Moritz Nestor
10. April 2018
Neugierig, nach einem halben Jahrhundert meine Jugendliteratur wieder zu lesen, nehme ich vor einiger Zeit in einem Antiquariat von einem Stapel der berühmten grünen Karl- May-Bände, die sich neben der Kasse türmen und für 5 Franken das Stück feil sind, «Winnetou I und II», «Old Firehand I und II» und den «Ölprinz» mit.
Ich gehöre zu einer Generation, die noch mit Karl May gross wurde. «Spannende Abenteuerromane» – viel mehr ist von dem Friedenskämpfer und Antikolonialisten des Deutschen Kaiserreichs nicht in Erinnerung. Weitgehend vergessen ist, dass Karl May am Vorabend des Ersten Weltkrieges ein engagierter Mitstreiter und Freund Berta von Suttners war.
Nur schon Karl Mays Vorwort des ersten Bandes von «Winnetou, der Rote Gentleman», wie das Original hiess, weckt Erinnerungen. Ich bin wieder in jenen Nächten mit Taschenlampe unter der Bettdecke: Das Unrecht, das einen damals empörte, weil den Indianern, Ureinwohnern Amerikas, den eigentlichen Besitzern des Landes, von geldgierigen Weissen, die sich Christen nennen, das Land geraubt wird. Das scharfe und unbestechliche Denken der beiden Blutsbrüder, Betrug, Unrecht und Lügen entlarvend, den Entrechteten beistehend, Fährten und Hinterhalte genauestens erkennend. Jeder Sachverhalt kommt vor den Richterstuhl der Vernunft. Da ist Karl May Aufklärer reinsten Wassers.
Und immer wieder die radikale Absage an Rache und Faustrecht: Die beiden Blutsbrüder greifen nicht an, provozieren keinen Kampf. Aber mit allen Kräften des Geistes und der Waffen wehren sie jeden Angriff, das Töten, den Raub, das Unrecht ab, auch und gerade, wenn es anderen zugefügt wird. Die beiden Freunde als lebendes Sinnbild bewaffneter Neutralität, denen es zutiefst zuwider ist, schaden zu müssen, wenn es die Notwehr verlangt. Die in Ehrfurcht vor dem Menschen als Ebenbild Gottes und in tiefer Verachtung gegenüber der Gier nach Macht und Gold, dem elenden Dreck, nur das eine Ziel kennen: Das Leben retten und schützen, wo es geht. Gelebte Mitmenschlichkeit unter der geballten Schutzkraft von scharfem Verstand, Schmetterhand, Silberbüchse, Bärentöter und dem 25schüssigen Henry-Stutzen.
In diesem Geist verfasst mitten im brodelnden Kolonialismus und Imperialismus der Schriftsteller Karl May lebendige, spannende Reisebeschreibungen, die jedermann ansprechen und auf hundert- und aberhundert Seiten einen ethischen Zweck anstreben: Anhand von menschlichen Vorbildern wie Winnetou, Kleki Petra, Intschu Tschuna, Old Shatterhand und anderen die Jugend am Vorabend des Ersten Weltkrieges, als die Pläne für das Massenschlachten schon in den Schubladen liegen und die Rüstungsspirale sich unerbittlich dreht, im Geiste des Friedens, der Nächstenliebe, der Mitmenschlichkeit und der Völkerverständigung zu erziehen. Und zu Abscheu gegen Kolonialismus, Völkermord und Krieg! Die Einleitung zu «Winnetou I» ist das politisch-menschliche Credo des dem Christentum und dem Naturrecht verbundenen Karl May:
«Wenn es richtig ist, dass alles, was lebt, zum Leben berechtigt ist, und dies sich ebenso auf die Gesamtheit wie auf das Einzelwesen bezieht, so besitzt der Rote das Recht zu existieren nicht weniger als der Weisse und darf wohl Anspruch erheben auf die Befugnis, sich in sozialer, in staatlicher Beziehung nach seiner Individualität zu entwickeln.»
1948 wird es dann im 1. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heissen: «Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren.» Das ist der Sinn der Blutsbrüderschaft zwischen den beiden Hauptfiguren, dem Weissen Old Shatterhand und dem Roten Winnetou. Von wegen Abenteuerroman! Da ruft im Deutschen Kaiserreich mitten im Kolonialismus ein Schriftsteller in seinen Jugendbüchern eine Figur ins Leben, mit der sich jeder junge Mensch identifizieren kann und die genau das fordert, was die kriegstreibenden Mächte verachten: das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht aller Völker und aller Menschen, weil, sagt May, «alles, was lebt, zum Leben berechtigt ist».
Der Buchdeckel von «Winnetou I», Ausgabe 1904, ist von Sascha Schneider (1870–1927) gestaltet worden und stellt Kain und Abel dar: den Brudermord. Winnetou ist das Denkmal, das Karl May dem «sterbenden roten Manne» setzt, der von seinem weissen Bruder ermordet wird.
«Er, der beste, treueste und opferwilligste aller meiner Freunde, war ein echter Typus der Rasse, welcher er entstammte, und ganz so, wie sie untergeht, ist auch er untergegangen, ausgelöscht aus dem Leben durch die mörderische Kugel eines Feindes. Ich habe ihn geliebt wie keinen zweiten Menschen und liebe noch heut die hinsterbende Nation, deren edelster Sohn er gewesen ist. Ich hätte mein Leben dahingegeben, um ihm das seinige zu erhalten, so wie er dieses hundertmal für mich wagte. Dies war mir nicht vergönnt; er ist dahingegangen, indem er, wie immer, ein Retter seiner Freunde war; aber er soll nur körperlich gestorben sein und hier in diesen Blättern fortleben, wie er in meiner Seele lebt, er, Winnetou, der große Häuptling der Apachen. Ihm will ich hier das wohlverdiente Denkmal setzen, und wenn der Leser, welcher es mit seinem geistigen Auge schaut, dann ein gerechtes Urteil fällt über das Volk, dessen treues Einzelbild der Häuptling war, so bin ich reich belohnt.»
Für das Buch «Winnetou II», das im Frühjahr 1904 erscheint, wählt der Künstler Sascha Schneider, der historischen Situation entsprechend, das Motiv «Der Engel Gottes trauert über die kämpfenden Racen». Der Erste Weltkrieg grollt am Horizont! 1905 wird das Ehepaar May eine Veranstaltung von Berta von Suttner besuchen, von der sie zu Tränen gerührt nach Hause gehen werden. Berta von Suttner zählt ab da über den Tod Karl Mays hinaus zu seinen geistigen Mitstreitern. Tief von seinen Büchern bewegt, empfand sie, wie sehr er damit dem gemeinsamen Ziel diente: Friede auf Erden, die Waffen nieder! Das «Radebeuler Tageblatt» schrieb am 13.2.1913: «Frau Baronin Bertha von Suttner, die bekannte Verfasserin des Werkes ‹Die Waffen nieder› und Vertreterin der Friedensbewegung, weilte heute in Radebeul und stattete der Witwe des Schriftstellers Karl May einen Besuch ab. Karl May liess sich bekanntlich die Förderung der Ziele der Baronin von Suttner angelegen sein.» Und die Witwe Klara May vermerkte in ihrem Tagebuch am 12.2.1913: «Bertha von Suttner […] spricht in höchster Verehrung von Karl Mays Wirken, sie sei nichts gegen ihn.» An anderer Stelle ist Bertha von Suttners Satz überliefert: «Wenn ich nur eines dieser Werke hätte gestalten können, dann hätte ich mehr erreicht!»
Erst seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 und der UNO-Charta von 1948 ist Krieg als Werkzeug der Politik gemäss internationalem Recht verboten und müssen Streitigkeiten friedlich gelöst werden – sagt das international geltende Gesetz. Insbesondere der Angriffskrieg, wozu auch der Völkermord an den Indianern zu zählen ist, ist seither völkerrechtswidrig. 1948 garantierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (und deren Folgepakte) erstmals allen Menschen das Recht auf Leben. In Mays Worten, dass «was lebt, zum Leben berechtigt ist.» Wenn man bedenkt, dass 1904, als «Winnetou I» erschien, die «Hunnenrede» Wilhelms II. («Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!») vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven anlässlich der Verabschiedung der deutschen Truppen zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im Kaiserreich China zum Zeitgeistrepertoire gehörte, dann war Karl May seiner Zeit sehr weit voraus. Und im scharfen Gegensatz dazu klagen die ersten Sätze in «Winnetou I» an:
«Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein; dies hat, so sonderbar es erscheinen mag, doch seine Berechtigung. Mag es zwischen beiden noch so wenig Punkte des Vergleichs geben, sie sind einander ähnlich in dem einen, dass man mit ihnen, allerdings mit dem Einen weniger als mit dem Andern, abgeschlossen hat: Man spricht von dem Türken kaum anders als von dem ‹kranken Mann›, während Jeder, der die Verhältnisse kennt, den Indianer als den ‹sterbenden Mann› bezeichnen muss. Ja, die rote Nation liegt im Sterben! Vom Feuerlande bis weit über die nordamerikanischen Seen hinauf liegt der riesige Patient ausgestreckt, niedergeworfen von einem unerbittlichen Schicksale, welches kein Erbarmen kennt. Er hat sich mit allen Kräften gegen dasselbe gesträubt, doch vergeblich; seine Kräfte sind mehr und mehr geschwunden; er hat nur noch wenige Atemzüge zu tun, und die Zuckungen, die von Zeit zu Zeit seinen nackten Körper bewegen, sind die Konvulsionen, welche die Nähe des Todes verkündigen.»
Noch einmal: Von wegen Abenteuer. Karl May schreibt seinen Winnetou im Zeitalter des Kolonialismus und des Imperialismus’ und ist ohne diesen historisch-politischen Bezug undenkbar. Der «kranke Mann am Bosporus» ist das Osmanische Reich, das während Mays Lebzeiten gerade durch die britisch-europäische Kolonialpolitik im Begriff ist, aufgerieben zu werden, und schliesslich im Gefolge des Ersten Weltkrieges zerschlagen wird, um die reichen Ölquellen den imperialen Mächten zu sichern. Bill Engdahl beschreibt in seinem Buch «Mit der Ölwaffe zur Weltmacht» den politischen Zusammenhang, den Karl May mit dem «kranken Mann» anspricht.
Winnetou, so will es Karl May, ist einer von jener sterbenden Nation der Ureinwohner Nordamerikas, an denen zu seinen Zeiten gerade der Völkermord vollzogen wird. Das ist der historische Rahmen, ohne den Winnetou nicht verständlich ist. Kein Abenteuerroman, sondern tragische Realgeschichte, in spannende Romanform gegossen und volkserzieherisch aufbereitet, die Herzen der Jugend zu wecken aus Uninformiertheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Landraub und dem Völkermord an den rechtmässigen Eigentümern des amerikanischen Kontinents. Das ist Ausgangspunkt für die Winnetou- Erzählungen.
Während die Kolonialmächte die «Wilden» verachten, berauben und abschlachten und während die Staatsphilosophen dieser imperialen Reiche den Farbigen die Fähigkeit zur Vernunft absprechen und behaupten, die Wilden könnten nicht denken und könnten daher keine Staaten bilden, sondern müssten deshalb unterdrückt werden, tritt Karl May auf und verkündet in seinem Vorwort zu «Winnetou I»:
«Ich sage: nein! […] Der Weisse […] hat sich nach und nach vom Jäger zum Hirten, von da zum Ackerbauer und Industriellen entwickelt; darüber sind viele Jahrhunderte vergangen; der Rote aber hat diese Zeit nicht gefunden, denn sie wurde ihm nicht gewährt.»
Die menschliche Grausamkeit ist «entweder eine nur scheinbare oder einer christlichen Milderung fähig, weil die ewige Weisheit, welche dieses Gesetz gegeben hat, zugleich die ewige Liebe ist. Dürfen wir nun behaupten, dass in Beziehung auf die aussterbende indianische Rasse eine solche Milderung stattgefunden hat? Es war nicht nur eine gastliche Aufnahme, sondern eine beinahe göttliche Verehrung, welche die ersten ‹Bleichgesichter› bei den ‹Indsmen› fanden. Welcher Lohn ist den Letzteren dafür geworden? Ganz unstreitig gehörte diesen das Land, welches sie bewohnten; es wurde ihnen genommen. Welche Ströme Blutes dabei geflossen und welche Grausamkeiten vorgekommen sind, das weiss ein Jeder, der die Geschichte der ‹berühmten› Conquistadores gelesen hat. Nach dem Vorbilde derselben ist dann später weiter verfahren worden. Der Weisse kam mit süssen Worten auf den Lippen, aber zugleich mit dem geschärften Messer im Gürtel und dem geladenen Gewehre in der Hand. Er versprach Liebe und Frieden und gab Hass und Blut. Der Rote musste weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zurück. Von Zeit zu Zeit gewährleistete man ihm ‹ewige› Rechte auf ‹sein› Territorium, jagte ihn aber schon nach kurzer Zeit wieder aus demselben hinaus, weiter, immer weiter. Man ‹kaufte› ihm das Land ab, bezahlte ihn aber entweder gar nicht oder mit wertlosen Tauschwaren, welche er nicht gebrauchen konnte. Aber das schleichende Gift des ‹Feuerwassers› brachte man ihm desto sorgfältiger bei, dazu die Blattern und andere, noch viel schlimmere und ekelhaftere Krankheiten, welche ganze Stämme lichteten und ganze Dörfer entvölkerten. Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver und Blei, und er musste den überlegenen Waffen der Weissen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren dann stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden. Dadurch ist er, ursprünglich ein stolzer, kühner, tapferer, wahrheitsliebender, aufrichtiger und seinen Freunden stets treuer Jägersmann, ein heimlich schleichender, misstrauischer, lügnerischer Mensch geworden, ohne dass er dafür kann, denn nicht er, sondern der Weisse ist schuld daran.
Die wilden Mustangherden, aus deren Mitte er sich einst kühn sein Reitpferd holte, wo sind sie hingekommen? Wo sieht man die Büffel, welche ihn ernährten, als sie zu Millionen die Prairien bevölkerten? Wovon lebt er heut? Von dem Mehle und dem Fleische, welches man ihm liefert? Schau zu, wie viel Gips und andere schöne Dinge sich in diesem Mehl befinden; wer kann es geniessen! Und werden einem Stamme einmal hundert ‹extra fette› Ochsen zugesprochen, so haben diese sich unterwegs in zwei oder drei alte, abgemagerte Kühe verwandelt, von welchen kaum ein Aasgeier einen Bissen herunterreissen kann. Oder soll der Rote vom Ackerbaue leben? Kann er auf seine Ernte rechnen, er, der Rechtslose, den man immer weiter verdrängt, dem man keine bleibende Stätte lässt? […]
Ja, er ist ein kranker Mann geworden, ein – sterbender Mann, und wir stehen mitleidig an seinem elenden Lager, um ihm die Augen zuzudrücken. An einem Sterbebette zu stehen, ist eine ernste Sache, hundertfach ernst aber, wenn dieses Sterbebette dasjenige einer ganzen Rasse ist. Da steigen viele, viele Fragen auf, vor allem die: Was hätte diese Rasse leisten können, wenn man ihr Zeit und Raum gegönnt hätte, ihre inneren und äusseren Kräfte und Begabungen zu entwickeln? Welche eigenartige Kulturformen werden der Menschheit durch den Untergang dieser Nation verloren gehen?»
Hieraus sind die Ereignisse, Handlungen, Tragödien und Kämpfe der Winnetou-Erzählungen gewoben: Zeitgeschichte, anschaulich in Romanform gegossen, die sich mit dem schrecklichsten auseinandersetzt, was Kain dem Abel anzutun imstande ist, und wo aber Menschen auftreten, die Zeugnis ablegen: Es muss nicht so sein. Der Mensch ist zu Höherem fähig. Er ist fähig zu Vernunft und Mitmenschlichkeit. Er kann den Hass und die primitive Gier nach Gold überwinden – egal welcher Hautfarbe er ist. Immer wieder schildert Karl May Szenen, in denen Winnetou menschlicher sein kann als so mancher Weisse. Sie gehören zum Bewegendsten: Weil er Mensch ist, allein deshalb, ist er fähig zu dem, was der koloniale Europäer nur sich zuschrieb: Nächstenliebe, Bildung, Kultur. Aus der Geistes- und Gefühlsgemeinschaft der beiden Blutsbrüder Old Shatterhand und Winnetou heraus entwickelt Karl May ein für den Leser lebendig werdendes Beispiel für die gegenseitige gewaltlose Verbindung und Verständigung zweier Kulturen. Dazu sind alle Menschen fähig, egal welcher Hautfarbe sie sind, weil sie Menschen sind. Das ist Karl Mays Botschaft.
Kann ein Thema heute aktueller sein? Wo finden wir heute Jugendbücher dieser Art? Wäre es nicht an der Zeit, den alten Karl May neu zu lesen?