Die Väter der Chaos-Theorie: Edward Bernays «Propaganda» (1928)

Moritz Nestor

Edward Bernays (1928): Propaganda. 3. Auflage 2011. Orange Press. [erste deutsche Übersetzung]

In seinem Artikel «Die Blindheit der Europäischen Union gegenüber der Militärstrategie der USA» (Voltaire Netzwerk, Damaskus, 27. APRIL 2015 ) warnt Thierry Meyssan, die Europäer würden die von den USA verwendet «Chaostheorie», «die dem Philosophen Leo Strauss entlehnt wurde», nicht studieren und daher die US-Strategie nicht verstehen. Zur Chaostheorie gehört auch der Vater der modernen Propaganda, Edward Bernays, der Neffe von Sigmund Freud. Wie Freud Trieb- und Massen-Theoretiker.

«Im Jahr 1917, die USA treten in den Ersten Weltkrieg ein, meldet sich Bernays zum Komitee für öffentliche Information („Committee on Public Information“). Die Aufgabe dieser von der US-Regierung eingesetzten Organisation ist es, kriegsmüden Amerikanern wie auch Europäern den Kriegseintritt der USA schmackhaft zu machen. Es geht um den Kampf für die Demokratie. „Make the world safe for democracy“ ist der Wahlspruch des Komitees, in dem Edward Bernays sehr schnell nach oben kommt.» (Wolf Lotter: PROPAGANDA! Seite 40.)

«Der grandiose Erfolg der Propaganda im Krieg», schreibt Bernays 1928 Rückblicken in seinem Buch «Propaganda» auf Seite 33, «hat den Weitsichtigen die Augen geöffnet für die Möglichkeiten von Manipulation der Massenmeinung in allen Bereichen des Lebens. Im Krieg hatten die amerikanische Regierung und diverse patriotische Vereinigungen eine vollkommen neue Methode zur Gewinnung öffentlicher Akzeptanz angewandt. … So provozierten sie die Massenreaktionen gegen die angeblichen Gräueltaten, den Terror und die Tyrannei des Feindes.» Und damit den Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg.

Bernays meint, die grosse Masse der Menschen wären völlig hilflos einem unübersichtlichen Chaos von Meinungen und Medienerzeugnissen ausgeliefert und würden nichts verstehen, wenn man nicht dieses unübersichtliche Chaos «durch den Einsatz von Propaganda» auf eine erträglich «Auswahl an Gedanken und Gegenständen» «reduziert». Wenn die Menschen «den gleichen Reizen ausgesetzt sind, erhalten sie alle die gleiche Prägung». ‚Gleichschaltung‘ nannten das grossdeutsche Kopisten ein paar Jahre später weniger vornehm.

 

Chaostheorie heisst also für Bernays: Die Manipulierung der Massen durch Propaganda, um angeblich das Chaos zu vermeiden, das entstünde, wenn man die von Sexual- und Aggressionstrieben gesteuerten Menschen freilassen würde

 

«Kapitel 1» des Buchs «Propaganda» von Bernays trägt daher den Titel: «Die Ordnung des Chaos». Der erste Satz lautet: «Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land.» (Seite 19) «In der Summe steuern sie den Geist der Massen auf ähnliche Weise, wie die Befehlsgewalt beim Militär sie Soldaten physisch unterwirft.» (Seite 31)

41bjjSKbDiL._SX374_BO1,204,203,200_«Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logische Folge der Struktur unserer Demokratie: Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich. Die unsichtbaren Herrscher kennen sich auch untereinander meist nicht mit Namen. Die Mitglieder des Schattenkabinetts regieren uns wegen ihrer angeborenen Führungsqualitäten, ihrer Fähigkeit, der Gesellschaft dringend benötigte Impulse zu geben, und aufgrund der Schlüsselpositionen, die sie in der Gesellschaft einnehmen. Ob es uns gefällt oder nicht, Tatsache ist, dass wir in fast allen Aspekten des täglichen Lebens, ob in Wirtschaft oder Politik, unserem Sozialverhalten oder unseren ethischen Einstellungen, von einer (angesichts von 120 Millionen US-Bürgern) relativ kleinen Gruppe Menschen abhängig sind, die die meisten Abläufe und gesellschaftlichen Dynamiken von Massen verstehen. Sie steuern die öffentliche Meinung, stärken alte gesellschaftliche Kräfte und bedenken neue Wege, um die Welt zusammenzuhalten und zu führen.» (Seite 19)

«Um ein … Chaos zu vermeiden, besteht eine stille gesellschaftliche Übereinkunft darüber, dass unser Blick durch den Einsatz von Propaganda lediglich auf eine reduzierte Auswahl an Gedanken und Gegenständen fällt.» (Seite 20)

«Wenn all diese Millionen Rezipienten [Zeitungsleser] den gleichen Reizen ausgesetzt sind, erhalten sie alle die gleiche Prägung. … die meisten öffentlich diskutierten Themen (werden) … der Bevölkerung auf diese Weise vorgekaut …». (Seite 28)

«Die Praxis, bestimmte Assoziationen und Bilder in den Köpfen der Massen zu erzeugen, ist sehr weit verbreitet.» (Seite 31)

«Die Nachfolgenden der Herrschenden von einst können nicht mehr tun, was sie wollen, sondern sind auf die Zustimmung der freien Bürger angewiesen. In der Propaganda finden sie ein wirksames Instrument, um diese Zustimmung zu gewinnen.»

«Sie [die neuen Propagandatechniken] befassen sich nicht mehr nur mit dem Individuum oder der Gesellschaft als Ganzes. Sie widmen sich vielmehr auch und vor allem der Anatomie der Gesellschaft mit ihren zahllosen, verästelten und miteinander verwobenen Gruppierungen. Sie sehen den Einzelnen nicht nur als Zelle innerhalb der Gesellschaft, sondern als Zelle, die in gesellschaftlichen Einheiten organisiert ist. Wird der Nerv des Organismus ‚Gesellschaft‘ an einem sensiblen Punkt gereitzt, wird automatisch eine Reaktion bei bestimmten anderen Elementen dieses Organismus hervorgerufen.» (Seite 34)

 

ABER:

«Die Zahl der Manipulierbaren ist gross. Aber mitunter reagieren sie störrisch auf Beeinflussungsversuche und lassen sich selbst durch die vereinten Kräfte von Gesetzgeber, Medien und Bildungssystem nicht umstimmen. Das kann daran liegen, dass eine Gruppe sich an ihre ‚hergebrachten Klischeevorstellungen klammert‘, wie der Publizist Walter Lippmann das nennt. Dann bleibt von der Macht der Meinungsführer im öffentlichen Diskurs nichts mehr übrig.» (Seite 31f)

 

«Die Eliten müssen sich der Propaganda allerdings dauerhaft und systematisch bedienen. In den aktiv meinungsbildenden Eliten, deren Eigeninteresse mit dem öffentlichen Interesse zusammenfällt, liegen der Fortschritt und die Entwicklung». (Seite 35f.)

Die Zahl derer, «die aufgrund ihrer Stellung im öffentlichen Leben guten Gewissens als Vorreiter der öffentlichen Meinung bezeichnet werden können«, beträgt «mehrere Tausend Personen». (Seite 37)

«Systematische Erforschung der Psychologie der Massen hat gezeigt, wie wirkungsvoll die Gesellschaft regiert werden kann, wenn es den verborgenen Herrschern gelingt, den Einzelnen in seiner Gruppenzugehörigkeit zu erreichen und seine Motive zu manipulieren. … Wenn wir aber wissen, wovon und wie die Massenpsyche bewegt wird – sollte es dann nicht möglich sein, si unbemerkt nach unserem Willen zu lenken und zu kontrollieren?» (Seite 49)

Missbrauch der Psychologie: Propaganda wirkt an den unbewussten Stellen des Denkens und Fühlens

«Menschen sind sich selten der wirklichen Beweggründe ihres Handelns bewusst. … die Psychologen der Schule Sigmund Freuds haben aufgezeigt, dass der Mensch vieles denkt und tut, um unterdrückte Wünsche und Sehnsüchte zu kompensieren. … Menschen sind oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich selbst verbergen. … Der Propagandist muss die wahren Motive erkennen und darf sich nicht damit zufriedengeben, was die Menschen selbst als Beweggründe angeben.» (Seite 52f.) «Es werden Umstände geschaffen, die emotionale Bewegung erzeugen und dadurch für Nachfrage sorgen.» (Seite 54) «Durch den Einfluss von Schlüsselpersonen auf andere Gruppen erhält die Idee … im öffentlichen Bewusstsein einen Stellenwert wie nie zuvor … (und) wird akzeptiert werden, weil er zu etwas aufgebaut worden ist, was man haben muss.» (Seite 55) «Die Nutzung der gesellschaftliche Gruppenstrukturen ist eine der effektivsten Methoden zur Verbreitung neuen Ideen.» (Seite 56)

 

Politiker, Lehrer und ein US-Propagandaministerium

«Das grosse Problem in unseren modernen Demokratien besteht darin, unsere Politiker zum Führen zu bewegen … unsere gewählten Volksvertreter [neigen] dazu, sich wie willenlose Diener ihrer Wählerschaft zu benehmen … Kein ernsthafter Sozialwissenschaftler glaubt noch, dass des Volkes Stimme von … Weisheit beflügelt sei. Ein seriöser und talentierter Politiker ist dank des Instrumentariums der Propaganda glücklicherweise in der Lage, den Volkswillen zu formen und zu kanalisieren.» (Seite 83)

«Ein grosses Wirtschaftsunternehmen muss sein Vorgehen mit Sorgfalt planen. Wenn es der Bevölkerung der USA etwas verkaufen will, orientiert es sich an übergreifenden strategischen Zielen. Genauso muss auch der politische Stratege vorgehen. Seine Kampagne sollte auf einem umfassenden, auf breiter Linie angelegten Plan basieren. Programm, Leitlinien, Versprechen, Budgets, Aktivitäten und handelnde Personen müssen ebenso sorgfältig ausgewählt und eingesetzt werden wie beim Big Business, wenn man die Massen in seinem Sinn bewegen will.» (Seite 86)

«Die Regierung der Vereinigten Staaten sollte einen Minister für Public Relations einführen ….» Er soll dem Volk das Handeln der Regierung «erläutern», «übersetzen», «vermitteln» … « … nennen Sie es <Regieren durch Bilden und Erziehen>», «eine gigantische, heterogene Masse von Wählern zu verständigen und folgerichtigen Handlungen zu bewegen.» (Seite 99)

«Von Anfang an sollten Lehrer begreifen, dass ihre Ausbildung zwei Aspekte hat: Die Ausbildung zum Erzieher und die Ausbildung zum Propagandisten.» (Seite 108)

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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