Antipädagogische Schul«reform»: John Holts „Zum Teufel mit der Kindheit“ (1978)

John Holt (1978): Zum Teufel mit der Kindheit. Wetzlar: Büchse der Pandora. Moritz Nestor

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John Holt war in den USA ein führender Kopf der Anarchistenszene und der Bewegung für eine föderalistische Weltregierung. In Paul Goodmans Broschüre „Zwei Aufsätze gegen die Schule“ findet man ihn im Literaturverzeichnis als Autor von „Zur radikalen Schulkritik“. Dort heisst es: „John Holt ist nach Goodmans Tod der Hauptvertreter der US-amerikanischen anarchistischen Schulkritik“. Er hat dazu u.a. folgende Bücher geschrieben: „Chancen für unsere Schulversager“ und „Wozu überhaupt Schule“ In „Alternative Schulformen in der Schweiz“ (Pro Juventute) von Martin Näf wird Holt ein „Rebell“ genannt, der mit Goodman und Dennison in den 60-er  und 70-er Jahren die amerikanische Bewegung der „Free Schools“ angeführt habe. In seinem Buch „Libertäre Alternativen zur Staatsschule“, eine anarchistische Schul-Kritik, charakterisiert D. Peters diese „Free-Schools“-Bewegung folgendermassen:

a) Sie stehe in Opposition zum staatlichen Schulwesen,
b) sie beschäftige sich mit Kindern aus Randgruppen,
c) sie sei klein und dezentralisiert,
d) sie basiere auf Freiwilligkeit,
e) überlasse die Schüler weitestgehender Selbstregulierung,
f) beruhe auf gleichberechtiger Mitbestimmung aller Beteiligten.

 

 

 

John Holts Buch „Zum Teufel mit der Kindheit“ findet sich immer wieder als Quelle von Schul“reformen“ und Schul“versuchen“.

 

Familie und Elternliebe seien überflüssig

S. 18: Holt kommentiert zwei 4-5jährige Kinder, die sich „selbstbestimmt“ jahrelang mit Betteln und Klauen durchgeschlagen und Unterschlupf in einem Kirchhof gefunden haben: „Tatsache bleibt allerdings, dass sie durch dieses Erlebnis offenbar keinerlei tiefe oder bleibende Schäden davongetragen hatten.“

S.147: „Alle diese Fragen münden in eine weitergesagte Frage: Wie können wir in einer Gesellschaft, in der die Kinder noch nicht außerhalb des Elternhauses leben können oder wollen, bestimmte Rechte von ihnen gegen elterlichen Druck und Zwang schützen und verteidigen oder die Kinder befähigen, ihre Rechte selbst zu verteidigen?“

S. 160: „Reiche Leute haben es nicht nötig, den Schmerz und die Anstrengung auf sich zu nehmen, die das Zusammenleben  mit einem Jugendlichen mit sich bringt, der zu gross geworden ist, um noch ein Kind zu sein (…).“

S. 165: „Warum sollten wir es den Erwachsenen und den  Kindern nicht erleichtern, in der jeweils anderen Familie oder Gruppe die Menschen zu finden, die sie am meisten mögen und mit denen sie die meiste Zeit verbringen möchten?“

S. 178: [Es geht um die alltägliche Fürsorge der Eltern für ihre Kinder] „ … keine Mutter und kein Vater geben eine solche Fürsorge oder haben sie in der Geschichte der Menschheit jemals gegeben. Kein Kind (es sei denn, es liegt unter einer eisernen Lunge) hat eine solche Fürsorge nötig, würde es sie bekommen, hätte es allen Grund, wahnsinnig zu werden.“

S.180: „Im Zweifelsfall kann das [was für Kinder am besten ist] niemand besser wissen als das Kind selbst. (…) Jedes fünfjährige Kind kennt den Unterschied zwischen einem gemeinen Lehrer und einem netten und ist gescheit genug, um den Wunsch zu haben, von dem gemeinen Lehrer wegzukommen.“

S.184: Der Journalist der Time fragt: „Doch man kann kleinere Kinder nicht einfach sich selbst überlassen‘. Worauf ich allen Ernstes die Frage stellen muss: Warum nicht? Wenn niemand sie will oder wenn es keinen Ort gibt, zu dem sie wollen, warum können wir ihnen dann nicht das Geld, das sie zum Leben nötig hätten – was nur ein Bruchteil von dem ausmacht, was wir für ihre ‚Pflege‘ aufbringen müssten – in die Hand drücken und sie ihr Leben leben lassen (…).“

 

Familie und Mutterschaft und Kindheit seien nicht naturgegeben

S. 25: Holt behauptet, „dass es sich bei all diesen Institutionen, wie wir sie kennen – Kindheit, Mutterschaft, Zuhause, Familie – im wesentlichen um örtlich begrenzte und junge Erfindungen handelt …“.

S. 33f: „ … dass die moderne Kleinfamilie nicht nur die Quelle der ärgsten Probleme vieler Menschen ist, … .“

 

Kausalität sei ein Konstrukt

S. 32: Die Kausalität seine eine menschliche Erfindung und „verlegte den Sinn der gegenwärtigen Wirklichkeit in die Vergangenheit. (…)wenn alles nur die Folge von Ereignissen in der Vergangenheit ist, dann hat nichts einen Sinn.“

 

Familienerziehung sei eine Ausbildung zur Sklaverei

S.36: „Die meisten  derjenigen, die zornig von der Rettung der Familie oder von der Rückkehr zu den familiären Tugenden reden, verstehen die Familie nicht als ein Instrument des Wachstums und der Freiheit, sondern als Mittel zur Beherrschung und Versklavung, als eine Diktatur in Miniaturformat (die zuweilen durch ‚Liebe‘ legitimiert wird), in der das Kind lernt, unter unangefochtener Macht zu leben und sich ihr zu unterwerfen. So gesehen ist die Familie eine Ausbildung zur Sklaverei.“

S.57: „Kinder und die Institution der Kindheit insgesamt haben, obwohl eine grosse Belastung und Plage, einige ganz wichtige Funktionen zu erfüllen. Dafür geben sie den erwachsenen Familienangehörigen zumindest eine Zeitlang etwas, nach dem die meisten Erwachsenen ein starkes Bedürfnis haben – jemanden, den sie herumkommandieren, dem sie ‚helfen‘ den sie liebhaben können. (…) verschafft es ihnen Genugtuung, ihre selbstgezüchteten Sklaven zu halten.“

 

Wege in die Euthanasie. Das Alter sei eine nutzlose Zeit

S. 45: „ … wissen wir alle, dass das hohe Alter eine vergeudete und nutzlose Zeit ist. Niemand braucht dich, keiner hat ein Interesse an dir, du fällst allen zur Last und machst nur Scherereien, du kannst nichts mehr leisten, du weisst auch gar nichts mehr, oder das, was du weisst, ist völlig belanglos.“

 

Holt, Autor des Unsinns vom ‚Helfersyndrom‘

S. 59: „Das Problem mit einem Menschen, der sich als Helfer von anderen versteht, liegt darin, dass er – wenn er nicht außerordentlich vorgeht – seine Schützlinge höchst wahrscheinlich als Menschen betrachtet, die ohne seine Hilfe nicht auskommen könnten. (…) Der Helfer lebt und zehrt von der Hilflosigkeit anderer; er produziert selber die Hilflosigkeit, auf die er angewiesen ist. Das unangenehme an professionellen Helferberufen- Pädagogik, Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit- ist ihre Tendenz, Menschen anzuziehen, die gerne Gott spielen (…) einen netten und gütigen Gott spielen (…) einen gestrengen und grausamen Gott spielen, um anderen das heimzuzahlen, was ihnen selber ein früherer Gott angetan hat.“

 

Nihilismus: Anything goes

S. 73: „ … schließlich folgt jeder Mensch seinen eigenen Weg und Zeitplan ins Leben. (…) Wir sollten für ihre (der Kinder) Art zu wachsen, wie immer sie sein mag, offen sein.“

S. 81: „Und wir sollten (…) gerührt und betrübt sein angesichts ihrer Kleinheit, Schwächlichkeit, Unerfahrenheit, Unwissenheit, Schwerfälligkeit, Verletzlichkeit, und ihres Mangels an Gefühl für Zeit und Proportionen. Aber wir haben kein Recht, diesen Gefühlen zu huldigen, in ihnen zu schwelgen, weil wir uns in ihnen wohl fühlen; ebenso wenig sollten wir sie dem Kind durch Blick, Wort und Tat vermitteln, solange es uns nicht signalisiert hat, dass sie ihm willkommen sind. (…) Vielleicht heben wir es auch hoch, wenn es uns das entsprechende Signal gibt, tummeln mit ihm herum, umarmen und küssen es. Doch solange es uns das Signal dazu nicht gegeben hat, haben wir kein Recht dazu.“

 

Das Kind sei nicht sozial, nicht zu Identifikation und Empathie fähig und bestimme seine Erziehungsregeln selbst

S. 82: „ … sie [die Kinder] wollen die Grundregeln bestimmen, nach denen in jedem Augenblick die Beziehungen fortschreitet.“

S. 86: „[Kinder] sind Tiere und Sensualisten zugleich; für sie ist gut, was sich gut anfühlt. Sie sind in sich selbst vertieft und selbstsüchtig. Es ist ihnen kaum möglich, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, sich vorzustellen, was er empfindet. Dies macht sie oft unüberlegt und zuweilen grausam, doch egal ob nett oder grausam, ob großzügig oder engherzig- sie folgen stets ihrem Impuls, nicht einem Plan oder Prinzip. Sie sind Barbaren, Primitive, über die wir ja ebenfalls häufig sentimental denken. Manches von dem, was Kinder nicht wissen, sondern nur mit der Zeit und aus der Lebenserfahrung lernen (und kein Unterrichtsstoff ist, der ihnen einfach ‚beigebracht‘ werden kann), werden sie später einsehen.“

S. 96: „Während wir das Kind ausbeuten, bringen wir ihm bei, uns auszubeuten. Wir beuten seine Niedlichkeit aus; es beutet seinerseits unser Bedürfnis nach seiner Niedlichkeit aus. (…) Das Kind spürt genau, dass wir etwas von ihm wollen, aber es weiß nicht genau, was. Wenn es sehr stark und unabhängig ist, wird es der Angelegenheit keine Beachtung mehr schenken; wenn nicht, wird es herauszufinden suchen, wie das Spiel geht, zu dem es die Erwachsenen herausfordern.“

„Daraufhin setzt ein subtiler Machtkampf ein. Während es herausfindet, was der Erwachsene will, wird das Kind sich vielleicht entschließen, hin und wieder das Verlangte zu geben und die Belohnung einzustreichen. Oder es wird sich dazu entschließen, erst einmal abzuwarten, dem Erwachsenen das Verlangte vorzuenthalten, um zu sehen, was als nächstes passiert. Es beginnt zu foppen und zu kokettieren.“

„Ein derart niedliches Kind (…) wird selbstbewußt, verschlagen, berechnend, manipulierend.“

 

Kinder seien noch nicht fähig zu arbeiten

S.140: „Diese Gartenarbeit also (…) erschien uns Kindern als endlose, niemals fertig werdende Arbeit für nichts und wieder nichts.“ Es gebe „einen allgemeinen Zweck von Erwachsenenarbeit …, den Kinder nicht mit uns teilen  … können.“

 

Drogen seien immer schon ein Werkzeug unter vielen gewesen

S. 208: „In all seinen Kulturen und in seiner ganzen Geschichte scheint der Mensch immer ein Wesen gewesen zu sein, das Drogen ebenso wie Werkzeuge benutzt hat, und vielleicht wird das auch immer so bleiben.“

S.203: Heroin sei „in seiner reinen Form eine der ungefährlichsten Drogen“ und „weniger das Heroin selbst, als vielmehr der Heroin-Lebensstil- d.h. die ausserordentlichen Schwierigkeiten und Kosten, die mit seiner Beschaffung verbunden sind- der lebenszerstörend“ wirke. „Für sich genommen war Heroin vermutlich viel weniger gesundheitsschädlich als Tabak oder Alkohol.“

 

Kindersex

S. 213: „Manche haben mir gegenüber die Befürchtung geäußert, dass, wenn es für Erwachsene legal wäre, mit einem einverstandenen Kind Geschlechtsverkehr zu haben, viele junge Menschen von skrupellosen älteren Leuten ausgenutzt würden. Aus diesen Befürchtungen klingt das Klischee vom unschuldigen jungen Mädchen, das sich in den Klauen des schmutzigen alten Mannes befindet. Kaum einer stört sich daran, wenn eine ältere Frau mit einem jungen Burschen schläft. (…) … diesen Mythen zufolge ist jedes Mädchen, das mit einem älteren Mann sexuelle Beziehungen hat, notwendigerweise sein Opfer.“

S. 212: “Dennoch klammern wir uns an dieser Ansicht über Kinder aus vielen Gründen fest – nicht zuletzt deswegen, weil wir durch die Leugnung ihrer sexuellen Empfindungen den sexuellen Aspekt unserer Zuneigung, die wir für sie hegen, leichter ignorieren oder abstreiten können. So haben wir unter anderem deshalb keine Bedenken, sie als Liebesobjekte zu benutzen, weil wir ja nie auf die Idee kommen würden, sie als Sexobjekte zu benutzen, weil beides ohnehin nicht möglich sei.“

S. 213: „(…) sondern sie [die Frauen] in dieser Hinsicht als von Männern und dem Staat kontrollierte Gebärmaschinen behandelt.“ „Wir könnten diese Probleme, Gefahren und Tragödien ohne weiteres vermeiden, wenn wir die Kinder sehr früh über Geschlechtsverkehr, Zeugung, Geburt und Empfängnisverhütung aufklären würden oder sie einfach ihre eigenen Erfahrungen machen ließen. Wenn alle Jugendlichen mit zehn Jahren wüßten, wie Schwangerschaften zustande kommen und wie sie verhütet werden können; wenn Mittel zur Empfängnisverhütung und entsprechende Beratungsstellen weiter verbreitet wären und jedem zur Verfügung stünden, der sie in Anspruch nehmen wollte (…) dann würde zumindest dieser Grund, aus dem wir unerfahrene junge Mädchen vor den Gefahren des Sexualverkehrs schützen müßten, nicht mehr ins Gewicht fallen.“

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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