin 1984. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948. Bernhard Sutor: Politische Ethik. 2. Auflage. Paderborn 1992.Otfried Höffe: Philosophische Ethik: Fahne im Wind oder Fels in der Brandung?, in: Schweizeri-sche Ärztezeitung 2010; 91: 32. Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 1990.
[27]  Wolfgang Waldstein: Ins Herz geschrieben. Augsburg 2010, S. 7
[28]  Die Deutschen Bischöfe. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Grundwerte verlangen Grundhaltungen. Bonn 22. September 1977, S. 7
[29]  Die Deutschen Bischöfe. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Grundwerte verlangen Grundhaltungen. Bonn 22. September 1977, S. 8
[30]  Entwicklungswunder Mensch. S. 246
[31]  Proudhon, Pierre-Joseph: Oeuvre complètes. Hg. v. C. Bouglè und H. Moysset. Paris 1923. Zitiert nach: Gablentz, O. H. von der: Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Politische Theorien Teil III. Die Wissenschaft von der Politik, neunter Band. Westdeut- scher Verlag Köln und Opladen 1967

 

 

 

 

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