Jeder Mensch hat ein natürliches Recht darauf, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen

8. August 2012 Moritz Nestor


 


 

 

Professor Franz Schultheis von der Universität St. Gallen verteidigt die Würde des Arbeitenden gegen einen aus den USA importierte sozialdarwinistische Wirtschaftsweise, die den Arbeitenden nur noch als Ware (Humankapital) behandelt und ihn wie einen Sklaven kauft und verkauft

 

Der Soziologieprofessor Franz Schultheis von der Universität St. Gallen hielt am 2. Februar 2012 an der Journée de I`IUMG in Yverdon einen bemerkenswerten Vortrag mit dem Titel «Employability. Zur Kritik des managerialen Menschenbildes am Schnittpunkt soziologischer und ärztlicher Perspektiven», den die Ärztezeitung PrimaryCare jüngst abdruckte.[1] Ein Vortrag, an dem sich das Denken sowohl des Soziologen als auch des Arztes wieder aufrichten und den Horizont erweitern kann.

Im Gedankenaustausch mit Ärzten stellt der Soziologe Franz Schultheis fest, wie viele Wahlverwandschaften bestehen zwischen dem Soziologen, der untersucht, wie menschliche Gesellschaften entstehen und was sie zusammenhält, und dem Arzt am individuellen Krankenbett. „Wie der Arzt in seiner Praxis, dem der Patient sein `Herz ausschüttet` und oft sehr Intimes anvertraut, dringt auch der Soziologe bei seinen Forschungen tief in die Persönlichkeitssphäre seiner Probanden ein und muss dabei ähnliche ethische Grundregeln wahren wie der Mediziner gegenüber seinen Patienten. Diese Regeln wurden in Spinozas Philosophie kurz und bündig auf den Nenner gebracht: nicht verlachen, nicht bemitleiden, sondern verstehen! … Die dem Arzt und Soziologen vorgetragenen Nöte und Leiden scheinen auf den ersten Blick besehen von je ganz anderer Natur. Im Austausch … merken sie aber sehr schnell, wie eng ihre fachspezifischen Problemlagen miteinander verzahnt sind. Ärztliche Diagnosen sind immer auch mit Symptomen gesellschaftlicher Verhältnisse und subjektivem Leiden an sozialen Realitäten befasst, wie im Folgenden am Beispiel der heutigen Arbeitswelt illustriert werden soll.“[2]

So wie der Arzt bei individuellen Menschen Formen der Desorientierung, zum Beispiel Demenz oder psychisches Leiden, diagnostiziert und nach Heilungsmöglichkeiten sucht, so diagnostiziere auch der Soziologe, schreibt Franz Schultheis, beim heutigen Menschen, der unter der „Revolutionierung aller Lebensbedingungen und –verhältnisse unserer  zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft“[3] leidet, „Formen der kollektiven Desorientierung“, die „Formen gesellschaftlicher Leiden bzw. Leiden gesellschaftlichen Ursprungs“ seien.[4] Ein Leiden an den „Zeiten rascher Veränderungen der Lebensumstände“.[5]
Das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen sei nicht einfach ein Reflex der raschen Veränderungen der globalisierenden Wirtschaft. Der heutige Kapitalismus bestehe sowohl aus einer „Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse“ als auch aus „einer grundlegenden Veränderung der normativen Anforderungen an den Arbeitnehmer bzw. – um es zeitgemäss auszudrücken – an das Humankapital“.[6] Die globalisierende Wirtschaft fördert und fordert im Menschen jene geistigen Einstellungen und Haltungen, mit denen er nur noch ein Kümmerleben als „marktgerechter Arbeitnehmer“[7] in einer sozialdarwinistischen Wirtschaft führt.

Eine Langzeitanalyse von Manager-Texten aus den letzten Jahrzehnten ergab folgendes Bild: Der „marktgerechte Arbeitnehmer“ muss ‚Autonomie‘ und ‚Employabilty‘ aufweisen. Er muss ‚flexibel‘, ‚innovativ‘, ‚kommunikativ‘, ‚kompromissfähig‘, ‚kreativ‘, ‚mitreissend‘, ‚lebenslang lernend‘, ‚mobil‘, ‚plurikompetent‘ und ‚visionär‘ sein. ‚Projektmanagement‘, ‚Risikobereitschaft‘, ‚Selbstevaluation‘, ‚Selbstmanagement‘, ‚Spontaneität‘, ‚Vernetzung‘, ‚Vielfalt der Projekte‘ und ‚Verfügbarkeit‘ sind seine Tugenden.[8] „Aber was für ein Menschen- und Gesellschaftsbild wird hier eigentlich propagiert? … will der Gebrauch ‚cooler‘ englischsprachiger Ausdrücke die bittere Pille nicht einfach in Zuckerguss verkapseln?“[9]

Der Begriff „Employability“ ist ein gutes Beispiel dafür. Er bedeutet im Deutschen: ‚marktfähig‘ sein zu können. Der Sinn des Lebens, fordert dieses US-amerikanische Menschenbild, sei die Verwertbarkeit und Nützlichkeit des Einzelnen auf und für den Markt. Der Mensch muss auf dem Markt einen Preis erzielen. Behinderte, Kranke, Betagte, Hilfsbedürftige – sie sind alle in den Augen dieser faschistischen Gesinnung nicht mehr ‚marktfähig‘, heisst: nicht lebenswert. Alle totalitären Systeme haben den Menschen immer so gesehen: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.“ Dieses Menschenbild „setzte Mitte der 90er Jahre zu einem weltweiten Siegeszug … eines neuen kapitalistischen Geistes an“[10] und ist die wichtigste „Definition moderner kapitalistischer Erwerbsarbeit“,[11] zum Beispiel in „gesamteuropäischen Erwerbsprogrammen wie etwa im sog. Lissabonner Vertrag ratifiziert.“[12]

Die Auffassung, dass es der Sinn des Menschen sei, ‚marktfähig‘ sein zu können, ist zutiefst inhuman und stand von vornherein im radikalen Widerspruch zur christlichen und aufklärerischen Auffassung vom Menschen, die seit Beginn der Neuzeit im kontinentalen mitteleuropäischen Raum entstand und ihren Siegeszug über die Welt angetreten hatte: „Alle Dinge haben ihren Preis, der Mensch hat eine Würde.“, sagte Kant. Das ist der Schlüsselbegriff besten antik-demokratischen, christlichen, humanen und aufklärerischen Denkens, das gegen jede Despotie und Verwertung von Menschen als Mittel für irgendwelche Zwecke steht.Sie ist self evident. Eine universelle, ewige Wahrheit, die sich 1948 in der ganzen zivilisierten Welt durchgesetzt hatte und in der UNO-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach den Schrecken zweier Weltkriege als universelles sittlich rechtliches Bewusstsein zum Ausdruck kam: Eine Würde hat der Mensch, weil man ihn nicht wie einen schwarzen Sklaven mästen, kaufen, verkaufen oder lynchen darf. Eine Würde hat der Mensch, weil man ihm nicht einfach sein Land rauben und die eingesessene Bevölkerung massakrieren darf. Eine Würde hat der Mensch, weil man ihn nicht wie eine Ware zählen, wiegen und messen darf. Der Mensch darf keinen  Preis haben. Und alle Verhältnisse, die ihn auf seine Verwertbarkeit auf dem Markt herabwürdigen, knechten den Menschen, verachten seinen unendlichen Wert. Das wahre Streben eines jeden christlich, human und aufklärerisch Gesinnten ist daher die Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch als Mittel zum Zweck verachtet und geknechtet wird.

 


 

[1] Schultheis, Franz: Employability. Zur Kritik des managerialen Menschenbildes am Schnittpunkt soziologischer und ärztlicher Perspektiven. In: PrimaryCare 2012; 12:Nr.10, S. 175
[2] Schultheis, S. 175
[3] Schultheis, S. 175
[4] Schultheis, S. 176
[5] Schultheis, S. 176
[6] Schultheis, S. 177
[7] Schultheis, S. 177
[8] Luc Boltanski und Eve Chiapello (2000), zitiert in: Schultheis, S. 177
[9] Schultheis, S. 177
[10] Schultheis, S. 177
[11] Schultheis, S. 177
[12] Schultheis, S. 177

 

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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