Habermas, die Frankfurter Schule und der Krieg

1999 Moritz Nestor

Jürgen Habermas ist der prominenteste Wortführer der Dritten Generation der Frankfurter Schule. Als Nachfolger von Horkheimer geniesst er den Ruf des Erbverwalters der Frankfurter Schule. Habermas hatte 1964 den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt von Max Horkheimer übernommen, dem langjährigen Leiter des Instituts für Sozialforschung zu Frankfurt und zusammen mit Theodor Adorno Mitbegründer der Frankfurter Schule.

Als 1999 die sechste Woche des Kosovo-Krieges begonnen hat und Kritik und Zweifel daran mit jeder Bombennacht wuchsen, rechtfertigt Habermas in einem Artikel mit dem Titel «Bestialität und Humanität – Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral» den Angriffskrieg der Nato gegen Kosovo und Serbien erneut. Während deutsche Soldaten wieder Tod und Verderben auf den Balkan brachten, wo einst Hitlers SS eingefallen war, machte Habermas aus der Kritische Theorie der Frankfurter Schule mit Nato-Argumenten eine Kriegstheorie.

Habermas ist nicht der einzige «68er», der einst gegen den Vietnamkrieg war und heute seine einstigen pazifistischen Ideale verraten hat.

Habermas schmiedete für Generationen von Intellektuellen, die zu einem hohen Mass heute an den Schalthebeln der Gesellschaft sitzen, die Argumente. Er charakterisierte noch auf dem Hannoveraner Vietnam-Kongress 1968 die Haltung Rudi Dutschkes in der Gewaltfrage als «Linksfaschismus». Seit damals hat er einen Sinneswandel durchgemacht. «Schweren Herzens» habe er 1991 die Bombardierung des Irak befürwortet.
Habermas wandte sich nach 68 immer mehr gegen die Fraktion der «Spontis» und der «action directe» und tat diese als «Scheinrevolutionäre» ab. Er suchte den Weg der gesellschaftlichen Veränderung nicht im Strassenkampf, sondern in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen «mit privilegierten Einflusschancen» und «Zugang zu den Massenmedien»!

In seinem Hauptwerk «Theorie des kommunikativen Handelns» schreibt Habermas die Kritischen Theorie der Frankfurter Schule um und nennt sie fortan «Diskurstheorie».

Um die Gesellschaft zu verändern, schreibt er jetzt, müsse man nicht mehr gegen Ungerechtigkeit Widerstand leisten. Es komme vielmehr darauf an, die unterschiedlichen Interessen in einer Gesellschaft zu begründen und zu diskutieren. Dieses «kommunikative Handeln» sei die verändernde Kraft. Es richtet sich nach «obligatorisch geltenden Normen, die reziproke Verhaltenserwartungen definieren und von mindestens zwei handelnden Subjekten verstanden und anerkannt werden müssen.» Den «institutionellen Rahmen einer Gesellschaft» bilden «Normen, die sprachlich vermittelte Interaktion leiten.»[1]
Die kritische Theorie der Frankfurter Schule, sagte sich die radikale Linke, sei damit als Diskurstheorie zur zahnlosen Plappertheorie umgestaltet worden, mit der nun alles «kritisch diskutiert» und «interpretiert» werden könne, ohne an der ungerechten Wirklichkeit des  kapitalistischen Systems noch etwas ändern zu müssen. Marx aber habe gesagt, es komme darauf an, die Welt zu verändern – also Revolutionierung. Denn so hatte es Marx nicht ganz unbescheiden gesagt, aus der Philosophie müsse eine Revolutionstheorie werden.

Habermas wurde mit seiner Diskurtheorie willkommener Theoretiker der neuen Politik seit dem Fall des Eisernen Vorhangs: Während jede Woche nicht weniger als achtzig Talkshows im deutschsprachigen Fernsehen stattfanden inszenierten Politiker aller Couleur Politik, als wäre man in einer permanenten Talkshow, Habermas, der gefeierte Theoretiker des allgemeinen Diskurs-Palavers wurde zum gefeierten «Staatsphilosophen» (Joschka Fischer).

Und 1999 rechtfertigte Habermas auch den Kosovo-Krieg diskurstheoretisch. Die Ursache des Krieges, warum 19 Nato-Staaten ein kleines Land in Schutt und Asche legen und die Bevölkerung terrorisieren, interessieren Habermas nicht. Eine «militärische Strafaktion gegen Jugoslawien» sei nach dem Scheitern von Rambouillet unvermeidlich geworden, um «liberale Regelungen für die Autonomie des Kosovo innerhalb Serbiens durchzusetzen». Das nach sechs Wochen äußerst brutalem Krieg, in dem die Lebensgrundlagen sowohl in Serbien als auch im Kosovo weitgehend zerstört worden waren! Der Begriff der «Strafaktion» erinnert fatal an kaiserliche Kolonialpolitik.

Habermas greift zu einem plumpen Trick: Er nennt, ohne rot zu werden, die Kriegsbefürworter «Gesinnungspazifisten». Die Kriegsgegner nennt er «Rechtspazifisten». Mit diesem Sprachspiel wird ein Angriffskrieg in eine Friedensmission umbenannt. Marcuse nannte solche Sprachmanipulationen «linguistische Therapie», Gregory Bateson NLP.

Beide Formen des «Pazifismus» würden nach Habermas über «gute Argumente» verfügen: Die «Rechtspazifisten» würden den Kosovo-Krieg verurteilen, weil dieser gegen das Völkerrecht und gegen das im Grundgesetz festgeschriebene Verbot eines Angriffskrieges verstosse. Die «Gesinnungspazifisten» jedoch würden die Menschenrechte zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen und den Krieg als humanitären Einsatz bezeichnen, um «Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern».

Dann folgt sein Hauptargument: Mit dem „legal pacifism“ der rot-grünen Regierung stehe „die Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger auf der Agenda“. Zum ersten Mal nehme die deutsche Regierung die Menschenrechte ernst. „Die unmittelbare Mitgliedschaft in einer Assoziation von Weltbürgern würde den Staatsbürger auch gegen die Willkür der eigenen Regierung schützen.“ Der Krieg müsse als „eine bewaffnete, aber von der Völkergemeinschaft (auch ohne UN-Mandat stillschweigend) autorisierte Frieden schaffende Mission verstanden werden.“ Er stelle „einen Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft“ dar.

Welch ein dialektischer Hokuspokus, um die Tatsache zu vernebeln, daß hier eine Koalition imperialistischer Großmächte ein kleines Land terrorisiert, um über den Kosovo eine Art Nato-Protektorat zu errichten!

Der Diskursethiker will glauben machen, daß durch den Nato-Terror eine demokratische Weltbürgergesellschaft entsteht. Wo wurden die Bürger dazu befragt? „Stillschweigend“ habe die „Völkergemeinschaft“ das Bombardement gebilligt. Wo haben sie zugestimmt? Gehören auch die Serben zur „Weltbürgergemeinschaft“? Die Argumentation dieses Sozialphilosophen erinnert an die Bemerkung des amerikanischen Generals im Vietnamkrieg, der das Niederbrennen eines Dorfs mit den Worten rechtfertigte, nur so habe es gerettet werden können.

Die Ablehnung und das Mißtrauen gegen dies Art „humanitärer Intervention“ wird mit jeder Bombennacht größer, auch wenn sich die wachsende Opposition nur sehr beschränkt artikulieren kann, weil diejenigen Parteien und sozialen Bewegungen, die früher solchen Protest organisierten, jetzt als Regierungsparteien den Krieg unterstützen.
Als demokratische Legitimation des Krieges führt Habermas die „19 zweifelsfrei demokratischen Staaten“ der Nato-Koalition an. „Die ‚Luftschläge‘ haben den Habermas‘schen Demokratiestandard so tief gedrückt, daß selbst die Türkei zu einem ‚zweifelsfrei demokratischen Staat‘ erhöht wird,“ kommentiert Josef Lang in der Schweizer Wochenzeitung vom 20. Mai.

[1] Habermas, Jürgen. Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main 1973

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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