Jean Baudrillard: Mehr Demokratie durch Eliminierung der Unmoralischen

1995 Moritz Nestor

 


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Am 22. August 1995 veröffentlicht der Zürcher Tages Anzeiger auf seiner zweiten Seite einen ganzseitigen Artikel des französischen Soziologen Jean Baudrillard, in welchem dieser klagt, dass die politische Kultur in den westlichen demokratischen Verfassungsstaaten zu Schanden geritten sei. Korruption und anderes würden verhindern, dass sich Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wirklich durchsetzen würden.

Baudrillards Vorstellungen, wie das durchzusetzen sei, was er unter «Demokratie» versteht, lassen einem das Blut in den Adern gefrieren: Unter der Zwischenüberschrift «Was meint Demokratie wirklich?» heisst es: Alle Bürger sollen einen «Existenzausweis» nach Vorbild des Führerscheins mit einer bestimmten Menge von «Existenzpunkten» erhalten. Am geeignetsten sei eine kleine programmierte Maschine, die in den Körper eingepflanzt werde. Jeder Verstoss, jedes Vergehen und jedes unmoralische Verhalten werde dann mit dem Abzug von «Existenzpunkten» bestraft. Sei das Konto aufgebraucht und der Schuldige nicht bereit, sich unter Anleitung von «Gewissensexperten» zu bessern, werde der letzte Existenzpunkt via Funk gelöscht und die Maschine löse automatisch einen Herzstillstand aus.

Wir kämen, schreibt Baudrillard zynisch, im Leben viel besser voran, wenn alle, die sich nicht benehmen können, aus dem Verkehr gezogen würden. Der Tages-Anzeiger lobt diesen Soziologen als «originellen Vordenker».

Auf telefonische Anfrage hin erklärte mir jemand aus der Redaktion, man habe einige empörte Anrufe bekommen, die von «Faschismus» und dergleichen gesprochen hätten – was aber «emotional» und «übertrieben» sei: «Vielleicht haben wir die Unfähigkeit des schweizerischen und deutschen Publikums überschätzt, die spezielle französischen Ironie zu verstehen, die Baudrillard verwendet.»

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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