Fragmente aus der Geschichte des Begriffs «Lebensqualität»

2. Mai 1998

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Das deutsche Grundgesetz hat keine Bewertung menschlichen Lebens zugelassen. Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt es daher auch kein lebensunwertes Leben. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieses Sittengesetz ist nichts anderes als die Aussage, dass jeder Mensch Achtung verdient, weil er zur Gattung Mensch gehört. Das Grundgesetz und die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes verbieten damit eine Bewertung des Lebens nach «Qualität».

Trotzdem hat der Begriff «Lebensqualität» seit Mitte der 70er Jahre in unseren allgemeinen Sprachgebrauch Einzug gehalten. Nota bene: alles im Gegensatz dazu, dass damit immer mehr das Verbot ausgehebelt wurde, menschliches Leben zu bewerten. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wie das Grundgesetz festlegt, heisst: Der Mensch hat keinen Preis. Heute ist es jedoch selbstverständlich geworden, Leben nach unterschiedlichen Qualitäten zu bewerten. Kaum einem  fällt es heute noch auf, dass damit eine radikale Abkehr vom Zentrum freiheitlichen Staatsdenkens vollzogen wurde. Am brutalsten geschah das durch die  «Euthanasie»-Bewegung, die zwischen lebenswertem und lebensunwertem menschlichen Leben unterscheidet und damit die «Tötung auf Verlangen» und die «Beihilfe zum Suizid» rechtfertigt, und durch die neoliberale Denaturierung des Menschen als «Ressource» wie Kohle und Stahl. Der Mensch als Ware.

 

Vorgeschichte in USA

Ausgegangen ist diese Bewegung von den USA. Bis etwa zum Zeitpunkt des Erscheinens der Bücher von Forrester («World Dynamics») und Meadows («Grenzen des Wachstums») erscheint «Lebensqualität» dort in keinem wichtigen Nachschlagewerk als Stichwort.

1956 führt E. Sevareid den Begriff in den US-amerikanischen Wahlkampf ein, um das wirtschaftspolitisch Programm des Präsidentschaftskandidaten Stevenson zu stützen. «Lebensqualität» hat dabei eine ökonomisch-materielle Bedeutung.

Die US-amerikanischen Wirtschaftsexperten A. Schlesinger jr. und J. K. Galbraith führen ab 1958 den Begriff «Lebensqualität» in den offiziellen Sprachgebrauch der amerikanischen Regierung ein. 1964 verwendet Johnson ihn in seinem Slogan der «Great Society» und 1965 in seinem Bericht zur Lage der Nation.

Danach wandelt sich der Begriff von einem ökonomischen zu einem ökologisch-ideologischen. «Lebensqualität» wird bald verstanden als kritischer Begriff, der gegen den Glauben an grenzenloses Wachstum der Industrie und Wirtschaft gerichtet ist. Die Abkehr vom Würdebegriff tritt verkleidet als ökologisch kritische Haltung auf.

 

Wachstums- und Fortschrittsfeindlichkeit

1971 veröffentlicht J. W. Forrester sein Buch «World Dynamics». Darin stellt er erstmals die Behauptung auf, weiterhin ungebremstes exponentielles Wachstum führe unweigerlich zu einem weltweiten Zusammenbruch der Wirtschafts- und Ökosysteme. Forrester fordert einen schnellen Wachstumsverzicht, was ein weltweites Gleichgewicht bewirken solle. Zentraler Leitbegriff ist dabei «Lebensqualität». Steigende oder sinkende «Lebensqualität» – jetzt als ökologischer Begriff – ist nach Forrester das Zeichen dafür, ob sich das «Weltsystem» zu Besseren oder zum Schlechteren hin bewege. Lebensqualität wird nach Forrester bestimmt durch  (a) materieller Lebensstandard (b) Nahrungsmittelversorgung, (c) Ballungsgrad der Bevölkerung und (d) Umweltverschmutzung.

1972 erscheint der erste Bericht des «Club of Rome» und D. Meadows publiziert sein Buch «Grenzen des Wachstums». Darin übernimmt er im wesentlichen Forresters Theorien, verfeinert und differenziert sie. Während Meadows eher am Rande von «Lebensqualität» spricht, nennt eine Auswertung seines Forschungsberichts durch den «Club of Rome» als Ziel die Steigerung der «Lebensqualität».

Ursprünglich wurde also «Lebensqualität» als rein ökonomisch-materieller Begriff verwendet. Im Zuge der ökologischen Wachstums- und Fortschrittskritik wurde der Begriff «Lebensqualität» dann zu einem ökologisch-ideellen Wort. Diesen ideologisierten Leitbegriff der «Lebensqualität» greift Forrester auf.

 

Die Übernahme des Begriffs „Lebensqualität“ durch die deutsche Sozialdemokratie

In Deutschland findet der Begriff «Lebensqualität» ab Mitte der siebziger Jahre Eingang ins öffentliche Bewusstsein der Bevölkerung, jetzt bereits umwelt- und gesellschaftskritisch gegen Wachstum und Fortschritt gerichtet.

Führend ist dabei zunächst Willy Brandt, damals deutscher Bundeskanzler und Wortführer der SPD. Am 13. Juli 1971 hält Brandt vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing einen Vortrag. [1] Der gleichen Akademie übrigens, die 1998 zur «Diskussion» über «Gesundheit, das höchste Gut unter Kostendruck» einladen wird. Noch in ihrem Godesberger Programm von 1995 hat die SPD nur von «Lebensstandard», «Wohlleben» und von «kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Lage» geredet – nicht von «Lebensqualität». [2]

Die deutsche Sozialdemokratie vollzieht also mit Brandt einen Wechsel in ihrer ideellen Grundeinstellung zum Leben und zu Menschenwürde und hat es geschafft, diese neue Auffassung von der «Lebensqualität» im allgemeinen Sprachgebrauch zu verankern. Sie hat es auch geschafft, dass der neue US-amerikanische Begriff «Lebensqualität» als Freiheitsbegriff daherkam und nichts davon hat ahnen lassen, was es bedeutet, wenn man den Wert des menschlichen Lebens nach «Qualität» bemisst.

Brandt entwirft 1971 in seinem Tutzinger Vortrag ein erstes Konzept der «Lebensqualität»: Ziel sei eine Gesellschaft, sagt er, in der es um die «Entfaltung» und «Selbstverwirklichung» des Menschen geht, in der die (in Brandts Worten) «kollektive Komponente des Lebensstandards – oder der Lebensqualität – immer wichtiger wird.» [3] Das sollte ein kritische Abgrenzung sein gegen eine einseitige Konzentrierung auf das Bruttosozialprodukt in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.

In der Folge erlebt der Begriff «Lebensqualität» eine wahre Inflation und wird zu einem gängigen Wort des allgemeinen Sprachgebrauchs. Die SPD führt ihren Wahlkampf mit diesem Wort. Im Metallarbeiterstreik von Baden-Württemberg 1976 wird er zum (Klassen-)Kampfbegriff. Die IG-Metall veranstaltet 1972 einen internationalen Kongress zum Thema «Lebensqualität».

1973 schliesslich erlebt der Begriff «Lebensqualität» seinen politischen Durchbruch in der Regierungserklärung der Regierung Brandt/Scheel: «Die Qualität des Lebens ist zu einem zentralen Begriff unserer politischen Arbeit geworden. Sie darf nicht zur abstrakten Formel gerinnen», heisst es dort.

Interessant ist ein Hinweis von K. W. Thomas, der sagt: Dieser Ausdruck wurde weder von der SPD noch von dem ebenfalls erwähnten Club of Rome erfunden, sondern «ist ein im Laufe vieler Jahre hemmungslosen Gebrauchs stark abgenutzter Kampfschrei […] amerikanischer Soziologen, Ökologen und der ihnen anhängenden studentischen Jugend gegen die Konsumgesellschaft mit ihrem Daseinsideal der quantity of life.» [4]

Eppler, unter Brandt/Scheel Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, ist einer der Multiplikatoren des Wortes «Lebensqualität». Er hat sich derart viel zu dem Thema geäussert, das er zuweilen als Schöpfer des Wortes gehandelt wird. Eppler baut den Begriff inhaltlich und gesellschaftspolitisch aus: «Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Lebensqualität setzt Freiheit voraus, auch Freiheit von Angst. Sie ist Sicherung durch menschliche Solidarität, die Chance zur Mitbestimmung und Selbstverwirklichung, zum sinnvollen Gebrauch der eigenen Kräfte in Arbeit, Spiel und Zusammenleben, zur Teilhabe an der Natur und den Werten der Kultur, die Chance gesund zu bleiben oder zu werden. Lebensqualität meint Bereicherung des Lebens über den materiellen Konsum hinaus.»

Mit von der Partie ist Jochen Steffen (der «rote Jochen», der zur von Ost-Berlin bezahlten Konkret-Gruppe um Röhl gehört). Steffen: «Das Ziel Lebensqualität ist, den Menschen und die Entfaltung seiner Möglichkeiten zu Massstab zu machen.»

Der Begriff bekommt Mitte der Achtzigerjahre den für die Euthanasiepropaganda so gefährlichen Touch: Lebensqualität als die «guten Lebensbedingungen, die mit einem positiven subjektiven Wohlbefinden einhergehen.» (Zapf)

Es dürfte keine Zufall sein, dass Erhard Eppler (SPD) 1998 zusammen mit dem Schweizer »Euthanasie»–Ideologen France Cavalli (SPS) in Boldern über «Neue Werte für das nächste Jahrhundert» diskutiert.

[1] In: W. Brandt. Reden und Interviews. Hamburg 1971, S. 576-584.
[2] Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Ausserordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959. Köln. S. 17.
[3] In: W. Brandt. Reden und Interviews. Hamburg 1971, S. 576-584.
[4] K. W. Thomas. Qualität des Lebens. In: Sprachsienst 17 (1973) 46-47.

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