Moritz Nestor

Das Schwierigste aber für den europäischen Adligen Gontran de Poncins waren nicht die Entbehrungen bei vierzig Grad minus, sondern «die Denkweise der Eskimos. Man konnte mit ihnen nicht zurechtkommen, ausser man suchte sich mit ihnen in ihrer eigenen Ausdrucksweise zu verständigen; und ich war nicht ein Tourist, für den das nebensächliche Dinge sind, sondern ich war auf die Hilfe der Eskimos angewiesen. Ich musste mit ihnen auskommen.» (S. 10) Welche humane Geisteshaltung: Wir Menschen müssen miteinander auskomnen. Was wäre heute für eine Welt, denkt man unwillkürlich angesichts dieser Haltung des französischen Völkerkundlers, die dessen Reisebericht wie ein roter Faden durchzieht, hätten wir Europäer diese mitmenschliche Grundhaltung leben können, statt jahrhundertlang andere Kontinente, Kulturen und «wilde» Völker zu «entdecken», zu «christianisieren» und zu «zivilisieren» – und heute zu «demokratisieren» und im Namen der Menschenrechte zu bombardieren und verhungern zu lassen!
Die menschliche Haltung dieses Völkerkundlers aus dem Jahr 1938 gilt doch eigentlich für die Begegnung mit einem jeden Menschen! Man kann doch mit jedem Menschen, mit jedem Volk und mit jeder Kultur, um es in den Worten Poncins zu sagen, «nicht zurechtkommen, ausser man suchte sich mit ihnen in ihrer eigenen Ausdrucksweise zu verständigen»! Die Extrembedingungen der unwirtlichen Eiswüste der Arktis üben einen besonders hohen Druck auf die Menschen aus, die in ihr (über)leben wollen. So dass, möchte man meinen, Gontran de Poncins nicht viel mehr übrig blieb als die Einsicht: «[…] ich war auf die Hilfe der Eskimos angewiesen. Ich musste mit ihnen auskommen.» Doch es war nicht der äussere Druck der unwirtlichen Eiswüste, der den französischen Völkerkundler letztendlich zu dieser gleichwertigen friedlichen Haltung gegenüber einer fremden Kultur drängte. Gontran de Poncins beschreibt, dass das Entscheidende die Arbeit an sich und die Veränderung seiner inneren Haltung war. Für die Priester, Trapper und Jäger nämlich, die damals unter den gleichen klimatischen Extrembedingungen wie der Völkerkundler überleben mussten, beschreibt er, seien die Eskimos «ausnahmslos alle ‹nichts wert›» gewesen. Diese sich zivilisiert und Christen nennenden Weissen «leben das Leben der Eskimos, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie reisen auf Schlitten, holen Fische unter dem Eis hervor, tragen Pelze und bauen, allerdings selten, Schneehäuser (Iglus). Aber in die geistige Eskimowelt dringen sie nie und nimmer ein.» Zwischen ihnen und dem Franzosen besteht «der wesentliche Unterschied, dass ich hierher gekommen war, um in eine Welt einzudringen, die ihnen [den Kablunas] gleichgültig war.» (S. 21f.)

Der tiefe Rückensack. «Man muss zu ihr hingehen und ihre Hand nehmen. Ihre Augen werden vor Freude strahlen, sie wird eine Schulter beugen und sich einen leichten Ruck geben; das Kind wird halb aus dem Rückensack gerissen; das Kind wird halb aus dem Rückensack herausfallen; und diese kleine Gestalt wird ihre Hände hinhalten.» (aus dem Buch Kabluna)
Damit ist dieses Buch viel mehr als der wirklich packend geschriebene Reisebericht eines Franzosen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Es enthält eine Fülle von Schilderungen innerer Lernprozesse. Sie machen das Buch auch zu einem lebendigen Erziehungsbuch: Ein europäischer Adliger – für uns «Kablunas» alle stehend – stellt sich beim Kennenlernen einer anderen Kultur der Aufgabe der inneren Auseinandersetzung mit sich und den eigenen kulturellen Vorurteilen. Er überwindet das hohe Ross des Eingebildeten, der sich anderen Kulturen höchstens als «Tourist» nähern kann und den die Geisteswelt ihm fremder Menschen nicht interessiert. So liest sich Kabluna auch als Erziehungsroman für das Leben-Lernen des Friedens und der Verständigung zwischen Kulturen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ein kleines Friedenslicht in schwerer Zeit. Und eine würdige Hommage an das Toleranzdenken von Poncins berühmtem Urahnen Michel de Montaigne, der einst anmahnte, dass erst das Hineindenken und -fühlen in andere die Menschen befähige, nicht nur ihr eigenes Wesen, sondern auch das der anderen Menschen wirklich zu verstehen. Während die angloamerikanischen Machteliten die atomare Hochrüstung in atemberaubendem Tempo vorantreiben und die Welt damit bedrohen und in Angst und Schrecken versetzen, mahnt das in «Kabluna» verewigte humanistische Ethos der beiden Montaignes aus dem «alten Europa», das jene Schrecken verbreitenden einfältigen Machteliten spöttisch abtun, heute drängender denn je: «Ich musste mit ihnen auskommen.»