Franz Gabriel Alexanders Konzept einer tiefenpsychologischen psychosomatischen Medizin

Zürich 1992 Moritz Nestor

Franz G. Alexanders Konzept einer tiefenpsychologischen psychosomatischen Medizin

 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Geschichtliches
1.    Zu Leben und Werk Franz Alexanders
2.    Zur Geschichte der Psychosomatischen Medizin
3.    Zu den philosophischen Wurzeln
3.1. René Descartes
3.2. Baruch Spinoza

Physiologische Grundlagen
1.    Die Physiologie und das neue Menschenbild
2.    Der Reduktionismus Iwan P. Pawlows
3.    Die ‚James-Lange Theorie‘ der Emotionen
4.    Die Überwindung der Dichotomie bei Walter B. Cannon
4.1. Die psychosomatische Einheit des Körpergeschehens
4.2. Der evolutionäre Ansatz
4.3. Die Natur emotionaler Zustände
4.4. Die Zweckmässigkeit von Emotionen
4.5. Das Prinzip der Homöostase
4.6. Die Doppelfunktion der Emotionen:  Vorbereitung und Handlung
4.7. Die ‚causa sui‘
4.8. Cannons Ansatz zu einer Psychosomatik

Psychosomatische Medizin
1.    The Medical Value of Psychoanalysis
1.1.  Labormedizin und Tiefenpsychologie
1.2.  Die psychologische Bildung des Arztes
2.     Psychosomatische Medizin, eine Methode
2.1. Psychosomatische Medizin als historische Kooperation
2.2. Begriffsbestimmung:  ‚Psychosomatische Medizin‘ – ‚psychosomatische Krankheit‘
2.3. Das „psychologische Mikroskop“
Experimentelle Methode und Empirie
Einheit von Deduktion und Induktion
Fachgegenstand und Methode
Das „Messinstrument“
3.    Psychosomatische Wechselbeziehungen
3.1. Psychogenese
3.2. Konversionssymptome
3.3. Organneurosen
Der ‚Faktor X‘:  spezifische Organempfindlichkeit als Prädisposition£
Der ‚vegetative Spannungszustand‘
Psychosomatische ‚Spezifität‘
Die ‚Ausgangslage‘
Die ‚Selbstwertregulation‘

Schlussbetrachtungen

Literaturverzeichnis
1.   Primärliteratur
2.   Sekundärliteratur

 

Einleitung

Die Frage nach den seelischen Ursachen körperlicher Krankheiten und deren Heilung, vor allem aber auch die damit verbundene Frage der psychotherapeutischen Behandlung seelisch verursachter körperlicher Störungen, bringt die Forderung nach ganz­heitlichem Umdenken mit sich. Gemeint ist folgendes: In der Auffassung der klassi­schen naturwissenschaftlich orientierten Medizin der zweiten Hälfte des 19. und ersten des 20. Jahrhunderts ging ein kranker Mensch zu seinem Arzt, der mit physikalischen, chemischen oder chirurgischen Mitteln die Krankheit zu heilen versuchte. „Krankheit“ war dabei etwas, was man seit Virchow als Produkt geschädigter Zellen oder Organe verstand. „Heilung“ war wesentlich Wiederherstellung des lädierten Somas. Der Arzt eine Art Handwerker an der Körpermaschine.

Die seelische Realität des Patienten spielte in diesem Krankheitsverständnis eine akzidentelle Rolle. Die zwischenmenschliche Beziehung des Arztes zu seinem Patienten hatte höflich, nett und zuvorkommend zu sein, wie dies zwischen Menschen, die sich ansonsten nicht weiter kennen, normalerweise der Fall sein sollte. Im höchsten Fall sah der Arzt den Einfluss seiner Persönlichkeit auf die Lebensführung des Patienten, also auch auf dessen Seelenleben, als Ausdruck einer mehr oder minder vorhandenen intuitiven Begabung in Menschenführung, einer „Kunst“ (Alexander: „bedside maner“), die er jedoch ausdrücklich nicht als wissenschaftliches Instrument verstand.

Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und darauf gründender Heilverfahren war nach dem Verständnis der klassischen naturwissenschaftlichen Medizin die in physiko-chemischen Termini beschreibbaren Krankheiten als isoliert betrachtete somatische Prozesse, das heisst befallene Organe oder Organsysteme. In ihrem Menschenbild trennte sie dadurch in allen Bereichen Seelisches von Körperlichem.

Die naturwissenschaftliche Medizin – von Alexander als „Labor Ära der Medizin“ charakterisiert – hatte trotz dieser apsychologischen Haltung mit ihren Methoden der Forschung und Therapie von Krankheiten ungeheure Erfolge zum Wohle der Menschheit errungen. Mit dem Aufkommen der Psychosomatischen Medizin als interdisziplinärem Ansatz zwischen Medizin und Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte die Tatsache der leib-seelischen Einheit des Menschen in den Brennpunkt medizinischen Forschens. Eine nur-somatische Erklärung körperlicher Symptome und Krankheiten machte immer mehr einem ganzheitlichen Krankheitsverständnis Platz. Der Mensch als Leib-Seele-Einheit wurde Gegenstand wissenschaftli­cher Methoden – in Forschung und Therapie.

Im Zentrum stand nun nicht mehr die zu heilende Krankheit, sondern der zu heilende kranke Mensch. Damit war an eine Psychosomatische Medizin die Frage gestellt, wie nicht nur – was auf somatischer Ebene schon mit überwältigendem Erfolg geschehen war – zu den materiellen Ursachen der Symptome ein heilender Zugang gefunden werden könne, sondern auch, was die exakte wissenschaftliche Methode sei, um ätiologisch relevante emotionale Faktoren der Krankheitsentstehung wissenschaftlich genau zu erklären. Daraus sollten Therapiemethoden für nun mehr psychosomatisch verstandene Krankheiten abgeleitet werden können. Was der Laboredizin als höfliches Verhalten des Arztes, eventuell als Begabung in psychologischer Menschenbehandlung, akzidentell für die Heilung erschien, wurde dadurch zum Schauplatz einer unter psy­chosomatischem Gesichtspunkt neuen Krankenbehandlung. Die psychosomatische Be­trachtungsweise brachte mit ihrem neuen Menschenbild die Bedeutung der interperso­nalen Beziehung – der Ich-Du Bezogenheit des menschlichen Wesens – für die Heilung körperlicher Krankheiten zu Bewusstsein.

Noch in den 50er und 60er Jahren unseres Jahrhunderts sahen jedoch viele Mediziner der „Labor-Ära“ in dem neuen psychosomatischen Ansatz eine „Bedrohung der mit so viel Fleiss gelegten Fundamente der Medizin“. (Alexander, 1950b, S. 1) Die Wahrung wissenschaftlicher Exaktheit, der Wissenschaftlichkeit der Medizin überhaupt, schien ihnen in Gefahr, und sie forderten oft autoritativ,

„dass die medizinische Psychologie auf das Gebiet der ärztlichen Kunst, auf Takt und Intuition bei der Behandlung des Patienten beschränkt bliebe und dass diese ärztliche Kunst völlig getrennt bliebe von dem wissenschaftlichen Vorgehen bei der eigentlichen Therapie, die sich auf Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie gründen soll.“ (Alexander 1950b, S. 1)

Viele Psychologen und Psychiater versuchten, der Tatsache seelischer Ursachen körperlicher Symptome dadurch gerecht zu werden, dass sie den Anwendungsbereich der physiologisch-chemischen Methoden der Labormedizin überdehnten und Seelisches mit Methoden der Physik, Chemie und Mathematik, die sie allein als exakt begriffen, zu beschreiben und zu behandeln versuchten. Andere übertrieben in teilweiser oder vollständiger Ablehnung der als „Schulmedizin“ oder „Chemotherapie“ kritisierten naturwissenschaftlichen Tradition der Medizin den Einfluss seelischer Kräfte auf das Körpergeschehen.

Im Extremfall wurde sogar von einigen eine klinische Behandlung von Krankheit mit dem Argument abgelehnt, Krankheit sei ein notwendiges Stadium, welches der Körper ungestört durchlaufen können müsse, um gesund werden zu können. Gewisse ablehnende Tendenzen innerhalb der Tiefenpsychologie gegenüber den Naturwissenschaften und umgekehrt innerhalb der Medizin gegenüber der Tiefenpsychologie gehen letztendlich auf die cartesische Trennung von Leib und Seele zurück. Soll diese überwunden werden, um fruchtbares interdisziplinäres Schaffen möglich zu machen, – so der Ansatz Franz Alexanders – muss Psychosomatische Medizin eine wissenschaftliche Kooperation zwischen Mediziner und Psychologen sein, wo gleichermassen exakte physikalisch-chemische als auch exakte psychologische Methoden gemeinsam zur Heilung beitragen.

Die Leistungen der Labor-Ära der Medizin können dabei nicht einfach gänzlich ge­leugnet werden, nur weil sie den Anwendungsbereich der klassischen naturwissen­schaftlichen Methoden überdehnte und Seelisches aus Organischem abzuleiten ver­suchte.

„Freilich verlangt der Psychologe von uns [Medizinern, d. V.] denselben Respekt vor seiner Methodik, den der klinische, bakteriologische oder bio­chemische Forscher mit Selbstverständlichkeit beansprucht.“ (Kühne, 1971, S. IX)

Das Anliegen einer Psychosomatischen Medizin ist also nach Alexander ein syntheti­sches: Die Erkenntnisse der klassischen naturwissenschaftlichen Medizin sollen bewahrend aufgehoben und in Zusammenarbeit mit der ebenfalls auf exakten wissenschaftlichen Boden zu stellenden Psychologie weiterentwickelt werden. „Wissenschaftlich“ heisst dabei für Alexander notwendigerweise „exakt“, jedoch nicht notwendigerweise „mathematisch“, „physikalisch“ oder „chemisch“. Dass die Forschung nach ätiologisch relevanten psychischen Faktoren exakten Untersuchungsmasstäben unterworfen werden soll, redet nach Alexander nicht einer analogen Anwendung physikalisch-chemischer Methoden auf psychologische Phänomene das Wort. Vielmehr wird hier die Entwicklung und Anwendung wissenschaftlicher psychologischer Methoden gefordert, die die ‚Gesamtpersönlichkeit‘ (Alexander) des Menschen exakt zu erfassen und deren Störungen zu heilen vermögen.

Psychosomatische Medizin ruht nach Alexander auf zwei fundamentalen Grundsätzen. Erstens dem methodischen Postulat, dass

„die, physiologische Vorgänge beeinflussenden, psychologischen Faktoren denselben peinlich exakten Untersuchungsmassstäben unterworfen werden müssen, wie es bei der Untersuchung physiologischer Vorgänge selbstverständlich ist.“ (Alexander, 1950b, S. XI)

Beschreibt die Körpermedizin die somatischen Phänomene mit physiko-chemischen Termini, so beschreibt, erklärt und therapiert der Psychologe die psychologischen Phänomene des erkrankten Menschen – in Kooperation mit dem Somatiker – mit den Mitteln der wissenschaftlichen Psychologie. Freud als Ausgangspunkt nehmend, sieht Alexander die Psychoanalyse in ihrer weiterentwickelten Form als „a theoretical concept of the personality, precise and elaborately described method of psychological research and a therapy of mental disturbance“ (Alexander, 1936, S. 17). Letztlich aber liegen Wesen und Heilungserfolg einer Psychosomatischen Medizin nach Alexander in der interdisziplinären Zusammenarbeit des Mediziners mit dem Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten begründet.

Der zweite Grundsatz psychosomatischer Forschung bildet nach Alexander das Postulat,

„dass psychologische Vorgänge grundsätzlich nicht von anderen Prozessen verschieden sind, die sich im Organismus abspielen. Sie sind stets gleichzeitig physiologische Prozesse, die sich von anderen nur insofern unterscheiden, als sie subjektiv wahrgenommen werden und durch wörtliche Mitteilung anderen Personen vermittelt werden können.“ (Alexander, 1950b, S. XI)

Diese beiden „Postulate“, wovon letzteres, wie später deutlich werden wird, seine philosophischen Wurzeln bei Spinoza hat, sind von doppeltem Charakter. Zum einen sind sie heuristischer Natur. Zum anderen sind sie durch die vielfältigen Forschungsergebnisse Alexanders und des Chicago Institute for Psychoanalysis empirisch bestätigt und bewiesen worden und in diesem Sinne deduktiv-induktiv gewonnene Erkenntnisse.

Wie schon erwähnt, sah man in der naturwissenschaftlichen Medizin, solange man nicht psychologische Kenntnisse in das Krankheitsverständnis einbezog, in der Fähigkeit des Arztes zum heilenden mitmenschlichen Umgang mit dem Patienten und in der Persönlichkeitswirkung des Arztes oder Psychotherapeuten auf das Seelenleben der Kranken eine mehr oder minder ausgeprägte Begabung in Menschenführung, da man sich der Bedeutung seelischer Faktoren für die Ätiologie körperlicher Symptome nicht bewusst war. War wohl der Kollege, der sich im Umgang gerade mit „schwierigen Patienten“ leichter tat, geschätzt worden, sah man doch in seiner Fähigkeit lediglich eine Geschicklichkeit, die – wenn auch nicht für ganz unentbehrlich gehalten – nicht als bildbares und gezielt zur Heilung einsetzbares „Instrument“ angesehen wurde.

Die Psychosomatische Medizin, wie sie Alexander begründet, wirft nicht nur die Frage auf, wie ein Internist zum Beispiel die Beziehung zu einem Patienten psychologisch bewusst gestalten kann, damit dieser seine lebenswichtigen Medikamente gewissenhaft nimmt, oder regelmässig zur Kontrolle kommt. Für eine Psychosomatische Medizin steht nach Alexander die Frage der psychotherapeutischen Behandlung von Krankheitsverläufen im Mittelpunkt. Unter psychosomatischer Betrachtungsweise anerkennt man nach Alexander, dass es seelische Faktoren gibt, die für die Ätiologie kör­perlicher Krankheiten genauso wichtig – in vielen Fällen sogar wichtiger – sind wie physikalisch-chemische Faktoren.

Die Kenntnis der Persönlichkeit des Patienten wurde damit in ihrer Bedeutung für die Krankenbehandlung erkannt. Obwohl man unter Psychosomatik nicht einfach die Wirkungen der Psyche auf das Soma verstehen kann – die vielfältigsten Wechselwirkungen sind zu beobachten – hat dennoch die Seele des Menschen einen steuernden Einfluss auf den gesamten Körper des Menschen. Die Heilung der für das Krankheitsgeschehen mitursächlichen seelischen Störfaktoren kann dabei einen entscheidenden – oft sogar den entscheidenden – Einfluss auf den körperlichen Heilungsprozess haben. Eine psychotherapeutische Beeinflussung des gesamten Heilungsprozesses, die zur physikalisch-chemischen Behandlung durch den Kliniker hinzutritt, ist nun nicht mehr physikalische oder chemische Intervention, sondern wesentlich „Persönlichkeitswirkung“ (Kühne, 1971, S. X).

Diese Persönlichkeitswirkung ist nach Alexander Ausdruck der Haltung des Therapeuten, und letztlich nichts anderes als die ausgebildete und wissenschaftlich verfeinerte Fähigkeit des Menschen, sich mit seinen Mitmenschen identifizieren zu können. Die verfeinerte natürliche Beziehungsfähigkeit des Menschen kann also – neben physikalischen, chemischen oder chirurgischen Interventionen – zur Heilung von Krankheiten einge­setzt werden, oder mit anderen Worten: Es ist unter psychosomatischer Betrachtungs­weise die geschulte Persönlichkeit des Psychotherapeuten, die als „Werkzeug“ – fachmännisch angewandt – (mit)hilft, Krankheiten zu heilen. Die Ich-Du Beziehung als heilende Kraft tritt somit ins Zentrum der Arzt-Patient-Beziehung.

Sei dies ein psychotherapeutisch geschulter Facharzt, oder der Psychotherapeut in Zusammenarbeit mit dem Kliniker. Es ist nach Alexander eine bestimmte Form zwischenmenschlicher Beziehung, eine „korrigierende emotionelle Erfahrung“ (Alexander, 1950a, S. 403), welche dem Patienten in der Begegnung durch die aktive Haltung des ihm gegenübertretenden Du die Erfahrung machen lässt, dass seine in der Kindheit erworbenen neurotischen Handlungsmuster, die er unbewusst auf die Beziehung zum Psychotherapeuten/Arzt überträgt, sinnlos für die Gestaltung erwachsener zwischenmenschlicher Beziehungen sind. In einer solcherart gestalteten Vertrauensbeziehung des Patienten zum Therapeuten kann dann die neurotische Übertragung aufgelöst werden, so dass der Patient von seinen kindlichen Verhaltensweise frei wird und die Beziehungen zu den Mitmenschen reichhaltiger gestalten kann. Die Begegnung zwischen Psychotherapeut und Patient hat dabei derart tiefgreifenden Charakter, dass die Befreiung des Patienten von neurotischen Zwängen und Ängsten vor allem auch dort ihre ganze heilende Wirkung entfalten kann, wo diese seelischen Anspannungen zuvor zu funktionellen Beschwerden oder gar organischen Erkrankungen geführt hatten.

Auch in Fällen, wo anhaltende seelische Spannungen und ungelöste Konflikte zu immer neuen Krankheitsschüben führen oder chronifizierende Verläufe unterhalten, können die klinischen Methoden oft erst dann wirksam werden und kann eine eigentliche Ausheilung der kranken Organe erst dann wirklich erfolgen, wenn die zugrundeliegenden seelischen Störfaktoren der psychotherapeutischen Behandlung zugeführt werden können.

Das solchermassen skizzierte neue Menschenbild beeinflusst Indikation, Diagnose, Krankheitslehre und Therapie; Mediziner-, Psychologen- und Psychotherapeutenausbildung; die Strukturen der Institutionen der psychosozialen Versorgung ebenso wie die Ausbildung des Pflegepersonals in den Krankenhäusern; schliesslich auch die wichtige Sorge um die Krankheitsprophylaxe. Der Mensch, sein Wesen, seine Natur, erscheint als Leib-Seele-Einheit in neuem Licht, und ein Paradigmenwechsel vollzieht sich in der Medizin, an­gestossen durch ein neues Menschenbild. Das alte Virchowsche Krankheitsverständnis, das Krankheit als pathologischen Prozess verstand, hervorgerufen durch Zell- und Organschädigungen, macht auf höherer Ebene und darin aufgehoben einem ganzheitli­chen Krankheitsverständnis Platz.

Die Autoren der „Französischen Schule“ der Psychosomatik – David, Fain, Marty, Sami-Ali und de M’Uzan – unterscheiden ab 1960 spezielle Persönlichkeitsstrukturen, ‚psychosomatische Strukturen‘, von anderen neurotischen Persönlichkeitsstrukturen. Sie schreiben dem ‚psychosomatisch Kranken‘ eine krankheitsspezifische Unfähigkeit zu, „Triebwünsche und deren Abwehr bewusst werden zu lassen“ (Cremerius, 1978, S. 47), eine Pathologie, die der Neurotiker, der mit seinen „Triebimpulsen in direkter oder abgewehrter Form in Verbindung“ (ebd.) stehe, nicht aufweise. Cremerius (1978, S. 46ff) zeigt in diesem Zusammenhang, dass der von der „Französischen Schule“ als spezifischer ätiologischer Faktor postulierten seelischen Sprachlosigkeit von Menschen mit psychogenen Erkrankungen gegenüber ihren seelischen Schwierigkeiten nicht ein wirklich ätiologischer Wert beigemessen werden kann, da sie auf die schichtspezifische Auswahl des Patientengutes für die empirischen Daten zurückgeführt werden kann, die die „Französische Schule“ ihrer Theorie der ‚Alexithymie‘ zugrundelegt. Cremerius betont in diesem Punkt die Ähnlichkeit zwischen sich und Alexander und stellt diesen in eine Reihe mit Autoren wie Garma, Monsour, Orgler, Oston, Sperlin, und Overbeck (ebd., S. 58).

Alexander verneint – wie hier gezeigt werden wird – den Standpunkt der „Französischen Schule“ bereits in seiner Auseinandersetzung mit Dunbar hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt, dass seelische Störungen über das endokrine und vegetative System fast alle Bereiche des Körpers erreichen können und dass zusätzlich hereditäre oder durch die Qualität der Mutter-Kind-Beziehung geformte prädisponierende Organschwächen angenommen werden müssen, die zu anhaltenden emotionalen Spannungszuständen hinzutreten müssen, damit aufgrund emotioneller Belastung eine Or­ganneurose entstehen kann. Zudem ist der emotionale Spannungszustand wesentlich von der individuellen Wahrnehmung und Verarbeitung exogener Faktoren der unmittelbaren realen Lebenssituation des Patienten abhängig.

Organneurosen sind wie alle anderen Neurosen für Alexander ihrem Wesen nach nicht infantile Neurosen durch Wiederholungszwang perpetuiert. Sie können es in schweren Fällen sein. Neurose ist für ihn wesentlich eine Unfähigkeit des Ich, mit den gegebenen Lebensumständen fertig zu werden und daher kindliche Verhaltensweisen zu entfalten. Alexander nimmt in dieser Frage einen neoanalytischen Standpunkt ein: Psychogene Erkrankungen sind für ihn ein neurotisches Symptom wie jedes andere, und er versteht Patienten mit psychogenen Symptomen als Neurotiker. Konsequent behandelte er die seelischen Anteile der pathogenen Faktoren wie jede andere seelische Störung, jedoch in Kooperation mit dem Kliniker: „Psychotherapy of patients who are suffering from organic diseases is not different from psychotherapy of psychoneurosis.“ (Alexander, 1962, S. 13) Er hatte gute Erfolge.

Alexanders Unterscheidung von ‚Organneurosen‘ und ‚Psychoneurosen‘ ist damit eine phänomenologische und soll gerade betonen, dass psychogene Erkrankung auf keiner von sonstigen Neurosen grundsätzlich verschiedenen Persönlichkeitsstruktur beruhen, sondern sich lediglich im speziellen Symptom von anderen seelischen Störungen unterscheiden. Organneurosen beruhen für Alexander auf den gleichen, jeder anderen Neurose und auch den Psychosen zugrundeliegenden dynamischen Struktur: auf einer gewordenen – mehr oder minder starken – Unfähigkeit des Ich, mit den Anforderun­gen, die das Leben an den Patienten stellt, in einer bestimmten äusseren Lebenssituation fertig zu werden. Hier weicht das Individuum, das vor einer Aufgabe zurückschreckt, in pathologische Handlungsmuster aus, die traumatischen Erfahrungen der ersten Kindheitsjahre und den Beziehungen zu den Eltern und Geschwistern entstammen.

In der Organneurose findet sich speziell ein bestimmtes Zusammenspiel zwischen diesen Mechanismen der Neurosenentstehung und bestimmten individuellen körperlichen Faktoren, spezifischen Organschwächen. ‚Psychosomatische Krankheit‘ ist aus diesen Gründen, und wie in dieser Arbeit dargestellt werden soll, für Alexander keine ätiologische Einheit, keine ‚Krankheitseinheit‘, sondern multikausales Geschehen, in welchem keine reziprok-kausalen Beziehungen zwischen den ursächlichen seelischen Faktoren und den körperlichen Symptomen herrschen. Körperliches Kranksein kann nach Alexander die Folge seelischer Konflikte sein, muss es aber nach keiner inneren Logik sein.

Dies macht für Alexander den psychosomatischen Ansatz derart fruchtbar für alle Bereiche der Medizin, stellt er doch die hohe medizinische und psychologische Anforderung an den Kliniker, immer alle Faktoren – seelische wie somatische – der hochkomplizierten Wechselwirkungen im ganzen kranken Menschen, welche sich in einem ständig wandelnden Prozess immer wieder auch verschieben, zu erfassen. Wohl also können für Alexander rückblickend in einer Lebensgeschichte die seelischen Faktoren erfasst werden, die in einem bestimmten Fall ursächlich am Krankheitsgeschehen beteiligt sind, wodurch Wissen um die therapeutischen Faktoren entsteht, die für die Heilung ausschlaggebend sind: „Most of what we know about the basic dynamic principles of psychotherapy is derived from the psychoanalytic process.“ (Alexander, 1963, S. 147)

Prognostisch kann aber nach Alexander nicht gefolgert werden, dass ein Mensch kör­perlich erkranken muss, wenn er diese oder jene Persönlichkeitsstruktur hat, oder diese oder jene seelischen Konflikte mit sich trägt.

Sowohl die weiter oben genannte Tatsache, dass Psychosomatik – anders als etwa die Chirugie –  keine eigene Wissenschaftsdisziplin darstellt und sich auf alle Aspekte me­dizinischer Wissenschaft auswirkt, als auch die soeben knapp skizzierten inhaltlichen Bezüge, die im Verlaufe dieser Arbeit genauer dargestellt werden sollen, hängen un­trennbar zusammen. Ihr Hauptkennzeichen bildet das Wesen der Psychosomatischen Medizin als Methode, wie sie Alexander begründet. Es ist vor allem ein neuer methodischer Ansatz, der die psychosomatische Ära kennzeichnet und Psychosomatik ist für Alexander wesentlich und vor allem Methode.

Diesen Kerngedanken und die darauf aufbauende psychosomatische Theorie Alexanders darzustellen ist Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit. Alexanders Theorie wird vor allem auch in den übergreifenden Zusammenhängen dargestellt.

Weil wir in Alexanders theoretischem Konzept der ersten systematischen, tiefenpsychologisch orientierten und in sich geschlossenen Theorie psychosomatischer Erkrankungen begegnen, welche eine Psychosomatische Medizin erst begründete, schien es angebracht, das Schwergewicht der Darstellung nicht nur auf den relativ engen Rahmen psychosomatischer Wechselbeziehungen zu legen, sondern Alexanders Konzept auch unter breiterem Gesichtswinkel in ihrer Bedeutung als völlig neuen methodischen Zugang für das Verständnis von Krankheit und Therapie, der für alle medizinischen Bereiche wichtig ist, darzustellen.

Philosophiegeschichtliche Dimensionen tauchen in diesem Zusammenhang ebenfalls auf, da Alexander als Sohn eines Philosophieprofessors schon früh mit der Entwicklungsgeschichte abendländischen Denkens bekannt wurde und die Bezüge seiner psychosomatischen Theorie auch hier findet. Er erkennt, dass jene Trennung von Körper und Geist, die crux der klassischen Medizin, ihre Wurzeln tief in allgemeinen kulturellen Vorstellungen hat, die mit der cartesischen Dichotomie von ‚res extensa‘ und ‚res cogitans‘ schicksalhaft kodifiziert wurde. In diesem Zusammenhang wird deshalb kurz auf die cartesische Substanzenlehre eingegangen, danach die philosophische Lösung des Leib-Seele-Problems durch Spinoza skizziert, welche Alexander für eine Psychosomatische Medizin weiterentwickelt.

Da, wie wir bei einem entsprechenden Vergleich sehen würden, starke Ähnlichkeiten und Parallelen, sogar weitgehende Übereinstimmung in wesentlichen Positionen zwischen der psychosomatischen Theorie der Adlerschen Individualpsychologie und der Alexanderschen Psychosomatischen Medizin aufzeigt werden könnten, wäre es sicher auch ein lohnendes Unterfangen, die psychosomatische Theorie Alexanders im Vergleich zu anderen Ansätzen anderer Autoren und tiefenpsychologischen Schulen zu diskutieren. Dies ist sicher im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.

Ein Ansatz in diese Richtung mag jedoch der Versuch darstellen, Alexanders psychosomatisches Denken sowohl in Bezug zur Tiefenpsychologie – seinem Lehrer Freud – als auch in bezug zur Physiologie Cannons darzustellen und es ansatzweise in einen geschichtlichen und philosophischen Rahmen einzuordnen. Dem sei zudem eine kleine biographische Skizze vorausgeschickt.

 

Geschichtliches

1 Zu Leben und Werk Franz Alexanders

Der 1891 in der Familie des ungarischen Professors für Philosophie, Bernhard Alexander, als einziger Sohn nach drei Töchtern geborene Franz Gabriel Alexander wächst im Budapest der österreich-ungarischen Doppelmonarchie auf, besucht dort die Schule und studiert, zuerst gegen den Wunsch des Vaters, Medizin in Budapest, Göt­tingen und Cambridge. 1912 promoviert er an der Universität zu Budapest.

Nach seiner Assistenzzeit am dortigen Hygienischen Institut, der Zeit als Militärarzt im Ersten Weltkrieg von 1914-1918 und einer Assistenz an der Budapester Psychiatrischen Klinik gibt er – ein vom Vater zuerst nicht ruhig hingenommener, aber schliesslich dennoch geduldeter Entschluss – die sichere Karriere als Mediziner auf, immatrikuliert sich 1919 als erster Student am neugegründeten Berliner Psychoanalytischen Institut unter Abraham und beginnt das Studium der Psychoanalyse. Ein in der damaligen Zeit als ins Ungewisse erscheinender Schritt.

1921 wird er Assistent, 1924 Dozent am Berliner Institut. 1930 erhält er einen Ruf als Visiting Professor for Psychoanalysis an die Universität zu Chicago, die weltweit erste Professur für Psychoanalyse. Freud, den Alexander zuvor besucht hatte, um mit ihm über seine Amerikapläne zu sprechen, liess seinen Schüler nicht gerne ziehen und warnte, dieser solle die psychoanalytische Lehre nicht durch den „flachen“ amerikani­schen Geist verwässern.

1932 wird Alexander, unter anderem auf Betreiben von Sullivan, Direktor des neu­gegründeten Chicago Institute for Psychoanalysis, wozu er Horney vom Berliner Insti­tut nach Amerika einlädt, die sich aber wegen persönlicher Differenzen, welche sich an ihrer – ihm zu radikal erscheinenden und für ihn auf einem unbewältigten Vaterkom­plex beruhenden Kritik an Freud – 1944 wieder von ihm trennt. „1950 bemerkte Alexander  … , dass er ihren Standpunkt erst jetzt voll würdigen könne.“ (Rubins, 1983, S. 185)

Bis 1956 bleibt Alexander Direktor des Chicago Institute for Psychoanalysis, wobei er 1938 zusätzlich eine Stellung als Associated Professor und 1941 als Clinical Professor for Psychiatry an der Universität Illinois annimmt.

Ab 1939 gibt das Chicago Institute die Zeitschrift „Psychosomatic Medicine“ heraus, worin vor allem auch die vielfältigen Arbeiten der sich aus Medizinern aller Spezialgebiete zusammensetzenden Forschergruppe um Alexander veröffentlicht wurden, von denen viele – wie Alexander – zusätzlich Psychotherapeuten waren. Namen wie Deutsch, Dunbar, Menninger und French sind zu nennen. Eng arbeitete Alexander darüber hinaus mit Soziologen und Kulturanthropologen zusammen und stützt sich auf ihre Befunde. Die bekannteste hierunter ist Mead.

Bis ins Jahr 1930 – als er einen Ruf nach Chicago annahm – beschäftigte sich Alexander auch sehr mit Fragen der Delinquenz und wandte als einer der ersten die Psychoanalytischen Theorien auf die Frage nach der Entstehung von Kriminalität an. Bereits 1927 zeigt sich in „Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit“ ein Ich-psychologi­scher Ansatz. Zusammen mit Staub veröffentlicht er 1929 „Der Verbrecher und seine Richter“.

Die Zeit seit der Gründung des „Chicago Institute for Psychoanalysis“ ist dann bestimmt von Alexanders Interesse für die Fragen der Psychosomatik und der daraus entwickelten Psychotherapieforschung, die eine entscheidende erste Weiterentwicklung der klassischen psychoanalytischen Behandlungstechnik brachte. (vgl. Bräutigam, 1979, S. 95) Das Chicago Institute setzte die Forderung nach Kooperation zwischen Kliniker und Psychotherapeut konsequent in die Tat um, und seine Arbeit wurde auf dem Gebiet der Psychosomatischen Medizin zum Grundstein und Eckpfeiler dieser neuen interdisziplinären Methode in Forschung und Therapie.

Zugleich ging Alexander neue Wege in der Psychotherapie. Bereits 1946 beschreibt er zusammen mit French in „Psychoanalytic Therapy“ den psychotherapeutischen Prozess als emotionale Nacherziehung und die Aufgabe des Therapeuten damit, den Patienten aus seinen regressiven Zuständen zu befreien, in die sich dieser flüchtet, da er nicht glaubt, bestimmten Lebensfragen gewachsen zu sein.

Leider ist das grosse Werk des Chicago Institute for Psychoanalysis, dessen geistiges Zentrum lange Jahre Alexander war, und dessen ungeheure Fülle von Beiträgen zur Psychosomatischen Medizin bis 1951 in Alexanders bekanntestem Buch „Psychosomatische Medizin“ komprimiert verarbeitet wurden, nur in dieser einzigen deutschen Übersetzung zugänglich. Mitscherlich (1954) und Uexküll (1963) führten Alexander zwar nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschen Sprachraum ein. Das reichhaltige Material des Chicagoer Instituts und viele Beiträge Alexanders zum Beispiel in „Studies in Psychosomatic Medicine“ und in der Zeitschrift „Psychosomatic Medicine“ sind aber bis heute unübersetzt geblieben.

 

2 Zur Geschichte der Psychosomatischen Medizin

„Although psychosomatic research is of recent origin“, schreibt Alexander 1943, „it deals with one of the oldest, if not the oldest, problems of scientific thought – with the mind-boby-problem.“ (Alexander, 1943a, S. 205) Tatsächlich haben sich mit einer gewissen zwingenden Notwendigkeit alle Kulturen der Menschheitsgeschichte des Leib-Seele-Problems annehmen müssen, gehören doch körperliche und geistige Krankheiten zu den zentralsten Fragen der menschlichen Lebenssicherung. Ist die wissenschaftliche Disziplin einer Psychosomatischen Medizin jedoch erst ein Kind des 20. Jahrhunderts, so reichen die ersten tastenden Denkversuche um diese Frage bis in die menschliche Frühgeschichte zurück. Entralgo weist darauf hin, dass die Krankenbehandlung

„angefangen von der Periode der urzeitlichen Höhle bis in die Gegen­wart [ …] immer, und mit zwingender Notwendigkeit, in irgendeiner Form eine psychosomatische gewesen“ ist. (Lain Entralgo, 1950, S. 15)

Ohne auf die Entwicklung des Leib-Seele-Problems umfassend eintreten zu wollen – es wäre ein eigenes Thema – sei erwähnt, dass wir Vorläufer und Wegbereiter einer wis­senschaftlichen Psychosomatischen Medizin in Zeugnissen des philosophischen Denkens aller Zeiten finden, wie auch in Formen des Schamanismus‘ und Medizinmännertums, welche intuitiv eine ganzheitliche Krankheitssicht anwenden.

Die Krankheitsauffassung früher vorsteinzeitlicher und steinzeitlicher Kulturen ist hauptsächlich von der Auffassung der Schuldhaftigkeit als Ursache und treibende Kraft von Krankheit bestimmt. Krankheit ist die Strafe der Götter für die Menschen, die sittliche Gebote übertreten hatten. (ebd., S. 26) Gleichermassen wird das Versagen menschlicher Heilversuche dadurch erklärt, dass der Betreffende offenbar durch Übertretung eines Sittengesetzes unrein geworden war, so dass die Heilmittel ihre Kraft, die Götter milder stimmen zu können, verloren hatten. Diese „Ätiologie“ von Krankheit ist wesentlich magisch.

In der assyrisch-babylonischen Kultur sind körperliche Symptome ebenfalls Strafen der Götter. Der „pathogene Faktor“ ist hier die Wirkung einer mythisch gedeuteten geistig/seelischen Kraft auf den Körper. Die Assyrer versuchen Krankheiten mit Dämonenaustreibungen zu heilen. „Heilung“ ist hier strafender Natur (Sühneopferhandlung).

Im Griechenland Homers kommt die Sicht einer Reinigungskur als „Heilung“ auf. Auch hier ist die „Ätiologie“ von Krankheit fast immer die Strafe der Götter. Die Reinigungskur, der der Mensch zu Heilung unterworfen wird, besitzt zwar einen religiös verwurzelten Sinngehalt, versteht sich aber wesentlich bereits als Hygiene im physischen Sinn. (ebd., S. 44)

Um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert v. Chr. existiert in Griechenland auch schon eine Tradition ganzheitlicher Auffassung von Krankheit, worin wir bedeutungsvolle Vorläufer heutiger tiefenpsychologischer Befunde finden. Platon verweist zum Beispiel in seinem Dialog „Charmides“ darauf, dass bei den Griechen seiner Zeit der gröss­te Teil der Krankheiten mit Hilfe von „schönen Gesprächen“ (Epôdai) behandelt wer­den. Sie sollen die „Besonnenheit“ (Sôphrosynê) der Seele erwecken. Medikamente (pharmakon) und „schöne Gespräche“ wirken zusammen heilend auf den kranken Menschen, lässt Platon den Sokrates berichten. Heilungsversuche mit Medikamenten haben jedoch nach Platon keinen Erfolg, wenn der Patient nicht dem Arzt seine Seele offenbart. Der Arzt muss zuerst im Gespräch mit dem Kranken dessen Seele durch das Mittel des „schönen Gesprächs“ der Heilbehandlung zugänglich machen. Das Gespräch des Arztes mit dem Patienten ist für Platon eine eigentliche psychologische Behandlung. Die „Besonnenheit“ wird in ihrem Verlauf in der Seele geweckt, wenn das Gespräch die Selbsterkenntnis des Patienten vergrössert.

Dies stellt bereits eine intuitive psychosomatische Theorie dar, in welcher die interpersonale Beziehung zwischen Arzt und Patient als heilender Faktor auch für körperliche Beschwerden in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns gestellt wird. Besonders das Ziel der „psychologischen Behandlung“ – die Vermehrung der Selbsterkenntnis – nimmt das Wissen um die heilende Kraft menschlicher Selbsterkenntnis, wie sie zum Grundpfeiler der Tiefenpsychologie des 20. Jahrhunderts geworden ist, richtig ahnend vorweg.

Die grosse Stagnation psychologischen Denkens im Verlaufe des Mittelalters hängt nach Alexander in hohem Masse mit dem grossen Einfluss Thomas von Aquins (1225-1274) zusammen. (Alexander, 1966, S. 87) Er glaubt an einen vom Geist getrennten Körper. Die unabhängig vom Körper existierende Seele beherrscht bei ihm den Körper, der nach dem Tode zu Staub zerfällt. Diese Sicht des Menschen als Gefäss, das die unsterbliche Seele aufnimmt, ist Grundlage katholischer Glaubenslehre. In ihren Grundzügen – der Trennung von Körper und Geist – wird sie von Descartes kodifiziert und zum entscheidenden Paradigma neuzeitlicher Philosophie gemacht. (ebd., S. 485) Bis ins 19. Jahrhundert findet sich in der Medizingeschichte eine ständige Auseinandersetzung zwischen Tendenzen der ganzheitlichen Betrachtung des kranken Menschen und mehr analytisch-mechanistisch orientierten Auffassungen von Krankheit, wie dies Ey (1955) darstellt.

Bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts hinein vollendet dann die klassische naturwissenschaftliche Medizin mit ihren physiologisch-chemischen Methoden ihren Siegeszug. Sie zerfällt nun in viele verschiedene Spezialgebiete, und es kommt die grosse Zeit der pathologischen Anatomie und der Spezifität der Krankheitserreger. Koch macht seine sensationellen Entdeckungen, und ein zergliedernder Forschergeist arbeitet mit ungeahntem Erfolg mit dem Bild von Krankheit als Resultat eines befallenen Gewebes, Organs oder Organsystems. Diese wesentlich auf Virchow zurückgehende Auffassung von Krankheit wird dann lange Zeit als die ausschliesslich wissenschaftliche Auffassung körperlicher und geistiger Erkrankungen gesehen.

Lombroso, Kraepelin und andere versuchten in der Überzeugung, es liesse sich mit diesem Krankheitsverständnis jede Erkrankung und Anomalie erklären, auch die bislang hartnäckig therapieresistent erscheinenden psychischen Störungen zu erklären. Hier liegen die Wurzeln unzähliger Versuche, Psychosen als Resultat des erkrankten Gehirnsomas zu verstehen. Man übertrug dabei unhinterfragt die in der Körpermedizin so erfolgreiche Methode, Krankheit als Resultat einer Gewebs- oder Organinfektion zu sehen, auf seelische Phänomene.

Die naturwissenschaftlichen Methoden hatten gewaltige Erfolge vorzuweisen. Das Phänomen der Psychosen aber, vor allem aber auch die vielen „schwierigen Patienten“ – man spricht von über 50% in der Praxis des Allgemeinpraktikers – mit Beschwerden unklarer Genese, chronifizierenden Leiden, die trotz Medikamentengabe kaum besserten, ja oft hartnäckig jeglichen Versuchen widerstanden, durch physikalisch-chemische Mittel eine Heilung zu erzielen, alle diese Krankheitserscheinungen entzogen sich jedoch weiterhin dem sonst so erfolgreichen Versuch einer Heilung durch physiologische, chemische und chirurgische Mittel.

Medizinische Vorläufer moderner psychosomatischer Forschung finden sich bereits im 19. Jahrhundert. Der 1815 in Meersburg verstorbene A. Mesmer mit seiner Lehre vom „tierischen Magnetismus“ (Tischner 1928) versuchte körperliche Symptome durch eine ihrem Grundzug nach psychologische Methode zu heilen. Brodie (1837) und Reynolds (1869) in England postulierten bereits „psychische Paralysen“. In Frankreich schrieb Tousseau (1873) sozialen Faktoren eine bedeutsame Rolle bei der Krankheitsentstehung zu. Charcot (1882), der in seinen Studien über Hysterie die psychische Verursachung dieser Krankheit als erster nachwies, folgte dem von Mesmer eingeschlagenen Weg; gleiches tat die unter anderen von Bernheim (1886) gegründete ‚Schule von Nancy‘, die mit Hypnose arbeitete und den pathogenen Einfluss psychischer Faktoren auf das Krankheitsgeschehen anerkannte.

Freud lernte als Nervenarzt bei Charcot und Bernheim, und Alexander sieht in ihm den Pionier der Tiefenpsychologie, der mit der Psychoanalyse als erster einen exakten wissenschaftlichen Zugang zur Erforschung des menschlichen Seelenlebens und damit auch seelisch bedingten körperlichen Erkrankungen schuf.

„Wie Galilei der erste war, der wissenschaftliches Denken auf die Phänomene terrestrischer Bewegung anwandte, so war Freud der erste, der es beim Studium der menschlichen Persönlichkeit anwandte.“ (Alexander, 1950b, S. 14)

Die Freudsche Psychoanalyse ist einer der beiden Hauptpfeiler, auf welcher die Psychosomatische Theorie Alexanders ruht. Ihr blieb er Zeit seines Lebens treu, wenn er auch – vor allem in den Fragen der Therapie, der praktischen Anwendung der Theorie – in wesentlichen Punkten von Freud abwich und die Psychoanalyse bereits 1927 in seinem ersten Buch „Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit“ auf eine Ich-Psychologie hinlenkte:

„Mit der Entdeckung des Ichs fängt eine neue Periode der psychoanalytischen Wissenschaft an. Während die erste Periode im Zeichen der Deutungskunst stand, die uns die Äusserungen der Triebe zu verstehen lehrte, fangen wir jetzt an, diese Äusserungen im Rahmen der gesamten Persönlichkeit zu verstehen. Zuerst wurde die menschliche Psyche in ihre Bestandteile zerlegt, jetzt beginnen wir, die Struktur ihres Aufbaues erkennend, sie wieder zusammen zu stellen.“ (Alexander, 1927a, S. 14)

 

3. Zu den philosophischen Wurzeln

Ersten und wesentlichen Einfluss auf Franz Alexanders philosophisches Denken hatte sein von ihm stets verehrter Vater Bernhard Alexander, Professor für Philosophie und Geschichte. Bei ihm, dem Schüler Lotzes in Göttingen, Helmholz‘ in Berlin und Taines in Paris, der die Psychologie immer gerne unter dem Patronat der Philosophie gelassen hätte, erhielt Alexander schon früh eine gründliche Schulung in der europäischen Geistesgeschichte, die immer wesentlich sein Bild vom Menschen bestimmte.

Verneinte er spätestens mit seinem Entschluss zum Studium der Psychoanalyse die Unterordnung der Psychologie unter die Philosophie, so waren es doch wesentliche philosophische Einsichten der Philosophie Spinozas, die sein psychosomatisches Denken vorbereiteten. Bereits 1922 formuliert Alexander das Grundprinzip seiner späteren psychosomatischen Forschung als ‚Prinzip der Reziprozität‘ zwischen körperlichen (biologischen) und psychischen Vorgängen, welches besagt, „dass psychische Zusammenhänge ebenso eine biologische Gültigkeit haben, wie biologische Zusammenhänge eine psychische Gültigkeit.“ (Alexander, 1922, S. 35)

1939 gründen Alexander (Psychiater, Psychoanalytiker), Dunbar (Psychiaterin), Atschley (Internistin), Hull (Psychologe), Cobb (Neurologe), Liddel (Physiologe), Davis (Physiologe), Powers (Pädiater) aus dem Mitarbeiterstab des Chicago Institute for Psychoanalysis unter der Leitung von Alexander die im amerikanischen Raum führende Zeitschrift „Psychosomatic Medicine“, die älteste Zeitschrift ihrer Art und das Organ der amerikanischen psychosomatischen Gesellschaft, welche heute bereits „unbestreitbar dokumentarischen Wert“ besitzt. (Schneider/Genevard, 1958, S. 10) Der wissenschaftliche Beirat der Zeitschrift wird von 38 Psychiatern, Psychoanalytikern, Physiologen, Psychologen und Medizinern verschiedener Fachrichtungen gebildet, unter ihnen Meyer, Menninger und Cannon. In ihrem „Introductory statement“ stellt das Herausgeberteam programmatisch fest:

„This journal ist devoted not to the isolated problems of the diseased mind or the diseased body, but to the interrelationship between emotional life and bodily processes both normal and pathological. On the other hand, it is not concerned with the metaphysics of the body-mind problem. Emphasis is put on the thesis, that there is no logical distinction between „mind and body“, mental and physical. [ …] It takes for granted that psychic and and somatic phenomena take place in the same biological system and are probably two aspects of the same process“. (Alexander, 1939, S. 4)

Dieses Verständnis des Leib-Seele-Problems hat wie erwähnt bei Alexander eine seiner Wurzeln in der Philosophiegeschichte, war doch die neue Psychosomatische Medizin mit den Widerständen eines allgemeinen Denkens konfrontiert, welches bis auf Descartes und noch früher zurückreicht:

„die abendländische Ansicht, dass Körper und Geist getrennte Teile des Menschen sind, [ist, d.V.] so alt wie die geschriebene Geschichte; obgleich diese schicksalhafte Verwirrung von Descartes kodifiziert wurde, hatte sie lange vor ihm bestanden“. (Alexander, 1966, S. 485)

 

3.1. René Descartes

Descartes unterwirft im Zuge seines Bestrebens, die Philosophie zu einer Art Universalmathematik zu machen, die Seele einer strengen Zergliederung. Alles Erkannte soll dabei aus einfachen Prinzipien abgeleitet werden, und er sucht dafür ein sicheres Fundament. Dies kann für ihn nur etwas sein, das selbst nicht mehr von etwas anderem abgeleitet werden kann und damit wahrhaftig existiert. Absolute Gewissheit muss jedem Zweifel standhalten, also beginnt er radikal an allem, ja an der Existenz der Welt selbst, zu zweifeln, ob sie nicht blosse Einbildung sei.

Zuletzt bleibt nach allem Zweifel die Gewissheit übrig, seiner selbst gewiss zu sein, denn man weiss, dass man denkt. Mit dieser Gewissheit des „cogito ergo sum“ hat nach Descartes der Mensch zugleich Kriterium und Musterbeispiel der Wahrheit in Hän­den. Da der Mensch, so schliesst Descartes weiter, in sich klar und deutlich die Idee Gottes trägt, fragt sich woher sie kommt. Aus der Wahrnehmung äusserer Dinge kann sie nicht stammen, denn Gott ist der Sinneswahrnehmung nicht zugänglich. Eine Phantasie kann die Idee Gottes aber nach Descartes auch nicht sein, denn wie könnte sich ein endliches Wesen wie der Mensch ein unendliches Wesen so deutlich einbilden? Also ist Gott, schliesst Descartes, die zweite Gewissheit, die sich dem denkenden Ich erschliesst. Es ist zudem undenkbar, dass Gott, der Allmächtige und Wahrhaftige, den Menschen betrügt, indem er ihm die Existenz der Dinge als reine Einbildung lediglich vorgaukelt. Also muss es, folgert Descartes, Wahrheit geben und Gottes Existenz ist der Garant dafür.

Der Mensch hat es dabei allerdings selbst in der Hand, ob er die Welt richtig oder falsch erkennt. Die Richtigkeit dessen, was er für wahr hält, ist der Wahl seines freien Willens überlassen, eine gewissen Unsicherheit der Erkenntnis ist damit gegeben. Man kann sich aber, wenn man sich an den Massstab hält, der mit der ersten Erkenntnis dem Menschen an die Hand gegeben wurde, nicht mehr irren, sondern gewinnt den­kend ein richtiges Bild von der Welt. Beim Entwurf dieses Weltbildes erschliesst Descartes von der als sicher erkannten Existenz Gottes (erste Substanz) ausgehend die Idee zweier weiterer geschaffener Substanzen, die jeweils auf keine weitere Idee zurückgeführt werden können: den Geist (res cogitans) und die Körperwelt (res extensa). Descartes sieht in körperlichen Prozessen einerseits und in geistig-seelischen Prozessen andererseits getrennte Wesenheiten: Die ‚res cogitans‘, begreift er als Geist, Seele, bar jeglicher Körperlichkeit. Die ‚res extensa‘ fasst er als stoffliche Substanz, als ausgedehnte Materie (Leib), bar jeden Geistes. Leeren Raum gibt es dabei nicht.

Nach cartesischer Auffassung können Leib und Seele, Materie und Geist, nur durch die dritte Substanz, die Hilfe Gottes, den ‚concursus dei‘, zusammengeführt werden. Descartes unterscheidet also drei getrennte ‚Substanzen‘ (Wesenheiten): Gott, res ex­tensa und res cogitans, oder anders ausgedrückt, zwischen geistlosem Leib, körperloser Seele, und allmächtigem Gott, der beide zusammenfügt.

Diese dualistische Lehre des Descartes ist nach Alexander auch im Menschenbild der naturwissenschaftlichen Medizin enthalten, wie sie im 19. Jahrhundert entstand.

„Die von einem Menschen dargestellte Ganzheit ist zum Zwecke des Studiums in Teile und Systeme zerlegt worden; man kann diese Methode nicht verwerfen, man ist jedoch nicht verpflichtet, sich allein mit ihren Resultaten zufrieden zu geben. Was bringt und hält unsere verschiedenen Organe und zahllosen Funktionen in Harmonie und Zusammenhalt? Und was hat die Medizin zu der leichtgläubigen Trennung von Seele und Körper zu sagen? Was macht ein Individuum zu dem, was dieses Wort selbst aussagt, zu einem „Undividierten?“ Die Notwendigkeit erweiterten Wissens erscheint in diesem Punkt als eine überwältigende Augenfälligkeit. Über die blosse Notwendigkeit hinausgehend zeichnen sich kommende Veränderungen bereits ab. Die Psychiatrie ist aufgestöbert, die Neurophysiologie liegt in Geburtswehen, die Neurochirurgie blüht, und immer noch hängt ein Stern über der Wiege der Endokrinologie  … Beiträge aus anderen Gebieten sind in der Psychologie, der Kulturanthropologie, der Soziologie und der Philosophie genau so wie in der Chemie, Physik und Inneren Medizin zu suchen, um die Dichotomie von Geist und Körper aufzulösen, die uns Descartes hinterlassen hat.“ (Alexander, 1950b, S. 5)

Die Tradition dieser „Labor-Ära der Medizin“ (ebd., S. 3), war wesentlich zergliedernd. „Typisch für diese Periode war ein spezialisiertes Interesse am detaillierten Mechanismus, am Verständnis von Teilvorgängen“. (ebd.) Die neue naturwissenschaftliche Medizin hatte das Virchowsche ‚cellular-pathologische Krankheitsverständnis‘ (ebd., S. 4) mit ungeheurem Erfolg angewandt. Es besagt wesentlich, „dass es keine allgemeinen Krankheiten gäbe, sondern nur Krankheiten von Organen und Zellen.“ (ebd.)

Hinter dieser seit Virchow herrschenden Tradition – er nennt sie sogar „cellular-pathologisches Dogma“ (ebd.; eigene Hervorhebung, d. V.) – sieht Alexander die Wirkung der cartesischen Trennung von Leib und Seele. Diese von der neu entstandenen Medizin im 19. Jahrhundert unreflektiert übernommene philosophische Voraussetzung ist nach Alexander dafür verantwortlich, dass eine Wechselwirkung zwischen Körper und Seele, gar eine ätiologisch relevante Wirkung von Seelischem auf den Körper, lange Zeit als Spekulation abgelehnt wurde.

„Das grundlegende philosophische Postulat der modernen Medizin besteht in der Annahme, dass der Körper und seine Funktionen in Begriffen der physikalischen Chemie verstanden werden können, dass die lebenden Organismen physikochemische Maschinen seien, und dass das Ideal des Arzttums darin bestünde, zu einem Ingenieur des Körpers zu werden. Dagegen erscheint manchen die Anerkennung psychologischer Kräfte und damit ein psychologischer Angriff auf die Probleme des Lebens und der Krankheit als ein Rückfall in die Unwissenheit dunkler Zeitläufe, in denen Krankheit als das Wirken böser Geister und die Therapie als Austreibung der Dämonen aus dem erkrankten Körper angesehen wurden.“ (ebd., S. 2)

Gerade weil der Körper nur als ‚res extensa‘ galt, im cartesischen Sinne als unbelebt und getrennt von der Seele angeschaut wurde, konnte für die neue sonst so erfolgreiche Wissenschaft dieses Missverständnis entstehen, was zudem noch dadurch gefördert war, dass erst mit Freud ein wissenschaftlicher Zugang zum Seelenleben des Menschen gefunden wurde. Mit der neuen psychosomatischen Betrachtungsweise zielt Alexander gerade auf die Überwindung dieser cartesischen Dichotomie von Geist und Körper, und eröffnet neue methodische Horizonte.

 

3.2. Baruch Spinoza

Das ‚Prinzip der Reziprozität‘, wie es Alexander 1922 für das Leib-Seele-Problem for­muliert, hat seine philosophischen Wurzeln im Denken Spinozas. Alexander verwirft sowohl reduktionistische Ansätze, die Seeleninhalte und Gedanken als somatische Vorgänge fassen möchten. Denker wie Vogt, für die „Gedanken Sekretionsprodukte des Gehirns“ (Alexander, 1922, S. 35f) sind, scheinen ihm dafür stellvertretend. Aber auch jene Denker des Idealismus, die schliesslich die Welt, die Materie, als Spiegelung des menschlichen Ichs erklären möchten, hätten den Zusammenhang von Körper und Seele nicht befriedigend erklären können. Zum Beispiel Berkeley, der „der ganzen Objektwelt jede reale Existenz absprach und sie als Erscheinung, als blosse Seeleninhalte ansah“. (ebd.)

„Nur eine der philosophischen Lösungen interessiert uns besonders, ich meine die Idenditätslehre von Spinoza, welche den Satz, dass seelische Vorgänge gleichzeitig körperliche sind und umgekehrt zuerst ausgesprochen hatte. ‚Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.‘ Die Lösung von Spinoza ist so einfach und selbstverständlich, sie ist das Ei des Kolumbus in der Metaphysik“. (ebd.)

Bei der Überwindung der cartesischen Dichotomie gibt es für Spinoza nur eine unendliche Substanz – die Natur, die ‚causa sui‘. Weder, so die Lösung des Leib-Seele Problems, sei der Geist materiell, noch sei die Materie geistig. Weder seien geistige und körperliche Vorgänge parallel, noch existierten sie getrennt voneinander. Weder seien Hirnprozesse, wenn man es in medizinischen Begriffen ausdrückt, Ursache, noch seien sie Wirkung des Denkens. Es gibt nach Spinoza nur einen einzigen Vorgang, den wir künstlich in körperliche und seelische Vorgänge trennen. Es gibt nur ein Wesen – den ganzen Menschen -, dessen subjektive Sicht Geist oder Seele ist, dessen objektive Sicht, von „aussen“, Materie ist, wobei beide untrennbar miteinander verbunden sind.

Deshalb kann nach Spinoza streng genommen der „Körper  … weder den Geist zum Denken noch der Geist den Körper zur Bewegung oder zur Ruhe oder zu etwas anderem (wenn es ein solches gibt) bestimmen.“ (Spinoza, Ethik III, Lehrsatz 2) Der Mensch ist solchermassen gefasst eine zweifache Einheit – eine im Sinne Alexanders psychosomatische Einheit. Spinoza und Alexander sehen gleichermassen das geistige Leben des Menschen gebunden an körperliche Funktionen. Denken ist wesentlich an Hirnfunktionen gebunden. Wenn dabei beide eine Bewegung des Körpers durch die Seele verneinen, dann ist dies vor allem gegen eine cartesische Trennung formuliert, denn nur in dieser ist es notwendig, zu erklären, wie denn die Seele den Körper bewege, wenn sie doch nicht ihm verbunden sei. Wohl aber können die im Sinne Spinozas und Alexanders psychosomatisch verstandenen Hirnfunktionen auf den Körper wirken – positiv wie negativ.

Diese Sicht finden wir auch hinter der ‚Gleichzeitigkeitskorrelation‘ Schulz-Henckes:

„Die Feststellung, dass der sogenannte Leib-Seele-Zusammenhang als Gleichzeitigkeitskorrelation verstanden werden muss, hebt die Möglichkeit und Realität von körperlich-seelischen, sogenannten Wechselbeziehungen nicht auf.[…] Die Frage, ‚was‘ denn das ’sei‘, das einmal als materiell, einmal als seelisch ‚erscheint‘, wird unsererseits als sinnlos grundsätzlich unbeantwortbar abgelehnt, obgleich wir wissen, dass sich … ernsthafte Denker […] bemühen … festzustellen, ‚warum‘ zum Erlebnis: rot eine bestimmte Wellenlänge, zu blau eine andere ‚gehört‘. Für ebenso sinnlos halten wir die Frage, ‚warum‘ z.B. zu den Erlebnissen: hilflos oder liebend gerade die spe­ziellen körperlichen Korrelate ‚gehören‘, die wir hier annehmen müssen. […] Es ist eine Angelegenheit des Vertrauens zu Welt und Leben, jene spezifische Zuordnung hinnehmen zu können.“ (Schulz-Hencke, 1970, S. 292)

Spinozas ‚causa sui‘, als Einheit von Körperlichem und Seelischem unter dem physikalischen Begriff der Substanz gefasst, wurde erst wieder – so Alexander – von Schopenhauer in „einer durch die Evolutionstheorie bedingten neuen Form“ (Alexander, 1922, S. 35) als ‚Wille‘, das heisst als psychologischer Terminus, aufgegriffen.

Zweifellos ist Alexanders grundsätzliche Haltung dem Leib-Seele-Problem gegenüber entscheidend durch die Philosophie Spinozas beeinflusst. Als Mediziner schlägt er zu ihrer Erforschung jedoch „nicht den deduktiven Weg ein, den die Philosophie, seit sie existiert, immer gegangen ist, um ihr Urproblem, den Zusammenhang von Körper und Geist zu ergründen.“ (ebd.) Er sucht nach einer Durchdringung des Problems mit Mittel empirischer Wissenschaft. Die naturwissenschaftliche Medizin hatte sich der res extensa mit Erfolg angenähert, jene Fragen psychogener Erkrankungen aus ihrer methodischen Beschränkung heraus aber nicht klären können. Mit der Psychoanalyse einerseits war eine psychologische Methode gefunden, seelische Realität – vor allem unbewusste Motive – als ätiologischen Faktor im Krankheitsprozess verstehen zu können.

Von physiologischer Seite her waren es die Forschungen Cannons, welche die methodische Enge überwanden, körperliche Abläufe allein als physikalisch-chemische Abläufe zu verstehen. Sein ganzheitliches Verständnis bot von physiologischer Seite her ebenfalls einen neuen methodischen Zugang zur Überwindung der alten Dichotomie von „Gefäss“ und „Inhalt“. In diesem Sinne ruht die psychosomatische Theorie Alexanders in ihren wissenschaftlichen Voraussetzungen hauptsächlich auf den physiologischen Befunden Cannons und der als Ich-Psychologie weiterentwickelten Psychoanalyse Freuds. Alexander betont daher grundsätzliche Änderungen im Natur- und Menschenbild als entscheidend für die Entstehungsgeschichte der Psychosomatischen Medizin:

„Auch der psychosomatische Gesichtspunkt in der Medizin begann mit neuen methodologischen und begrifflichen Fortschritten. Einer davon ist Freuds psychoanalytische Methode, die erstmals die genaue kausale Untersuchung psychologischer Vorgänge ermöglichte. Der zweite ist Cannons Begriff der adaptiven körperlichen Reaktion auf emotionelle Zustände und seine ersten Experimente über den Einfluss von Angst und Wut auf vegetative Prozesse.“ (Alexander, 1957a, S. 283)

Es soll daher – nachdem in einem zweiten Teil der psychologische Zugang zur Krankheit nach Alexander dargestellt werden wird, zuerst kurz auf die physiologischen Grundlagen, die dem neuen Menschenbild der Psychosomatischen Medizin den Weg bereiteten, eingegangen werden.

 

Physiologische Grundlagen

1. Die Physiologie und das neue Menschenbild

Wir orientieren uns heutzutage, bemerkt Uexküll, in der Gestaltung unserer Erziehungsmethoden, Gesetzgebung, allen unseren zwischenmenschlichen Aktivitäten an einem überkommenen Menschenbild, das

„durch den Glauben an ein fast omnipotentes Ich, das heisst durch eine gewaltige Überschätzung des Willens- und Bewusstseinsbereiches, charakterisiert [ist, d.V.]. Wir glauben, unsere Gefühle und Gedanken, unsere Stimmungen und Verstimmungen mit dem Willen regieren zu können.“ (Uexküll, 1975, S. XI)

Aufgrund dieses Menschenbildes, das – wie Uexküll betont – „ebenso anonym wie offiziell“ (ebd.) ist, akzeptieren wir im allgemeinen, dass ein Mensch Schonung und Hilfe braucht, wenn er einen körperlichen Schaden hat, eine Entzündung, eine Wunde. Wir gestehen auch einem Geisteskranken Schonung und Hilfe zu. Diese Zustände akzeptieren wir spontan als ‚krank‘. Bei vielen Patienten jedoch entsteht das Gefühl, sie seien Simulanten, willensschwach, moralisch bedenklich, geisteskrank, wenn man ihnen „seelische Wirklichkeit als mögliche Quelle der Erkrankung“ (ebd.) vor Augen führen möchte, „denn diese Wirklichkeit ist in den Augen des Patienten meist keine Realität, aus der eine Krankheit mit körperlichen Beschwerden entstehen kann.“ (ebd.)

Für eine Psychosomatische Medizin stellt sich damit die Aufgabe, eine gängige Krankheitsauffassung, die – bei Arzt und Patient! – von einer relativ weitgehenden Willens­freiheit ausgeht, und sich latent bis in unsere Tage gehalten hat, zu überwinden. Das bedeutet, seelische Wirklichkeit als mögliche Ursache organischer Krankheitsprozesse zu akzeptieren – frei von moralischen Wertungen, die aus jener „gewaltigen Über­schätzung des Willens- und Bewusstseinsbereichs“ herrührt.

Grundlage und Voraussetzung jeder Behandlung psychosomatischer Erkrankungen kann deshalb nur die vorurteilslose Haltung des Patienten sich selbst gegenüber sein, und die erste Aufgabe des Arztes beziehungsweise Psychotherapeuten ist es daher, dem Patienten zu helfen, genau jene moralischen Selbstverurteilungen zu überwinden, aufgrund derer dieser sein eigenes Psychosomatisches-Krank-Sein als „Simulation“ verurteilt und von sich verlangt zu funktionieren, da ja „nur“ psychische Ursachen der Symptome vorlägen.

Das diesen Widerständen – die beim Patienten auf einer eigentlichen Selbstablehnung und Härte gegenüber sich selbst beruhen und von Ängsten genährt werden – zugrundeliegende Bild eines „omnipotenten Ich“ wurde ab dem Ende des 19. Jahrhunderts massiv erschüttert durch die Forschungen Freuds (1856-1939) und Cannons (1871-1945). Sie schufen und begründeten – Freud als Tiefenpsychologe, Cannon als Physiologe, beide also von verschiedenen Seiten kommend – ein Menschenbild, „in dem die seelische Wirklichkeit und die Subjektivität des einzelnen ihren legitimen Platz haben“. (ebd., S. XIII) Wie Freud mit der Entdeckung des Unbewussten so stand auch Cannon als Physiologe vor der gewaltigen Frage, „wie sich die subjektive Wirklichkeit und das Seelische in den Rahmen der neuen naturwissenschaftlichen Medizin einfügen liesse“ (ebd.), wobei er die Bedeutung einer physiologischen Grundlagenforschung, die das Wesen der menschlichen Emotionen zu klären half, vor allem auch für Psychologie und Medizin sah. (Cannon, 1975, S. V) Ab 1939 ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der vom Chicago Institute for Psychoanalysis herausgegebenen Zeitschrift „Psychosomatic Medicine“.

 

2. Iwan P. Pawlow

Die Forschungen Cannons bauen – positiv oder negativ – auf den Arbeiten von Pawlow, James und Lange auf, deren Theorien der Emotionen und damit auch Ansätze, das Leib-Seele Problem zu lösen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz erwähnt werden sollen. Auch Pawlow (1849-1936) nähert sich als Physiologe der Frage nach dem Wesen der Emotionen, will aber die Existenz einer inneren Erlebniswelt für seine Forschungen ausschliessen (Pawlow, S. 3). Die Annahme einer solchen Existenz versteht er als „subjektiven Standpunkt“ (Pawlow, S. 3), den er überwinden will. Um „objektiv“ zu werden, will er nur das gelten lassen, was sich in physiologischen Begriffen ausdrücken lässt. Aufbau und Methoden seiner Forschungen sollen „im Bereich der Tatsachen, der Begriffe und der Terminologie der Physiologie des Nervensystems“ (ebd.) bleiben. Hat er dabei auch das gleiche Ziel wie später Cannon vor Augen, nämlich, „den Mechanismus und die Gesetze der menschlichen Natur zu erkennen“ (ebd., S. 4), so bildet er doch mit seinem Konzept des ‚bedingten Reflexes‘ und der ‚Konditionierung‘ eine Theorie menschlichen Verhaltens, die letztlich Seelisches einsei­tig auf Physiologisches reduziert: Der Cortex garantiert die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, und eine ‚höhere Nerventätigkeit‘ wird mit ‚psychischer Tätigkeit‘ gleichgesetzt.

 

3. Die ‚James-Lange Theorie der Emotionen‘

Den zweiten wesentlichen Vorläufer der Cannonschen Theorie der Emotionen bilden die Arbeiten von James (1884) und Lange (1885), die sogenannte ‚James-Lange-Theorie der Emotionen‘. Sie geht davon aus, dass Emotionen nichts anderes als die Wahrneh­mung bestimmter körperlicher Abläufe seien:

„dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung der erregenden Tatsache folgen, und dass das Bewusstsein vom Eintritt eben dieser Veränderungen eben die Gemütsbewegung ist.“ (James, 1890, Band II, S. 449f)

Ein Reiz trifft auf ein Sinnesorgan, wird zum Gehirn geleitet und verarbeitet. Hierauf reagiert der Mensch: Vom Gehirn werden Nervenimpulse an ein ‚ausführendes Organ‘ gegeben, welches eine den Vorstellungen des Gehirns gemässe Handlung als Reaktion auf den ursprünglichen Reiz ausführt. Dies wird wiederum vom ‚ausführenden Organ‘ zum Gehirn zurückgeleitet. Trifft diese ‚Rückmeldung‘ beim Gehirn ein, so führe dies nach der James-Lange-Theorie zu emotionalem Erleben. Man ist im Sinne dieser Theorie zum Beispiel traurig, weil man weint.

James und Lange bemerkten zu recht, dass die Reaktion auf einen Reiz nicht nur ein „rein“ intellektuelles Geschehen, sondern immer auch ein körperlicher Vorgang ist. Wäre das nicht, so könnten wir zum Beispiel einen Bären sehen „und es für das Beste halten davonzulaufen [ …] aber wir würden kein intellektuelles Gefühl des Schreckens [ …] erleben“. (James, 1890, Band II, S. 449f)

 

4. Die Überwindung der Dichotomie bei Walter B. Cannon

Seit 1911 untersuchte man an der Harvard University in Boston die Körperveränderun­gen beim Menschen und bei Tieren, welche zusammen mit Schmerz, Hunger und den bedeutendsten Emotionen auftreten. Cannon hat die in fortlaufenden Artikeln bis in die Mitte der vierziger Jahre publizierten Ergebnisse dieser umfangreichen Grundlagenforschung in seinem Buch „Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage“ gesammelt und in sachlicher Reihenfolge geordnet und ausgewertet.

Er ergründet dabei mit physiologischen Laborexperimenten die Natur starker Gefühle im Menschen, ohne die psychologische Dimension aus dem Auge zu verlieren, oder wie Pawlow bewusst als „subjektiv“ abzulehnen. Seine physiologische Theorie des Emotionalen enthält eine echte psychosomatische Theorie, so dass Cannon als Physiologe psychosomatische Grundlagen schafft und einen Ansatz zu einer Psychosomatischen Medizin bietet, an welchen Alexander nahtlos anschliesst.

Von Cannon bis in die Mitte der 70er Jahre hat man auf diesem Gebiet viele neue Einzeltatsachen gefunden: Nervenaktionen, Mechanismen der Reizübertragung auf die Muskeln, Kohlehydratstoffwechsel, Blutgerinnung, das neurophysiologische Zusammenspiel bestimmter Hirnareale für die Entstehung von Gefühlen und vieles mehr wurde genauer erforscht. Uexküll betont, dass bis dahin jedoch keine „… zusammenschauende Physiologie des Emotionalen [entstand, d.V.], die über die von Cannon geschaffene hinausgeht.“ (Uexküll, 1975, S. XXII)

 

4.1. Die psychosomatische Einheit des Körpergeschehens

Im Gegensatz zum Pawlowschen Reduktionismus und den Einseitigkeiten der James-Lange-Theorie schuf Cannon als erster Physiologe eine Theorie der Emotionen, die Seelisches nicht in physiologische Begriffe zwängte und bestätigt damit jene von Spinoza philosophischerseits richtig ahnend vorweggenommene Lehre von einer Natur mit zwei Modi. Sein „Konzept über das Körpergeschehen in Schmerz, Hunger, Furcht und Wut enthält eine echte psychosomatische Theorie“ (Uexküll, 1975, S. XVII), auch wenn er dies nicht explizit formuliert:

„Er blieb, nach seiner Auffassung, im Rahmen der Physiologie. Aber diese Physiologie wurde unter seinen Händen zu einer psychosomatischen Physiologie. Das wird nicht immer gesehen.“ (ebd.)

Reduzierte Pawlow die subjektive Wirklichkeit emotionalen Erlebens auf neurophysiologische Phänomene, so ist für Walter B. Cannon das emotionale Erleben „eine von den Naturwissenschaften anzuerkennende Realität, die [ …] den gleichen Rang hat ‚wie etwa die Kontraktion eines Muskels oder einer Drüse'“. (ebd., S. XIX)

 

4.2. Der evolutionäre Ansatz

Bei der Interpretation seiner Forschungsdaten will Cannon motiviertes menschliches Verhalten auf eine physiologische Theorie der Emotionen gründen. Das Verständnis, welches hierfür in der Philosophie entwickelt wurde, schien ihm auf falschen Grundlagen zu ruhen. Kant hatte den menschlichen Willen „als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäss, sich selbst zum Handeln zu bestimmen.“ (Kant, 1976, S. 17; eigene Hervorhebung, d. V.)

Die französischen Aufklärer (u.a. Helvetius, Diderot, d’Holbach) suchten im Ver­meiden von Unlust und im Streben nach Lust die Grundlage menschlichen Handelns. Weder in einem Streben nach Lust noch in der Annahme eines „Vermögens“, was ihm zu „vage und undefiniert“ (Cannon, 1975, S. 1) erscheint, kann Cannon einen fruchtbaren Ansatz zur Erforschung des Wesens menschlicher Emotionen und Handlungen finden:

„Es wurde immer deutlicher, dass bei Menschen aller Rassen und bei den meisten höheren Tieren die Triebfeder des Handelns im Wirken bestimmter Emotionen zu suchen ist, die sich in charakteristischen instinktiven Verhaltensformen ausdrücken.“ (Cannon, 1975, S. 1)

Cannons Ansatz zur Erklärung des Gesamtzusammenhanges, in welchem die Emotionen zum Organismus stehen, ist evolutionär. Emotionale Zustände sind danach mit den Lebewesen zusammen im Laufe der natürlichen Evolution entstanden.

„Die allgemeinste Erklärung dieser spontanen Reaktionen lautet, dass sie sich im Verlauf der Evolution der jeweiligen Art entwickelt haben, um im Lebenskampf rasch zur Verfügung zu stehen.“ (ebd., S. 116)

Wut, Hunger, Angst und Schmerz sind für Cannon tief in der psychophysischen Struktur des Organismus verankerte archetypische Reaktionsmuster, die sich beim Menschen und bei den meisten höheren Tieren finden, so dass alle Lebewesen von Art zu Art verschiedene und dennoch in Form von Hunger, Angst, Wut und Schmerz grundsätzlich vergleichbare emotionale Zustände kennen.

 

4.3. Die Natur emotionaler Zustände

Wut zum Beispiel beschreibt Cannon als natürliche Reaktion auf „jede Art von Verhinderung eigener Aktivität. Wutverhalten kann auch dann auftreten, wenn dem einen oder anderen primären Impuls Widerstand entgegengesetzt wird.“ (ebd., S. 144) Als typische Emotion stellt Wut eine „angeborene, spontane, gleichbleibende, einheitliche, andauernde und nützliche Antwort auf einen definierten Reiz“ (ebd.) dar. Die psycho­physischen Abläufe bei Emotionen sind „grundlegende Reaktionen in der Ökonomie des Körpers“ (ebd., S. 1), und nur die Komplexität unterscheidet sie von einfacheren Reaktionen wie Weinen oder Niessen. Alle Reaktionen, die bei Wut ablaufen, haben „Eigenschaften eines einfachen Reflexes“. (ebd., S. 145)

Die elementaren Reaktionsmuster sind für Cannon weder rein psychologische Phänomene noch rein physiologische Abläufe, sondern ganzheitliche Zustände des Organismus mit subjektiven und objektiven Anteilen – im Alexanderschen Sinne psychosomatische Gebilde. Die komplizierten körperlichen Vorgänge, die zentrale Rolle der Ausschüttung von Adrenalin dessen Wirkung und Funktion in Verbindung mit sympathischen Nervenimpulsen, der Kohlehydratstoffwechsel, die Steuerung der Zuckerausschüttung, die Blutverteilung im Körper, dem Nachlassen der Muskelermüdung und die Steuerung der Blutgerinnung, stehen

„in Zusammenhang mit einigen sehr primitiven Reaktionen im Leben der höheren Organismen, sowohl des Menschen wie der Tiere. Es handelt sich um elementare, in kritischen Notsituationen plötzlich eintretende Äusserungen von Schmerz, Furcht und Wut.“ (ebd., S. 115)

Diese emotionalen Zustände mit ihren vielfältigen nervös und innersekretorisch gesteuerten körperlichen Abläufen, denen wesentlich eine „Notfallfunktion“ (ebd.) zu­kommt, sind „keine willentlichen Bewegungen, ja sie übersteigen oft in quälender Weise die Möglichkeit der Willenskontrolle.“ (ebd.) Sie sind sinnvolle Teilfunktionen des gesamten Organismus‘ Mensch und „tief mit der Tätigkeit des Nervensystems ver­flochten.“ (ebd.)

 

4.4. Die Zweckmässigkeit von Emotionen

Cannon erkennt, dass diese „Reaktionsmuster“ (ebd.) Teile eines eigentlichen psychosomatischen Ablaufes sind, der der Sicherung und dem Schutz – „Notfallfunktion“ – dient, und der evolutionär geworden, im Aufbau des Organismus begründet ist. „Wenn sich eine entsprechende Lebenssituation einstellt, werden durch angeborene Automatismen typische Organantworten hervorgerufen.“ (ebd.) Die Zweckhaftigkeit dieser Reaktionsmuster bezieht sich „sowohl auf das Bewahren des Wohlergehens eines Organismus wie auf den Schutz gegen Verletzungen“. (ebd., S. 116) Primär sind es also nach Cannon elementare Bedürfnisse der „Erhaltung des Organismus“ (ebd., S. 129), die die Grundlage menschlichen Handelns bilden, nicht ein „Vermögen“ oder „Wille“, auch nicht ein Streben nach Lust und Vermeiden von Unlust. Er nennt dies die ‚adaptive körperliche Reaktion‘ oder ‚Bereitstellungsreaktion‘. Es ist eine Fähigkeit des Organismus, sich auf Kampf oder Flucht bei Gefahren vorzubereiten (ebd., S. 121).

Die Emotion Angst zum Beispiel stellt eine natürliche Reaktion auf Gefahren dar, und das Angstgefühl ist als psychologischer (subjektiver) Anteil untrennbar mit nervösen und endokrinen (objektiven) Anteilen verbunden, die ebenso natürlicherweise ablaufen und mit dem Empfinden von Angst eine psychosomatische Einheit bilden, genannt „Angst“. Die ‚Bereitstellungsreaktion‘ ist nach Cannon ein natürliches erblich gegebenes Verhalten, welches in einer bestimmten Situation sinnvoll ist: Flucht oder Kampf. Die archetypischen Emotionen Wut, Angst, Hunger und Schmerz sind dabei sinnvolle genetisch gegebene Reaktionsmuster, mit denen der Organismus auf Gefahren reagiert.

 

4.5. Das Prinzip der Homöostase

Darwin hatte angenommen, dass sich diejenigen Merkmale im Laufe der Entwicklung am besten fortpflanzen, die zufällig am optimalsten an die Umweltgegebenheiten angepasst sind. Er nahm dabei – so Alexander – auch einen Selbsterhaltungstrieb an (Alexander, 1966, S. 27). Durch dieses Konzept des ’survival of the fittest‘ sei „der Zweck wieder in die biologische Theorie“ (ebd.) eingedrungen, nachdem die vitalistische Theorie einer Lebensenergie, wie sie Driesch (1867-1941) angenommen hatte, von den meisten Biologen abgelehnt worden war. Man stand vor dem Problem, dass die abgelehnte Annahme einer Entelechie sozusagen wieder durch die Hintertüre Einzug hielt.

„Die Entwicklung des Konzepts der Stabilität (Homöostase) durch Theodor Fechner (1801-1887), Claude Bernard (1813-1878) und einen amerikanischen Physiologen, W. Cannon […] löste das Dilemma.“ (ebd.)

Ordnet Alexander Cannon und dessen Theorie der Emotionen derart in den Gesamt­zusammenhang der Forschung ein, so erhellt dies gleichzeitig auch, wie Alexander sich selbst in die Geschichte der Forschung einordnet, schliesst er doch an dem Cannonschen Konzept der Homöostase und dessen Theorie des Emotionalen an. Die­ses Konzept sieht den Organismus ausgestattet mit einer Tendenz, einen gewissen Gleichgewichtszustand, der in seinem Innern herrscht und für sein gesundes Funktio­nieren wichtig ist, aufrecht zu erhalten. Diese Trägheit ist nach Alexander nicht final. Er sieht in ihr „eine genauere Definition des Selbsterhaltungstriebes [ …] [seiner, d.V.] teleologischen Bedeutung entkleidet.“ (ebd.)

Letztendlich sieht Alexander in der Adlerschen Konzeption der Organminderwertigkeit (Adler, 1977) eine „Erweiterung des homöostatischen Prinzips [ …] W. B. Cannons.“ (Alexander, 1966, S. 291) Die Adlersche Kompensation – zusammen mit der ‚Organminderwertigkeit‘ Grundpfeiler einer Adlerschen Psychosomatik – ist für Alexander identisch mit dem Prinzip der Homöostase: „Im Gegensatz zur unbelebten Materie haben lebende Organismen ein Mittel, mit dem sie innere Schäden meistern können.“ (ebd.) Im Sinne Darwins möchte Alexander deshalb auch Kompensation als „Ziel“ der menschlichen Evolution sehen. (ebd.)

 

4.6. Die Doppelfunktion der Emotionen: Antizipation und Vorbereitung – Wahrnehmung und Handlung

Zusammenfassend kann man sagen, dass Emotionen zum einen eine Urteilsfunktion ha­ben, denn sie sind evolutionäre gewordene sinnvolle und schützende „Antizipation“ (Cannon, 1975, S. 125) der Folgen eines drohenden Ereignisses und des hierfür nötigen Reaktionsmusters: Eine gefährliche Situation kann zum Beispiel sinnvollerweise ängst­lich erlebt werden, was von körperlichen Erscheinungen begleitet ist, um auf die Flucht vor einer Gefahr vorzubereiten. Sie haben gleichzeitig aber auch die Funktion einer Reaktion , einer „Vorbereitung für die grossen Anstrengungen, die möglicherweise vom Organismus verlangt werden“. (ebd.) Das bedeutet, sie bereiten auch auf die ausfüh­renden Handlungen vor. Die körperlichen Prozesse, „die durch emotionale Erregung in einer antizipatorischen Weise aufgetreten sind, [werden, d.V.] in den ausführenden Handlungen selbst fortgesetzt“. (ebd.)

 

4.7. Die ‚causa sui‘

Aus allem ergibt sich, dass Emotionen für Cannon psychosomatische Gebilde und damit Bindeglieder zwischen dem seelischen Erleben und den körperlichen Reaktionen des Menschen sind: weder eine cartesische ‚res extensa‘ – worauf sie Pawlow reduzie­ren wollte – noch ‚res cogitans‘ (‚Vermögen‘ oder ‚Wille‘ im Kantschen Sinne), sondern eine echte ‚causa sui‘ im Sinne Spinozas. Es ist dies die zentrale Auffassung, der sich auch Alexander anschliesst.

Dabei geschieht kein rätselhafter Sprung „aus dem Seelischen in die somatische Inner­vation“ (Freud, 1966, S. 382), sondern es ist ein ganzheitlicher, psychosomatischer Vor­gang, genannt ‚Emotion‘, der subjektiv als Gefühlston wahrgenommen und mit psycho­logischen Methoden erforscht, und welcher objektiv als physiologischer Prozess wahr­genommen und mit physiko-chemischen Methoden erforscht wird.

Diese ‚Emotion‘ ist vom seelischen Erleben bestimmt und hat physiologische Reaktio­nen zur Folge, ist in diesem Sinne Bindeglied zwischen Seele und Soma. Hierin liegt auch kein ‚psychophysischer Parallelismus‘ begründet. Körperliches schwingt nicht gleichsam nach Massgabe und Rhytmus des Seelischen parallel zu diesem mit, ohne mit ihm verbunden zu sein.

 

4.8. Cannons Ansatz zu einer Psychosomatik

Wolff (1947) beschreibt ebenfalls diese dem Schutz oder der Verteidigung dienenden Reaktionsmuster als ‚protective reaction patterns‘. Wie Cannon sieht er in ihnen die körperliche Auswirkung,

„dass der psychosomatische Patient, weil er keine Möglichkeit zu einer inte­grierten Konfliktlösung findet, auf bestimmte symbolische und reale Bedro­hungen seiner Leiblichkeit und Lebensbezüge mit biologisch vorgegebenen Anpassungs- und Schutzfunktionen reagiert, deren pathologischer Leerlauf das Symptom bildet.“ (Janus, 1979, S. 135)

Subjektiv ist es – Cannon deutet dies allerdings nur an (Cannon, 1975, S. 118), ohne näher die Rolle der Wahrnehmung und des Seelenlebens für die Emotionen zu unter­suchen – primär nicht von Bedeutung, ob die zum Beispiel als gefährlich erlebte Um­welt dies auch tatsächlich ist. Auch wenn sie es nicht ist und nur aufgrund einer psy­chologischen Wertung einer Situation, einer Fehlwahrnehmung also, bei einem Men­schen der Eindruck von Gefährlichkeit entsteht – die physiologischen Reaktionen sind die gleichen. Der Neurotiker reagiert auf eingebildete Gefahren gleichermassen – oft sogar noch stärker – wie auf tatsächliche. Ein Mensch also, der zum Beispiel in einem ständigen emotionalen Spannungszustand lebt, kann in einen von dieser Angst ständig unterhaltenen auch körperlichen Spannungszustand geraten – die ‚funktionelle Störung‘ die Grund hierfür ist, wie wir gesehen haben, dass Angst selbst im Rahmen der ‚Bereitstellungsreaktion‘ ein psychosomatisches Phänomen ist.

Die Folge sind vegative Dystonien und, bei langanhaltender Belastung, Organschäden mit Krankheitswert, Herabsetzungen der Immunabwehr und daraus resultierende Krankheitsanfälligkeit – psychogene Erkrankungen also.

Dies ist, kurz gesagt, der Ansatz, den Cannon für eine Psychosomatische Medizin bie­tet.

„Als Cannons Arbeit über die Mechanismen, mittels derer Emotionen die Funktionen der wichtigen inneren Organe beeinflussen, auf das Studium der emotionalen Belastung bei chronischen organischen Krankheiten angewandt wurde, hatte die psychosomatische Ära in der Medizin wirklich begonnen.“ (Alexander, 1966, S. 490)

Cannon selbst hat auf die Bedeutung der von ihm beschriebenen Reaktionsmuster für eine Psychosomatische Medizin hingewiesen. Obwohl der Praktiker in hohem Masse funktionelle Störungen beobachten kann, neigen die meisten Ärzte nach Cannons Ur­teil „zu einer Geringschätzung emotionaler Probleme“ (Cannon, 1975, S. 155) Der Arzt ist durch den unmittelbar imponierenden Eindruck erkrankter Organe sehr beein­druckt. Die emotionalen Anteile der Erkrankungen sind jedoch nicht unter dem Mikro­skop und schnell zu beobachten. (ebd.)

„Furcht, Kummer, und Zustände von Wut und Ärger lassen im Gehirn keine klaren Spuren zurück. Was also haben die Ärzte damit zu tun? Und sind nicht andererseits diese geheimnisvollen uns beherrschenden, aus unbe­kannten Quellen aufsteigenden Gefühle blosse Verwirrungen der ‚Psyche‘? Und auch in diesem Fall: was haben die Ärzte damit zu tun? Wenn sich die Ärzte gegenüber diesen Phänomenen jedoch gleichgültig verhalten, ist es dann verwunderlich, dass sich Männer und Frauen unter dem Druck emo­tionaler Belastungen von ihnen abwenden und zu Gesundbetern und ande­ren Leuten laufen, die wenigstens die Realität dieser Verwirrungszustände anerkennen?“ (ebd.)

Hier weist Cannon einer Psychosomatischen Medizin, wie sie Alexander begründet, den Weg. Cannon sieht, dass es sinnlos ist, vom Patienten, der an psychosomatischen Störungen leidet, ein anderes Verhalten zu verlangen (ebd., S. 156), oder zum Beispiel eine starke Angst, die körperliche Störungen unterhält „herauszuargumentieren“ (ebd.), denn diese Zusammenhänge – und dass macht das psychotherapeutische Problem ja gerade aus – sind der bewussten Willensanstrengung des Patienten zunächst einmal nicht zugänglich.

Dieser muss erst behutsam dazu imstande gesetzt werden, seine Lebensführung ratio­naler gestalten zu können. „Der Anlass für Kummer, Angst, Konflikte, Hass, Ressenti­ments und andere Formen von Furcht und Wut“ (ebd.) muss beseitigt werden. Auf­gabe einer Psychosomatischen Medizin, wie sie Cannon daraus richtig folgernd for­dert, ist es „alle Faktoren der Gesamtsituation, welche die Quelle der starken Gefühle sind, müssen erkannt und entweder erklärt oder aufgelöst werden.“ (ebd.) Dass es Motive gibt, die man – wie Cannon sagte – nicht einfach aus einem Menschen heraus­argumentieren kann, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, wie Freud es einmal ausdrückte, hat die Tiefenpsychologie mit der Entdeckung unbewusster Motive be­schrieben, erklärbar und therapierbar gemacht. In diesem Sinne wollen wir im folgen­den die konsequente Fortführung und Ergänzung des Cannonschen Ansatzes durch und mit der Tiefenpsychologie in Alexanders psychosomatischer Theorie kennenler­nen.

Er besteht im Wesentlichen darin, Cannons Arbeit über das – psychosomatische – We­sen der Emotionen und deren Bedeutung für die wichtigsten Körperorgane auf das Studium von organischen Krankheiten angewandt zu haben und dabei die seelischen Faktoren – von denen Cannon in Kenntnis ihrer unbewussten Natur schon schrieb, dass man sie nicht „herausargumentieren“ könne – mit der Tiefenpsychologie verstehen und mittels Psychotherapie zu behandeln.

Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass Cannons Arbeit von physiologischer Seite her zum Verständnis der Bedeutung des Unbewussten für die Medizin aufforderte, die Tiefenpsychologie dies von psychologischer Seite her tat. Beide methodischen Ansätze für eine Psychosomatische Medizin fruchtbar gemacht zu haben, kann als das Ver­dienst Alexanders gelten. Dies entspricht seinem von Spinozas ‚causa sui‘ geprägten Menschenbild und dem daraus abgeleiteten methodischen Postulat, dass seelische Phänomene als subjektive Seite höherer integrativer Funktionen des Gehirns mit psy­chologischen Methoden und somatische Abläufe als objektive Seite dieser Gehirntätig­keit mit physiologischen Methoden untersucht werden, beide Zugänge jedoch ein und derselben Sache, dem denkenden, fühlenden und wahrnehmenden Menschen, gelten.

In diesem Sinne soll nun die Bedeutung der Tiefenpsychologie für eine Psychosomati­sche Medizin aufgezeigt werden. Alexanders Theorie der Psychosomatischen Medizin ist die erste tiefenpsychologisch fundierte, systematische psychosomatische Theorie in­nerhalb der Psychoanalyse. Bräutigam und Christian betonen daher, dass bis heute „keine auch nur vergleichbar in sich geschlossene Theorie an ihre Stelle getreten“ ist. (Bräutigam & Christian, 1973, S. 44)

 

Psychosomatische Medizin

1 The Medical Value of Psychoanalysis

Dieser Titel eines seiner Bücher aus dem Jahr 1936 ist Forschungsprogramm Alexanders in den dreissiger und vierziger Jahren. Es kann als sein Lebenswerk bezeichnet werden, die Psychoanalyse als „Wissenschaft von der geistigen Persön­lichkeit“ (Alexander, 1927b, S. 215) des Menschen für die Revidierung des apsy­chologischen Virchowschen Krankheitsbegriffs fruchtbar gemacht zu haben. „Seelische Wirklichkeit als mögliche Quelle der Erkrankung“ (Uexküll, 1975, S. XI) in einem neuen ganzheitlichen Krankheitsverständnis gefasst zu haben, bedeu­tete dabei gleichzeitig, ein Stück an einem neuen Menschenbild geschaffen zu haben, welches der Leib-Seele-Einheit des Menschen gerecht wird.

 

1.1. Labor-Medizin und Tiefenpsychologie

Die Tiefenpsychologie hatte in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts einen schweren Stand. Starke Ablehnung erwuchs ihr vor allem auch aus jener Einstellung der traditionellen Schulmedizin, die unter ‚Wissenschaftlichkeit‘ stets nur Methoden gelten lassen wollte, die sich in physiko-chemischen Begriffen fassen liessen. Eine Psychosomatische Medizin hatte darüber hinaus mit weiteren Schwierigkeiten zu kämpfen: Indem Alexander als erster die neue Psychoanalyse systematisch dazu verwandte, den Virchowschen Krankheitsbegriff in seiner Einseitigkeit zu ergän­zen, und eine völlig neue medizinische Methode schuf, die wissenschaftlich war und psychologisch arbeitete, beging er sozusagen eine zweifache „Sünde“.

Einerseits hatte man nämlich von Seiten der klassischen Schulmedizin her der Psy­choanalyse gegenüber schon allein deswegen ablehnend reagiert, weil man glaubte, sie bedeute als psychologische Behandlung seelischer Phänomene gegenüber den Ver­suchen, Seelisches als Stoffwechselprozesse erklären zu wollen, einen Rückfall in die Mystik. Darüber hinaus sah man zweitens in dem Versuch, Krankheit nicht nur als (isolierten) organischen Prozess sehen und behandeln zu wollen, einen Einbruch in medizinische Gebiete, die man glaubte, mit Physik und Chemie alleine restlos und erfolgreich erobern zu können: Die „res extensa“, genannt „Körper“.

Der neue methodische Zugang der Psychosomatischen Medizin hatte daher leider gerade in der Krankenbehandlung, wo er sich segensreich hätte entfalten sollen, Wi­derstände zu gewärtigen. Diese Widerstände aus der Medizinerschaft zählen zu den vielfältigen Problemen, die sich der Psychosomatischen Medizin darboten. „Heilung“ war durch die Verpflichtung der Medizin auf ein apsychologisches Krank­heitsverständnis wesentlich Anwendung von physikalisch-chemischen Labormetho­den, „Krankheit“ mit Organdefekt gleichgesetzt.

Mit dem Aufkommen der Psychosomatischen Medizin war der Mediziner, welcher mit Labormethoden Organdefekte heilte, damit konfrontiert, dass nun psychologische Methoden entwickelt worden waren, von denen er nichts verstand, die aber zu den Labormethoden bei der Heilung körperlicher Krankheiten hinzutraten und erfolg­reich waren. Heilung von Leid – das Ziel ärztlicher Tätigkeit schlechthin – war plötz­lich etwas geworden, wovon der Labor-Mediziner nur die eine Hälfte – von der Tie­fenpsychologie gar nichts – verstand. Paradoxerweise besassen andere – medizinische Laien, aber psychologische Fachleute – über seelische Faktoren der Krankheitsentste­hung mehr Wissen als er.

Hieran entzündete sich die Frage der „Laienanalyse“. Sollte der Nichtmediziner zur Psychotherapie berechtigt sein? Das hiesse, dass „Heilung“ auch von medizinischen „Laien“ betrieben werden dürfte. Ein Ziel, das bis dahin gänzlich ärztlich war. Ne­ben dieser Frage und allen anderen wissenschaftlichen Konsequenzen, die die psy­chosomatische Betrachtungsweise für Ätiologie, Diagnose, Prognose, Therapie und Forschung hatte, stand damit auch die Frage nach der psychologischen Ausbil­dung des Arztes im Raum. Alexander schloss sich in dieser Frage Ende der 20er Jahre Freud an.

 

1.2. Die psychologische Bildung des Arztes

Der 13. Band der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse enthält jene Dis­kussion zur „Laienanalyse“, die unter den Mitgliedern der Internationalen Psycho­analytischen Vereinigung im Jahr 1927 zur Vorbereitung des nächsten Kongresses schriftlich geführt wird. Anlass ist eine Klage der Wiener Behörde gegen Reik, der als ausgebildeter Psychoanalytiker, aber Nichtmediziner – als „Laie“ also und gerade deswegen – der „Kurpfuscherei“ beschuldigt wird. Eine Anklage, die nach Vorunter­suchung und Gutachtenerhebung fallengelassen wird, die aber unter den Analyti­kern zu heftigen und kontroversen Diskussionen führt. Freud nimmt in dieser Dis­kussion eine konsequente Haltung ein, „es käme nicht darauf an, ob der Analytiker ein ärztliches Diplom besitzt, sondern ob er die besondere Ausbildung erworben hat, deren es zur Ausübung der Analyse bedarf.“ (Freud, 1927, S. 326, eigene Hervorhe­bung, d.V.)

Es ist dies eine Festigkeit in grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Fragen des Unterschiedes der damaligen ärztlichen von der neuen psychologischen Tätigkeit, die Foudraine (Foudraine, 1976, S. 346) hervorhebt. Freud wusste „wie unfreund­lich, ja, wie gehässig abweisend sich die Ärzteschaft von Anfang an gegen die Ana­lyse benommen hat“ (Freud, 1927, S. 327), und verneint eindeutig: Die richtige Ausbildung für den Analytiker „sei nicht die, welche die Universität dem zukünfti­gen Arzt vorschreibt“ (ebd., S. 326), denn die Psychoanalyse sei „kein Spezialfach der Medizin“. (ebd., S. 327) Anzustreben sei die Errichtung ‚analytischer Hochschulen‘ – ein zu schaffender Stoffplan für die Kandidaten

„muss geisteswissenschaftlichen Stoff, psychologischen, kulturhistorischen, soziologischen ebenso umfassen wie anatomischen, biologischen und entwicklungsgeschichtlichen.“ (ebd.)

Freud vertritt in dieser Frage einen Standpunkt, in welchem ihm interessanterweise unter den Analytikerkollegen nur wenige folgen – unter ihnen vielleicht am prägnantesten Alexander (Foudrain, 1976, S. 346). Für ihn ist die Psychoanalyse eine selbständige „Wissenschaft der seelischen Vorgänge […] der geistigen Persönlichkeit“ (Alexander 1927b, S. 215) des Menschen, mit „neuen Methoden und Voraussetzungen“ (ebd.) abseits von der Medizin geschaffen. Die Medizin habe „bis jetzt die psychologische Seite des Menschen sehr vernachlässigt“ (ebd.), und nichts Gemeinsames „mit den bisherigen Bestrebungen der Schulmedizin [ …], pathologische Seelenzustände von der Seite der Gehirnanatomie und Pathologie zu erfassen.“ (ebd.)

„So wurde es möglich, dass der Laie, das heisst der ‚Nichtarzt‘, durch das Studium der Lehren von Freud imstande ist, den Psychoneurotiker zu verstehen und zu heilen, während der Arzt ohne psychoanalytische Kenntnisse diesen Kranken verständnislos und machtlos gegenübersteht. [ …] Der heutige Arzt, wenn er selbst nicht psychologisch begabt ist, erwirbt durch seine Studien auf der medizinischen Fakultät nichts dazu. Vielleicht bringt ihm sogar die einseitige Betrachtung der Körpervorgänge und die ganze wissenschaftliche Mentalität der Schulmedizin noch weiter vom psychologischen Verständnis und Interesse ab.“ (ebd.)

Die Behandlung von Neurosen also an die Bedingung der medizinischen Vorbildung zu knüpfen, ist nach Alexander sinnlos, trägt doch diese „zum Erlernen solcher Behandlungen fast nichts“ (ebd.) bei, und die Erfahrung zeigt, dass der „Laienanalytiker“ genauso gut Neurosen heilt wie der ärztlich vorgebildete Analytiker. Ja der „Laienanalytiker“ ist oft psychologischem Gedankengut offener, „weil unbelastet von der autoritativ gestützten, einseitig apsychologischen, ja antipsychologischen Einstellung der Schulmedizin.“ (ebd., S. 219) Der psychologisch ungebildete Arzt dagegen – so Alexanders – weit mehr Schaden anrichten, weil er,

„durch die hinter ihm stehende Autorität der Schulmedizin geschützt, seine therapeutische Aufgabe ohne Folgen seiner psychologischen Unwissenheit wegen mangelhaft ausüben darf.“ (ebd., S. 218)

Auch wenn die Tatsachen derart einfach liegen, ist die Frage der „Laienanalyse“ dennoch in der allgemeinen Diskussion gerade deshalb geeignet, die Gemüter zu erregen, „weil die Stellung der Psychoanalyse zur Medizin ungeklärt ist.“ (ebd., S. 215) Dies sei auch unter den Analytikern ein Problem, und Alexander drängt daher darauf, „die störenden affektiven Beimischungen aufzuklären“ (ebd., S. 216), um die Frage nach dem Verhältnis von Tiefenpsychologie und Medizin wirklich klären zu können.

Dies beinhaltet deutliche Kritik an einigen Analytikerkollegen und deren nicht allzu selbstbewusste Reaktion auf die Missachtung der Tiefenpsychologie durch die ‚Schulmedizin‘. Alexander schliesst sich hierin Freuds Deutung an, dass viele gerade unter den ärztlichen Analytikern für eine ärztliche Vorbildung des Analytikers votieren, weil sie – unter dem persönlich unangenehm empfundenen Eindruck der Missachtung ihres Standes seitens der offiziellen Medizin stehend – dem unberechtigten aber unangenehmen Vorwurf, ‚unwissenschaftliche Heilkünstler‘ zu sein, dadurch begegnen wollten, dass sie ihr eigenes Arzttum überbetonten. Die Tiefenpsychologie habe keinen Grund – so Alexander -, sich in ihrer Wissenschaftlichkeit in Frage zu stellen.

„Wenn die Behandlung der Psychoneurosen aus den Händen der Neuro­logen und Psychiater auszurutschen droht, so ist das nur die Folge der geschichtlichen Entwicklung in der Medizin, die in der letzten Zeit unter dem Eindruck der gewaltigen Erfolge der physikalischen Chemie das kat exochen Biologische, nämlich das Psychologische, vernachlässigte. Die Psychoanalyse kann der Medizin die grössten Dienste dadurch erweisen, wenn sie in selbstbewusster Betonung ihrer eigenen Leistung die medizinische Wissenschaft zur Einsicht der Einseitigkeit ihrer letzten Entwicklung zwingt und damit eine neue Epoche in der Geschichte der Medizin vorbereitet, die die menschliche Persönlichkeit und den Körper als eine Einheit betrachten wird.“ (ebd.)

Dringlicher und sachlich weitaus begründeter als alle Kontrolle der „Laien“ scheint (dem Mediziner!) Alexander deshalb die Aufgabe, „den Mediziner zur Einsicht zu bringen, dass, wenn er dem kranken Menschen helfen will, er auch psychologisch gebildet sein muss.“ (ebd.; eigene Hervorhebung, d. V.)

Auch müsse man dem Tiefenpsychologen von medizinischer Seite her nicht klar machen, „dass die Grenze, wo die funktionell bedingte Störung aufhört und die or­ganische beginnt, eine schwankende ist.“ (ebd.) Der Psychologe weiss, was der Arzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gewusst hat, einer einseitig ausgerichteten Medizin während des 19. Jahrhunderts jedoch fast in Vergessenheit geraten ist, dass nämlich der Ausbruch einer Krankheit nicht allein von somatischen Faktoren, sondern auch vom Seelenzustand des Patienten abhängig ist, „in dem ihn die Infektion trifft.“ (ebd., S. 217)

Zumindest stehe jedoch nach Alexander die Forderung nach der ärztlichen Vorbildung der Tiefenpsychologen -der „Laien“ -, gleichberechtigt der Forderung gegenüber, der Mediziner müsse psychologische Kenntnisse haben, um dem Kranken helfen zu können: Der „moderne, verständige Arzt“ (ebd.) befragt selbstverständlich auch den Tiefenpsychologen zur Diagnosenstellung.

Hatte die Ära des Virchowschen Krankheitsbegriffes das Psychologische extrem vernachlässigt und dadurch ein Fiasko (Alexander) erlebt, so kehrt mit einer Psychosomatischen Medizin der

„Seelsorger [ …] als Psychoanalytiker zurück, mit empirischem Wissen ausgerüstet, und seine psychologische Auskultationstechnik bleibt hinter dem Physikalischen weder an Wissenschaftlichkeit noch an Leistungsfähigkeit zurück.“ (ebd.)

Sieht man mit Alexander die menschliche Persönlichkeit und den Körper als Einheit, und die Zukunftsentwicklung der Medizin „in der Vereinheitlichung der gesamten Pathologie, sowohl der seelischen wie der körperlichen“ (ebd.), bedeutet dies eine Zukunftsforderung für die Ausbildung des Arztes. Er muss „die Struktur und die Funktion der Persönlichkeit ebenso wie die Anatomie und Physiologie des Körpers“ (ebd.) kennen. Sowohl der ‚Laienanalytiker‘ wie der psychologisch ungebildete Arzt sind in diesem Licht für Alexander „vorübergehende Zeiterscheinungen“. (ebd.)

1927 sieht Alexander noch keine Möglichkeit, in diesem Sinne direkten Einfluss auf die ärztliche Ausbildung zu nehmen. Die grösste Möglichkeit, in einem ganzheitlichen Sinn auf die Entwicklung der Medizin zu wirken, erkennt er dort, wo die Tiefenpsychologie der gängigen medizinischen Ausbildung eine „ebenbürdige psychoanalytische Ausbildung an die Seite zu stellen vermag.“ (ebd., S. 218)

Im Zuge der Ausbildungsarbeit am Berliner Psychoanalytischen Institut zeigen sich während der 20er Jahre hierfür die ersten Erfolge. Es ergibt sich dort, „dass die Psychoanalyse ganz ähnlich wie jede andere medizinische Disziplin dem Unterricht zu­gänglich ist.“ (ebd., S. 219) Das ist für Alexander der Anfang eines Weges,

„an dessen Ende ein Lehrinstitut steht, in dem der Student die Kenntnis des seelischen Apparates ebenso erwerben wird, wie er heute an der medizinischen Fakultät über den menschlichen Körper unterrichtet wird. Der weitere Ausbau des psychoanalytischen Unterrichts einerseits, die Entwicklung der Kenntnisse über die seelische Bedingtheit von organischen Prozessen andererseits werden zu einem Zustand führen, in dem der Mediziner ohne psychologische Kenntnisse ebenso ein Unding sein wird wie der Laienanalytiker.“ (ebd.)

 

2 Psychosomatische Medizin, eine Methode

Psychosomatische Medizin als neuer methodischer Zugang hatte, wie wir gesehen haben, bedeutende Konsequenzen für die Ausbildung des Arztes, hat dies aber auch für alle anderen Bereiche medizinischer Forschung und Therapie. Psychosomatik ist hierbei für Alexander wesentlich Methode. Die Psychosomatische Medizin ergänzt den Virchowschen Krankheitsbegriff. Ein neues, erweitertes Krankheitsverständnis entstand, wovon alle Bereiche der Medizin betroffen waren und sind. Das zog auch die Forderung nach verstärkter interdisziplinärer Kooperation nach sich, denn Krankheit konnte nicht mehr länger monokausal verstanden werden. Sie erwies sich als multikausales Gebilde, an welchem gleichermassen somatische wie psychische Faktoren beteiligt sind, und zu deren Erforschung und Heilung mit vereinten Kräften gearbeitet werden muss. Psychosomatische Medizin ist daher nur in Kooperation möglich und in diesem Sinne auch historische Kooperation, weil aus ihr hervorge­gangen.

 

2.1. Psychosomatische Medizin als historische Kooperation

Ab 1932 beginnt Alexander seine Pläne der Forschung, Ausbildung und Therapie nach und nach in die Tat umzusetzen. Das in diesem Jahr neugegründete „Chicago Institute for Psychoanalysis“, dessen Leiter er über zwanzig Jahre sein sollte, wird im Dienste des Ziels von 1927 – jener „Vereinheitlichung der gesamten Pathologie“ – zur Ausbildungsstätte für Analytiker und Mediziner, wo die Begrenztheit der Privatpraxis durchbrochen werden kann und auch eine „systematische Bearbeitung der Grenzgebiete“ (Alexander, 1932, S. 533) der Tiefenpsychologie [gemeint ist vor allem die Psychosomatik, d.V.] möglich wird, die der Praktiker notwendigerweise vernachlässigen muss, wenn sie nicht „… mit dem Interesse des einzelnen Patienten direkt zusammenfallen“. (ebd.)

Zwei grosse Projekte, die in einer Privatpraxis nicht durchgeführt werden können, nehmen Alexander und seine Kollegen in den folgenden Jahrzehnten in Angriff: Grundlagenforschungen einer Psychosomatischen Medizin und systematische Psychotherapieforschung. Beide hängen eng zusammen. Die genaue Erforschung vieler Fälle bestimmter häufiger psychogener Erkrankungen zeigten Alexander, dass gerade hier mit der klassischen psychoanalytischen Behandlungstechnik keine oder kaum Erfolge zu erreichen waren. Hieraus erwuchs seine systematische Psychotherapiefor­schung, die innerhalb der Psychoanalyse erstmals seit Freud völlig neue Wege einschlug und eine dynamische Psychotherapie schuf, die auf dem Gebiet der Neurosentherapie und Neurosenprophylaxe vergleichbares zu dem schuf, was Fromm-Reichmann auf dem Gebiete der Psychosentherapie hervorgebracht hatte. Im Rahmen dieser Arbeit kann hierauf leider nicht näher eingegangen werden.

1932 erscheint „The Medical Value of Psychoanalysis“ (Alexander, 1932a), das dem Aufbau eines Selbstverständnisses der Tiefenpsychologie gegenüber der Medizin gewidmet ist. Dessen zweite stark erweiterte Auflage wird 1936 veröffentlicht, bereits als Frucht der Zusammenarbeit am „Chicago Institute for Psychoanalysis“ mit Catherine L. Bacon, Thomas M. French, Margaret W. Gerard, Edwin Eisler, Harry B. Levey (Lee), Maurice Levine, Helen V. McLean, Karl Menninger, William C. Menninger, George Mohr, Leon J. Saul, Lucia Tower und George W. Wilson, Mitarbeiter die George H. Pollock, der nachmalige Präsident des „Chicago Institute for Psychoanalysis“, 1984 als „founding pioneers“ des Instituts ehrt. (Pollock, 1984, S. 3)

Im Kapitel „Psychic influences on body functions“ (Alexander, 1936, S. 158ff) legt Alexander das theoretische und klinische Fundament der systematischen Grundlagenforschung einer Psychosomatischen Medizin, wie sie das Chicago Institute begründete. Die Darstellung klinischer Beispiele aus der Arbeit des Instituts steht dabei hinter den allgemeinen theoretischen Zielen des Buches zurück. 1948 geben Alexander und French die „Studies in Psychosomatic Medicine“ (Alexander, 1948a) heraus, eine umfangreiche Sammlung von bis dahin verstreut veröffentlichten ausgewerteten klinischen Beispielen aus psychosomatischen Forschung des Chicago Institute von 1932 bis 1948 – Ergebnis der Kooperation des Mitarbeiterstabes: Bacon, Bernstein Jr., Bollmeier, Gerard, Grinker, Grotjahn, Johnson, Levey, Levine, McLean, Menninger, Meyer, Miller, Portis, Saul, Shapiro, van der Heide und Wilson.

‚Psychosomatik‘ hat hier bereits seine für Alexander und das Chicagoer Institut leitende Bedeutung:

„We use the expression ‚psychosomatic‘ exclusively as a methodological concept; it is a type of approach in medicine: a simultaneous study and treatment of psychological and somatic factors in their mutual interrelation.“ (ebd., S. V)

1950 schliesslich erscheint – dem früheren Buch „The Medical Value of Psychoanalysis“ erwachsen – als systematische Auswertung der Chicagoer Forschungen das Buch „Psychosomatic Medicine“, 1951 unter dem Titel „Psychosomatische Medizin“ auf Deutsch übersetzt und Resultat der 17 jährigen Zusammenarbeit am „Chicago Institute for Psychoanalysis“. Es ist die erste systematische, tiefenpsychologisch orientierte Theorie psychosomatischer Krankheiten.

Es wird somit deutlich, dass eine Psychosomatische Medizin historisch in Kooperation entstand, weil sie selbst zutiefst kooperativ ist. Die „Gemeinsame Arbeit“, schreibt Alexander in einer Informationsbroschüre des Chicagoer Instituts vom Oktober 1932, „ist die beste und erfolgreichste Methode zur Förderung gegenseitigen Respektes.“ (Alexander, 1932b, S. 533)

 

2.2. Begriffsbestimmung: ‚Psychosomatische Medizin‘ und ‚psychosomatische Krankheit‘

Für Alexander ist ‚Psychosomatische Medizin‘ und ‚Psychosomatik‘ vor allem Methode:

„Psychosomatische Medizin ist kein neues Spezialfach wie Geburtshilfe oder Augenheilkunde, sondern ein Gesichtspunkt, der sich auf alle Gebiete der Medizin anwenden lässt. Sie ist eine neue Richtung in Theorie und Praxis der Medizin. Sie ist im Wesentlichen ein zusätzlicher Gesichtspunkt zur konventionellen ärztlichen Betrachtungsweise.[ …] Dies ist eine methodologische Definition, die sich auf ein allgemeines Prinzip in der Theorie, Therapie und Forschung bezieht.“ (Alexander, 1957a, S. 280)

Im Wesentlichen besteht diese „neue Richtung“ in der Medizin darin, „dass man systematisch Persönlichkeitsfaktoren Beachtung schenkt, soweit diese das Krankheitsgeschehen beeinflussen.“ (ebd.)

Gewissen Krankheiten dadurch als ‚psychosomatische Krankheiten‘ von den anderen Krankheiten absondern zu wollen – wie zum Beispiel Halliday als Hauptvertreter einer solchen diagnostischen Auslegung des Begriffes ‚Psychosomatik‘, wenn er bestimmte Krankheiten, bei denen emotionale Faktoren primäre Ursachen zu sein scheinen, als „psychosomatische Affektionen“ (Halliday nach Alexander, 1957a, S. 280 und 1950b, S. 30) bezeichnet – , ist nach Alexander nicht brauchbar, da emotionelle Faktoren endokrin und vegetativ fast jedes körperliche Geschehen beeinflussen.

„Beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens gibt es keine genügend verlässliche Methode, quantitativ die relative Bedeutung emotioneller gegen lokale somatische Faktoren – sowohl bei verschiedenen Krankheiten als auch in individuellen Fällen – abzuschätzen. Der wichtigste Einwand schliesslich gegen das Absondern bestimmter Krankheiten als psychosomatisch ist, dass emotionelle Faktoren, die für gewisse Krankheiten als typisch angesehen werden, sich auch bei Personen finden, die keine organischen Symptome haben.“ (Alexander, 1957a, S. 281f)

Die Methode sollte deshalb immer Anwendung finden, denn der Patient ist

„nicht nur Träger eines erkrankten Organs  …, sondern auch ein individuelles menschliches Wesen, dessen emotionelle Reaktionen in den spezifischen Krankheitsprozess verwickelt sind.“ (ebd., S. 305)

Zusammen mit den konventionellen ärztlichen Methoden ist ‚Psychosomatische Medizin‘ nach Alexander „gleichzeitige und koordinierte Verwertung von somatischen [ …] und psychologischen Methoden und Vorstellungen.“ (Alexander, 1950b, S. 28)

‚Psychosomatische Forschung‘ erfasst in diesem Sinn nicht nur komplexe Prozesse im Gesamtgeschehen des Organismus, „sondern tritt ihm in seiner Totalität entgegen.“ (ebd., S. 29) Statt einer monokausalen Betrachtung, die erst eine „blosse psychogene Erklärung“ (ebd., S. 30) nahelegen würde, muss nach Alexander unter psychosomatischem Gesichtspunkt ein multikausaler Standpunkt in der Medizin eingenommen werden, will man die Frage nach der Ätiologie psychogener Erkrankungen zufriedenstellen erklären. Dies verbietet es nach Alexander aber psychogene Erkrankungen als Krankheitseinheit zu betrachten.

„Multikausalität und variable Verteilung psychologischer und nichtpsychologischer Faktoren vom einen zum anderen Fall macht den Begriff der ‚psychosomatischen Krankheit‘ als spezifische diagnostische Einheit wertlos.“ (ebd., S. 30)

Da seelische Realität, wie sie in psychogenen Erkrankungen erscheint, immer Ausdruck der ‚Gesamtpersönlichkeit‘ (Alexander, 1927) ist, und Menschen mit vergleichbaren seelischen Störungen in einem Fall organische Symptome entwickeln, in einem anderen jedoch nicht, ist für Alexander eine psychogene Erkrankung keine ätiologische Einheit, wie es zum Beispiel die Infektionskrankheiten sind. Dies liegt wesentlich darin begründet, dass emotionale Spannungen über das endokrine System und vegetativ zu fast allen Körperregionen, zu allen Organen und Organsystemen geleitet werden können.

Hier gerade liegt jedoch der allgemeine Forschungsansatz der Psychosomatischen Medizin begründet. Sie erkennt und erforscht nach Alexander die Tatsache, dass Gefühle endokrin und vegetativ körperliche Funktionen anregen können. Diese Gefühle stellen Hirnprozesse dar. Sie

„werden subjektiv wahrgenommen als Emotionen und können anderen mit Hilfe der Sprache vermittelt werden. Sie lassen sich daher mit psychologischen Methoden erforschen, und, was noch bedeutsamer ist, sie können in adäquater Weise nur mit psychologischen Mitteln untersucht wer­den. [ …] Selbst verbesserte physiologische Methoden werden nur die Un­tersuchung von Vorgängen innerhalb des Organismus möglich machen. Eine biochemische Formel, die ein rezeptives Verlangen irgendwo in der Hirnrinde beschreibt, wird niemals zwischenmenschliche Umstände, denen zufolge dieses Verlangen auftrat oder verstärkt wurde, ausweisen.“ (ebd., S. 29)

Psychosomatische Medizin, so wird deutlich, ist für Franz Alexander kein neues medizinisches Fachgebiet, das eine neue diagnostischen Einheit, genannt ‚psychosomatische Krankheit‘ beschreibt. Sie ist wesentlich neue Methode medizinischer Forschung, ein neues Krankheitsverständnis und in diesem Sinn auf alle Bereiche der Medizin anzuwenden. Die ätiologisch relevanten emotionalen Faktoren des multifaktoriell verursachten Geschehens genannt ‚Krankheit‘ müssen dabei gleichzeitig und koordiniert mit den somatischen Faktoren erforscht und behandelt werden, und sie können allein durch psychologische Methoden verstanden und behandelt werden.

Dies geschieht mit den Methoden der Tiefenpsychologie, welche nach Alexander hierfür die dem Gegenstand – seelische Realität – entsprechende Methode entwickelt hat – das „psychologische Mikroskop“.

 

2.3. Das „psychologische Mikroskop“

Der gewaltige Fortschritt, den die Schaffung einer Psychosomatischen Medizin in fast zwei Jahrzehnten darstellte, konnte für Alexander letztendlich nur auf dem Boden des methodologischen Postulats erreicht werden, dass die Untersuchung seelischer Wirklichkeit als mögliche Quelle körperlicher Leiden ebenso auf eine exakte Grundlagen gestellt werden muss, „wie es bei der Untersuchung der physiologischen Vorgänge selbstverständlich ist.“ (ebd., S. XI) Die methodische Grundlegung einer Psychosomatischen Medizin, setzt also an der Definition exakter psychologischer Methoden an, was auf somatischem Gebiet für die physiko-chemischen Methoden historisch früher bereits geleistet worden war.

Das bedeutet für Alexander, die Psychologie selbst auf einen exakten Boden zu stellen. Mit der Begründung der Tiefenpsychologie durch Freud war für ihn der Weg dazu geebnet. Die Psychologie konnte für Alexander erst exakt werden, als sie auf dem Boden der Entdeckung des Unbewussten durch Freud zur Tiefenpsychologie wurde.

Experimentelle Methode und Empirie

Exakte psychologische Beobachtungsmethoden scheiden die Tiefenpsychologie nach Alexander einerseits endgültig von der deduktiv verfahrenden Philosophie. (Alexander, 1922, S. 35f und 1931a, S. 216) Damit sie aber als empirische Wissenschaft dastehen kann, darf sie andererseits nicht einfach Methoden übernehmen, die für andere Fachgegenstände entwickelt wurden. Sie muss die ihrem Gegenstand angemessene Methode als eigenständige psychologische Methode begründen.

Tiefenpsychologie als exakte empirische Wissenschaft ist nach Alexanders Auffassung in Analogie zur Tat des Galilei Anwendung wissenschaftlichen Denkens auf das menschliche Seelenleben. (Alexander, 1950b, S. 14) Sie kann für ihn nur als deduktiv-induktiv verfahrende kausale Methode exakt sein. Dies soll im folgenden dargestellt werden.

Beobachtungen, für sich genommen, haben noch keinen grossen Wert. „Experimentation without leading concepts is like shooting in the dark.“ (Alexander, 1940, S. 323) Die Einführung der experimentellen Methode für die Beobachtung psychischer Phänomene durch Fechner, die die Entwicklung der Psychologie im 19. Jahrhundert bestimmte, war – so Alexander – eine Übernahme der Untersuchungsmethoden der klassischen Naturwissenschaften, „an extremly artificial procedure“ (ebd., S. 321), denn „here the object of investigation became subordinated to the method.“ (ebd.) Man suchte nicht dem Untersuchungsgegenstand entsprechende Methoden der Beobachtung, sondern stülpte eine fremde Methode dem neuen Gegenstand über und es begann ein „planless study of isolated phenomena“ (ebd.; eigene Hervorhebung, d.V.) „without any leading ideas, working hypotheses, or theoretical assumptions.“ (ebd.)

Dies war – mit anderen Worten – ein Zustand, da die Psychologie ihren eigenen Gegenstand nicht richtig hatte: „to understand mental activity as the functions of highly complex systems of forces – the human personality.“ (ebd.; eigene Hervorhebung, d.V.) Erst die Tiefenpsychologie – so Alexander – seit Freuds Entdeckung des Unbewussten beginnt, den Fachgegenstand des Psychologen – die Gesamtpersönlichkeit – angemessen zu erfassen und gibt so der Psychologie ihre eigentliche Bedeutung zurück. Nicht mehr isolierte „Vermögen“ sind ihr Gegenstand, sondern das „individual human being with all his actual hopes, sorrows, fears, and desires“. (ebd., S. 322)

Alexander geht in Therapie und Forschung primär von der seelischen Realität des Patienten im psychotherapeutischen Prozess aus, denn die Erforschung der Genese seelischer Störungen fällt „zusammen mit den Zielen des Behandelns.“ (Alexander, 1932b, S. 532) Hierin liegt für ihn die Psychologie als empirische Wissenschaft begründet.

Dies resultiert aus dem grundsätzlichen Unterschied zwischen der Behandlung seelischer Störungen und der Behandlung eines körperlichen Leidens. Während es für die Behandlung eines Herzleidens zum Beispiel unerheblich ist – ja manchmal sogar gar nicht erwünscht -, ob der Patient die Natur seines Leidens kennt,

„muss der seelisch Kranke selbst eine Kenntnis seines Leidens erwerben. Auch seine eigene Entwicklung muss er kennen, denn der Ursprung seelischer Störungen geht gewöhnlich weit zurück in seine Vergangenheit. So fällt die Erforschung seiner Entwicklung zusammen mit den Zielen des Behandelns. Diese einzigartige Koinzidenz des wissenschaftlichen und therapeutischen Zieles allein macht es möglich, die psychoanalytische Forschung an Patienten zu leisten. Für das Verständnis und die Erforschung der Persönlichkeit erwies sich die therapeutische Situation jeder anderen Methode überlegen, z.B. der Versuchstechnik im Laboratorium, welche notwendigerweise in einer künstlich geschaffenen Situation vor sich geht. Nur der Kranke, der Hilfe sucht, hat genügend Grund, den intimen Einblick in sein Innenleben zu gestatten, welcher die Vorbedingung jeder Persönlichkeitsforschung ist.“ (ebd.; eigene Hervorhebung, d.V.)

Indem die Beobachtungen während des therapeutischen Verfahrens „wichtigster Ausgangspunkt psychoanalytischen Wissens“ sind (Alexander, 1950a, S. 401), stammt psychodynamisches und psychopathologisches Wissen hauptsächlich und primär aus der Realität des therapeutischen Prozesses, auch wenn selbstverständlich erst ein weiterer Prozess von Schlüssen und Experimenten zu allgemeinen Ergebnissen führen kann.

In diesem Sinn ist die Psychoanalyse für Alexander empirische Wissenschaft, die kausal arbeitet.

Einheit von Deduktion und Induktion

Natürlich ist der Theoriefindungsprozess in der Tiefenpsychologie ein hochkomplizierter Vorgang, wobei ein intensives Wechselspiel zwischen vielen Faktoren stattfindet. Zentrum allen Geschehens ist dabei aber nach Alexander das reziproke Wechselspiel zwischen Persönlichkeitstheorie und dem Verstehen der heilenden Faktoren im therapeutischen Prozess. Aus den Beobachtungen der Gesamtpersönlichkeit in der therapeutischen Situation können allgemeine Aussagen formuliert werden (induktiver Schritt), die ihrerseits wiederum in der Therapie seelischer Störungen angewandt und dabei auch gleichzeitig auf ihre Richtigkeit überprüft werden (deduktiver Schritt) können.

„Präzises Verstehen der therapeutischen Faktoren ist daher für die Verbesserung unserer therapeutischen Technik wie für die Zunahme unseres theoretischen Wissens wichtig.“ (ebd.)

Ausgehend von der Beobachtung des gestörten Seelenlebens, vieler Fälle und der dabei beobachteten breiten Vielfalt möglicher und typischer seelischer Reaktionen und Fehlreaktionen, den daraus gezogenen Schlüssen, die wiederum in neuen therapeutischen Situationen auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden, woraus wieder­um neue Schlussfolgerungen möglich werden, entsteht – so Alexander – mit der Zeit eine konsistente Theorie der menschlichen Persönlichkeit. Solcherart wissenschaftliches Denken auf seelische Wirklichkeit anzuwenden bedeutet im Grunde nichts anderes, als sich dem Fachgegenstand in einem kontinuierlichen Prozess von deduktiven und induktiven Schritten im empirischen Feld der therapeutischen Situation zu nähern.

“ Zwischen Theorie und Therapie besteht eine reziproke Beziehung: Therapeutische Beobachtungen sind der wichtigste Ursprung unseres theoretischen Wissens, andrerseits benutzen wir unsere theoretischen Formulierungen, um unsere Technik zu verbessern.“ (ebd.)

Diese „reziproke Beziehung“ zwischen Persönlichkeitstheorie und Therapie ist nach Alexander letztlich in einem neuen Sinn „naturwissenschaftliches“ Vorgehen, auf den speziellen Untersuchungsgegenstand – die menschliche Gesamtpersönlichkeit – angewandt, ohne dabei den Menschen auf Zahlen reduziert zu haben. Dies kommt in seiner Überzeugung zum Ausdruck, „dass moralische Probleme durch naturwissenschaftliche Methoden studiert [ …] werden können.“ (Alexander, 1950c, S. 666) Die Tiefenpsychologie hat sich in diesem Sinne als eine „empirically founded and consistent theory of personality“ (Alexander, 1931b, S. 363) begründet. Sie stellt im Rahmen einer Psychosomatischen Medizin die exakte Methode dar, seelische Wirklichkeit im psychosomatischen Geschehen von Krankheiten zu beschreiben und zu verstehen.

Fachgegenstand und Methode

Indem eine Psychosomatische Medizin seelische Realität als ätiologischen Faktor in der Genese körperlicher Symptome anerkennt, bringt sie

„ein ganz neues Element in die Medizin. Sie führt ein Forschungsobjekt ein, das mit zeitlichen und räumlichen Begriffen nicht erfasst werden kann und droht so, die Homogenität der Medizin zu stören, die es lieber nur mit chemisch-physikalischen Fakten zu tun hätte [ …] Es gibt seelische Phänomene, sie sind mit anderen biologischen Phänomenen verknüpft, und der Wissenschaftler darf nicht seine Augen [ …] nur darum verschliessen, weil er sie mit den üblichen und erprobten Methoden nicht bewältigen kann. Die Hauptsache ist das Forschungsobjekt – und nicht die Forschungsmethode. Die Methode aber muss der Natur des Objekts angepasst sein.“ (Alexander, 1931a, S. 220)

Tiefenpsychologie, von der seelischen Realität des individuellen Menschen im therapeutischen Prozess ausgehend, muss also ihre Methoden der Natur des beobachteten Gegenstandes – dem Seelenleben des Menschen – . Insgesamt besteht Alexander damit auf dem Primat des Gegenstandes über die Methode.

Das „Messinstrument“

Hat Alexander auf diese Weise Fachgegenstand und methodisches Postulat erfasst, stellt sich für ihn die Frage, mit welchem Instrument der Psychologe beobachten kann und soll und wie seine psychologische Beobachtung zu allgemein gültigen Erkenntnissen gelangen kann. Indem er dabei die Frage nach dem „Wie“ des psychologischen Beobachtungsprozesses stellt, fragt er auch gleichzeitig danach, wie der Mensch seine und seiner Mitmenschen seelische Wirklichkeit richtig verstehen lernen kann und warum eine solcherart gewonnene Erkenntnis richtig ist. Deshalb postuliert Alexander: „The first assumption made by every psychologist is that minds can study minds.“ (Alexander, 1949a, S. 33)

Zu fragen, wie der Psychologe richtig beobachten kann, heisst für Alexander zuerst einmal zu fragen, womit er das tut. „Jede Wissenschaft beruht auf der Verfeinerung und systematischen Entwicklung der Beobachtungsmethoden des täglichen Lebens.“ (Alexander, 1931a, S. 221)

Wenn der Biologe zur Untersuchung zellulärer Abläufe das Mikroskop benutzt, so gebraucht er damit ein Instrument, welches im Grunde genommen nichts anderes ist, als eine Verfeinerung der natürlichen Sehfähigkeit. Die Fähigkeit des Psychologen, seelische Abläufe beobachten zu können, beruht ebenso auf der Verfeinerung einer Alltagsfähigkeit, auf einer natürlichen Fähigkeit des Menschen, sich in einen anderen Menschen eindenken und einfühlen zu können, die er auch ‚common sense‘ nennt. (Alexander, 1949a, S. 23) „Its chief instrument is identification“. (ebd.)

Menschliche Idendifikationsfähigkeit wird durch Verfeinerung gewissermassen zum ‚psychologischen Mikroskop‘. (Alexander, 1960, S. 53) Sie bildet das wesentlich neue „Messinstrument“, das in einer Psychosomatischen Medizin nach Alexander zu den physikalischen und chemischen Verfahren gleichberechtigt hinzutritt. Die Methode der Tiefenpsychologie ist dabei „basically different from those employed in the natural sciences.“ (Alexander, 1949a, S. 23) In allen empirischen Wissenschaften sind Beobachter und Beobachtungsobjekt zunächst getrennt. In der Psychologie dagegen sind Beobachter und Beobachtungsobjekt von Anfang an ähnliche Wesen, Menschen, und damit sind „both its methods and its objects  … psychological“. (ebd., siehe auch 1931a, S. 221, eigene Hervorhebung, d.V.). Deshalb sieht sich der Forscher bei seinem Unterfangen, psychologische Vorgänge beobachten zu wollen „confronted with the seemingly unsolvable problem of cutting a knife with a knife.“ (Alexander, 1949a, S. 33) Die grossen Schwierigkeiten, die sich hier in den Weg stellen, erklären „zur Genüge, warum die Psychologie so lange keine Methode finden konnte“. (Alexander, 1931a, S. 225)

Zusammenfassend gesagt besteht nach Alexander also das ‚psychologische Mikroskop‘, das eine Psychosomatische Medizin möglich macht, in der Schulung der natürlichen Fähigkeit des Menschen, sich zu einem gewissen Grade in den Mitmenschen eindenken und einfühlen zu können, welche im therapeutischen Prozess zur Beobachtung seelischer Realität dient, und ebenso zur Heilung seelischer Störungen eingesetzt werden kann.

 

3. Psychosomatische Wechselbeziehungen

3.1. Psychogenese

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass Alexander die Psychogenese eines körperlichen Symptoms nicht als „Sprung [ …] aus dem Seelischen in die somatische In­nervation“ (Freud, 1966, S. 382) versteht. Das entspricht auch seinem philosophischen Rückgriff auf Spinozas Lehre einer einzigen Substanz. Es gibt keinen Moment für ihn, da etwas Geistiges in Körperliches „übergeht“, keinen rätselhaften „Sprung“.

Emotionale Zustände, die von ungelösten seelischen Konflikten unterhalten werden, sind selbst psychosomatische Gebilde. Gefühle „bewegen“ in diesem Sinne nicht die „res extensa“. Sie sind subjektiv wahrgenommene psychosomatische Prozesse.

Wir haben weiter gesehen, dass Alexander ‚Psychosomatische Medizin‘ als methodischen Zugang versteht, als in allen Gebieten der Medizin anwendbar. Eine dia­gnostische Einheit ‚psychosomatische Krankheit‘ erscheint ihm dabei aufgrund der multifaktoriellen Genese körperlicher Symptome wertlos. Generell nähert sich Alexander dem Verständnis psychosomatischer Wechselbeziehungen unter der Hypothese, „that recurring or emotional stress has a cumulative physiological effect and eventually may produce chronic reversible or irreversible organic dysfunction.“ (Alexander, 1962, S. 20)

Die Beobachtungen entstammten den biographischen Anamnesen von Einzelfallanalysen, in denen die lebensgeschichtliche Genese emotionaler Konflikte eines Menschen und die Ereignisse rekonstruiert wurden, die diese unverarbeiteten inneren Konflikte unmittelbar vor Auftreten der körperlichen Symptome reaktiviert hatten.

Fast alle körperlichen Funktionen können von seelischen Quellen beeinflusst werden. Funktionell kann man die ‚willkürlichen Verhaltensweisen‘ als eine Gruppe körperlicher Funktionen fassen, welche unter dem Einfluss psychologischer Motivationen durchgeführt werden. Die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen kann dabei

„als ein komplexer psychosomatischer Prozess betrachtet werden, ein zielstrebiges willkürliches Verhalten, das unter der Herrschaft gewisser psychologischer Einflüsse (Motivierungen) durchgeführt wird.“ (Alexander, 1950b, S. 33)

Als zweite Gruppe erscheinen die ‚Ausdrucksinnervationen‘, körperliche Prozesse wie Weinen, Seufzen, Lachen, Erröten, Gestikulieren und Grimassieren, „die unter dem Einfluss spezifischer Spannungen stattfinden.“ (ebd., S. 34), deshalb auch bestimmte Emotionen ausdrücken und der Entlastung von emotionalen Spannungen dienen. Wobei allerdings noch „weitere feine psychologische Faktoren“ (ebd.) hinzukommen müssen. Alexander schreibt ihnen „keine nützlichen Ziele  … [zu, d. V.] Sie dienen nicht der Befriedigung irgendeines fundamentalen biologischen Bedürfnisses.“ (ebd., eigene Hervorhebung, d. V.) Auch sexuelle Phänomene rechnet Alexander hierzu, weil sie „der Entlastung spezifischer Triebspannungen dienen.“ (ebd., S. 35)

Können aufgrund psychopathologischer Konflikte solche Spannungen nicht „auf den gewöhnlichen Kanälen der Ausdrucksinnervationen entladen werden“ (ebd.), so muss der Kranke unbewusst „seine eigenen individuellen Ausdrucksinnervationen in der Form von Konversionssymptomen erfinden“ (ebd.)

 

3.2. Konversionssymptome

Freud hatte bestimmte körperliche Symptome

„als symbolischen Ausdruck verdrängter Triebe [erklärt, d.V.], die aufgrund ihrer ich-fremden Natur nicht durch willkürliche sinnvolle Handlungen zum Ausdruck gebracht werden können.[ …] Konversionssymptome haben eine bestimmte psychologische Bedeutung, die man rekonstruieren und mit Hilfe der Psychotherapie manchmal sogar bewusst machen kann. Nachdem sie bewusst geworden sind, können sie modifiziert werden und in selbstbestimmtem Verhalten adäquaten ich-gerechten Ausdruck finden. Dann verschwindet das Symptom.“ (Alexander, 1957a, S. 284)

Hysterische Lähmungen als symbolische Handlungen kommen nach Alexander nur im Bereich der willkürlich innervierten Muskulatur – zum Beispiel Sprache, Grimassieren, Gestikulieren, Lachen, Weinen und anderes – und den Sinnesorganen vor, „Organe, die eine psychologische Repräsentation haben und einen psychologischen Inhalt ausdrücken können.“ (ebd.) Hier – und nur hier – können körperliche Symptome nach Alexander symbolisch gedeutet werden.

„Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass innere Organe wie die Leber oder die kleinen Arteriolen der Niere in symbolischer Weise Ideen auszudrücken vermögen. Das will nicht heissen, dass sie nicht durch emotionale Spannungen beeinflusst werden können, die ja über kortikothalamische Bahnen zu jeder beliebigen Körperstelle hingeleitet werden können.“ (Alexander, 1950b, S. 22)

Es war in Deutschland vor allem Groddeck, der das Freudsche Modell der Konversionshysterie als Modell auf alle Krankheiten anwenden wollte, also auch auf Störungen vegetativer Funktionen – Verdauung, Kreislauf o. ä. (Groddeck, 1983) Solche Deutungen waren bizarr und konnten nicht verifiziert werden. Körperliche Funktionen, die nicht unter vegetativer Kontrolle stehen, können nach Alexander nichts Psychologisches ausdrücken.

Die beiden bisher besprochenen Gruppen körperlicher Funktionen – die ‚willkürlichen Verhaltensweisen‘ und die ‚Ausdrucksinnervationen‘ – unterliegen der willentlichen Steuerung durch das zentrale Nervensystem. Innerhalb dieser beiden Gruppen können körperliche Symptome Symbole seelischer Inhalte sein.

Der Ausdruck ‚willentliche‘ Steuerung bezieht sich lediglich darauf, dass körperliche Funktionen wie zum Beispiel die Bewegungen der Arme nicht automatisch gesteuert werden, sondern für alle Bewegungen frei verfügbar sind. Es kann dabei auch eine ‚willentliche‘ Steuerung dieser körperlichen Funktionen stattfinden, die von unbewussten Motiven getragen ist. ‚Willentlich‘ ist also nicht identisch mit ‚bewusst‘, ein entscheidender Unterschied.

Bei der dritten Gruppe körperlicher Funktionen, den vegetativen Reaktionen, findet sich nach Alexander kein symbolhafter seelischer Ausdruck und sie sind normalerweise nicht willentlich gesteuert. Dies ist das Gebiet der ‚Organneurosen‘.

 

3.3. Organneurosen

Körperliche Störungen, die an vegetativen Funktionen ansetzen, besonders viszerale Reaktionen auf emotionelle Reize, – Funktionen also, die nicht der willentlichen Steuerung unterworfen sind – müssen nach Alexander anders als die Konversionssymptome erklärt werden:

„Es erscheint genügend bewiesen, dass emotionale Einflüsse die Funktion eines jeden Organs anregen oder hemmen können. Beim Nachlassen der emotionalen Spannung kehren die Körperfunktionen zu ihrem normalen Gleichgewichtszustand zurück. Wann immer eine solche emotionale Erregung oder Hemmung einer vegetativen Funktion chronisch oder exzessiv wird, so bezeichnen wir sie als eine ‚Organneurose‘.“ (ebd.)

Dies beruht auf dem Phänomen der ‚funktionellen Störung‘, ein Begriff, der ursprünglich aus der Inneren Medizin stammt. Er beschreibt Störungen der Organfunktionen in Intensität und Ablauf, die zunächst keine Veränderung der anatomischen Struktur des Organs zur Folge haben. Sie werden

„zumindest teilweise von nervösen Impulsen verursacht [ …], deren eigentliche Quelle emotionale Prozesse sind, die irgendwo in den kortikalen und subkortikalen Bezirken des Gehirns ablaufen.“ (ebd.)

Aufgrund andauernder Belastung des Körpers durch funktionelle Beschwerden können Organschäden entstehen. ‚Funktionelle Störungen‘ sind nicht, wie man früher dachte, Folge sondern Ursache von Strukturveränderungen an Organen oder Organsystemen und können damit Erkrankungen zur Folge haben: Organneurosen.

Eine ‚Organneurose‘ – Alexander spricht auch von ‚vegetativer Neurose‘ (ebd.) – ist kein „Versuch, eine Emotion zum Ausdruck zu bringen, sondern ist [ …] physiologische Reaktion“ (ebd.) auf chronisch funktionelle Störungen. ‚Psychogenese‘ im vegetativen und viszeralen Bereich heisst nach Alexander nicht, dass zum Beispiel durch ständige Gefühle der Wut ein Bluthochdruck entsteht – eine emotional verursachte Blutdrucksteigerung.

Wut entsteht als Folge bestimmter Reaktionen auf auslösende Situationen. Die Emotion Wut selbst ist dabei bereits ein psychophysisches Gebilde – wie dies Cannon (1975) zeigt – und besteht aus physiologischen Prozessen, die subjektiv als Wut wahrgenommen werden, und sie hat eine Vielzahl von Reaktionen zur Folge – eine davon ist die Steigerung des Blutdruckes.

Die zwischenmenschlichen Konflikte, die die Wut verursachen, reaktivieren oder unterhalten, sind dabei nur mit psychologischen Methoden der Introspektion zu erforschen. Wut ist damit nicht etwas, was man „ablassen“ kann oder muss, um „angestaute“ Probleme zu lösen. Wut entsteht nach Alexander nicht durch Stauung von Emotionen. Wut ist die (psycho)logische Folge ungelöster innerer Konflikte – also Symptom. Als Symptom ist sie selbst eine psychosomatische Einheit und hat weitere körperliche und psychische Reaktionen zur Folge.

„Wut wird durch Erhöhung des Blutdrucks weder ausgedrückt noch entladen; diese Erhöhung des Blutdrucks ist ein wesentlicher Bestandteil der Wutreaktion.[ …] Ungleich einem Konversionssymptom wird die Wut nicht durch Erhöhung des Blutdrucks ersetzt oder zum Verschwinden gebracht, sondern die begleitenden vegetativen Veränderungen bleiben bestehen, solange die Wut anhält.“ (Alexander, 1957a, S. 285)

Damit ist der grundsätzliche psychosomatische Ansatz Alexanders gegeben: trägt ein Mensch innere Konflikte mit sich, die in ihm anlässlich bestimmter Ereignisse Wutgefühle oder Angstgefühle aktivieren, deren Genese ihm unbewusst sind, so reagiert er gemäss diesem inneren Konflikt mit ständigen emotionellen Fehlwahrnehmungen seiner Umwelt. Ein Mensch zum Beispiel, der einen ungelösten Konflikt mit seinem Vater mit sich trägt, kann anlässlich einer Leistungsprüfung grosse Äng­ste entfalten, den Anforderungen, die er – wie er die Ansprüche des Vaters ungeheuer hoch und unbewältigbar erlebte – zu hoch erlebt, nie genügen zu können. Die Angstreaktion soll ihn unbewusst vor der Niederlage schützen. Der äussere Anlass Prüfung aktiviert den inneren Konflikt.

Da ihm dieser Zusammenhang nicht bewusst ist, hat er ständig Angst, zu versagen, denn er kann auch seine Angst vor dem möglichen Versagen nicht in einer zwischenmenschlichen Beziehung ansprechen, da dies wiederum in ihm die Angst nährt, man könnte entdecken, dass er versagen könnte. So kann ein chronifizierter Angstzustand entstehen, der nicht gelöst wird, und der seinerseits ständige vegetative Reaktionen zur Folge hat.

Durch die spezifische psychologische Spannung werden ständige Körperveränderungen aufrechterhalten, was schliesslich zu vegetativen Dystonien und schliesslich zu Organschäden oder Krankheiten führen kann. Alexander sagt:

„Die allgemeine dynamische Formel besagt, dass, wann immer gewisse Antriebe verdrängt oder in ihrem Ausdruck in zwischenpersönlichen Beziehungen gehemmt werden, sich ein chronischer emotioneller Spannungszustand entwickelt, der wegen seiner chronischen Natur einen stetigen Einfluss auf bestimmte vegetative Funktionen ausübt.“ (ebd., S. 285 f)

Die zwischen dem psychologischen Reiz – im obigen Beispiel also der Angst, dem verinnerlichten Anspruch des Vaters nicht genügen zu können – und dem von ihm aktivierten organischen Vorgang bestehende Beziehung ist nicht psychologisch; der organische Vorgang selbst hat keine psychologische Bedeutung. Die Angstreaktion in unserem Beispiel ist für Alexander in Anlehnung an Cannon selbst schon ein psychosomatischer Vorgang und aktiviert

„bestimmte physiologische Prozesse, die nicht wie Konversionssymptome diese Emotionen zum Ausdruck bringen oder entladen, sondern den Organismus auf den Notfall vorbereiten, den diese Emotionen anzeigen.“ (ebd.)

Diese grundsätzlichen adaptiven Reaktionen des Organismus sind, wie wir das bei Cannon gesehen haben, als Notfallreaktionen natürlich und sinnvoll. Man kann sich leicht vorstellen, dass das Leben auf der Erde ohne diese Sicherungen kaum hätte entstehen können.

Ein wichtiger Unterschied muss jedoch hervorgehoben werden: In einem anderen Fall bekommt ein Mensch vor einer realen Gefahr Angst. Er wird grosse Angst bekommen und eventuell sinnvollerweise vor der Gefahr fliehen. Dann kann die Angst nachlassen, und die damit verbundenen körperlichen Zustände klingen ab. So wurde der Antrieb nicht gehemmt oder verdrängt.

Im ersten Beispiel mit der Prüfung aber wird die Angst nicht von einer realen Gefahr hervorgerufen – die Prüfung ist ungefährlich und nicht psychologischer Grund der Angst -, sondern ist wesentlich eine neurotische Angst, die aus zwischenmenschlichen Erfahrungen der Lebensgeschichte (Vaterkonflikt) resultiert. Sie kann erst dann dauerhaft aufgelöst werden, wenn ihr psychologischer Grund psychotherapeutisch bearbeitet wird, und sie ist daher mit allen körperlichen Folgen als emotionaler Spannungszustand solange wirksam, wie sie durch unbewusste psychologische Konflikte unterhalten bleibt. Dies kann zu organischen Krankheiten führen.

Wichtig ist nun, dass dies grundsätzliche Zusammenhänge sind, die gut begründet sind, aber für sich genommen noch keine „vollkommene ätiologische Erklärung derjenigen chronischen Erkrankungen darstellen, bei denen emotionelle Faktoren beschrieben worden sind.“ (ebd., S. 287f)

Die Schwierigkeit besteht darin, dass solche chronischen Spannungszustände körperliche Krankheiten hervorrufen können. Sie müssen es aber nicht. Es liegt keine eineindeutige Beziehung vor.

„Die Kenntnis solcher Wechselbeziehungen erklärt lediglich die Rolle des emotionellen Faktors, aber nicht die ganze Ätiologie. Der gleiche emotionelle Konflikt kann bei Personen beobachtet werden, die keine organischen Symptome haben“ (ebd., S. 287)

Der ‚Faktor X‘: spezifische Organempfindlichkeit als Prädisposition
Eine monokausale Erklärung scheidet nach dem bisher Gesagten aus. Man kann beobachten, dass in bestimmten Fällen seelische Faktoren derart stark und gehäuft wirken, dass sie hauptsächlich und ursächlich am Krankheitsgeschehen beteiligt sind, und in diesem Sinn ist die folgende Formulierung zulässig: weil (neben anderen Faktoren) diese Gefühle wirkten, ist es zur Erkrankung gekommen. Es kann daraus jedoch nicht der Umkehrschluss gezogen werden: Wenn diese oder jene seelischen Faktoren auftreten, muss diese oder jene Krankheit auftreten. Die Beziehung ist nicht eineindeutig. Es müssen nach Alexander bei der Entstehung von psychogenen Erkrankungen weitere zusätzliche ‚prädisponierende Faktoren‘ vorhanden sein, die zu den emotionellen Faktoren hinzutreten müssen, damit einer Krankheit ausbricht.

Alexander sieht eine solche Prädisposition in einer Anfälligkeit gewisser Organe beziehungsweise einer ’spezifischen Organempfindlichkeit‘:

„Um die organische Krankheit zu erklären, müssen andere prädisponierende Faktoren postuliert werden, die wir mit dem Ausdruck „spezifische Organempfindlichkeit“ bezeichnen möchten.“ (ebd.)

Zu den seelischen Konflikten, die an der Krankheitsentstehung beteiligt sind, muss also eine körperliche Schwäche hinzukommen, eine bestimmte „somatische Empfänglichkeit“. (ebd.) Sie bildet sozusagen das schwächste Glied in der Kette, welches in Belastungssituationen als erstes reagiert. Hierin liegt nun eine hinreichende ätiologische Erklärung psychogener Erkrankungen:

„Nur die Annahme beider Faktoren zusammen, einer organischen Prädisposition und spezifischer emotioneller Spannungszustände, gibt eine zureichende Erklärung der psychosomatischen Beobachtungen in jenen chronischen Erkrankungen, die bisher psychologisch untersucht worden sind.“ (ebd., S. 287; eigene Hervorhebung, d. V.)

Die körperliche Disposition, die ‚Empfindlichkeit‘, – Alexander nennt sie an anderer Stelle ‚Faktor X‘ (ebd., S. 294) – kann hereditär sein, und die familiäre Natur vieler psychogener Erkrankungen spricht dafür, dass konstitutionelle Schwächen bestimmter Organe, durch Gene übertragen, solch eine ‚organische Prädisposition‘ bilden können. Die spezielle Organempfindlichkeit eines Falles kann aber auch erworben sein, oder beides zusammen.

Alexander diskutiert als Möglichkeiten erworbener Organempfindlichkeiten:

Diese Faktoren – einzeln oder kombiniert – können nach Alexander in bestimmten Organen oder Organsystemen Defekte oder Funktionsschwächen bewirken, so dass die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, dass bei andauernder emotionaler Belastung an dieser Stelle Organschäden auftreten, psychogene Erkrankungen – das schwächste Glied der Kette reisst.

Diesen Faktoren der Krankheitsentstehung waren schon lange vor einer Psychosomatischen Medizin bekannt. Unter psychosomatischem Gesichtspunkt kamen zu diesen herkömmlichen Faktoren folgende, für die Ätiologie einer psychogenen Krankheit entscheidende Faktoren hinzu, die die seelische Entwicklung und die Ent­stehung innerer Konflikte beeinflussen:

„Säuglingspflege (Entwöhnungsmethoden, Reinlichkeitserziehung, Schlafarrangement usw. [ …] zufällige seelische traumatische Ereignisse während des Säuglingsalters und der Kindheit [ …] psychologisches Klima in der Familie und Persönlichkeit der Eltern und Geschwister [ …] spätere bedeutsame Ereignisse in persönlichen und beruflichen Verhältnissen.“ (ebd., S. 287)

Insgesamt hat der „Faktor X“ für Alexander vielschichtige, noch zu wenig erforschte Komponenten: „Vererbung, frühe organische Erkrankungen in dem betreffenden Organsystem und möglicherweise auch frühe physiologische Gewohnheiten“ (ebd., S. 294) Vor allem scheint für Alexander eine körperliche Konstitution

„ohne gewisse frühe Erlebnisse, [ …] vielleicht gar keine bestimmten Konfliktformen hervorbringen [zu können, d.V.]. Sehr eindrucksvoll ist die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung, die nicht nur durch die Erbanlagen des Kindes sondern auch durch die psychologischen Eigenschaften der Mutter bestimmt wird.“ (ebd., S. 296)

 

Der vegetative Spannungszustand

Die Ätiologie psychogener Erkrankungen ist so in erster Annäherung als Zusammenwirken von emotionellem Spannungszustand und somatischer Empfänglichkeit erklärt worden. In einem Fall wird zum Beispiel ein Prüfungskandidat, unter hohen Anforderungen stehend, die aus einem ungelösten Vaterkonflikt resultieren, derart Arbeitsstörungen haben, dass er sich zu wenig auf eine Prüfung vorbereiten kann, da er schon immer alles wissen muss, worauf er – weil mangelhaft vorbereitet – ver­sagt. Er entfaltet vor und nach der Prüfung starke Gefühle von Angst, die er aber abwehren muss, da er nicht schwach sein darf, was seinem Ideal als Mann widersprechen würde. Er verdrängt die Niederlage in der Prüfung und die Angst. Innerlich sucht er die schützende Schürze der Mutter, verdrängt diesen Wunsch – weil „unmännlich“ – aber. Seine unwillkürliche Reaktion auf die subjektive Bedrohung besteht in verstärkten Anlehnungsbedürfnissen, die aber abgewehrt werden müssen.

Dieser emotionale Spannungszustand verursacht körperliche Anspannungen, die sich zu einem vegetativen Spannungszustand entwickeln, welcher nie gelöst wird, da der dem ganzen zugrundeliegende emotionelle Ablauf selbst verdrängt wird, was ständig durch den unbewussten Konflikt mit Vater und Mutter unterhalten wird. Ein Darmgeschwür stellt sich ein.

Offen bleibt hierbei die Frage, in welchen Situationen solches stattfindet.

Viele Menschen haben somatische Schwächen und geraten in Erregungszustände, ohne dadurch krank zu werden. In ihrer allgemeinen Formulierung besagt die Alexandersche Theorie, „dass die vegetativen Funktionen fügsam dem jeweiligen Zustand des Organismus angepasst werden.“ (ebd., S. 289) Funktionelle Störungen sind daher abhängig von der Reaktion eines Menschen auf die Situation, in welcher er sich befindet. Die Angst vor der Prüfung in dem obigen Beispiel ist – wir haben dies bei Cannon als antizipative Funktion der Emotionen kennengelernt – das „psychologische Signal einer Gefahr“ (ebd., S. 288), und unter dem Einfluss der Angst werden die „vegetativen Vorgänge auf die körperliche Leistung abgestimmt, die für Flucht oder Angriff notwendig ist.“ (ebd.)

Die Angst zum Beispiel stellt eine emotionelle Reaktion auf eine bestimmte Situation dar, weil diese eine bestimmte psychologische Bedeutung hat. Gleich welche reale Bedeutung eine Situation nun hat, wenn ein Mensch sie gefährlich erlebt und mit Angst reagiert, laufen primär immer gleiche physiologische Folgeerscheinungen ab, als wäre die Situation wirklich gefährlich. Es ist also psychologisch gesehen gleichgültig, ob die Situation, die ein Mensch als gefährlich erlebt, wirklich gefährlich ist. Subjektiv ist sie es, und das reicht aus, genau so Angst zu entfalten, als wäre sie tatsächlich gefährlich.

Das leitet aber nun zu folgender Überlegung: In einer realen, bewusst erlebten oder kurz andauernden Gefahr, reagiert der Mensch mit Angst, um sich zu schützen. Er flieht und die körperlichen Prozesse, die die Angst verursachen, dienen der Flucht: Herabsetzung aller Verdauungsfunktionen, Blutdrucksteigerung, Energiefreisetzung zur Erhöhung der Muskelleistung: körperliche Reaktionen, die sinnvoll sind. Wenn die Gefahr vorbei ist, klingen die körperlichen Prozesse, die durch die Angst in Gang gesetzt wurden, ab. Diese physiologischen Folgen der Angst sind „als sol­che [ …] in ihrer Qualität nicht pathologisch. Sie sind die normalen physiologischen Folgen der entsprechenden Emotionen.“ (ebd., S. 288)

In einer Situation aber, wie im obigen Beispiel der Prüfung, wo ein Mensch aufgrund psychopathologischer Prozesse (Vaterkonflikt) mit Angst reagiert, baut sich ebenfalls eine emotionelle Spannung auf, die aber nicht abgebaut wird, denn der Konflikt, der sie unterhält, ist unbewusst und wird zudem abgewehrt, so dass subjektiv immer eine gewisse Notwendigkeit besteht, mit Angst zu reagieren, die „Gefahr“ also nie vorbei ist.

„Ich erwähnte bereits, dass, wenn eine emotionelle Spannung aufgrund psychopathologischer Prozesse keinen adäquaten Ausdruck in zielgerichtetem willkürlichem Handeln findet, weil die Emotion verdrängt ist, ein chronischer emotioneller Spannungszustand resultiert, der zu chronischen physiologischen Reaktionen führt. Die Handlung, die notwendig ist, um die emotionelle Spannung aufzuheben und zum Ausdruck zu bringen, wird nicht ausgeführt. Solch ein Organismus bereitet sich ständig auf Kampf oder Flucht vor.“ (ebd.)

Die Pathologie dieses Zustandes andauernder sympathischer Innervation besteht in der ständigen Vorbereitung auf etwas, was gar nicht stattfindet, wofür aber dauernd körperliche Vorbereitungen getroffen werden. So entsteht ein chronischer Span­nungszustand in den vegetativen Organen, welcher zu vegetativen Dystonien führt. An den Stellen des unter ständiger Spannung stehenden Organsystems, die aufgrund ’spezifischer Organempfindlichkeiten‘ eine höhere ’somatische Empfänglichkeit‘ aufweisen, werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit organische pathologische Veränderungen einstellen: psychogene Erkrankungen.

Anders, aber analog zu dieser, beschreibt Alexander eine zweite pathologische Reaktion:

„Manche Patienten antworten paradoxerweise auf die erforderliche Anstrengung und Bereitschaft mit vegetativen Reaktionen, die für den Ruhezustand des Organismus charakteristisch sind. Sie reagieren auf die Forderung nach Anstrengung und Konzentration mit vermehrter Magensekretion, wie im Falle des Duodenalgeschwürs, oder mit vermehrter Darmtätigkeit, wie man sie bei verschiedenen Formen der Colitis [Dickdarmentzündung] sieht.“ (ebd.)

Statt körperliche Funktionen einzuleiten, wie sie für Anstrengungen eigentlich nötig wäre – die Situation wird ja gefährlich erlebt, Angst entsteht – werden gerade die im anderen Fall gehemmten Funktionen der Verdauung – parasympathische Innervationen also angeregt. Dies resultiert nach Alexander aus einer inneren Einstellung,

„nicht dem Notfall entgegenzutreten, sondern sich nach Hilfe umzusehen, wie ein Kind nach seiner Mutter ausschaut. Diese psychologische Regression wird dann von den entsprechenden physiologischen Reaktionen begleitet“. (ebd.)

Dies sind zwei verschiedene Möglichkeiten der vegetativen Regulation, wie sie Alexander in Anlehnung an Cannons ‚Bereitstellungsreaktion‘ beschreibt.

Etwas vereinfacht gesagt kommt es nun darauf an, welcher dieser beiden Regulationstypen ins Spiel kommt. Unterschiedliche körperliche Prozesse werden durch sie in Gang gesetzt beziehungsweise unterhalten, was wiederum unterschiedliche körperliche Spannungszustände zur Folge hat und schliesslich in unterschiedlichen Krankheitsbildern zum Ausdruck kommt. Dies führt zur Frage der ‚Spezifität‘.

 

Psychosomatische Spezifität

Alexanders psychosomatische Theorie wird allgemein als ‚Spezifitätsmodell‘ bezeichnet. (Janus, 1979) Dazu hat Alexander selbst bereits kritisch Stellung genom­men:

„Our findings became known under the somewhat missleading term, ’specificity hypothesis‘. It is a missleading term because we did not postulate a one-sided monocausal etiology.“ (Alexander, 1962, S. 20)

Spezifität im Alexanderschen Sinn bezieht sich denn auch immer nur auf „die emotionelle Konfliktstruktur, nicht die emotionellen Komponenten des Konflikts.“ (Alexander, 1957a, S. 289) Spezifisch sind im Alexanderschen Sinn auch keine Charakterstrukturen oder Persönlichkeitsprofile, wie das etwa Dunbar annimmt. (ebd., S. 292) Auch verneint er, ’sympathikotone Konstitutionen‘ oder ‚parasympathikotone Konstitutionen‘ als Charakteristikum einer Persönlichkeit anzunehmen, wie dies Eppinger und Hess tun. (Alexander, 1950b, S. 44)

Für Hypertonie, Duodenalgeschwür, Asthma, Neurodermitis, Arthritis, Colitis und Thyreotoxikose beschreibt Alexander spezifische „psychodynamische Strukturen“ (Alexander, 1957a, S. 289, eigene Hervorhebung, d. V.), die sich aus psychologischen Elementen – die „emotionellen Komponenten“ – zusammensetzen, wie sie in jedem Menschen zu finden sind:

„Sexuelle Triebe, feindselige Regungen, Abhängigkeitsbedürfnisse, Angst und Schuldgefühle, Neugierde und der Wunsch nach Liebe und Sicherheit sind allen menschlichen Wesen gemein  …“. (ebd.)

Feindseligkeit kann in diesem Sinn zum Beispiel sowohl der Ausdruck eines zurückgewiesenen Abhängigkeitswunsches sein, möglich ist aber auch, dass sie eine offen zur Schau getragene Attitüde darstellt, die der Befreiung von Schamgefühlen dient, welche eine Reaktion auf Abhängigkeitswünsche darstellen.

Man kann nun – so Alexander – die Genese dieser zentralen Konflikte einer Persönlichkeit bis in die frühen Kindheitsjahre zurückverfolgen, und man kann auch die Genese der Abwehrmechanismen verfolgen,

„die der Patient in den verschiedenen Phasen seiner Persönlichkeitsentwicklung benützt hat. Diese Abwehrmassnahmen selbst stellen bestimmte dynamische Strukturen dar, deren sekundäre Bedeutung sich hauptsächlich darin zeigt, dass sich der Patient in verschiedenen Phasen seines Lebens von einem Abwehrmechanismus zum anderen wendet. Die ganze Struktur, den zentralen Konflikt – zusammen mit seinen Abwehrmechanismen – nennen wir eine ‚psychodynamische Konstellation‘. […] Überdies ist es nicht immer der zentrale Konflikt, der die Symptome direkt verursacht. Manchmal ist es einer der Abwehrmechanismen des Patienten, der psychosomatische Folgen hat.“ (ebd., S. 292f)

Alexander hat die Vorstellung der Spezifität bestimmter neurotischer Symptome gegen den Widerstand von Horney, mit welcher er von 1932 bis 1934 am Chicagoer Institut zusammenarbeitete, ausgebaut. Horney hatte die Zufälligkeit und Relativität neurotischer Symptome stärker betont. Alexander scheint dann vor allem in den späteren 50er Jahren – das heisst also nach der Veröffentlichung von „Psychosomatische Medizin“ (1950b) – dieses Konzept stärker relativiert und auch die Trennung von Horney bedauert zu haben.

Da hierüber noch keine genaueren Ausarbeitungen vorliegen, beschränke ich mich auf wenige Andeutungen zu dieser offenen Frage aus anderen Schriften Alexan­ders und stütze mich – unter Andeutung ihrer relativen Gültigkeit, die auch Alexander übrigens vornimmt – im Wesentlichen auf die Aussagen in „Psychosomatische Medizin“. Die Theorie der ‚Spezifität‘ besagt 1950 allgemein,

„dass die körperlichen Reaktionen auf emotionale Zustände von der Art dieser emotionalen Zustände abhängen, beim Kranken wie beim Gesunden, so dass jeder emotionale Zustand sein eigenes physiologisches Syndrom hat. (Alexander, 1950b, S. 44)

„Blutdrucksteigerung und beschleunigte Herztätigkeit sind ein regelmässiger Bestandteil von Wut und Furcht. Erhöhte Magensaftsekretion kann eine regressive Reaktion auf eine Not- oder Gefährdungssituation sein. Asthmaanfälle sind mit einer unbewussten unterdrückten Regung, nach der helfenden Mutter zu schreien, korreliert. Wie weit die Spezifität der physiologischen Reaktionen auf unterschiedliche emotionale Reize reicht, ist noch eine offene Frage.“ (ebd.)

Alexander unterscheidet zwei seelische „Haltungen“ (ebd.), welche mit spezifischen physiologischen Abläufen zusammenhängen. In ihrer Beschreibung greift er auf Cannons ‚Bereitschaftsreaktion‘ zurück. Die Gesamtreaktionen, haben wir dort gesehen, des Nervensystems dient der Homöostase. ‚Willkürliches Nervensystem‘ und ‚vegetatives Nervensystem‘ (oder auch ‚viszerales Nervensystem‘) spielen ineinander. Ersteres regelt die Beziehungen zur äusseren Welt, letzteres „die inneren Angelegenheiten des Organismus“. (ebd., S. 36)

Dieses innere oder ‚vegetative‘ Gleichgewicht wird durch zwei nahezu antagonistisch zueinander spielende Teile des vegetativen Nervensystems aufrechterhalten, der ’sympathische‘ und der ‚parasympathische‘ Teil, oder ‚Sympathikus‘ und ‚Parasympathikus‘. Der ‚parasympathische Teil‘ des vegetativen Nervensystems

„ist vorwiegend für das Erhalten und Aufbauen, das heisst, für die anabolischen (stoffwechselsynthetischen) Vorgänge zuständig. Sein anabolischer Einfluss zeigt sich in Funktionen wie der Anregung der gastointestinalen Verdauungstätigkeit und der Zuckerspeicherung in der Leber. Seine Erhaltungs- und Schutzfunktion kommt zum Beispiel in Pupillenverengungen als Schutzmassnahme gegen Licht oder in Bronchialspasmen als Schutzmassnahme gegen reizende Stoffe zum Ausdruck.“ (ebd.)

Der ’sympathische Teil‘ des vegetativen Nervensystems regelt hauptsächlich, wie wir dies bei Cannon gesehen haben, die

„Abstimmung innerlicher vegetativer Funktionen auf die Ansprüche äusserer Aktivität, insbesondere in Überraschungs- und Notsituationen. Mit anderen Worten, dem sympathischen Nervensystem obliegt die Vorbereitung des Organismus für Kampf und Flucht, indem es die vegetativen Prozesse in einer in Notsituationen äusserst zweckmässigen Weise umstellt. Bei dem Bereitmachen für Kampf und Flucht ebenso wie während solcher Handlung hemmt es sämtliche anabolischen Prozesse.“ (ebd.)

Der Magen-Darm-Trakt unterliegt also eine Anregung durch den Parasympathikus und einer Hemmung durch den Sympathikus. Je nach Situation werden sie aufeinander abgestimmt. Hemmt nun der Sympathikus die Verdauungsfunktionen, regt er immer gleichzeitig auch Herz- und Lungentätigkeit an und verändert die Blutzufuhr.

„Dabei entleert er das Splanchnikusgebiet von Blut und treibt es zu Muskeln, Lungen und Gehirn, wo durch vermehrte Tätigkeit ein erhöhter Energiebedarf anfällt. Gleichzeitig steigt der Blutdruck, Kohlehydrate werden aus ihren Speichern mobilisiert, und das Nebennierenmark wird gereizt.“ (ebd.)

Diese arbeitsteilige Funktion der beiden Teile des vegetativen Nervensystems – sie sind weitgehend antagonistisch – ist höchst sinnvoll, werden doch bei körperlichen Anstrengungen sinnvollerweise alle Kräfte dazu mobilisiert, was auch bedeutet, die Verdauungstätigkeit einzustellen. Umgekehrt sind während des Verdauens körperliche Vorbereitungen zu Anstrengungen sinnlos. Es wird also durch das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus ein Gleichgewicht zwischen äusserer Situation und dem inneren Zustand des Körpers aufrechterhalten, welches, wenn es gestört ist, zwei grundsätzliche Einstellungen – natürlich gibt es Zwischenstufen, dies ist nur analytisch beschrieben – annehmen kann.

„Diese zwei Kathegorien entsprechen den zwei grundlegenden [ …] emotionalen Einstellungen: 1. Vorbereitung auf Kampf oder Flucht in der Notsituation; 2. Zurückziehen von auswärts gekehrter Aktivität.“ (ebd.)

Zusammenfassend gesagt ist der allgemeine psychosomatische Ansatz Alexanders dadurch gegeben, dass bei „neurotischen Störungen der vegetativen Funktionen  … diese Harmonie zwischen äusserer Situation und innerlichen vegetativen Prozessen gestört [ist, d. V.].“ (ebd., S. 37) Die physiologischen Bedingungen werden daraufhin den emotionalen Zuständen, in welchen sich der Mensch befindet, angepasst. Dabei können zwei grundlegend verschiedene seelische Haltungen analog zu den beiden „emotionalen Einstellungen“ unterschieden werden: Gesteigerte sympathische Erregung als Vorbereitung zu Kampf oder Flucht geht nach Alexander – in Übereinstimmung mit Cannon – mit einer seelischen Haltung einher, mit einer „angsterzeugenden Situation durch aktives Eingreifen fertig zu werden“ (ebd., S. 44).

Eine submissive seelische Haltung, vor einer angsterzeugenden Situation in „erhöhte Abhängigkeitsgefühle [zurückzuweichen, d.V.], wie beim kleinen Kind, das sich der helfenden Mutter zuwendet, statt zu versuchen, der Schwierigkeiten selber Herr zu werden“ (ebd., S. 45) korreliert mit einer gesteigerten parasympathischen Erregung. Alexander leitet innerhalb dieser beiden grossen Gruppen wiederum spezifische Reaktionen auf unterschiedliche Emotionen bei verschiedenen Krankheiten ab, worauf hier aber aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann. Alexander be­tont jedoch, dass dieser Zusammenhang von körperlichen Symptomen und unbewuss­ten seelischen Haltungen nicht als Beziehung zwischen der „Oberflächenpersönlichkeit“ (ebd., S. 44) und den Symptomen verstanden werden kann, da beide seelischen Haltungen bei ein und derselben Person – oft auch gleichzeitig – vorkommen können. (ebd.) Zudem kommen die wirksamen emotionellen Einflüsse – Angst, verdrängte feindselige oder erotische Antriebe, Versagungen oder Abhängigkeitsstrebungen, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle – in allen psychogenen Erkrankungen vor. Deshalb betont Alexander die Struktur des dynamischen Konfliktes als Träger der Spezifität, und fordert Zurückhaltung bei der Aufstellung von „Korrelationen zwischen oberflächlich zu beobachtenden Persönlichkeitszügen und Krankheiten“, (ebd., S. 49) ja warnt: „Eine mysteriöse und unbestimmte Korrelation zwischen Persönlichkeit und Krankheit existiert nicht“. (ebd., S. 50)

Zudem können beide Teile des antagonistisch arbeitenden vegetativen Nervensystems nie exakt isoliert werden, und eine anfängliche sympathische Erregung kann aufgrund des homöostatischen Prinzips parasympathisch überkompensiert werden, so dass nach Alexander eine Spezifität nur „auf die Gleichgewichtsverschiebungen veranlassenden Faktoren“ (ebd., S. 51) zutrifft. „Nur im Beginn kann der störende Reiz mit dem einen oder anderen Anteil des vegetativen Nervensystems identifiziert werden.“ (ebd., S. 40)

 

Die ‚Ausgangslage‘

Nachdem deutlich wurde, wie ein chronischer Spannungszustand, welcher zu einer spezifischen Organempfindlichkeit (‚Faktor X‘) hinzutritt, zu einer psychogenen Erkrankung führen kann, und dass dieser emotionelle Spannungszustand aus einer psychodynamischen Konstellation – dem zentralen Konflikt mit seinen Abwehrmechanismen – resultiert, bleibt die letzte Frage offen, warum und wann eine psychodynamische Konstellation chronifizieren kann. Dies ist die Frage nach dem exogenen Faktor, der ‚Ausgangslage‘, jener Situation, „in der sich der Patient unmittelbar vor dem Auftreten der ersten Symptome befand.“ (Alexander, 1957a, S. 293) Alexander spricht auch von der ‚onset situation‘. (Alexander, 1964, S. 2) Wie wir schon gesehen haben, ist es genau genommen nicht die Situation selbst, auf die der Patient zum Beispiel mit Angst reagiert, sondern die Situation, so wie er sie erlebt. Alexander bezeichnet deshalb die Ausgangslage als „die äussere Lebenslage, wie sie vom Patienten psychologisch bewertet wird.“ (Alexander, 1957a, S. 293) Die Ausgangslage ist „kein reiner Zufallsfaktor“ (ebd., S. 296).

Bereits in der Wahrnehmung und psychologischen Bewertung einer Situation drückt sich der seelische Konflikt aus, der dann auch zu pathologischen Fehlreaktionen auf die Situation führt. Auch können zum Beispiel „Patienten mit einer gewissen psychischen Disposition [ …] unbewusst gewisse Lebensumstände, für die sie empfindlich sind, herbeiführen.“ (ebd.) Zusammenfassend gesagt sind es also drei Faktoren(gruppen), die bei der Entstehung einer psychosomatischen Erkrankung nach Alexander zusammenwirken müssen: „eine spezifische Organempfindlichkeit, die typische psychodynamische Konstellation und die Ausgangslage.“ (ebd., S. 294) Die entsprechende psychodynamische Struktur und eine entsprechende Ausgangslage alleine reichen nicht aus. Ihr Zusammenwirken kann zu einer Neurose führen, aber nicht jeder Neurotiker entwickelt organische Symptome oder eine psychosomatische Krankheit. Es muss zur Entstehung einer Erkrankung zusätzlich eine spezifische Organempfindlichkeit vorhanden sein,

„weil die gleichen psychologischen Faktoren – die psychodynamische Struktur und die entsprechende Ausgangslage -bei Patienten vorhanden sein können, bei denen niemals eine organische Krankheit auftritt.“ (ebd.)

 

Die Selbstwertregulation

Die Diskussion der ‚Ausgangslage‘ führt zur Erörterung der Frage, wie jene seeli­schen Haltungen, welche zu unterschiedlichen physiologischen Reaktionen führen, zustande kommen. Wir betreten damit den Boden von Alexanders Neurosenlehre, die hier natürlich nur kurz in ihren Grundzügen – soweit sie für die Genese körperlicher Symptome relevant erscheint – angerissen werden kann. Prinzipiell behandelt Alexander Neurosen mit und ohne körperliche Symptome mit den gleichen psychotherapeutischen Prinzipien, was seiner Erkenntnis entspricht, dass es keine ätiologische Einheit – ‚psychosomatische Krankheit‘ – gibt. Der zugrundeliegende dynamische Konflikt ist ein neurotischer, ob sich körperliche Symptome einstellen oder nicht. Der zentrale seelische Konflikt der Neurose zusammen mit seinen Abwehrmechanismen, welcher der frühen Mutter-Kind-Beziehung entstammt, sind ätiologisch relevant für die Genese körperlicher Symptome. Alexander beschreibt diesen Konflikt in einem Modell interpersonaler Abläufe und Beziehungen. Jede Neurose ist nach Alexander ein Zurückweichen vor einer Aufgabe, der sich ein Mensch nicht gewachsen fühlt und ein damit zusammenhängender Versuch der „Selbstwertregulation“. (Janus, 1979, S. 140) „Neurosis results from the failure of the ego to co-ordinate needs harmoniously with each other and with external conditions.“ (Alexander, 1949a, S. 199) Die Neurose ist also eine Ich Störung.

Ausser durch hereditäre Faktoren, die bei ihm wenig Bedeutung erhalten, entsteht eine Neurose nach Alexander entweder

„during an early vulnerable period of weak spots which yield to the impact of even the average vicissitudes of life. Others may break down because they are exposed in later life to excessive strain or to confusion and novel conditions for which they have had no preparation. All personality traits are rooted in the experiences of childhood, and it depends to a large degree upon later circumstances whether some wil cause neurotic difficulties or not.“ (ebd., 200)

Die Faktoren der Neurosenentstehung sind also für Alexander Vererbung, frühkindliche Erfahrungen und die aktuelle Lebenssituation, die in verschiedenen Graden ihrer Zusammensetzung zur Entstehung von Neurosen beitragen. Man ist also nach Alexander nicht neurotisch per se, sondern ein Mensch wird in bestimmten aktuellen Situationen, „with which he is unable to cope“ neurotisch reagieren (ebd., S. 201). Bei Neurosen ohne körperlichen Symptome tritt an die Stelle der Handlung, welche eine Situation, vor die man gestellt ist, erfordern würde, und der man sich nicht gewachsen fühlt, „Handeln in der Phantasie“, ohne, dass die Arbeitsteilung – hauptsächlich das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus – im Zentralnervensystem dadurch gestört werden würde. (Alexander, 1950b, S. 41)

Dies gilt auch für hysterische Symptome. Ergeben sich aber körperliche Symptome, so ist die Arbeitsteilung innerhalb des Nervensystems gestört. In diesem Falle wird die Handlung ebenfalls unterlassen, und, wie wir schon erörtert haben, „die nicht abgeführte emotionale Spannung ruft chronische innere vegetative Veränderungen hervor.“ (ebd.)

Dass die Neurose einher geht mit einer aus neurotischer Angst unterlassenen Handlung, verknüpft Alexander nun mit den physiologischen Grundlagen: Wie schon erläutert, bewirkt eine neurotisch gesteuerte sympathische Hyperaktivität, dass der Organismus nicht zum Handeln schreitet, obwohl er innerlich alles vorbe­reitet, was dazu nötig wäre. „Die neurotische Natur des Zustandes besteht darin, dass der ganze physiologische Prozess niemals zu Ende geführt wird.“ (ebd.) Bei überwiegend parasympathischer Hyperaktivität dagegen sahen wir „einen vollständigen Rückzug vor den Lösungen äusserer Probleme“. (ebd.) Alexander spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Rückzug in „vegetative Abhängigkeit“. (ebd.)

Untersucht man nun die Psychodynamik von Organneurosen, so ergibt sich nun aus dem bisher Gesagten folgendes Bild ihrer Entstehung: Wie bei jeder Neurose ist auch hier die Ausführung einer bestimmten Handlung angesichts einer für unüberwindbar gehaltenen Aufgabe gehemmt. Dem liegt ein Mangel an Selbstvertrauen zugrunde, die Schwierigkeit überwinden zu können. Alexander nennt sie die „Precipitating factors“. (Alexander, 1949a, S. 210) Hier kommt der dynamische Konflikt ins Spiel, der nach Alexander aus der kindlichen Abhängigkeitsbeziehung zur Mutter resultiert. Er hat als Grundlage ein „Minderwertigkeitsgefühl“ (Alexander, 1950b,, S. 43) welches zu einem ständigen inneren Konflikt zwischen Selbständigkeitsstrebungen (Alexander: ’narzistischer Protest‘) und Abhängigkeitswünschen führt mit verschiedenen Abwehrmechanismen. Dieses Minderwertigkeitsgefühl führt zu Überkompensationen, die sich in gesteigerten Willensanstrengungen äussern. Aufgrund bestimmter Faktoren wurde also eine Schwierigkeit nicht bewältigt, die entsprechende Handlung nicht ausgeführt, worauf Versuche der Anpassung einsetzen, um doch zur Lösung zu gelangen.

Nach einer Weile erfolgloser Kompensationsversuche setzt eine Regressionsbewegung ein: „The replacement of realistic effort to gratify needs by regressiv fantasies or behavior.“ (ebd.) Hierdurch werden alte Verhaltensweisen mobilisiert, die im Verlaufe des bisherigen Lebens aufgegeben wurden, und wodurch frühkindliche Konflikte wiederbelebt werden. (ebd.) Hier nun können prinzipiell jene zwei „seelische Haltungen“ (Alexander) einsetzen, die bereits erwähnten:

  1. Feindseligkeit, gespeist von Wut und Konkurrenzgefühlen, die durch Angst und/oder Schuldgefühle in
  2. Abhängigkeitswünsche umschlagen können, was wiederum einen narzistischen Protest auslösen kann und so weiter.

Für das begleitende physiologische Geschehen ist dabei folgendes entscheidend: Tritt bei ersterem eine Hemmung der Feindseligkeit ein, gerät das sympathische Nervensystem in Erregung, wie wir das schon beschrieben haben. Werden die Abhängigkeitswünsche innerlich abgewehrt, kann ein gesteigerter parasympathischer Erregungszustand die Folge sein.

Organneurosen, so wird zusammenfassen deutlich, sind also für Alexander unspezifische neurotische Störungen, bei welchen die Ausführung bestimmter Handlungen gehemmt ist. Ihre Dynamik ist die gleiche, die allen Neurosen zugrundeliegt: eine Ich-Störung resultierend aus primären narzistischen Kränkungen des Kindes, die ein kindliches Minderwertigkeitsgefühl entstehen lassen, welches nach Kompensation drängt. Ist entweder die an das Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt gestellte Aufgabe zu schwer oder das Ich durch prädisponierende Faktoren geschwächt oder beides, kann sich ein emotionaler Spannungszustand entwickeln. Dieser basiert auf frühkindlichen Erfahrungen und den Abwehrmechanismen des späteren Lebens.

Geht zwar jede Neurose mit einem emotionalen Spannungszustand – Wut, Angst, Furcht und anderes – einher, so sind damit in jeder Neurose korellierende somatische Prozesse zu beobachten, was auf der psychosomatischen Einheit des Menschen beruht. Dieser Sachverhalt stellt aber lediglich eine psychosomatische Wechselbeziehung dar und ist nach Alexander noch nicht hinreichend für die Ätiologie psychogener Erkrankungen.

Nicht jede Neurose entwickelt nämlich eine Organschädigung als Symptom. Ein und derselbe – oder zumindest sehr ähnliche – Konflikt bei zwei Menschen kann bei dem einen zu einer Krankheit führen, beim anderen nicht. Eine hinreichende Erklärung für die Ätiologie psychogener Erkrankungen liefert nach Alexander erst die Beachtung der spezifischen Organschwächen, die zu einem bestimmten emotionalen Spannungszustand hinzutreten müssen, und welche wiederum auf vielfältigen traumatischen Erfahrungen und auch auf hereditären Faktoren beruhen kann.

 

Schlussbetrachtung

Das psychosomatische Modell Alexanders wird in der Literatur unter dem Stichwort ‚Konfliktspezifität‘ behandelt. Dunbar spricht von ’spezifischen Persönlichkeitsprofilen‘, Rattner nennt ebenfalls spezifische Charaktertypen. Die ‚Pariser Schule‘ arbeitet mit der Hypothese spezifischer Persönlichkeitsmerkmale. Es wäre eine eigene Arbeit wert, die Theorie Alexanders im Vergleich hierzu diskutieren zu wollen.

Es ging in dieser Arbeit nicht darum, die psychosomatische Theorie Alexanders als typisches Modell einer Konfliktspezifität in ihren vielfältigen Facetten ausführlich darzustellen. Auch ist die Alexanderschen „Vektortheorie“, sowie seine Ich-psychologische Theorie der Selbstwertregulation, nicht ausreichend gewürdigt worden, ein Mangel, der jedoch durch die besondere Gewichtung des Themas Pychosomatische Medizin gerechtfertigt scheint.

Das Hauptgewicht der Darstellung lag auf dem von Alexander selbst gesetzten Akzent, ‚Psychosomatik‘ und ‚Psychosomatische Medizin‘ wesentlich als Methode. Alexander unterscheidet keine ‚psychosomatische Struktur‘ von anderen neurotischen Persönlichkeitsstrukturen als ‚Krankheitseinheit‘, sondern „Psychotherapy of patients who are suffering from organic diseases is not different from psychotherapy of psychoneurosis.“ (Alexander, 1962, S. 13) Deshalb, und weil wir in Alexanders theoretischem Konzept der ersten systematischen, tiefenpsychologisch orientierten und in sich geschlossenen Theorie psychosomatischer Erkrankungen begegnen, welche eine Psychosomatische Medizin erst begründete, schien es angebracht, das Schwergewicht der Darstellung nicht auf den relativ engen Rahmen psychosomatischer Wechselbeziehungen zu begrenzen, sondern die psychosomatische Theorie Alexanders unter breiterem Gesichtswinkel auch in ihrer historischen Bedeutung als völlig neuem methodischen Zugang für das Verständnis von Krankheit und Therapie in allen medizinischen Bereichen darzustellen.

Dass dabei das Verhältnis einer unter dem „cellular-pathologischen Dogma“ des Virchowschen Krankheitsbegriffes grossgewordenen Labor-Medizin zur Tiefenpsychologie zur Sprache kam, ist ebenso durch den gesteckten Rahmen gerechtfertigt wie der Rekurs auf die philosophischen Wurzeln der geistigen Haltung der naturwissenschaftlichen Medizin in der cartesischen Dichotomie von Körper und Geist, die kennzeichnend für unser Denken – und das der naturwissenschaftlichen Medizin insbesondere – bis in unsere Tage ist.

Bei der Reflexion dieser philosophischen Bezüge des Leib-Seele-Problems trat dann auch die Lehre Spinozas von der ‚causa sui‘ als geistesgeschichtliche Wurzel in Alexanders ganzheitlichem Denken hervor. Alexander sah welchen Einbruch dieser Wandel in der Betrachtung von Krankheit für eine Medizin bedeutete, die zwar zu recht auf ihre gewaltigen Erfolge stolz war, aber dennoch gegenüber psychologischem Gedankengut starke Widerstände entwickelte. Noch 1962, zwei Jahre vor seinem Tode, schreibt er:

„Consequently, the comprehensive treatment of organic diseases in which emotional factors are significant consists of teamwork between medical specialist, the psychiatrist and the nursing staff. At present this is, however, still a platonic ideal.“ (Alexander, 1962, S. 13)

Alexander untermauerte nichts gründlicher als die Frage der Anerkennung seelischer Realität als ätiologisch relevanter Faktor in der Entstehung von Krankheiten, und den methodischen Zugang zu ihrer Erforschung. Eine wissenschaftstheoretische Begründung der Tiefenpsychologie als empirische Wissenschaft, die allerdings nicht unkritisch die physikochemische Methodik der klassischen Naturwissenschaften übernimmt, sondern eine dem speziellen Untersuchungsgegenstand der Tiefenpsychologie richtig angepasste wissenschaftliche Methode entwirft. Würdigt Alexander die Entdeckung des Unbewussten und die Begründung einer wissenschaftlichen Psychologie als Tiefenpsychologie durch Freud als dessen historische Tat, dem optischen Mikroskop ein „psychologisches Mikroskop“ hinzugefügt zu haben, so mag man Alexanders Tat in der Entdeckung einer neuen Welt durch dieses Instrument charakterisieren: die wissenschaftliche Durchdringung des bis dahin ungelösten Leib-Seele-Problems: psychogenen Erkrankungen und ihre Therapie.

Bedeutsam scheint vor allem auch ein Punkt, der in dieser Darstellung nur ganz am Rande gestreift wurde. Alexander zählt zu den sogenannten Neoanalytikern. Seine Psychosomatische Medizin kommt in vielen Punkten zu nahezu den gleichen Resul­taten wie Adlers Lehre von den Organminderwertigkeit. Adlers Konzept psychogener Erkrankungen geht ebenfalls davon aus, dass anhaltende emotionelle Spannungen nur dann zu körperlichen Symptomen führt, wenn eine ‚Organminderwertigkeit‘ – der locus minoris resistentiae – als im Alexanderschen Sinn ‚prädisponierender Faktor‘ hinzutritt.

Auch wäre es interessant die ‚psychodynamische Konstellation‘, worunter Alexander auch Abwehrmechanismen fasst, mit dem Neurosenkonzept Adlers zu vergleichen. Es würden neben grossen Unterschieden auch bedeutende Parallelen zu Tage treten, zum Beispiel in der Rolle des ‚exogenen Faktors‘ (Adler) für die Genese körperlicher Symptome, welche ziemlich genau der der Alexanderschen ‚Ausgangslage‘ gleicht. Vor allem die Rolle der Alexanderschen ‚psychodynamischen Konstellation‘ als aktive Wahrnehmungsfunktion, legt weitere Parallelen nahe. Und es sind bedeutende Parallelen zwischen der Alexanderschen Theorie der Selbstwertregulation und der Adlerschen Persönlichkeitstheorie zu bemerken, wobei eine allmähliche Abkehr Alexanders vom ursprünglichen Triebkonzept Freuds einhergeht mit einer steten Annäherung an Adlers Positionen – ohne diesen als Quelle jedoch zu erwähnen. Dies nur andeutend soll darauf hingewiesen werden, dass ein Vergleich beider psychosomatischer Theorien ein lohnender Beitrag wäre zur weiteren Integration verschiedener tiefenpsychologischer Lehrmeinungen unter sachlichem Aspekt.

 

Literatur

1. Primärliteratur

Anmerkung: Die Werke Franz Alexanders sind hier der Übersicht halber chronologisch nach den Erscheinungsjahren der Erstausgaben geordnet, welche jeweils links vor dem Titel genannt werden. Gibt es mehrere Werke in einem Jahr, sind sie durch Kleinbuchstaben (z. B. 1950a, 1950b,  …) unterschieden. Zitiert wird im Text nach den Jahreszahlen der Originalausgabe. Die im Text angegebene Seitenzahl bezieht sich jedoch auf die verwendeten Ausgabe.

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Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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