Jean Little. Alles Liebe, Deine Anna, München 1995
Jean Little. Lass von Dir hören, Deine Anna. München 1997
Es gibt Literatur für Kinder, die an Gehalt und Menschlichkeit so reich ist, dass sie ihresgleichen sucht, und bei deren Lektüre man mit den Hauptdarstellern lacht, weint und schmunzelt, und die man mit einem Gefühl der inneren Bereicherung und der Verbundenheit mit der Welt und den Menschen aus der Hand legt. Die Geschichte von Anna, niedergeschrieben von der Kanadierin Jean Little in den Bänden «Alles Liebe, Deine Anna» und «Lass von Dir hören, Deine Anna», gehört dazu.
Es geht um gelebte Humanität: Um die Menschlichkeit, die Anna, deren schwerer Sehfehler lange nicht erkannt wird, im Verlauf der Geschichte zu einer reifen Persönlichkeit reifen lässt, die selber anderen Menschen weiterhelfen kann; aber auch um die Menschlichkeit, die in Nazi-Deutschland mit Füssen getreten wird und Annas Vater zu dem schweren Entschluss bewegt, seine Heimat zu verlassen und mit seiner Familie nach Kanada auszuwandern. Jean Little bettet die persönliche Geschichte Annas meisterhaft in die Zeitgeschichte ein und zeigt, wie eng das persönliche Schicksal mit dem der Menschheitsfamilie verbunden ist. Mit Anna, die autobiographische Züge der sehbehinderten Autorin trägt, führt sie den Leser in das Denken und Fühlen eines missverstandenen kleinen Mädchens ein und erklärt ihm Annas nach aussen oft abweisende Art und ihre Probleme beim Lernen so einfühlsam, dass man Anna versteht und mit ihr mitfühlen kann. Aber Jean Little belässt es nicht dabei, die Probleme des Mädchens nachzuvollziehen, sondern stellt ihm einen Vater, eine Lehrerin und Freunde zur Seite, die sie erfassen, ihre inneren Wunden heilen helfen und sie anleiten, sich aktiv mit der Welt auseinanderzusetzen und zu versöhnen.
Das humane Menschenbild der Autorin kommt in einer Rede von Annas kanadischem Schulleiter zum Ausdruck: Glauben und Vertrauen zu haben heisse, «den Vogel singen zu hören, noch ehe das Ei ausgebrütet ist». Jean Little zeichnet Annas Entwicklung vom «Ei» zum «singenden Vogel» nach, die gelingt, weil sie auf Menschen trifft, die an sie und ihre Entwicklungsfähigkeit glauben. Ihre Kunst besteht darin, diese anspruchsvolle Thematik sehr anschaulich und sprachlich unkompliziert darzustellen, so dass bereits Kinder ab 10 Jahren Annas Geschichte lesen können. Aber auch jedem Jugendlichen und Erwachsenen sei sie wärmstens empfohlen.