Erfinder des ADHS: «ADHS ist eine fabrizierte Erkrankung»

2012 Moritz Nestor

Die schweizerische Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK (Präsident: Otfried Höffe) hat sich in ihrer Stellungnahme vom 22. November 2011 mit dem Titel: Über die «Verbesserung» des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen[1] erfreulicherweise sehr kritisch mit der Verwendung des ADHS-Medikaments Ritalin befasst: Das Verhalten des Kindes werde durch Chemie ohne jegliche Eigenleistung beeinflusst. Das sei ein Eingriff in die Freiheit und die Persönlichkeitsrechte des Kindes, denn chemische Wirkstoffe verursachten zwar gewisse Verhaltensänderungen, das Kind lerne aber unter Chemie nicht, wie es sein Verhalten selbst ändern könne. Damit würden ihm wichtige Lernerfahrungen für eigenverantwortliches und mitmenschliches Handeln vorenthalten, «die Freiheit des Kindes empfindlich eingeschränkt und es in seiner Persönlichkeitsentwicklung gehemmt», kritisiert die NEK.

Schützenhilfe kommt für die alarmierten Kritiker der Ritalin-Katastrophe jetzt von ganz anderer Seite. Der Spiegel zitiert am 6.2.2012 in seiner Titelgeschichte den 1922 als Sohn von russisch-jüdischen Einwanderern geborenen US-amerikanischen Psychiater Leon Eisenberg, den «wissenschaftlichen Vater von ADHS», der sieben Monate vor seinem Tod in seinem letzten Interview im Alter von 87 Jahren sagte:

 

«ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung.»[2]

 

Seit 1968 aber, rund 40 Jahre lang, geisterte Leon Eisenbergs «Krankheit» durch die diagnostischen und statistischen Manuale, zunächst als «hyperkinetische Reaktion im Kindesalter», heute als «ADHS». Der Verbrauch von ADHS-Medikamenten stieg in Deutschland in nur acht Jahren von 34 kg (1993) auf die Rekordsumme von sage und schreibe 1760 kg (2011) – das ist ein 51mal grösserer Umsatz! In den USA schluckt von den zehnjährigen Jungen bereits jeder zehnte täglich ein ADHS-Medikament. Tendenz steigend.[3]

Wenn es zum erprobten Repertoire von Bernays, dem Vater der Propaganda, gehörte, seinem Volk mit der Psychoanalyse seines Onkels Sigmund Freud den Ersten Weltkrieg zu verkaufen und die Wissenschaft und das Vertrauen in die Wissenschaft zur Profitsteigerung der Industrie zu missbrauchen – wie wäre es, wenn man einmal schauen würde, in wessen Auftrag der «wissenschaftliche Vater von ADHS» Wissenschaft betrieb? Seine Karriere war auffallend steil, und seine «fabrizierte Erkrankung» hat zu besten Umsatzsteigerungen geführt. Und immerhin arbeitete er von 2006 bis 2009 im «Committee for DSM V and ICD XII, American Psychiatric Association»[4] mit. Und immerhin erhielt Leon Eisenberg 2003 von der National Alliance for Research on Schizophrenia and Depression NARSAD «den Ruane Preis für Kinder- und Jugendpsychiatrieforschung. Er war über 40 Jahre lang führender Kinderpsychiater auf Grund seiner pharmakologischen Versuche, Forschung, Lehre und sozialen Verfahrensweise und für seine Theorien zu Autismus und Sozialmedizin.»[5] Und immerhin war Eisenberg Mitglied im «Organizing Committee for Women and Medicine Conference, ­Bahamas, November 29 – December 3, 2006, Josiah Macy Foundation (2006)».[6] Die Josiah Macy Foundation organisierte während und lange nach dem Zweiten Weltkrieg Konferenzen mit Nachrichtendienstmitarbeitern des OSS, des späteren CIA, wie Gregory Bateson und Heinz von Foerster.

Haben solcherart Kreise die Diagnose ADHS im Dienste des Pharmamarktes und für ihn massgeschneidert und mit viel Propaganda bzw. Public Relations vermarktet? Genau dieser Frage gingen die US-amerikanische Psychologin Lisa Cosgrove und andere in ihrer Studie Financial Ties between DSM-IV Panel Members and the Pharmaceutical Industry[7] [Finanzielle Verbindungen zwischen DSM-IV Panel Mitgliedern und der pharmazeutischen Industrie] nach und entdeckten: «Von den 170 Mitgliedern des DSM Panels hatten 95 (56%) eine oder mehrere finanzielle Verbindungen zu Unternehmen der pharmazeutischen Industrie. Hundert Prozent der Mitglieder des Panels für ‹affektive Störungen› und ‹Schizophrenie und andere psychotische Störungen› hatten finanzielle Beziehungen zu Arzneimittelherstellern. […] Die Verbindungen sind besonders stark in denjenigen diagnostischen Bereichen, in denen Medikamente die erste Stufe der Behandlung seelischer Störungen darstellen.»[8] In der nächsten Auflage des Manuals ist die Situation unverändert: «Von den 137 Mitgliedern des DSM-V Panels, die Offenlegungserklärungen abgegeben hatten, haben 56% Beziehungen zur Industrie gemeldet – keine Verbesserung des Prozentsatzes gegenüber den DSM-IV Mitgliedern.»[9] Daher kommt Irwin Savodnik, Professor für Psychiatrie an der University of California in Los Angeles, zu dem Schluss: «Das eigentliche Vokabular der Psychiatrie wird gegenwärtig auf allen Ebenen durch die pharmazeutische Industrie definiert.»[10]

Dafür wird gut bezahlt. Nur ein Beispiel: Der Assistant Director der Pediatric Psychopharmacology Unit am Massachusetts General Hospital und Associate Professor of Psychiatry an der Harvard Medical School erhielt «zwischen 2000 und 2007 eine Million Dollar an Einnahmen von Arzneimittelherstellern».[11]

Auf jeden Fall kommt jetzt niemand mehr so schnell an der Aussage des Vaters von ADHS vorbei: «ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung

Psychologen, Pädagogen und Ärzte sind nicht dazu da, Kinder an die «chemische Leine» zu legen, weil die ganze Gesellschaft mit den Produkten ihrer verfehlten Theorien vom Menschen und der Kindererziehung nicht fertig wird und statt dessen unsere Kinder dem freien Pharmamarkt überantwortet. Erinnern wir uns wieder an die Grundsubstanz personaler Psychologie und Pädagogik: Das Kind soll unter kundiger Führung eigenverantwortliches und mitmenschliches Handeln erwerben – und dazu braucht es die Familie und die Schule: In diesen Feldern soll es seelisch reifen können. Das macht den Kern der menschlichen Person aus.
Deutscher Text als pdf: Zeit-Fragen Nr.8 vom 20.2.2012: Erfinder des ADHS: «ADHS ist eine fabrizierte Erkrankung»

 


 

1    Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin: Über die ‹Verbesserung› des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen. Stellungnahme Nr. 18/2011, Bern, Oktober 2011. URL: http://www.bag.admin.ch/nek-cne/04229/04232/index.html?lang=de  (6.2.2012)
2    Blech, Jörg: Schwermut ohne Scham. In: Der Spiegel, Nr. 6/6.2.12, S. 122–131, S. 128.
3    Blech, S. 127.
4    http://en.wikipedia.org/wiki/Leon_Eisenberg  (6.2.2012)
5    http://psychnews.psychiatryonline.org/newsarticle.asp?articleid=107051&RelatedNewsArticles=true  (6.2.2012 17:59:18)
6    http://en.wikipedia.org/wiki/Leon_Eisenberg  (6.2.2012 17:59:25)
7    Cosgrove, Lisa et al.: Financial Ties between DSM-IV Panel Members and the Pharmaceutical Industry. In: Psychother Psychosom 2006;75:154–160 (DOI: 10.1159/000091772)
8    Cosgrove, Lisa et al., S. 154
9    DSM Panel Members Still Getting Pharma Funds. URL: http://www.cchrint.org/tag/lisa-cosgrove/ (8.2.2012 23:21:29)
10    Woods, Tyler: Experts Who Write for the DSM Have Financial Ties With Pharmaceutical Companies. MaxHealth vom 11.2.2010 URL: http://www.emaxhealth.com/1357/7/35563/experts-who-write-dsm-have-financial-ties-pharmaceutical-companies.html  (8.2.2012 23:24:03)
11    Vgl. DSM Panel Members Still Getting Pharma Funds.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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