Moritz Nestor
Am Symposium «Vertrauen als Grundwert in Psychiatrie und Psychotherapie» am 6. September 2018, veranstaltet von der Klinik Hohenegg in Meilen, wurde der ergraute, geistig rüstige Psychiater Luc Chiompi gefragt: «Herr Chiompi, Sie überblicken die gesamte Ära der letzten fünfzig, sechzig Jahre: Was denken Sie, was muss die nachfolgende Generation revidieren, um den Modellen von partnerschaftlichem Umgang auch mit Psychose-Erkrankten mehr Gewicht zu verleihen?»
Und Luc Chiompi schuf mit seiner Antwort für uns Zuhörer und die nächste Generation etwas über den Tod hinaus Bleibendes: «Ich glaube,» sagte er nämlich,
«die Menschen, die in der Psychiatrie arbeiten, und zwar auf jeder Stufe, bis zum Empfangspersonal, aber dann auch bis zur Reinemachefrau, bis zu jener Frau, die dem Patienten ‘guten Morgen’ sagt – bis zu den Ärzten, bis zu den Direktoren, bis zu den Managern, eben alle, die dazugehören: Die dürfen nur dort arbeiten, wenn sie mit Herz arbeiten. Das finde ich die zentrale Forderung. Ohne Herz – ich glaube, es ist verständlich, was ich damit meine, ich könnte noch allerhand dazu sagen – kann man einfach in der Psychiatrie nicht arbeiten – und zwar gerade auch im Management nicht; und auch anderswo nicht –, wenn man nicht ein Mitfühlen hat, ein Mitgefühl, worum es eigentlich geht: Es geht nicht um Gewinnoptimierung. Es geht nicht um Ansehen. Es geht nicht um alles Mögliche. Sondern es geht darum, dass diesen Menschen in Not geholfen werden soll. Und vielleicht eines noch kann ich sagen, was noch dazu gehört: Es ist nötig, davon bin ich überzeugt, dass wir uns, zum Beispiel in einem Gespräch bei der Aufnahme, aber auch am Empfang oder wo auch immer, uns anrühren lassen, persönlich anrühren lassen von dem, was diesem Menschen widerfährt. – Alles andere ist nicht unwichtig natürlich. Es wäre Unsinn, das zu sagen. Alles andere hat ein Fundament. – Und ich denke, das ist das, was man verlangen muss und verlangen darf. Und wenn ich schon das Wort habe, dann möchte ich gerne ‘einen Plasterstein in den See werfen’ und sehr provokativ sagen: Seit zwanzig, dreissig Jahren ist ein Geist in die Gesellschaft gekommen, ist ein Geist in die Psychiatrie gekommen, der meiner Meinung nach ein Ungeist ist. Nämlich die gesamte Digitalisierung, die gesamte Evaluierung, die ganze, was ich zu sagen wage: die «Managerpest», die Managerpest. Das ist etwas Verheerendes. Alle sollten aufstehen und revolutionär sagen: Das darf nicht sein. Das ist nicht das Oberste. Das Oberste ist das, was ich vorhin gesagt habe.»
Ein langer grosser, dankender Beifall des ganzen Saals ehrte den alten Kollegen, der das Herz eines die Menschen liebenden Helfers ausgebreitet hatte. Es war die Quintessens des Lebens eines Psychiaters alter Schule, die mit Schmerzen den verheerenden Einbruch der biologischen Psychiatrie miterleben musste. Immer werde ich an ihn und an das denken, was er damals gesagt hat: Das ist etwas, was er als Mensch für andere sein wird, auch wenn er gestorben sein wird. Es wird ihn überdauern und wird bleiben, denn es berührt uns Menschen, als lebten wir ewig.
Auf der Beerdigung einer lieben Freundin vor einiger Zeit sagte jemand: «Jetzt hat sie es überstanden». Gemeint war ihre schwere Krankheit. Sie ist verstorben, dennoch sprach er den Satz «Jetzt hat sie es überstanden», als lebte sie. Was ist mit uns Menschen, dass der Tod doch nicht so ein absolutes Ende ist, wie wir «Aufgeklärten» denken möchten.
Wenn ein Mensch zwanzig Jahre lang mit seinem Bruder aufgewachsen ist und hat mit ihm alles geteilt, 24 Stunden, 356 Tage, 20 Jahre lang, in Freud und Leid, von ganz klein bis ins Erwachsenenalter. Man hat alles zusammen gemacht, in Kämpfen und in Freude, in Hader, Streit, aber auch mit Wertschätzung, Liebe, Freude am gemeinsamen Handeln, am Wirken und an der Auseinandersetzung miteinander, am Tun für die Welt, in die man hineinwächst als junge Erwachsene. Auf diesem Weg als Achtzehnjähriger vom Bruder im Herzen berührt zu werden in der schwersten Frage von uns Menschen, habe ich nie vergessen: Wie ich ohne Nachdenken zu ihm sagte, der Krieg komme aus der Menschennatur, man solle sich doch nur die Kinder anschauen. Er machte damals so überraschen für mich die Gebärde, als nähme er ein Neugeborenes in die Arme, schaute es an und sagte, nein: dieses kleine Wesen trägt nicht den Krieg in sich, es ist gut, nicht böse. Beschämt war ich von dieser freundlichen Geste und gab ihm recht. Das änderte mein geistiges Leben.
Alle Menschen kommen auf diese Welt, und es besteht vor ihrer Ankunft schon ein kleiner Kreis von Mitmenschen, die ersten Menschen, mit denen zusammen sie ins Leben hineinwachsen. Von denen sie ins Leben eingeführt werden und mit denen Sie ins Leben eingeführt werden. Ein Stück von dieser natürlichen Gemeinschaft bewohnten Welt entsteht. Wenn nun der eine Bruder andere Wege geht als der andere. Aus irgendwelchen Gründen kommt es zum Zerwürfnis. Und sie sehen sich 30 Jahre nicht mehr. Der Bruder ist für den Bruder «weg». Er ist nicht tot. Aber das, was im Herzen von dem lebt, was mein Bruder war, ehe er «ging», das ist in diesen 30 Jahren und heute so lebendig wie das, was von der verstorbenen Freundin, die wir zu Grabe getragen haben, auch in uns lebt, als sie «es überstanden» hat. Wenn ich heute daran denke, dass der Mensch gut ist, dann sehe ich als erstes immer den Bruder damals, der nicht mehr da ist und der dann doch da ist, wie er das kleine gespielte Wesen in seinem Arm anschaut und sicher ist, dass dieses Menschlein nicht böse ist, dass der Krieg nicht aus unserem Wesen kommt.
Ob ein Mensch gestorben ist. Oder ob er einfach nur getrennt von uns, irgendwo anders lebt. Ob die Beziehung abgebrochen ist, egal: Wir bleiben innerlich, geistig in Verbindung. So leben der Bruder, der Lebende, und die Verstorbene, in meinem Herzen.
Wie stark Menschen in meinem Herzen leben, wie viel ein anderer Mensch in meinem Inneren lebt oder nicht lebt, das hängt nicht davon ab, ob er lebt oder ob er tot ist, ob er 300 Jahre tot ist, oder ob er erst fünf Minuten gestorben ist, oder ob er von mir getrennt in einem anderen Kontinent lebt. Es können Menschen aber auch nebeneinander her leben, als wäre der andere tot. Sie wissen voneinander nichts, und der Andere kommt in ihrem Inneren nicht vor. Als wäre der andere nicht auf dieser Welt. Und doch ist er es.
Aber wir Menschen können nicht nur in geistiger Gemeinschaft leben mit Menschen aus Fleisch und Blut, die wir persönlich gekannt haben, mit denen wir zusammengelebt, die wir berührt haben, mit denen wir gesprochen, mit denen wir das volle ganze Leben verbracht haben. In unserem Herzen können sogar Menschen «wohnen», mit denen wir nie zusammengelebt haben. Ich kann Aristoteles kennenlernen, indem ich seine Schriften lese und mich in seine Gedanken – soweit sie uns noch erhalten sind – hineinlese, hineindenke, hineinfühle, als wäre er ein heute Lebender. Ich lerne auch seine Zeit aus den Zeitzeugen heraus verstehen, soweit sie uns noch erhalten sind. Ich kann so mit diesem vor 2‘500 Jahren Verstorbenen eine menschliche Beziehung erfahren, als würde er leben. Und es kann sogar mehr Beziehung zu Aristoteles entstehen als zu einem heute Lebenden, mit dem mich nichts verbindet. Und obwohl ich nicht mehr mit ihm reden kann, lebt ein Teil von ihm in mir. Es muss ja nicht der ganze Mensch sein. Auch Menschen, mit denen wir zusammenleben, sind nicht als Ganzes in unserer inneren Welt. Wir kennen doch meist nur wenig von anderen.
Es ist eben so, dass wir nur zum Teil tot sind, wenn wir sterben. Um das zu wissen, muss ich nicht unbedingt an Gott glauben oder an ein Leben nach dem Tod. Was Biologie, Chemie, Physik und Medizin als Organismus bezeichnen, das geht beim Tod zu Grunde. Aber etwas, was uns den Tod überdauern lässt, bleibt. Etwas von uns, was ewig dauern kann, was das vergängliche Biologische überdauern kann. Es ist materiell nicht beschreibbar, besteht nicht aus einem biologischen «Stoff»: Die geistige Persönlichkeit eines jeden Menschen. Es bleibt, was wir für andere gewesen sind. Es bleibt, was wir geschaffen haben für das gute Leben aller nach mir, als wäre die Menschheit ewig.