Ehrfurcht vor dem Leben! Europaweite Organisation gegen Patiententötungen gegründet

Interview im September 1996 Moritz Nestor


Interview Haasnot als


 

Gespräch mit Dr. Krijn J. P. Haasnoot, Vorsitzender des Niederländischen Ärztebundes (NAV)

Der Niederländische Ärzteverband (NAV) führt zurzeit einen einsamen Kampf gegen die in den Niederlanden mittlerweile gesetzlich gedeckten Mitleidstötungen an Patienten. Niederländische Ärzte, die sich weigern, aus Mitleid zu töten, werden immer stärker diskriminiert, haben kaum eine Presse, werden von Kollegen ausgegrenzt und erleben einen langsamen sozialen Tod. Zusammen mit dem deutschen Hartmannbund hat der NAV nun am 9. Mai 1996 die Vereinigung «Europa gegen Euthanasie» gegründet. Anlässlich einer Pressekonferenz im Bonner Presseclub sprach Zeit- Fragen mit dem Vorstand des NAV, Herrn Dr. med. Krijn J. P. Haasnoot.

 

Zeit-Fragen: Herr Dr. Haasnoot, zusammen mit dem deutschen Hartmannbund hat der Nederlandse Artsen Verbond (NAV) heute die Vereinigung «Europa gegen Euthanasie» gegründet.

Dr. Haasnoot: Ja, wir Niederländer waren sehr froh, für unsere Sorgen beim Hartmannbund ein offenes Ohr zu finden. Wir haben «Europa gegen den Krebs», warum nicht «Europa gegen Euthanasie»? Diese Entwicklung ist genauso gefährlich – wenn nicht noch gefährlicher!

 

Ist die Lage in Holland derart schlimm?

1941 hat sich die Mehrheit der Ärzte in den Niederlanden mit einem offenen Brief geweigert, den Nationalsozialisten bei der Tötung «lebensunwerten Lebens» zu helfen. Sie haben folgendes erklärt: «Wieviel sich auch im Laufe der Zeiten in den Anschauungen der Völker geändert hat, so blieb doch der Arzt unangefochten der Hüter eines heiligen Kleinodes: der Ehrfurcht vor dem Leben, der Barmherzigkeit gegenüber dem kranken Menschen. In Anerkennung dieser Aufgabe war von jeher bis heute der Arztberuf immer ein Amt des Vertrauens, ein priesterliches Amt.»

 

Tötung als normale medizinische Behandlung?

 

Heute, 1996, können Sie dem von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebenen «Remmelink-Report» folgendes entnehmen: In 2300 Fällen gaben Ärzte ihren Patienten auf deren Verlangen hin Gift. Nur solche Fälle wurden im Remmelink-Bericht als «Euthanasie» gezählt. Die Analyse des Berichtes zeigt jedoch: In weiteren 1000 Fällen wurden Patienten vom Arzt vergiftet, ohne dass sie es von ihm verlangt hätten. Diese Fälle werden im Remmelink-Bericht gezählt, aber nicht «Euthanasie» genannt, sondern «im äussersten Notfall angewandter Akt der Menschlichkeit»! Selbst nach offizieller Aussage der tonangebenden niederländischen Ärztegesellschaft KNMG wäre das «unfreiwillige Euthanasie» und «grundsätzlich verboten».

Weiterhin wurde in 8100 Fällen als Todesursache die Überdosis eines Medikamentes festgestellt. 6750mal war dabei die Tötung eines der Motive des Arztes, 1350mal war Tötung das ausdrückliche Motiv des Arztes. Der Bericht dokumentiert diese Fälle, bezeichnet sie aber als «normale medizinische Behandlung».

Bei weiteren 7875 Patienten brach der behandelnde Arzt eine lebensverlängernde Behandlung ab. Dabei war in 4275 Fällen Lebensbeendigung eines der Motive des Arztes, in 3600 Fällen war Lebensbeendigung sogar das ausdrückliche Motiv des Arztes. Der Bericht dokumentiert diese Fälle, bezeichnet aber auch sie als «normale medizinische Behandlung».

Bei 19 275 Todesfällen eines Jahres hatten also die betreffenden Ärzte das implizite oder explizite Motiv, das Leben des Patienten zu beenden – bei insgesamt etwa 129 000 Todesfällen pro Jahr.

 

Warum ist die NAV entstanden?

Etwa 2000 Mitglieder der KNMG haben 1970 eine Ärzteaktion gebildet, um gegen das undemokratische Verhalten ihres Vorstandes zu protestieren. In einer Regierungskommission hatte dieser – unerwartet für den grössten Teil der Mitglieder und ohne Diskussion – die Legalisierung der Abtreibung unterstützt. Bis 1972 versuchte diese Ärzteaktion vergeblich, die KNMG von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Schliesslich gründeten etwa 1000 Ärzte die NAV, da sie keinen anderen Weg mehr sahen, die hippokratische Ethik aufrechtzuerhalten. Heute ist das Problem in den Niederlanden vor allem die Legalisierung der Tötung auf Verlangen bzw. die Beihilfe zur Selbsttötung. Auch hier steht die NAV im krassen Gegensatz zur KNMG.

 

Hippokratische Ethik

 

Was sind die Ziele der NAV?

Wir wollen die traditionelle hippokratische Ethik aufrechterhalten. Der Arzt darf nicht töten. Egal, welche Schwierigkeiten sich ihm entgegenstellen: nicht vor der Geburt, nicht nach der Geburt und nicht am Ende des Lebens. Selbst auf Verlangen des Patienten hin darf der Arzt nicht töten, und er darf auch keinem Menschen bei der Selbsttötung helfen. Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung sollen für den Arzt und auch für alle anderen Menschen strikt verboten bleiben.

 

Wie ist die gesellschaftliche Stellung der NAV?

Bei der Gründung hatte die NAV etwa 1000 Mitglieder, heute sind wir noch etwa 600 Ärzte, und unsere Position ist in den Niederlanden unpopulär. Wir sind sozusagen eine gesellschaftliche Rarität: Wir sind gegen Abtreibung und für Hilfeleistung bei unerwünschten Schwangerschaften. Wir sind gegen Tötung auf Verlangen («Euthanasie»), gegen Beihilfe zur Selbsttötung und für Hilfeleistung, auch wenn sie Probleme aufwirft. Wir sind für die Autonomie des Patienten. Aber wir sind dagegen, dass der Arzt seinen Berufsstand schändet, indem er Menschen tötet. Bis vor zehn Jahren hatten wir noch Kontakte in den Regierungsfraktionen, heute nicht mehr. Die NAV erhält absolut keine Unterstützung von der Regierung.

 

Die Christdemokraten haben das Euthanasiegesetz nicht verhindert?

Im Gegenteil! Sie stellten die Regierung, und die CDA war eine der beiden Parteien, die das beschämende niederländische Euthanasiegesetz überhaupt erst ermöglichten. Ohne sie hätte das Gesetz gar keine parlamentarische Mehrheit gefunden! Der für das Gesetz verantwortliche Justizminister war von der CDA! Die Christdemokraten wurden so zum Steigbügelhalter für ein Gesetz, das die Linke schon seit den frühen siebziger Jahren gefordert hatte. Dann allerdings verlor die CDA die nächsten Wahlen und musste erstmals die Regierungsverantwortung abgeben.

 

Pflicht zur Tötung?

 

Was war der Anlass zur Gründung von «Europa gegen Euthanasie»?

Das Haus brennt. Wir von der NAV können in den Niederlanden fast nichts mehr machen! Die Situation spitzt sich zu: Schon bald nach Inkrafttreten des Euthanasiegesetzes 1994 drohte erstmals ein Hauptinspektor für Volksgesundheit den Ärzten, die gegen Euthanasie sind, mit Strafe, wenn sie Patienten, die getötet werden wollten, nicht an einen Arzt überweisen, der nichts gegen Mitleidstötungen hat. Jetzt droht also dem, der nicht töten will, Strafverfolgung!

Eine Pflicht zur Tötung? Das haben wir nicht akzeptiert. Wir haben uns geweigert. Wir haben den Plan öffentlich gemacht und der Regierung Fragen gestellt, was das solle. Sehr kurz darauf, etwa einen Monat später, haben drei Hauptinspektoren für Volksgesundheit festgestellt, es könne weder moralisch noch juristisch eine solche Überweisungspflicht geben. Das geschah unter öffentlichem Druck. Aber wir können nicht sicher sein: Es ist nur eine Frage der Zeit, dass diese Überweisungspflicht kommen wird.

Heute ist Euthanasie nach den Artikeln 193 und 194 des niederländischen Strafgesetzbuchs auf dem Papier immer noch strafbar. Durch das Leichenbestattungsgesetz – das sogenannte Euthanasiegesetz – wurde jedoch festgelegt, dass diese Artikel nicht immer angewendet werden müssen! Ein Arzt, der aus angeblichem Mitleid – also sogenannt menschlichen Gründen! – tötet und dies nach den gesetzlich vorgeschriebenen «Regeln der Sorgfalt» tut, bleibt straffrei. Obwohl Artikel 193 und 194 das Töten verbieten! Und wir, die wir nicht töten wollen und können, sind plötzlich schlechte Ärzte! Denn: Wenn es angeblich menschlich ist zu töten, dann ist ein Unmensch, wer nicht tötet! Daher wird es irgendwann doch noch zur Pflicht werden, uns zu überwachen!

Unsere Lage ist also politisch unsicher. Sie ist aber auch materiell unsicher: Eines Tages wird man uns fragen, wenn wir eine Stelle suchen, was wir von «Euthanasie» halten. Und wir Gegner bekommen dann keine Anstellungen mehr!

Seit 1984 ist es schon so, dass Ärzte, die wie wir die Mitleidstötungen ablehnen, nach Auffassung der KNMG moralisch verpflichtet sind, einen Patienten, der um Tötung bittet, an einen Kollegen zu überweisen, der bereit ist, es zu tun! Letztes Jahr hat die KNMG diese Auffassung erneut bekräftigt. Mit der Krankenpflegevereinigung hat die KNMG vereinbart, dass Ärzte oder Krankenpersonal, die grundsätzlich gegen Mitleidstötungen sind, nicht mehr zu den Beratungen über Patienten zugelassen sind.

 

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass diese unselige Euthanasiediskussion in Gang gekommen ist, und wie konnte bis heute die Euthanasie in Holland derartige Formen annehmen?

Das verstehen wir auch nicht! In England, Deutschland oder Amerika hat es schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts Euthanasiegesellschaften gegeben, in Holland nicht. Die niederländische «Gesellschaft für freiwillige Euthanasie» ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Es ist für uns erstaunlich, wie schnell sich die Bevölkerung daran gewöhnt hat. Treibende Kraft seit den frühen siebziger Jahren ist diese Gesellschaft für freiwillige Euthanasie. Aber auch Prominente aus allen gesellschaftlichen Schichten haben dafür gesorgt, dass die Bewegung ein derartiges Ausmass erreichen konnte. Unsere Ministerin für Volksgesundheit zum Beispiel ist Mitglied dieser Gesellschaft. Sie hat letztes Jahr deren neues Büro eingeweiht und dabei unter anderem gesagt: Für den Fall, dass sie einmal dement werde, hoffe sie, ihre Kinder würden dann dafür sorgen, dass sie getötet werde.

 

Als Sektierer verschrieen

 

Gibt es ausser dem Hartmannbund noch andere Organisationen, die «Europa gegen Euthanasie» unterstützen?

Ja, wir hatten vorige Woche ein Gespräch mit der belgischen Ärztegesellschaft. Auch sie unterstützt uns und wendet sich gegen Euthanasie. Herr Dr. Thomas vom Hartmannbund hat allerdings sehr richtig bemerkt, dass «Europa gegen Euthanasie» nicht nur eine Aktion von Ärzten gegen Euthanasie bleiben dürfe, sondern dass es europaweit zu einer breiten Bewegung werden müsse. Dass man Töten als eine «Form der Behandlung» einführt, geht ja nicht nur uns Ärzte etwas an, sondern betrifft alle Menschen in der gesamten Gesellschaft. Wir sind sehr froh, wenn es diese Möglichkeit zum Zusammenschluss gibt. Was dabei herauskommen wird, weiss ich nicht.

Wir Niederländer befinden uns in einer einsamen Lage. Wir sind regelrecht bedroht. Wir werden als unbarmherzig verschrieen, als «Sektierer» und vieles mehr. Da ist es für uns schon eine gewisse Beruhigung, dass wir von Kollegen hören, nicht die Idioten zu sein, als die man uns hinstellt. Das ist eine Ermutigung.

 

Lässt sich die Entwicklung denn nicht aufhalten – oder werden sich die Dinge in Deutschland und anderen Ländern in die gleiche Richtung entwickeln wie in den Niederlanden?

Es ist zu befürchten, dass es sich in anderen Ländern ähnlich entwickeln wird: in Deutschland, England, Frankreich, Amerika. International kann man beobachten, wie mit der Ideologie von der angeblichen «Freiheit», sich töten zu lassen, ein immer stärkerer Druck auf die Ärzte ausgeübt wird. Dabei bedient man sich des Begriffs der «Autonomie». Was uns passiert ist, wird so oder ähnlich in anderen Ländern auch kommen! Der Druck wird immer grösser.

 

Wer übt den Druck aus?

Ich will den Medien nicht die Alleinschuld geben. Aber sie können den Menschen schnell starke Gefühle vermitteln. Die Menschen lernen, mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand zu urteilen. Ich habe selbst an Fernsehveranstaltungen mitgewirkt. Das ist sehr schwer, man macht etwas mit. Wie da manipuliert wird, wie ganze Sendungen manipuliert werden! Als Zuschauer sieht man das nicht. Man sieht nicht, dass der Regisseur und andere Fernsehleute schon eine Richtung vorgegeben haben und dass man als Zuschauer gezwungen wird, diesen Weg mitzumachen. Das wirkt!

Ein nächster Faktor ist auch das moderne Lebensgefühl: «Jung», «schön» und «toll» soll man sein. Man soll daher das Leben nicht «zwanghaft verlängern», sagt man, weil das gegen die «Natur» sei. Älter werden, schwach sein, krank sein passt da nicht mehr hinein. Das trägt auch zu dem Druck bei. Und: Der Einfluss der Religion auf die Meinungsbildung ist immer kleiner geworden. Viele haben mit der Kirche nichts mehr zu tun. Sie richten sich nur nach ihrer eigenen Erfahrung. Das ist auch ein bedeutender Faktor für den wachsenden Druck auf uns Ärzte. Ich selbst bin Christ. Wenn man aber nicht an Gott glaubt, wo soll man dann einen Sinn im Leben finden? Meiner Meinung nach ist der Sinn in Gott.

 

Wie stehen die Kirchen zur Euthanasiepraxis in ihrem Lande?

In Holland sind die beiden protestantischen Kirchen für Euthanasie. Die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland sind geschlossen gegen Mitleidstötung. Sie haben jetzt gerade gemeinsam die «Woche für das Leben» veranstaltet und ein gutes Papier herausgegeben.

 

Alternative: Palliativmedizin

 

Inwiefern spielen ökonomische Gesichtspunkte bei der Propaganda der Mitleidstötung eine Rolle? Etwa dass Euthanasie billiger sei als eine gute Palliativmedizin oder billiger als die Ausbildung der Ärzte in guter und wirksamer Schmerzbekämpfung oder billiger als die Pflege alter Menschen.

Natürlich spielt das eine Rolle. Was schwierig ist, das wählt man nicht zuerst. Erst wenn man älter wird, merkt man, dass es nicht die bequemsten, sondern die schwierigsten Lösungen waren, die auch die besten gewesen sind. Das kann man jungen Menschen aber nicht so einfach verdeutlichen.

Was Euthanasie und Palliativpflege betrifft, ist es wirklich zu teuer, in einem Krankenhaus auf den Tod zu warten. Zu Hause oder in einem Hospiz gibt es viel bessere und ausserdem billigere Möglichkeiten der Palliativpflege als in einem Krankenhaus. Wir Menschen sind doch bis heute immer noch kreativ genug gewesen, um alle Schwierigkeiten, die wir als Menschheit miteinander hatten, zu lösen. Warum dann nicht auch die Frage einer guten Palliativversorgung? Warum dieses Problem durch Töten lösen?

Ich habe kürzlich am Fernsehen einen Spanier gesehen, der seit 23 Jahren gelähmt ist und nur noch seinen Kopf bewegen kann. Er «wollte», dass man ihn tötet. In meinem Krankenhaus gibt es Patienten mit dem gleichen Leiden. Aber sie haben einen elektrischen Rollstuhl und können diesen mit dem Kopf steuern, sich damit durch das ganze Haus bewegen; sie können das Telefon abnehmen und so weiter! Und da wurde in dieser Sendung am Fernsehen gesagt, dass die Freunde dieses Spaniers ihm «behilflich» sein wollten, dass er getötet würde. – Statt dass diese Freunde hingehen und einen Fernsehaufruf oder sonst eine Aktion starten, um eine Million Gulden für ihren kranken Freund zu sammeln, damit auch er so gute Hilfe bekommt wie meine Patienten. So bekäme er wieder Freude am Leben! Ich kann mir gut vorstellen, dass man, wenn man 23 Jahre nur im Bett herumgelegen hat, irgendwann einmal sagt: «Ich habe genug!»

 

Herr Dr. Haasnoot, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

(das Interview führte Moritz Nestor)


Dr. med. Krijn J. P. Haasnoot

Geb. 1942, lebt in Eemnes, Niederlande. 1974 bis 1977 Arzt für Allgemeinmedizin in Rotterdam. 1977 Beschäftigung in einem Krisenzentrum für Drogensüchtige. Seit 1977 in einem Zentrum für geistig Behinderte in Baarn tätig. 1982 bis 1993 Mitglied eines Hilfeleistungsausschusses für Frauen und Mädchen mit ungewünschter Schwangerschaft. 1988 bis 1991 Vorstandsmitglied des Niederländischen Vereins für Ärzte in der Geistigbehindertenfürsorge (NVAZ). Seit 1992 Vorsitzender des Niederländischen Ärztebundes (NAV).


Quelle: Zeit-Fragen Nr. 30, September 1996, Seite 1/2

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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