Der Remmelink-Report aus den Niederlanden: ein erschreckendes Dokument

6. April 1994 Moritz Nestor

Tötung auf Verlangen des Patienten wird in Holland «Sterbehilfe auf Verlangen» genannt. Bei Tötung gegen den Willen des Patienten spricht man von «aktiver Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen». Was sich hinter dieser beschönigenden Formulierung verbirgt, hat jedoch nichts mehr mit dem zu tun, was man sonst als Sterbehilfe oder Sterbegleitung bezeichnet. Bei Sterbehilfe oder Sterbebegleitung haben wir es mit dem Erlöschen des Lebens zu tun und dem Sterbenlassen unter therapeutischer und mitmenschlicher Begleitung. Was in Holland passiert, ist aktive Tötung. Der Arzt schwingt sich zum Herrn über Leben und Tod auf. Neuerdings wird das Thema Euthanasie auch in der Schweiz diskutiert.

1991 veröffentlichte ein von der holländischen Regierung beauftragter Ausschuss unter dem Vorsitz des Generalstaatsanwalts Remmelink einen Bericht, den sogenannten Remmelink-Report, über die Euthanasiepraxis in Holland.[1] Er beruht auf 405 Interviews mit Ärzten, auf den Untersuchungen von 7000 Todesfällen und der Analyse von 2250 Fragebögen. Dieses Papier ist eine der wertvollsten, weil umfassendsten Informationsquellen über die tatsächliche Lage in Holland.

(Hier finden Sie die Statistik des Remmelink-Reports:  1990/91 Zahlen)

1990/91 zählt der Bericht 2300 Patienten, die der Euthanasie zum Opfer gefallen sind (bei einer jährlichen Gesamtsterblichkeit von 129 000). Aber: Der Bericht versteht unter Euthanasie lediglich die Gabe einer tödlichen Substanz (sprich: Gift) durch einen Arzt auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten. So kommt die immer noch erschreckende Zahl 2 300 zustande. In Wirklichkeit aber ist die Zahl der Opfer sehr viel höher.

Zählt man all diese «Euthanasie»fälle, die der Bericht «normale medizinische Praxis» nennt, so ergeben sich zusätzlich zu den offiziellen 2300 Euthanasietoten weitere 6400 Opfer, für 1990/91 also die Mindestzahl von 8700 Menschen, bei denen der Arzt – statt Leben zu erhalten – tötete.

Die vielleicht traurigsten Berichte finden sich bei jenen 1000 Patienten, die getötet wurden, ohne gefragt worden zu sein. Die «Gründe», die die Ärzte in den ausführlichen Interviews anführten, lauteten: «niedere Lebensqualität», «keine Aussicht auf Besserung» (60%), «Schmerz» (31%), «es war der unausgesprochene Wunsch des Patienten» (17%), «medizinische Behandlung wurde sinnlos» (39%) und «die Belastung war der Familie nicht mehr zuzumuten» (32%). Nirgendwo zeigt sich deutlicher, dass nicht der Wunsch der Patienten der wahre Grund für ihre Tötung ist, wie der niederländische Gesetzgeber beharrlich behauptet (ein niederländischer Staatsekretär spricht von «zivilisierter Praxis der Euthanasie»). Jochemsen vom Lindeboom-Institut für medizinische Ethik hat betont, dass diese Daten unumstösslich zeigen, dass in Wirklichkeit die durch den Arzt beurteilte Situation des Patienten der wahre Grund für die meisten Tötungen ist. Dies zeigt sich um so deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass von den 9000 Kranken, die jährlich Euthanasie «freiwillig» begehren, «nur» 2300 die «Erlaubnis» bekommen – alles nach offiziellen Angaben! Das bedeutet, dass der Arzt die eigentliche Entscheidung trifft, wann ein Patient getötet wird, und nicht der Patient selbst! «Der Wunsch scheint», sagte Jochemsen, «als ein Umstand zu funktionieren, welcher es legal und möglicherweise moralisch für den Arzt leichter macht, Euthanasie durchzuführen. Aber es ist grundsätzlich der Zustand und nicht der Wunsch des Patienten, welcher der wirkliche Grund für Euthanasie in vielen Fällen ist. Die Achtung vor der Autonomie des Patienten wurde als Hauptargument zur Begünstigung der Akzeptanz der Euthanasie vorgeschoben.»

Der Bericht der Remmelink-Kommission sagt nichts Genaues über Euthanasie an Neugeborenen oder Psychiatriepatienten aus. Es heisst jedoch darin, dass bei etwa der Hälfte aller Fälle von Frühgeburten oder schwer behinderten Kindern Hilfe nicht erteilt oder abgebrochen wurde. Eine relativ hohe Zahl getöteter Willensunfähiger waren Psychiatriepatienten. Kein Mensch wird je mehr aufdecken können, wieviel Unrecht da geschehen ist. Deutschen Bundesbürgern steigen unangenehmste Erinnerungen aus nicht allzu ferner Vergangenheit auf.

Der Bericht dokumentiert damit selbst ausdrücklich, was Ethiker als logische Folge der faktischen Aufhebung des Tötungsverbotes längst vorausgesagt haben: Die in den letzten Jahren auf dem Wege des Opportunitätsprinzips allmählich in den Niederlanden akzeptierte Regel, wonach Euthanasie auf «ausdrücklichen Wunsch des Patienten» durchgeführt werden darf, wird von vielen Ärzten bereits stillschweigend ignoriert, so dass eine Praxis verdeckter Euthanasie bereits üblich ist. Der Kardiologe Fenigsen, ein intimer Kenner der niederländischen Verhältnisse, spricht in diesem Zusammenhang von «Crypthanasie».

 

Hollands Ärzte isoliert!

Nur eine einzige kleine niederländische Zeitung berichtete darüber, als der Ständige Ausschuss der Ärzte in der Europäischen Gemeinschaft die Tötungen in den Niederlanden verurteilte. Alle im Ständigen Ausschuss der Ärzte in der Europäischen Gemeinschaft vertretenen Mitgliedstaaten (ausgenommen Holland) betonten in der Erklärung von Berlin 1987: «Jede Handlung, die darauf abzielt, den Tod eines Patienten herbeizuführen, widerspricht der medizinischen Ethik.» Etwas später schliesst sich auch die World Medical Association dieser Erklärung an. Sie verwirft jede Euthanasie und verurteilte sie als unethisch. Daran hat sich bis heute nichts geändert. 1993 wurde auf Antrag Belgiens den Niederlanden nach einer heftig verlaufenen Debatte auf Grund ihrer Euthanasiepraxis der turnusgemässe Vorsitz im Ständigen Ausschuss der Ärzte in der EG verweigert.

Es gibt in Holland zwei ärztliche Standesvertretungen: die «Koninklijke Nederlandsche Maatschappij tot bevordering der Geneeskunst» (KNMG), die Euthanasie befürwortet, und der vor zwanzig Jahren gegründete Niederlande Artsenverbond (NAV). Die deutsche Bundesärztekammer behandelt beide gleichwertig.

Anlässlich der jahrelangen Diskussion eines Euthanasiegesetzes in Holland schrieb der NAV am 20. Februar 1992 «To the board of National Medical Associations in Europe and abroad» und schilderte den Euthanasiestandpunkt der Remmelink-Kommission, der KNMG, der NAV sowie den Gesetzesvorschlag des Kabinetts mit der Bitte um Stellungnahme zu folgenden Fragen:

«1. Welcher Standpunkt entspricht dem Ihrer eigenen Organisation und warum? 2. Welcher Standpunkt entspricht dem Ihrer Organisation am wenigsten und warum? 3. In wieweit weicht Ihr Standpunkt von dem des niederländischen Kabinetts ab? 4. Was würden Sie sagen, wenn Ihre Regierung den gleichen Standpunkt wie das holländische Kabinett einnähme?»

Alle Verbände antworteten zufriedenstellend. Gunning von der NAV berichtet: «Kein einziges Land hat irgendeinen Hinweis darauf gegeben, dass sich seine Haltung in der Euthanasiefrage irgendwie geändert hätte.» Die Antwort von Karsten Vilmar, dem Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer, ist ein Zeitdokument:

«Es ist die Pflicht jedes Arztes, das Leben der Patienten vom Anfang bis zum Ende zu schützen. Dies steht im Widerspruch zur Idee der Euthanasie oder der Verweigerung der Behandlung oder dem Verabreichen einer Überdosis, um einen Patienten zu töten. Der Standpunkt des Remmelink-Komitees, der Vorschlag des Kabinetts sowie der Standpunkt der KNMG sind für uns unakzeptabel. Wir halten uns streng an den hippokratischen Eid, die Erklärung von Genf der World Medical Association sowie an unsere professionellen Verhaltensregeln; keine von ihnen erlaubt Euthanasie oder andere Aktionen, welche den absichtlichen Tod des Patienten herbeiführen. (. . .) Es ist für die Mehrheit der Ärzte auf der ganzen Welt unakzeptabel. (. . . ) Wenn die Regierung einen solchen Standpunkt diskutieren würde, würde uns das zwingen, uns dem heftigst entgegenzustellen.»[2]

 

[1]  Commissie Onderzoek Medische Praktijk inzake Euthanasie. Rapport Medische Belissingen rond het Levenseinde. Den Haag. SDU–uitgeverij 1991. Hier Manchmal auch zitiert als: Report of the Ministery of Justice and Ministery of Welfare, Public Health and Culture. Band I und II.

[2] Deutschland hat die hervorragenden und europaweit ersten Richtlinien für die Sterbehilfe von der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften mit wenigen Ausnahmen wörtlich übernommen. Hiermit sind indirekt also auch die Schweizer Richtlinien gemeint!

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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