Ein Leben für mehr Freiheit und soziale Verbundenheit. Leben und Werk von Annemarie Buchholz-Kaiser, Versuch einer Annäherung

2019 Erika Vögeli und Moritz Nestor

Wir träumen uns Bilder von der Menschheit, die wir nicht kennen,
und geben indessen auf den Buben nicht Achtung, den du Hans heissest.
Und der Bub wird nichts nutz, weil wir, umnebelt von den Träumen der Menschheit,
den Hans vergessen, in welchem der Mensch, den wir erziehen wollen, aufgewachsen.
Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)

Wahrhaftigkeit ist das Fundament des geistigen Lebens. Durch seine Geringschätzung des Denkens hat unser Geschlecht den Sinn für Wahrhaftigkeit und mit ihm auch den für Wahrheit verloren. Darum ist ihm nur dadurch zu helfen, dass man es wieder auf den Weg des Denkens bringt. […] Ich bin der Zuversicht, dass der aus Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Finde ich Menschen, die sich gegen den Geist der Gedankenlosigkeit auflehnen und als Persönlichkeiten lauter und tief genug sind, dass die Ideale ethischen Fortschritts als Kraft von ihnen ausgehen können, so hebt ein Wirken des Geistes an, das vermögend ist, eine neue Gesittung in der Menschheit hervorzubringen. Weil ich auf die Kraft des Geistes und der Wahrheit vertraue, glaube ich an die Zukunft der Menschheit.
Albert Schweitzer (1875–1965)


 

Annemarie Buchholz-Kaiser war die international hoch geschätzte fachliche Leiterin und Supervisorin unseres psychologischen Arbeitskreises. Sie war unsere Lehrerin und Kollegin mit einer besonders breiten fachlichen Ausbildung in allen Humanwissenschaften. Als Schweizer Patriotin war sie eine Historikerin mit grosser politischer Erfahrung und tiefen Kenntnissen in nationaler und internationaler Politik, Geschichte, Philosophie und Naturrecht.

Sie, die gerne und viel las, wusste nur zu gut, dass man Menschenkenntnis, Psychologie und Pädagogik nicht allein aus Büchern lernen kann. Im Zentrum ihrer Arbeit stand wie schon bei ihrem Lehrer Friedrich Liebling das seelisch-geistige Wachstum der menschlichen Persönlichkeit in und durch die soziale Verbundenheit mit den kleinen und grossen kulturellen und politischen Gemeinschaften: das Bonum commune. «Die Menschenrechte leben können, das ist unser Beitrag», sagte sie zum Beispiel 1998 zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Sie lebte, was sie 1989 im Jahresbericht des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM schrieb: «Diese Persönlichkeitsbildung entsteht aber nicht von selbst, sondern nur, indem wir sie entwickeln, sie leben, indem wir sie tun.»[1] Und 1989, zu Beginn der Drogenlegalisierungskampagne in der Schweiz, hiess das für sie: Nicht nur im therapeutischen Sprechzimmer mit allem Wissen und allen Kräften da zu sein für eine Jugend, die einer niederträchtigen Drogenlegalisierung geopfert werden sollte, sondern auch auf nationaler wie internationaler politischer Ebene eine Anti-Drogen-Koalition ins Leben zu rufen – zum Schutz des Lebens der heutigen und kommender Generationen.

Die politische Aufklärung schätzte sie als wertvolles Geschenk der europäischen abendländischen Geschichte. Dieser Epoche verdanken wir das Modell des gewaltenteilenden, demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaates, dessen schönste Blüte das Schweizer direktdemokratische Modell darstellt. Als Psychologin und Philosophin war sie immer auch Historikerin mit Leib und Seele:

«Das Schweizer Modell der direkten Demokratie ist eine Kostbarkeit, weil es der Würde des Menschen Rechnung trägt, weil es soziale Verbundenheit fördert und stärkt, weil regional unterschiedliche Kulturanteile und Religionen in Frieden und in gegenseitigen Respekt bestehen können, weil es den Menschen den grösstmöglichen Grad an Freiheit lässt. Damit wird den anthropologisch-psychologischen Erfordernissen Rechnung getragen. Das ist möglich, lehrt uns die Geschichte, das ist notwendig, lehrt uns die Psychologie.»[2]

Hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück wollte sie weder als Psychologin noch als Historikerin. Das aufklärerische rationale, wissenschaftliche Denken und Argumentieren in der Sache ermöglicht und fordert den Respekt vor dem Andersdenkenden. Das Wahrheitskriterium ist das unbestechliche Prüfen aller Beobachtung und allen Denkens an der Realität. Als Psychologin sah sie dabei die kritische Stelle im Menschenbild der Aufklärung – allerdings ohne Vernunft und Wissenschaften über Bord zu werfen. Der Verstand verbindet sich mit dem mitmenschlichen Fühlen erst zur Kraft der Vernunft. Der personale Strom innerhalb von Psychologie, Pädagogik und Anthropologie im 20. Jahrhundert konnte in ihren Augen mehr Klarheit und Sicherheit geben, um der Hoffnung der Aufklärung sicheren Boden zu verleihen: dem «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant). Das rationale Argument braucht das mitmenschliche Gefühl der sozialen Verbundenheit, damit der Mensch leben kann, was er denkt.
Wie eher selten auf jemanden, so passt auf Annemarie Buchholz-Kaiser das Wort des Historikers und Dichters der Freiheit, Friedrich Schillers, den sie so schätzte: «Lebe in deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben.» Das «Lebe in deinem Jahrhundert» war ihr das Elementarste: leben, nicht träumen! Realist sein. Leben, nicht seine kostbare Lebenszeit vertun, das wollte sie der Jugend zeigen, weder im Rausch noch in der Propaganda, noch im Massenkonsum; nicht im Wahnsinn oder im Selbstmord. Leben hiess für sie immer mitleben mit den «Zeit-Genossen» im wahrsten Sinne des Wortes. Genossenschafter eines Zeitalters sein können sozusagen.

Annemarie Buchholz-Kaiser lebte, was sie lehrte. Und sie lehrte, indem sie vorlebte. Fern jeder Kathederwissenschaft hiess Psychologin-Sein für sie, mitmenschlich denken, fühlen und handeln – gegenüber jedem einzelnen: in Familien und kleinen Gemeinschaften wie auch im Politischen, im Staat und im internationalen Raum. Individuelle Schicksale und die Staaten und Kulturen zu verstehen, in denen sich das geschichtliche Geschehen abspielt, hiess für sie:

«Respekt für Menschen und Völker, für Länder und Kulturen, Masshalten, sorgfältiges Sich-Abstimmen, Geschichte auf personaler Grundlage verstehen als lebendiges Gestalten aller Länder und Völker.»[3]

Leben und Werk von Annemarie Buchholz-Kaiser als Psychologin und Psychotherapeutin stehen in der Tradition der Friedens- und Psychohygiene-Bewegung, die um den Ersten Weltkrieg herum aus der Wiener Schule der Tiefenpsychologie (Sigmund Freud, Alfred Adler) entstand. Ohne diesen Bezug wird man der Breite und Tiefe ihres mitmenschlichen Wirkens, auch über den Rahmen der psychologischen Fakultät hinaus, nicht gerecht.

Einer der Pioniere der Tiefenpsychologie, Alfred Adler, schuf um den Ersten Weltkrieg herum als Reaktion auf das Leid und das Elend des Weltkrieges eine Sozialpsychologie, die er Individualpsychologie nannte. Damit betonte er, dass er immer vom Menschen als Ganzheit (In-dividuum) ausging.

Adler erforschte die Entstehung von seelischem Leid, um dem einzelnen zu helfen. Er sah aber auch, wieviel wirkungsvoller es ist, wenn das psychologische Wissen für die Vermeidung von seelischem Leid eingesetzt wird. Adler erkannte als politisch Aufgeschlossener diese gesellschaftliche Bedeutung der Individualpsychologie: die Erziehung der Erzieher. In allen Bereichen des Lebens das psychologische Wissen und Können vermitteln, um die Menschen zu stärken und die Gesellschaft mehr sozial zu durchbilden. Erziehungs- und Lehrerberatungsstellen und Schulen entstanden in Österreich und Deutschland. In vielen gesellschaftlichen Bereichen setzte eine umfassende Vorsorgetätigkeit ein: Vermeidung von Kriminalität, Suizid und vieles andere mehr. Adler wollte in allen Bereichen der Kultur mehr soziale Verbundenheit bilden helfen – mehr Gemeinschaftsgefühl. Die Menschen sollten im Sinne einer umfassenden Volksbildung seelisch widerstandsfähiger, selbstsicherer, gemeinschaftsfähiger, kooperationsfähiger und gebildeter werden. Das erkannte er als wirkungsvollsten Schutz gegen demagogische Versuche, das Volk zu belügen, sein Geltungsstreben aufzupeitschen und es zum Hass und letztlich zum Krieg gegen andere Nationen oder andere Volksgruppen aufzuhetzen.

Aus mehr an Freud orientierten Kreisen heraus entstand wenig später die Psychohygiene-Bewegung, die dem gleichen sozialpolitischen Engagement verbunden war wie Adler: Auch sie strebten eine umfangreiche Prophylaxe von Verwahrlosung, Kriminalität, Sucht und vielen sozialen Übeln an, vor allem auch dem Krieg – verbunden mit dem Aufbau einer allgemeinen psychologischen Volksbildung, wie sie zum Beispiel im «Psychoanalytischen Volksbuch» zum Ausdruck kam.

Friedrich Liebling, der psychologische Lehrer von Annemarie Buchholz-Kaiser, stammte aus der Adlerschen individualpsychologischen Schule, wurde dort ausgebildet und musste wie viele andere vor dem Nationalsozialismus fliehen, der die breite individualpsychologische Bildungs- und Vorsorgearbeit in Österreich und Deutschland zerschlug.

Seit Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts führte Friedrich Liebling in Zürich eine Praxis unter dem Namen Psychologische Lehr- und Beratungsstelle. Seit den sechziger Jahren hatte er diese weiter ausgebaut und die therapeutische Arbeit um ein immer breiter werdendes Spektrum an Beratungs-, Forschungs- und Bildungsangeboten erweitert. In kleinen, mittleren und grösseren Gesprächskreisen, an Tagungen und Kongressen wurden psychologische, philosophische und gesellschaftspolitische Fragen in allgemeinverständlicher Sprache und an konkreten Beispielen aus dem Zusammenleben erörtert. In etwa vergleichbar einer Volkshochschule oder Institutionen, wie zum Beispiel dem von Adolf Portmann ins Leben gerufenen Bildungswerk «Jugend forscht» oder anderen. Hier konnten sich alle Interessierten – Eltern, Studenten, Ärzte, Lehrer und Angehörige aller Berufe – mit der Bedeutung der Psychologie für alle Lebensbereiche auseinandersetzen. In der Zeitschrift «Psychologische Menschenkenntnis» wurden Ergebnisse der Arbeit veröffentlicht.

Es war eine «Lebensschule», wie sie Friedrich Liebling nannte, die das Anliegen Alfred Adlers und vieler anderer Tiefenpsychologen aufgriff: Nicht nur Heilen, sondern auch Bilden. Seelische Prophylaxe für die kommenden Generationen, Schutz der Heranwachsenden vor Drogen, Kriminalität, Entmutigung, vor seelischem Leid allgemein. Erziehung der Erzieher, und zwar nicht nur in Form von individueller therapeutischer Hilfe oder Beratung, sondern auch im Sinne einer breit verstandenen Psychoedukation, die ein grosses Bildungsangebot umfasste.

Schon während ihrer Studienzeit an der Universität Zürich, wo sie Geschichte, Philosophie und Psychologie studierte, begann Annemarie Buchholz-Kaiser an der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Friedrich Lieblings in Zürich eine individualpsychologische Charakter- und Lehranalyse – eine umfassende praktische therapeutische Ausbildung. Als Assistentin von Friedrich Liebling wurde sie seine engste und fachlich reifste Mitarbeiterin.

Sie schloss bei Professor Wilhelm Keller ihr Universitätsstudium mit der Doktorarbeit über «Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler» ab. In dieser Schrift holte sie den zentralen Gedanken Adlers aus der ideologisch motivierten Vergessenheit für die Fachwelt zurück und schöpfte ihn breit aus:

«Mit dem, was Adler als Gemeinschaftsgefühl bezeichnet hat, das heisst die voll entwickelte Beziehungsfähigkeit von Mensch zu Mensch», schrieb sie 1989, «hat der einzelne einen Massstab in der Hand, um die Auswirkungen seiner Handlungen für sich und den anderen Menschen zu prüfen und abzuwägen. Man solle dem Menschen auf die Hände schauen, nicht auf den Mund, hat Adler öfter gemahnt. An der Handlungsweise zeigt sich, wie weit der einzelne seine eigenen Anliegen auf gesunde Art wahrnehmen und sinnvoll verwirklichen sowie gleichzeitig das Wohl des anderen Menschen im Auge behalten kann. Stärkere soziale Durchbildung der Persönlichkeit, mehr Anteilnahme als ureigenstes Anliegen zu entwickeln, dazu ist nur ein eigenständiges und freies Individuum in der Lage. Freiheit ist dabei ‹Conditio sine qua non›, das heisst unerlässliche Voraussetzung, ohne die es nicht geht. Die Annäherung an dieses Ziel der Persönlichkeitsbildung ist Inhalt des psychotherapeutischen Prozesses. Diese Persönlichkeitsbildung entsteht aber nicht von selbst, sondern nur, indem wir sie entwickeln, sie leben, indem wir sie tun: Das ist individualpsychologische Ethik und Moral.»[4]
Bleiben wir ein paar Augenblicke bei diesen Worten stehen. «Stärkere soziale Durchbildung der Persönlichkeit, mehr Anteilnahme als ureigenstes Anliegen zu entwickeln, ist nur ein eigenständiges und freies Individuum in der Lage», sagt sie, und fährt fort: «Freiheit ist dabei ‹Conditio sine qua non›, das heisst unerlässliche Voraussetzung, ohne die es nicht geht.»

Charakterisiert sie etwas besser als das, was in diesen Worten zum Ausdruck kommt? Sie waren – sowohl aus historisch-politischer Erfahrung als auch aus der psychologischen Praxis heraus – immer ernst, bitterernst gemeint: Ob im Elternhaus oder im Staat: «Stärkere soziale Durchbildung der Persönlichkeit» entwickelt sich nur in Freiheit. Man kann Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit nicht in den Menschen hineinprügeln, kann sie ihm nicht anbefehlen – weder im Elternhaus noch im Staat. Wer Mitmenschlichkeit als Ziel will, der muss sie auch als Mittel wollen. Betroffen hat sie immer wieder auf die vielen mahnenden historischen Beispiele gerade aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts hingewiesen, dass alle Versuche, den Menschen im Namen der Freiheit zu entmündigen und zu unterdrücken, in schrecklichen Desastern endeten.

Soziale Durchbildung der Persönlichkeit geht nicht ohne Freiheit. Das durchdachte und entwickelte sie für alle Bereiche des Lebens, sowohl im grossen – im Politischen, im Staat – als auch im kleinen – im Umgang mit dem einzelnen, in der Erziehung und Bildung, in den Vereinen der Gemeinden. In einem bewundernswert hohen Mass lernte sie diese Grundhaltung zu leben, vorzuleben und dadurch zu lehren. Freiheit war das Kernstück ihrer Auffassung vom Menschen. Sie lehnte für sich und alle, die mit Menschen zu tun haben, jede Form geliehener, aufgeblasener Autorität ab. Ihr Ideal, das sie mit vielen Gleichgesinnten teilte, war die natürliche gelebte Autorität, die auf Vertrauen aufbaut, ehrlich und kritisch dem Gemeinwohl verpflichtet wirkt, dabei konsequent fordernd führt, Wertebewusstsein entwickelt – aber auch die freie Selbstverwaltung, im Staat und zwischen Staaten, gegen das Eindringen von Gewalt, Faustrecht und Machtstreben konsequent verteidigt.

So war sie mit den autoritären sozialistischen Strömungen nicht einverstanden, die meist mit Marx argumentierten, die Menschenrechte und die Freiheit seien bürgerliche Ideologie, und statt dessen totalitäre Regime entwickelten, weil sie dachten, die Freiheit werde erst durch eine Diktatur der «Richtigen» möglich, und weil sie den Menschen nicht als frei geborene Person sahen, mit Würde und Vernunft begabt.

Sie studierte aber auch die demokratischen Ansätze innerhalb der Linken, zum Beispiel die Frühsozialisten oder die jugoslawischen «Praxisphilosophen», die – im Gegensatz zur diktatorischen marxistisch-leninistischen Lösung, aber auch mit Marx – von der Freiheit und Würde des Menschen ausgingen und nicht vom Zwang. Paradigmatisch war ihr dabei immer der Gegensatz im Menschenbild von Marx und Feuerbach: Marx, der dem Menschen eine feste Person-Natur absprach, auf der einen Seite. Im Gegensatz dazu Feuerbach, der den Menschen als soziales Wesen sah, fähig zu Vernunft und Nächstenliebe.

Ausgehend davon wandte sie sich in der Philosophie allgemein den Schulen und Ansätzen zu, die vom Menschen als Person ausgingen. Vom aristotelischen Zoon politikon echon logon – dem Menschen als Gemeinschaftswesen, mit Vernunft und Sprache begabt – über 2 500 Jahre europäische Kulturgeschichte hinweg verfolgte sie die Entwicklung des Naturrechts und des Humanismus bis zu den heutigen Ansätzen von Johannes Messner, Rudolf Weiler, Hideshi Yamada, Martin Kriele und anderen. Sie erkannte, wie sehr die anthropologischen Grundlagen dieser naturrechtlichen Tradition in hohem Masse übereinstimmen mit den anthropologischen Grundlagen der Adlerschen Individualpsychologie und mit anderen Befunden aus der modernen personalen Psychologie, wie sie sie in ihrer Dissertation zusammengetragen hat.

Aus all diesen Bemühungen entstand eine breitgefächerte Zusammenschau von philosophischen, anthropologischen, psychologischen und historischen Aspekten der Conditio humana – des Wesens Mensch. Ihr psychologisches wie politisches Denken, Forschen und Handeln war immer getragen von dem Ethos, in dem Naturrecht und Psychologie übereinstimmen: nämlich dass mit jedem einzelnen Wesen Mensch auch das Recht geboren wird, sich in und durch die kleinen kulturellen Gemeinschaften zu einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu entwickeln; dass Politik dies anerkennen und schützen muss, denn daraus besteht das allgemeine Wohl aller: Politik muss auf Ethik ruhen. Macht allein kann keine Gerechtigkeit erzeugen. Recht muss an ethischen Massstäben gemessen und danach geformt werden, damit es erst gerecht wird. Dass solcherart Politik möglich ist – das war ihre Leitschnur –, das lehrt die Geschichte. Dass sie nötig ist, lehrt die personale Psychologie. Das war ihr ethisches Bekenntnis zum Menschen.

Recht und Unrecht im individuellen Leben wie im Staat und zwischen den Staaten hängen davon ab, wie wir Menschen die Realität wahrnehmen und sie bewerten. Je realistischer wir die Welt und den Menschen wahrnehmen können, um so richtiger und gerechter können wir handeln lernen – so wird ein gutes Leben möglich, und daraus entsteht Glück. Darin stimmen eine naturrechtliche Geschichts- und Staatsauffassung überein mit der Ethik der Individualpsychologie und der ihr geistesverwandten personalen Strömungen.

Aus diesem Zusammenhang heraus ist historisch das europäische Staatsmodell als Gegenmodell zur nackten Machtpolitik entstanden: der friedliche Interessenswettstreit der rivalisierenden religiösen und weltlichen Interessensgruppen unter dem Dach des Verfassungsstaates mit seinen drei Pfeilern Gewaltenteilung, Demokratie und Menschenrecht. Die spezielle Entwicklung des Schweizer Modells ermöglichte dabei als reifste Form des europäischen Staatsmodells mit seinem Föderalismus, der wehrhaften und neutralen direkten Demokratie und der genossenschaftlichen Selbstverwaltung die grösstmögliche Verwirklichung der Freiheit in einer Ordnung, die der menschlichen Sozialnatur bestmöglich angepasst ist und wo die gelebte Souveränität die soziale Garantie der Menschenrechte ist.
Als Tiefenpsychologin ging Annemarie Buchholz-Kaiser dabei von Alfred Adlers Individualpsychologie und anderen personalen Strömungen aus: Kein Kind lernt mitmenschlich denken, fühlen und handeln durch misstrauische Härte und Lieblosigkeit oder durch vernünftelnde Belehrung. Sie erschrecken das Kind, machen es ängstlich und unselbständig und nähren ein gemeinschaftsfeindliches Geltungsstreben statt mitmenschliches Denken und Fühlen. Das Verwahrlosen-Lassen oder das Nicht-erziehen-Wollen oder -Können bewirkt ebenfalls eine innere Haltlosigkeit und Unselbständigkeit des heranwachsenden Kindes. Gleichwohl droht Ähnliches in einem erzieherischen Klima der Verwöhnung, in dem die Eltern dem Kind alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen und es dadurch schwächen, so dass es nicht genügend Mut entwickelt, Aufgaben selbständig zu lösen. Innerlich unselbständig und haltlos versagt es oder verlegt sich darauf, die Menschen zu zwingen, dass sie ihm alles abnehmen, was es sich nicht zutraut.

Nur wenn die erzieherische Hilfe eine Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstentwicklung des Kindes ist (wobei der Erzieher dabei durchaus auch lenkt), dann kann eine «stärkere soziale Durchbildung der Persönlichkeit» stattfinden. Annemarie Buchholz-Kaiser hat sehr genau verfolgt, wie neben den Tiefenpsychologen auch die moderne Entwicklungspsychologie die seelische Haltung des Erziehers beschrieben hat, durch die eine vertraute Bindung in Freiheit beim Kind entstehen kann. Der gute Erzieher weiss, dass er das kindliche Entwicklungsstreben, seine schöpferischen Kräfte, dass er das kindliche Streben nach Beziehung zum Mitmenschen nicht hervorbringen muss, ja dass er es gar nicht «herstellen» kann und dass er mitmenschliches Denken und Fühlen nicht in das Kind «hinein»erziehen kann oder muss. Jede hochmütige, sich selbst überschätzende Attitüde des Erziehers ist unangebracht und sollte der Hochachtung vor der Würde des Kindes und vor dessen sozialer Eigenaktivität weichen, die es mit auf die Welt bringt. Er soll der Wächter des sich entwickelnden Gemeinschaftsgefühls, der sozialen Anlage sein und ihr die richtige Richtung geben: mitmenschlich denken, fühlen und handeln. «Es ist wie auf einer Autobahn», sagte Annemarie Buchholz-Kaiser einmal: «Jeder soll so fahren, dass alle gesund am Ziel ankommen.»

Adolf Portmann, den sie wegen seiner personalen Anthropologie sehr achtete, hat diesen Grundzusammenhang formuliert: Die Entwicklung von Individualität und Eigenständigkeit jeder einzelnen Persönlichkeit gelingt um so besser, je mehr die menschlichen Gemeinschaften, in denen wir leben, sozial durchbildet sind. Diese soziale Durchbildung hängt umgekehrt wiederum davon ab, wie gut sich Individualität und Eigenständigkeit in jedem Mitglied entwickeln. Das Glück und die Freiheit jeder einzelnen Person sind untrennbar daran geknüpft, ob sie sich in und durch Gemeinschaft frei entfalten kann: Das gelingt nur in ehrlicher gleichwertiger Kooperation, die Lösungen für alle entwickeln will. Die philosophische Tradition, vor allem auch die katholische Soziallehre, der Annemarie Buchholz-Kaiser sehr verbunden war, hat das unter dem Begriff des Gemeinwohls beschrieben.

Bei ihrem Lehrer Friedrich Liebling an der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle hatte sie diese gelebte Ethik gefunden, das Werk aufgegriffen und mit ihm zusammen daran weitergearbeitet. Und nach seinem Tod baute sie das Werk unbeirrt weiter aus – auf eigenen Wegen.

Als sie zum Beispiel 1989 formulierte «Diese Persönlichkeitsbildung entsteht aber nicht von selbst, sondern nur, indem wir sie entwickeln, sie leben, indem wir sie tun»,[5] da hiess das für sie: Nicht nur im therapeutischen Sprechzimmer mit allem Wissen und allen Kräften da zu sein für eine Jugend, die einer niederträchtigen Drogenlegalisierung geopfert werden sollte, sondern auch auf nationaler wie internationaler politischer Ebene eine Anti-Drogen-Koalition ins Leben zu rufen – zum Schutz des Lebens der heutigen und kommender Generationen.

Das hatte sie im Elternhaus und später vor allem in der Zürcher Schule für Psychotherapie von Friedrich Liebling sowohl als zwischenmenschliche als auch als wissenschaftliche Grundhaltung entwickelt: Die Entwicklung der Kinder zu schützen ist eine wichtige Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Und der Erzieher muss aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben, und es muss ihn interessieren, was die Entwicklung der Kinder und aller Menschen fördert und was sie behindert. Bis hin zu der Frage von Krieg und Frieden, die nicht zuletzt auch an die Erzieher als Hüter der kindlichen Entwicklung gerichtet ist.

1998 jährte sich die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum fünfzigsten Mal, und Annemarie Buchholz-Kaiser hielt während der Sommergespräche des VPM jeweils an den Nachmittagen ein vierzehntägiges Seminar zum Thema Menschenrechte. An den Vormittagen ging es um konkrete Erziehungsfragen, und am Abend wurden allgemeinpolitische Themen besprochen. Alle drei Veranstaltungen des Tages griffen ineinander und ergänzten sich: «Es geht darum, die Menschenrechte zu leben, das ist unser Beitrag zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte», sagte sie.

Wie empört war sie, als im gleichen Jahr auf der Jahresversammlung der nordamerikanischen Anthropologischen Gesellschaft menschenverachtende Themen in die Humanwissenschaften eindrangen: Auffallend viele Symposien mit Titeln wie «Der Mensch als Krebsgeschwür der Erde», «Die Armen sollten sich selbst helfen» propagierten die Wiederbelebung des Malthusianismus’. Sie kannte als Historikerin sehr genau den geschichtlichen Bezug: Als diese Vorträge 1998 in Philadelphia gehalten wurden, lagen die Angriffspläne für die Kriege der nächsten Jahre längst fertig in den Schubladen. «Menschenrechte und Krieg sind wie Feuer und Wasser», rief sie immer wieder aus. «Die Menschenrechte sind der Schutz des einzelnen vor dem übermächtigen Staat.»

Vom Menschen und seiner Sozialnatur ausgehend, dachte sie immer sowohl ins Individuelle als auch ins Politische hinein. Psychotherapeutisch zu arbeiten, ohne dabei immer auch die konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Leidenden verstehen zu wollen, war ihr ebenso fremd wie sich mit Geschichte und Politik zu befassen, ohne dabei auch von den Grundbedingungen der menschlichen Sozialnatur, von der Person des Menschen und den Gesetzmässigkeiten des Gemeinschaftslebens auszugehen. Wir persönlich kennen niemanden aus Philosophie, Naturrecht, Anthropologie und Psychologie – ohne nur einen der vielen Autoren, die wir kennen und schätzen, auch nur im geringsten dabei schmälern zu wollen – der dieses Vermächtnis aus den Anfängen der personalen Tiefenpsychologie von Adler her so konsequent weiterentwickelt und zu so hoher Blüte gebracht hätte wie sie.

Und das leitet uns zu einer letzten Bemerkung: Das alles hat Annemarie Buchholz-Kaiser getan, weil sie das, was ein Mensch sein kann, so bewundernswert tiefgründig und breit ausgeschöpft hat. Aber das konnte sie nur, weil sie gute Lehrer hatte und weil alle anderen, die mit ihr diesen Weg ein Stück gegangen sind, weil wir alle, wie sie, mit dieser zutiefst menschlichen Fähigkeit geboren worden sind: Mitmensch sein können, auf der Seite des Lebens stehend. Es war eine gemeinsame Wanderung. Es bleibt eine gemeinsame Wanderung. Nun aber ohne sie. Denn das ist die Aufgabe, die der Menschheit auf ewig gestellt ist. Und sie geht weiter mit Annemarie Buchholz-Kaiser im Herzen. Schauen wir, dass wir das Unsere tun: dass die Menschheit das nicht mehr verliert!

Wir alle haben Annemarie Buchholz-Kaiser als Menschen kennengelernt, der sich mit vollem Engagement in alle Fragen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens vertiefte und sich bei allem, was sie tat, als Mensch mit ihrer ganzen Persönlichkeit von gleich zu gleich eingab. Das ermöglichte ihr das, was sie dann auch in der Ausbildung der Psychologen für zentral hielt: Nämlich das breite Spektrum an Ausbildungsmöglichkeiten an der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle von Friedrich Liebling mit den vielfältigen Gruppen, Seminaren und Kursen und der Möglichkeit zur therapeutischen Ausbildung voll auszuschöpfen und sich durch unermüdliches Vertiefen in individuelle Lebensläufe und Fragestellungen aus verschiedensten Lebensbereichen, durch aktive Teilnahme und Mitarbeit in Gruppengesprächen und Seminaren einen einzigartigen Fundus an Wissen und therapeutischer Erfahrung anzueignen. Lernen in all seinen Aspekten war ihr Selbstverständlichkeit und zur Wesensnatur geworden. Den Fragen auf den Grund gehen, sie durchdringen und in ihren Zusammenhängen erfassen und sie dabei immer auch in ihren gefühlsmässigen Anteilen erschliessen, das lebte sie in allen Bereichen. Das umfasste auch die stete Weiterentwicklung und Vertiefung ihres Einfühlungsvermögens, um jeden Menschen in seiner je individuellen Einzigartigkeit besser verstehen zu können. Wie kein anderer Mitarbeiter Friedrich Lieblings hat sie damit auch einen Zugang zum Verständnis des therapeutischen Prozesses gefunden.

Die Haltung der Gleichwertigkeit und die Wahrung der unbedingten Freiwilligkeit im therapeutischen Gespräch waren ihr gelebte Selbst­ver­ständ­lich­keit. Theoretisch und praktisch weiterentwickelt hat Annemarie Buchholz-Kaiser auch eine therapeutische Haltung, die sich nicht auf das Erfassen einer Schwierigkeit oder eines Problems beschränkte, sondern bei jedem Menschen von Anfang an immer auch seine Stärken und sein Potential wahrnimmt und fördert. Damit war es Annemarie Buchholz-Kaiser auch möglich, Gesprächskreise mit Kindern und Jugendlichen aufzubauen, die einzigartig waren. Es gelang ihr, Kinder und Jugendliche von sechs bis vierzehn Jahren in einer Jugendgruppe zusammenzuführen, in der diese all ihre Fragen ansprechen konnten, zum Beispiel zu Schulalltag, Freundschaft und vieles mehr, später in einer Jugendgruppe auch allgemeine Menschheitsfragen. Mit ihrer emotional aktiven Haltung und Anteilnahme führte sie diese Gespräche ohne belehrend zu sein so, dass Kinder wie Jugendliche Zugang zu menschlichen Gefühlen, mehrVerständnis füreinander und für andere Menschen entwickeln konnten und in ihrer Persönlichkeit reifer und gefestigter wurden. Immer stärkte sie damit auch die mitmenschliche Verbundenheit untereinander und in den Familien.

Dazu soll Annemarie Buchholz-Kaiser selbst zu Wort kommen. Es handelt sich um einen Auszug aus einem Vortrag, den sie 1985 am 16. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie in Montreal gehalten hat. Die hier geäusserten Gedanken zur Gesprächsführung mit Jugendlichen gelten allerdings genauso für jede Form der Psychotherapie und waren Grundlage ihrer Tätigkeit in allen Bereichen:

«Die Haltung der Gleichwertigkeit, die für das Gelingen jeder Therapiegruppe Conditio sine qua non ist, wird am deutlichsten in Gruppenprozessen mit Jugendlichen auf die Probe gestellt. Wir machen die Erfahrung, dass Jugendliche (Gymnasiasten wie Lehrlinge) ausserordentlich interessiert und für individual­psychologische Gedankengänge aufnahmefähig sein können. Gerade in diesem Alter überfällt viele ein Gefühl der Sinnlosigkeit, und eine Entmutigung nimmt überhand: Sie sehen sich in eine Welt hineinwachsen, in der sie von Krieg bedroht sind, in der es schwer ist, menschliche Werte und Ideale zu verwirklichen, und in der kaum eine Gruppierung eine echte und dauerhafte Lösung für die anstehenden Probleme weiss. Hier geben ihnen die Adlerschen Gedankengänge ein Rüstzeug in die Hand, Menschsein und Mitmenschsein sinnvoll zu verwirklichen. In diesem Sinne ist bei Jugendlichen eine grosse Bereitschaft da, sich mit Individualpsychologie auseinanderzusetzen. Schwerer ist es für sie unter Umständen, die persönlichen Anteile aufkommen zu lassen und zu bearbeiten, da die Angst vor massiver Unterlegenheit in ihrer Altersgruppe noch stärker ist als bei Erwachsenen. Gerade deshalb aber kann sich die Gruppenanalyse in ihrer Altersgruppe sehr ermutigend auswirken. Das Erlebnis, dass andere an ähnlichen Problemen und Schwächen leiden, mildert die Empfindlichkeit und stärkt die Hoffnung, einen Ausweg gemeinsam zu entwickeln.
Der Psychologe muss bei Jugendlichen emotional sehr aktiv und ermutigend sein, in Deutungen und Stellungnahmen jedoch äusserst vorsichtig, im Gruppenprozess zurückhaltend mitlebend. Es darf bei ihm keine Spur von Überheblichkeit bestehen. Es darf auch nicht ein Zurkenntnisnehmen ihrer Probleme vom Standort desjenigen sein, der das alles glücklicherweise schon hinter sich hat, und es soll auch kein Belehren-Wollen zum Ausdruck kommen, und zwar nicht nur als angewandte Technik, sondern als Haltung, die zutiefst gelebt werden muss. Psychologen, die nur im Habitus des ‹Erwachsenen› dem ‹Jugendlichen› begegnen können beziehungsweise die in der Haltung von Erziehern etwas von ihnen wollen, eignen sich nicht für Gruppenprozesse mit Jugendlichen; auch Psychologen, die sich aus Unsicherheit den Jugendlichen anbiedern, indem sie sich scheinbar auf ihre Stufe stellen, werden Schiffbruch erleiden.»[6]

Es erübrigt sich beizufügen, dass das auch für Gruppen mit Erwachsenen gilt. Vielmehr gilt es, wie sie hier selbst sagt, für jeden therapeutischen Prozess: für das Einzelgespräch genauso wie für das therapeutische Gruppengespräch. Es sind dies ein paar Grundlagen dessen, was in der therapeutischen Arbeit von entscheidender Bedeutung ist, Grundlagen, die wir weiter aufarbeiten und darstellen müssen. Das wird Aufgabe für kommende Jahre sein.

Dieses Bewusstsein von der Notwendigkeit der Gleichwertigkeit in jeder therapeutischen Beziehung führt auch noch zu einem weiteren Aspekt des Wirkens von Annemarie Buchholz-Kaiser: Die Lebensfragen der Menschen sind keine theoretischen Themen, denen man sich auf einer abstrakt «professionellen» Ebene nähern kann. Wirklich behilflich sein kann ich nur, wenn ich mich selber in eine Fragestellung vertieft habe, sie durchdacht und vor allem auch emotional nachvollzogen habe. Das bedeutet auch, dass gesellschaftliche Herausforderungen und Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich der Kindererziehung, stets verfolgt, mitdurchdacht, auf ihre Folgen für die seelische Entwicklung der Kinder und die Aufgabe von Eltern und Erziehern reflektiert werden müssen. Damit in Zusammenhang steht daher auch Annemarie Buchholz-Kaisers Reaktion auf die Fragen der Drogenliberalisierungskampagne und der Schulreformen Ende der 1980er und in den 1990er Jahren – mit all ihren Folgen.

Ausgehend von den Sorgen von Eltern und Lehrern, die zunehmend mit der Frage des Drogenkonsums ihrer Kinder und Schüler konfrontiert waren, begannen wir uns im Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM vermehrt mit der Drogenproblematik zu befassen. Auch in dieser Frage zeigten sich wieder die Umsicht und der Weitblick Annemarie Buchholz-Kaisers. Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern knüpfte sie Kontakte zu den führenden Forschern der internationalen Fachwelt in den Bereichen der Suchtprophylaxe und der Pharmakologie der Rauschgifte. Die internationalen Forschungsergebnisse über die Wirkung von Drogen und vor allem alle Aspekte und Erfahrungen in der Drogenprävention wurden zusammengetragen und sollten allen Eltern und Lehrern als Unterstützung in ihren Sorgen und Bemühungen zur Verfügung stehen. Es entwickelten sich Kontakte zu Fachkreisen in aller Welt: USA, Kanada, Schweden, Deutschland, Frankreich, Italien, Holland und anderen Ländern, vor allem auch in die Vereinten Nationen und zum Internationalen Suchtstoffkontrollrat der Uno. Dadurch entstanden die Anlässe zum Internationalen Tag der Uno gegen Drogen jeweils am 26. Juni. Vor allem veranstaltete der VPM 1990 das I. Internationale Symposium gegen Drogen in der Schweiz. Gabriel Nahas, Professor in Paris und New York, eine internationale Kapazität auf dem Gebiet der Pathophysiologie der Rauschgifte wie der Drogenprävention und damals der General Chairman des Symposiums, würdigte dies mit folgenden Worten:

«Dieses Symposium über die Pathophysiologie der Rauschgifte wurde von Frau Dr. Buchholz-Kaiser, Frau Dr. Franziska ­Haller und dem grossartigen Team des VPM in bemerkenswerter Weise organisiert. Im Namen aller Teilnehmer möchte ich ihnen danken. Zum ersten Mal hatten die Einwohner Zürichs die Gelegenheit, die kompetentesten Wissenschaftler der Welt bei der Erörterung ihrer Forschungsergebnisse zur Pathophysiologie der Rauschgifte zu hören.»[7]

Dass das ihr und dem VPM eine für die Schweiz in ihrer Gehässigkeit und Schärfe einmalige politisch motivierte Verleumdungskampagne durch die Medien einbrachte, ist eine Schande und, angesichts verlorener Lebensjahre, verunmöglichter Hilfeleistung und Unterstützung, auch für das Gemeinwohl eine Tragik – politisch wie menschlich. Zurückholen lässt sich das alles nicht. Aber eine vollumfängliche öffentliche Rehabilitation wäre Ausdruck eines Mindestmasses an menschlichem Anstand.

Aber Annemarie Buchholz-Kaiser wäre nicht Annemarie Buchholz-Kaiser gewesen, wenn sie sich angesichts solcher Angriffe vom Anliegen der redlichen Auseinandersetzung mit den anstehenden Fragen und der Hilfelei­stung und Prävention hätte abbringen lassen. Es begann eine Zeit intensiver Auseinandersetzung damit, woher die ganz offensichtlich politisch motivierten Angriffe stammten, deren Urheber jeglicher offenen Sachdiskussion auswichen. Die internationalen Kontakte, die wir im Bereich der Drogenprävention geknüpft hatten, berichteten von analogen Abläufen in anderen Ländern. Und nebenbei: Hätte man diese Erfahrungen – zum Beispiel aus Schweden – damals ernsthaft geprüft, hätte man vielen Familien in der Schweiz grosses Leid ersparen können. Statt dessen statuierte man am Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis ein Exempel, um gewisse Sachdiskussionen in der Öffentlichkeit abzuwürgen und die Politik der offenen Drogenszene durchzusetzen.

Ebenso giftige Attacken löste es aus, dass Annemarie Buchholz-Kaiser und der VPM die laufenden Schulreformen analysierten und eine allgemeine Diskussion darüber initiierten. Viele Lehrer waren in Aus- und Weiterbildungen mit neuen Vorstellungen von Schule konfrontiert, deren pädagogischen Sinn sie bezweifelten. Die Ende der 1980er Jahre einsetzende Reformwelle, die steten Attacken gegen bewährte Formen des Klassenunterrichts und gegen die Lehrerpersönlichkeit, oft genug gegen das Lernen und die Schule überhaupt, forderten geradezu eine Auseinandersetzung mit den Hintergründen und den geistigen Urhebern dieser antipädagogischen Welle. Es entstand das dreibändige Werk «Standort Schule», Stoff genug für eine konkrete inhaltliche Debatte. Statt sich einer offenen und ehrlichen Sachdiskussion zu stellen, begann man – unter Mitwirkung der Zürcher Erziehungsdirektion –, die Position des Vereins zu diffamieren und die Lehrer, die sich dort weiterbildeten, persönlich zu drangsalieren. Obwohl man auch in der Zürcher Erziehungsdirektion wusste, dass die betroffenen Lehrkräfte bis dahin allesamt geschätzte Pädagoginnen und Kollegen waren, die viel persönliches Engagement in ihre Arbeit legten, versuchte man sie aus den Stellen zu drängen, und verwehrte ihnen gezielt Aufstiegsmöglichkeiten an Schule und Universität.

In der Öffentlichkeit wurde ein mieses Konstrukt über Annemarie Buchholz-Kaiser und den VPM aufgebaut, mit dem auch alle anderen davon abgehalten werden sollten, sich inhaltlich mit den aufgeworfenen Fragen zu Drogenpolitik, Schulreformen und anderen gesellschaftlichen Fragen zu befassen.

Damit begann für uns im VPM ein von aussen aufgezwungener, aber schlussendlich sehr lehrreicher Prozess der Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Rechtsstaates und der Rechte der Bürger. Durch und durch im demokratischen Rechtsstaat verankert war Annemarie Buchholz-Kaiser überzeugt, dass einer solchen Hetzkampagne gegen eine zutiefst redliche und aufrichtige Arbeit mit allen rechtlichen Mitteln, die dem Bürger hier zur Verfügung stehen, entgegenzutreten ist. Es kostete viel Einsatz und Arbeit – und sie selbst wohl nicht nur Gesundheit, sondern auch Lebensjahre –, um dem Recht auf freie Meinungsäusserung und Vereinsfreiheit und anderen Grundprinzipien einer Demokratie wie der unsrigen wieder Nachachtung zu verschaffen.

Alle, die diese Zeit mit Annemarie Buchholz-Kaiser persönlich mit durchlebt haben, sind ihr bis heute zutiefst dankbar für ihr Engagement und ihre Aufrichtigkeit. Ihr unablässiges Fragen und Suchen nach den Hintergründen und ihre persönliche Standhaftigkeit in dieser ganzen Auseinandersetzung, in der sie persönlich die härtesten Angriffe erleben musste, haben bei vielen etwas in Gang gesetzt, was man als vertiefte politische Bildung, als Auseinandersetzung mit der Frage staatsbürgerlicher und menschlicher Verantwortung bezeichnen könnte.

Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen regte Annemarie Buchholz-Kaiser im Jahr 1993 auch an, eine eigene Zeitung, «Zeit-Fragen», herauszugeben. Unser Arbeitskreis hat sich damit eine Möglichkeit geschaffen, unabhängig von den Mainstream-Medien einen eigenen Standpunkt einzubringen: einen menschlichen Standpunkt, der sich jenseits von parteipolitischen Bindungen und Interessen nur dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Ein Standpunkt, der auch die ganzen kulturellen, sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen von einem personalen Standpunkt aus beleuchtet.

Für viele unserer Leser war es zunächst schwer vorstellbar, dass es so etwas gibt. Und doch ist es genau das, was wir von Annemarie Buchholz-Kaiser gelernt haben, was die Menschen anspricht und was Vertrauen schafft: dieses unabhängige Denken, das sie immer vertreten und verkörpert hat, das stets danach fragt, was dem Menschen, dem Menschsein entspricht, und nach tragfähigen Lösungen für alle sucht.

Sie wollte einen menschlichen Ton in die alltägliche Auseinandersetzung auch in politischen Fragen einbringen, eine Stimme für die Menschlichkeit, für das Völkerrecht, für das freie Denken jenseits von Partei- und Interessenbindungen. Nicht nur, aber auch bei «Zeit-Fragen» erlebten wir oft, dass Annemarie Buchholz-Kaiser nicht starr ein Prinzip verfolgte, sondern die Gestaltung der Zeitung immer den Erfordernissen der Zeit und der Situation anpasste. Über rege persönliche Kontakte und Diskussionen hinaus verfolgte sie das Geschehen in zahlreichen Medien, Zeitschriften und Rundschreiben aller Art, um auf diese Weise in Fühlungnahme mit möglichst vielen Bereichen und der Gesellschaft zu sein. Ein wichtiger von ihr angeregter Schritt war zum Beispiel die Ausweitung der Zeitung auf eine französische («Horizons et débats»), später auch eine englische Ausgabe («Current Concerns»), die auch durch eine italienische («Discorso libero») ergänzt wird.

Dabei legte sie Wert und Gewicht auf das Übersetzen – keine einfach abzuspulende Arbeit, sondern eine anspruchsvolle Tätigkeit, bei der man sich in den Text eindenken und versuchen muss, in der eigenen oder in der anderen Sprache die Worte zu finden, die dem Ton und dem emotionalen und geistigen Gehalt des ursprünglichen Textes entsprechen und den Leser des anderssprachigen Kulturkreises ebenso ansprechen.

Oft hatten wir anfänglich das Gefühl: «Lässt sich das schaffen?» Ihre unerschütterliche Zuversicht und Sicherheit, dass mit dem Willen auch ein Weg zusammen mit unserer ganzen Gemeinschaft zu finden ist, hat alle Hindernisse überwunden. So ist auch «Zeit-Fragen» genauso wie ihr ganzes Lebenswerk ein Ausdruck einer Zuversicht, die aus der tiefen Überzeugung von der Fähigkeit des Menschen schöpft, unendlich vieles zu bewältigen, wenn er sich zusammenschliesst und in der Gemeinschaft kooperiert. Anders hätten wir das alle nie zustande gebracht. Und es soll uns Orientierung sein und Richtschnur für unser zukünftiges gemeinsames Tun in allen Bereichen.

 

 

Literatur

Buchholz-Kaiser, Annemarie. Standortbestimmung. Zum Jahresbeginn 1989. In: Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis VPM (Hrsg.). Jahresbericht, Zürich 1989

Buchholz-Kaiser, Annemarie. Die Menschen stärken. Unveröffentlichtes Manuskript, Zürich 2000

Buchholz-Kaiser, Annemarie. Europa der Vaterländer – eine andere Art des Denkens. In: «Zeit-Fragen» Nr. 41 vom 10.10.2011

Buchholz-Kaiser, Annemarie. Individualpsychologische Bildungsarbeit. Aspekte der analytischen Bearbeitung von Persönlichkeitsproblemen in Gruppen. Vortrag, gehalten am 16. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie vom 7. bis 10. Juli 1985 in Montreal. Zürich: Verlag Menschenkenntnis 1991

I. Internationales Symposium gegen Drogen in der Schweiz. Wege zu einer drogenfreien Gesellschaft und Pathophysiologie der Rauschgifte. Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis VPM (Hrsg.), Zürich: Verlag Menschenkenntnis 1991

 

 

Anmerkungen

[1]      Buchholz-Kaiser, 1989, S. 23

[2]      Buchholz-Kaiser, 2000, S. 24

[3]      Buchholz-Kaiser,  2011, S. 3

[4]      Buchholz-Kaiser, 1989, S. 23

[5]      Buchholz-Kaiser, 1989, S. 23

[6]      Buchholz-Kaiser, 1991, S. 23

[7]      I. Internationales Symposium gegen Drogen in der Schweiz 1991, S. 361

 

Personale Psychologie und Pädagogik, Heft 3, Mai 2018

Autor

Erika Vögeli und Moritz Nestor

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