Zuerst töten – dann melden: Das niederländische Meldeverfahren für Patiententötungen

8. Juni 1994

Zivilisierte Staaten unterscheiden zwischen natürlich und unnatürlich Gestorbenen. Letzteres verfolgt man – sofern es sich nicht um einen unverschuldeten Unfall handelt –international als Tötung oder Mord. Allein die Niederlande kennen zwei Gruppen unnatürlich Gestorbener: Tötungen, die bestraft werden, und Tötungen durch Ärzte, die – falls «korrekt» durchgeführt – nicht bestraft werden.

Das neue niederländische «Euthanasie»Gesetz besteht aus ein paar relativ unbedeutenden Worten, mit denen das «Gesetz über das Bestattungswesen» erweitert wurde. Das eigentlich Wichtige sind die ergänzenden Rechtsvorschriften. Diese beschreiben rein formal ein Verfahren, wie ein Arzt Patiententötungen – nachdem er sie begangen hat! – korrekt melden muss, um nicht bestraft zu werden. So einfach ist schlussendlich der Beginn einer neuen Ära, in der das Leben des anderen Menschen nicht mehr unantastbar sein soll. Wer an seine betagten Eltern, seine Familie oder andere liebe Angehörige denkt oder an die eigene Situation bei schwerer Krankheit oder fortgeschrittenem Alter, der füllt den mit dem Fremdwort „Euthanasie“ kaschierten Vorgang mit Leben oder Tod. Wo führt das hin, wenn der in der Verfassung garantierte absolute Schutz des Lebens durch einfache gesetzliche Änderungen und Verordnungen sowie Billigung im Alltag unterlaufen werden kann?

Was dann, wenn der absolute Schutz des Lebens nicht mehr zum naturrechtlich geltenden Bestand gehört und der Mensch ein «Recht» haben soll, das Leben mutwillig zu beenden? Ist nicht zutiefst erschreckend, dass heute eine junge und mittlere Generation eine Debatte darüber zulässt, ob älter werdende Menschen oder in Krankheit auf die Hilfe anderer angewiesene noch weiter leben sollen und dürfen oder nicht? Humanität und Vernunft haben in der Medizin dazu geführt, bei irreversibler (nicht mehr rückgängig zu machender) Bewusstlosigkeit von künstlichen lebensverlängernden Massnahmen abzusehen; bei schweren Krankheitsprozessen, die zum Tode hinführen, wird mit den heutigen Möglichkeiten sorgfältig dosierter Schmerzbehandlung unnötiges Leid vermieden. Keine ideologische Diskussion und keine Kosten-Debatte hat ein Recht, daran zu rütteln und Leben aktiv zu beenden.

Das deutsche Strafrecht stellt durch Paragraph 211ff. des Strafgesetzbuches die aktive Lebensverkürzung – solange sie nicht als unbeabsichtigte Nebenfolge einer Schmerzlinderung eintritt – unter hohe Strafe. Die aktive und direkte Sterbehilfe ist kraft Einwilligungssperre des Paragraphen 216 StGB auch dann als Tötung strafbar, wenn sie auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten geschieht. Damit trägt das deutsche Strafrecht dem naturrechtlich geforderten absoluten und unveräusserlichen Schutz des menschlichen Lebens und dessen Unversehrtheit Rechnung. Dies folgt ebenfalls aus dem in Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes garantierten Recht auf Leben eines jeden Menschen, das als erstes Rechtsgut auch in Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist.

Die neuen niederländischen Rechtsschriften geben dagegen diese Garantie auf. Sie enthalten keine inhaltlichen Aussagen darüber, welche Patienten ein Arzt töten «darf». Was neu als «Euthanasie» zu verstehen sei und was nicht, beschreibt im wesentlichen die Königlich-niederländische medizinische Gesellschaft (KNMG). Nach Unterlagen der KNMG, die allerdings nicht Bestandteil des neuen Gesetzes sind, werden auch «lebensbeendende Massnahmen» (auch so kann man «Tötung» umbenennen) bei Koma-Patienten, geistig behinderten Alten, schwer missgebildeten Neugeborenen und psychisch Gestörten befürwortet. Wem stossen da nicht bedrückende Bilder aus der Geschichte unseres Jahrhunderts auf? Die KNMG ist aber nur eine der beiden ärztlichen Standesvertretungen in den Niederlanden, und zwar diejenige, welche «Euthanasie» befürwortet. Die zweite Standesgesellschaft dagegen, der Niederländische Ärzteverband, welcher Patiententötungen ablehnt, wird gar nicht erst gefragt, sondern als «fundamentalistisch» und ähnliches mehr abgetan. Wer also in «Notfällen» getötet werden darf, definieren die KNMG und weitere gesellschaftliche Gruppen, die sich im ideologischen Kampf an die Spitze gebracht haben. Dass im Sinne der Meldevorschrift – also «richtig» – getötet wird, darüber wacht der Staat. Und wieder stösst einem Analoges aus der Geschichte unseres Jahrhunderts auf …

Daraus erklärt sich, warum Artikel 10 des neugefassten Bestattungsgesetzes für jeden Fall einer nicht natürlichen Todesursache zwei Meldeformulare für den amtsärztlichen Leichenbeschauer einführt:

 

  1. Das erste Meldeformular erfasst das «Ableben infolge der Anwendung von Sterbehilfe auf Verlangen durch einen Arzt, die Hilfeleistung bei Selbsttötung oder die aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen». – «Sterbehilfe auf Verlangen » bezeichnen die Niederländer als «Euthanasie». –
  2. Das zweite Meldeformular wird beim «Ableben infolge einer anderen Ursache» verwendet. Tötung, im Strafgesetz wie erwähnt als aktive Lebensverkürzung bezeichnet, wird hier in «Sterbehilfe» umbenannt.

 

Begeht nun ein Arzt «Sterbehilfe auf Verlangen, (…) Hilfeleistung bei Selbsttötung oder (…) aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen», ruft er anschliessend den amtsärztlichen Leichenbeschauer, der dreierlei tun muss:

 

  1. Erstens untersucht er die Leiche – rein äusserlich (niederländisch: ‚toetsen’ = Urteilsbildung durch Abtasten).
  2. Zum zweiten füllt er das Meldeformular des ersten Typs aus. Darin versichert er,
    a) der/dem Verstorbenen «während der letzten beiden Jahre keinen Beistand als Arzt geleistet zu haben»,
    b) dass «der behandelnde Arzt ihm mitgeteilt hat, dass der Tod infolge der Anwendung von Sterbehilfe auf Verlangen / der Hilfeleistung bei Selbsttötung / der aktiven Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen (Nichtzutreffendes bitte streichen) eingetreten ist» und
    c) dass er vom Arzt eine «schriftliche Willenskundgebung» des Patienten bekommen habe. Folgende Fragen müssen beantwortet sein:
    – «Wann und wem gegenüber wurde das Verlangen zuerst geäussert?
    – Wann und wem gegenüber wurde das Verlangen wiederholt?
    – Ist eine schriftliche Willenskundgebung vorhanden? (. . .)
    – Wenn nein, welchen Grund hat das?»
  3. Zum dritten bekommt der Leichenbeschauer vom Täter (dem Arzt) nach der Tat einen Bericht, dessen Angaben er «verifiziert». Dieser Bericht folgt einem ebenfalls durch das «Gesetz über das Bestattungswesen» festgelegten Fragebogen, der am 22.12.1993 fünfzig Punkte umfasste, unter anderen folgende: die Krankengeschichte; eine Bestätigung, dass es der freie Wunsch des Patienten war, durch den Arzt getötet zu werden; oder – man beachte! – «was die Ursache [dafür war], dass der ausdrückliche Wunsch des Patienten nicht vorlag»; mit welchen Kollegen sich der Arzt beraten hatte; wer wie tötete und wer dabei Zeuge war.

 

Wohlgemerkt: Dies alles wird vom Arzt ausgefüllt und vom Leichenbeschauer «verifiziert», nachdem der Patient tot ist! Der Leichenbeschauer, der die Leiche nur äusserlich untersucht, gibt den Bericht des Täters (Arztes) und das ausgefüllte Meldeformular an den Staatsanwalt weiter. Dieser entscheidet nach den ihm vorliegenden Unterlagen, ob eine Strafverfolgung aufzunehmen sei oder nicht. Hat der Arzt alle «Regeln der Sorgfalt» beachtet und scheint dem Staatsanwalt daher der Fall in Ordnung, sieht er in Holland heute von einer Strafverfolgung ab. Die «Regeln der Sorgfalt» zu beachten bedeutet für den Täter (den Arzt), dass er nach der Tat einen Bericht verfasst (Papier ist geduldig), worin er «nachweist», in einer «ausweglosen Notsituation» gewesen zu sein und dem Patienten nur noch dadurch habe helfen können, dass er ihn tötete. Es müsse sich dabei um ein «auswegloses und unumkehrbares » Leiden gehandelt haben. Sobald der Staatsanwalt die Unterlagen bekommt, lebt der einzig verlässliche Zeuge – der Patient – nicht mehr.

Am 1. Februar 1994 versuchte der niederländische Justizminister, Hirsch Ballin, die für einen Rechtsstaat untragbare Melderegelung, wonach der Arzt zuerst tötet und anschliessend den Bericht allein «korrekt» abfasst, zu rechtfertigen. Er selbst musste das Problem zugeben: «Es geht nicht darum, dass gemeldet wird, sondern was gemeldet wird.» Was er wohlweislich verschwieg: Im regierungsamtlichen Remmelink-Bericht von 1990/91 wird auch aufgedeckt, dass in der Mehrzahl aller Patiententötungen der Leichenbeschauer in Wirklichkeit gar nicht gerufen wird. Da bei Patiententötungen neben einer Autopsie auch Befragung der Verwandten und längere Untersuchungen drohen, kreuzten 65 bis 75 Prozent – so der Remmelink- Bericht – der niederländischen Ärzte auf der Sterbeurkunde eines getöteten Kranken einfach «natürliche Todesursache» an. Obwohl die Fälschung einer Sterbeurkunde strafbar ist. Von den mehreren Tausend «Euthanasie»-Toten pro Jahr wurden daher im Jahre 1987 nur 197, 1988 nur 180 und 1989 nur 340 Fälle tatsächlich gemeldet. Trotzdem rechtfertigt der Justizminister 1994 die absurde Regelung, zuerst zu töten und dann zu melden:

«Von ausserordentlicher Bedeutung ist die Bereitschaft der Ärzteschaft, Meldungen vorzunehmen. (…) 1992 wurde in 1320 Fällen Meldung über die Beendigung eines Lebens auf Verlangen erstattet. Dies beweist, dass diese Bereitschaft bei den Ärzten vorhanden ist. Das ist erfreulich, denn es ist sehr wichtig, dass die Meldungen auch tatsächlich gemacht werden

Keine Pflicht unter Strafe, aber erfreulich, dass die Meldungen auch tatsächlich gemacht werden … Rechtsstaat, quo vadis?

Ethik muss nach Aristoteles Grundlage der Politik sein. Entweder wir verbieten allen das Töten, oder wir lassen den Dingen freien Lauf. Absurd ist es, Täter darauf verpflichten zu wollen, ihre Tötung nachträglich zu melden, damit man kontrollieren kann, ob sie richtig gehandelt haben. Man kann nicht durch eine nachträgliche Meldepflicht den Täter dazu erziehen, nur dann zu töten, wenn es «richtig» ist. Damit läuft jede Schutzwirkung des Strafrechts zum Erhalt des Lebens automatisch ins Leere. Sinn des Strafens der Tötungsdelikte ist vor allem, den Schutz und die Sicherheit des Lebenden zu gewährleisten. Das niederländische Gesetz dagegen kann und will offenbar keine Tötungen verhindern. Sonst würde es zumindest definieren, wen man töten darf und wen nicht. Das Gesetz ist in Wirklichkeit ein Freipass: Zuerst tötet man, dann soll man wahrheitsgemäss berichten, was man getan hat – Papier ist geduldig und der Zeuge tot! Aus Angst vor internationalem Ansehensverlust wehrt sich die holländische Regierung natürlich energisch gegen den Vorwurf, sie wolle Tötung legalisieren.

Doch nicht nur die düsteren Schatten aus der Geschichte unseres Jahrhunderts tauchen bei diesem ganzen Problem auf. Es gab unter der deutschen Besatzung in Holland auch noch etwas anderes: den Widerstand der Ärzte gegen die Vorschriften der Nazis. Kein holländischer Arzt unterzeichnete damals eines jener «Arbeitsfähigkeitszeugnisse», die den Transport in ein Lager bedeuteten. Viele von ihnen hatten sogar einen Protestbrief an den deutschen Reichskommissar im besetzten Holland geschrieben; sie hatten sich darin offen zum Leben als höchstem Wert bekannt. Manche kamen 1941 wegen dieses Protestes selber ins Lager … Was geschah in der kulturellen Entwicklung dieses Landes, dass eine nächste Generation diese Geradlinigkeit und dieses Ethos der vorhergehenden nicht mehr hat?

Und was wird in den deutschsprachigen Ländern geschehen, wenn diese unglückselige Debatte um «Euthanasie» statt Tötung weiter forciert wird? Mit mehr als Unbehagen hörte vor nicht allzu langer Zeit ein Arzt, wie ein Vertreter einer Philosophischen Fakultät, der sich sogar Ethiker nannte, in einer Vorlesung vor Ärzten als Theorie von sich gab, das Lust-Unlust-Prinzip in der Arzt-Patienten Beziehung sei Kriterium für Euthanasie. Viele der anwesenden Ärzte verliessen unter deutlichem Protest den Hörsaal. Und wenn die gleichen Argumente etwas kaschierter, etwas unauffälliger, etwas «humaner» oder gar als «Notstand» oder «Hilfeleistung» daherkommen? Was dann, wenn sie in Kostenargumente verpackt werden? Was, wenn beide Argumentationen eine unselige Allianz eingehen? Die Menschheit hat als Voraussetzung für alles weitere und als zentralen Punkt im Bestand der unveräusserlichen Menschrechte das Recht auf das eigene Leben und auf Achtung der Person erklärt. Der Mensch habe seine sittliche Existenz in einem nie in sich abgeschlossenen Prozess zu verwirklichen und darf deshalb diesem Prozess kein willkürliches Ende setzen, hält Messner in seiner naturrechtlich-christlichen Ethik fest. «Daher ist Euthanasie sittlich verwerflich», sagt er als einer, der 1938 sein Exil begann und der wusste, wohin es führt, wenn das menschliche Leben nicht mehr unantastbar bleibt.[1]

[1] Johannes Messner: Das Naturrecht. Berlin 1984, S. 52)

Zeit-Fragen Nr. 8, Juni 1994, Seite 13

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