Moritz Nestor
Die enge Mitstreiterin des «Euthanasie»-Akteurs Peter Singer für eine «nachhippokratische Ethik» ist Helga Kuhse. «Worin liegt der Wert des menschlichen Lebens?» fragt sie provokativ in ihrem Aufsatz «Warum Fragen der aktiven und passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich sind». Ein Beitrag im Sammelband von Rainer Hegselmann «Zur Debatte über Euthanasie», erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1992 (S. 51–70)
Derartige Beiträge über das «gute» Töten, ebneten zwei bis drei Jahrzehnte lang den Weg, um den in Deutschland (gerade wegen dessen schrecklicher geschichtlicher Erfahrung) grössten Widerstand unter den europäischen Staaten gegen eine «neue Euthanasie» aufzuweichen. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit betreffend der Liberalisierung des «assistierten Suizids» durch eine Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts sind im Zuge dieser Kampagne politisch vorbereitet worden.
Das zeigt sich am deutlichsten an Kuhses einleitenden Worten: Noch gebe es, klagt sie dort, leider in Deutschland eine «sture Mehrheit», für welche Fragen des Lebenswertes indiskutabel seien. Für Kuhse gibt es «lebenswertes» und «lebensunwertes» Leben. Allerdings will sie keine «Rasseargumente» heranziehen wie die Nazis, um zu erklären, was «lebensunwertes» Leben sei. Die Nazis hätten derartige «Aussenkriterien» verwendet, die jedoch den Unterschied zwischen lebenswert und «lebensunwert» nicht wirklich erklären würden …
Das Rasse-Argument der Nazis sei ebenso ein «Aussenkriterium» wie das Argument der anderen Seite ein Aussenkriterium sei, die ein «lebensunwertes Leben» verneint und sage, menschliches Leben habe allein deshalb Wert, weil man lebe. Damit rückt Helga Kuhse Lebensschützer in die Nähe der Nazis.
Helga Kuhse sagt, der Unterschied zwischen «lebenswertem» und «lebensunwertem Leben» sei eine Frage, «ob ein Leben für den Patienten von Wert ist oder nicht.» (Seite 57)
Lebensschützer litten allgemein unter der
«Fehlvorstellung, daß der Wert des menschlichen Lebens ´im Leben selbst´ liegt». (Seite 58)
Das menschliche Leben habe aber – so Kuhse – «keinen intrinsischen moralischen Wert». (Seite 58) Verschiedentlich ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das eine verfassungsfeindliche Aussage ist.
Helga Kuhse ist wie Peter Singer Utilitaristin: Nur
«individuelle Menschen – nicht das menschliche Leben als solches» seien «Träger von moralisch–relevanten Eigenschaften».
(Seite 58f.)
Im absoluten Gegensatz zum Schutz Menschenwürde im Grundgesetz hat menschliches Leben für Kuhse
«nur einen extrinsichen oder instrumentalen Wert; es ist lediglich die Voraussetzung für die Realisierung von anderen moralischen Gütern und Werten». (Seite 59)
Also würde
«keine Pflicht bestehen, ein menschliches Leben zu erhalten, wenn die … als wervoll angesehenen Eigenschaften oder Kapazitäten nicht (mehr) vorhanden sind.» (Seite 59)
Dass menschliches Leben wertvoll ist, weil es menschliches Leben ist, sei nach Kuhse «Speziezismus». Damit würde man den Menschen als «höherwertige» Art über alle anderen Tiere stellen – analog zum Rasissmus, der die eigene «Rasse» für «höherwertig» halte.
Kurse: «Das menschliche Leben als solches ist kein plausibler Wertträger.» (Seite 60)
Der Wert eines Menschen liege, so Kuhse, in seiner Individualität, die an den Körper gebunden sei, aber nicht identisch mit diesem Körper sei. (Seite 61) Damit ist der Boden des Grundgesetzes und jeder Ethik verlassen. Nach Kuhse verdiene ein menschliches Wesen nur dann Achtung und habe nur dann Würde,
«wenn es Interessen hat.» (Seite 61)
Es seien
«Interessen, und nicht das Leben als solches, moralisch bedeutungsvoll». (Seite 61)
Das ist die Kernthese der «Tierbefreiungsbewegung» Peter Singers: Alle Lebewesen, vom Bakterium bis zum Menschen, hätten einen Wert, solange sie «Interessen» äussern würden. Daraus bestehe die «Gleichwertigkeit» aller Lebewesen.
Aus dem Wunsch, das Leben an sich schützen zu wollen, allein weil es lebt, würde nach Kuhse folgen,
«dass ein Arzt auch dann das Leben seines Patienten verlängern müsste, wenn dies gegen dessen beste Interessen verstieße. Dies würde bedeuten, dass Ärzte nicht mehr die Helfer ihrer Patienten wären, sondern oftmals Folterknechte.» (Seite 63)
Den Schutz des Lebens als solches sollte man daher nach Kuhse, ganz im Sinne des Singerschen «Speziezismus»,
«aus sehr ähnliche Gründen verurteilen wie die rassistische und eugenische Philosophie der Nazis: weil sie die Interessen der direkt von dieser Moralkonzeption Betroffenen nicht in Betracht zieht.» (Seite 63)
«Euthanasie» sei daher, so Kuhse:
«Handlungen oder Unterlassungen, die im besten Interesse eines Patienten vorgenommen werden.» (Seite 64)
Und nun öffnet sie alle Schleusen: Liege also ein moralischer Unterschied darin, fragt Kuhse,
«wie Ärzte den Tod ihrer Patienten herbeiführen – durch Töten oder durch Sterbenlassen»? (Seite 63)
Warum soll man nicht aktiv werden, um den Tod herbeizuführen, wenn doch das Unterlassen von Therapie auf Wunsch des Patienten erlaubt ist? Blosses Unterlassen von Therapie – im Interesse des Patienten – könne zu qualvollem Siechen führen, also würde Töten – im Interesse des Patienten – „humaner“ sein, denn es kürze die Qualen blosser Unterlassung ab. Das gelte auch für „urteilsunfähige Patienten“. (Seite 65) So wird der Rubikon überschritten! Unterlassen ist also manchmal die schlechtere Art, jemanden sterben zu lassen.
Für den nächsten Gedanken muss sich Kuhse hinter einer fiktiven Gestalt verstecken: Eine fiktive «Frau Dr. Schmid» sage,
«dass ein früher Tod manchmal im besten Interesse eines Patienten ist; daß Ärzte eine primäre Pflicht haben, im besten Interesse ihrer Patienten zu handeln, und daß es aus dieser Pflicht heraus geschehe, daß man gewisse Patienten sterben lasse.» (Seite 65)
Jetzt kommen ein paar simple Verdrehungen aus der Theoriekiste des Utilitarismus:
1. Wie könne eine Handlung wie Töten von «vornherein und ohne Betrachtung der weiteren Umstände als falsch angesehen werden»? (Seite 66) Euthanasie geschehe im Interesse des Patienten. Könne es also «von vorn herein als falsch angesehen werden, das zu tun, was im besten Interesse eines Mitmenschen ist?» (Seite 66)
2. Der Mensch dürfe sich nicht als Herr über Tod und Leben aufschwingen. Aber bei den lebensverlängernden Massnahmen tue er es doch auch. Warum also nicht töten?
3. Unterlassen einer Therapie sei etwas als anderes aktives Töten, jedoch könne die Gabe von schmerzlindernden Mitteln tödlich sein. Also habe dann der Arzt doch getötet? Ist also «nicht eine Ärztin, die Patienten willentlich durch die Vorenthaltung lebenserhaltender Mittel sterben läßt, genauso verantwortlich für den Tod wie eine Ärztin, die ihnen eine tödliche Spritze gibt?» (Seite 67)
«Es ist nicht länger klar …., daß es vernünftige Gründe gibt, warum Ärzte passive, aber nicht aktive Euthanasie praktizieren sollten. Aktive Euthanasie ist gegenwärtig illegal. Aber Gesetze können geändert werden. Wenn ein Gesetz schlecht ist, dann haben wir die Pflicht, es zu ändern.» (Seite 67)
Der politische Sinn von Kuhses Text:
«Das deutsche Tabu» stehe da aber im Wege. «Eine vernünftige Diskussion dieser Frage steht in Deutschland noch aus.» (Seite 67)