Karl Binding & Alfred Hoche (1922): «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» (Exzerpt)
Moritz Nestor
In diesem Text – vor allem aber auch im Kapitel «Lebensunwert» am, Ende – argumentiert der Rechtspositivist Binding 1922 so wie Peter Singer, EXIT, Dignitas, DGHS, Hacketal, Atrott, Walter Jens, Hans Küng, Künast und viele andere auch. Die Schrift «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» wurde zur Programmschrift des nationalsozialistischen Massenmordes unter dem Namen «Euthanasie».
Meine Kommentare sind eingerückt und beginnen jeweils mit „Heisst“
I. Karl Binding: rechtliche Ausführungen
Ausgangspunkt sei allein das in seiner Zeit geltende positive Recht. Es gehe weder um Notstandssituationen noch um die Anerkennung von Tötungsrechten.
Heisst: Damit argumentiert er ausschliesslich als Rechtspositivist, der keine vorstaatlichen Menschen- oder Naturrechte gelten lässt. Gleiches taten die Nationalsozialisten auch.
1. Suizid und Beihilfe zum Suizid
Der Mensch werde ohne sein Zutun geboren. Nur er könne frei bestimmen, wie sein Leben verlaufe. Daher «ist er der frei geborene Souverän über sein Leben.» Das Recht anerkenne dies durch die Straflosigkeit der Selbsttötung.
Heisst Wenn kein Menschen- oder Naturrecht gilt und wenn keiner einem sagen darf, wie man sein Leben führen darf, dann ist der Suizid zur „Freiheit“ umdefiniert. Dann ist Autonomie gleich Bindungslosigkeit.
Die Kirche habe lange in unchristlicher Weise die Selbsttötung verdammt. Heute habe der Mensch seine Freiheit, sich selbst töten zu dürfen, in den meisten Ländern wieder voll zurückerlangt. Leider habe das Naturrecht dieses Recht nicht als das erste aller «Menschenrechte» erkannt. [Er setzt Menschenrechte in Anführungszeichen, MN]
Die Selbsttötung sei dem Mord und dem Totschlag nicht aufs engste verwandt.
Heisst Wenn der Suizid die erste Freiheit des «frei geborene Souveräns über sein Leben» sei, dann muss Binding schliessen, dass der Suizid nicht mit der Tötung verwandt ist: Denn Tötung ist das Ende der Freiheit! Dann ist aber auch die Beihilfe zum Suizid keine Tötungshandlung, sondern ein Akt der Freiheit. Darauf will er hinaus.
Bindung lässt keine religiösen Gründe für die Verdammung des Suizids gelten. Denn religiöse Gründe würden auf einer unwürdigen Gottesauffassung beruhen und zudem sei das Recht eine rein weltliche Sache. Die Selbsttötung sei auch keine «unsittliche Handlung». Selbsttötung komme vor
- in hohem Maße bei psychisch Kranken,
- als altruistische Handlung geistig völlig Gesunder auf der höchsten Stufe der Sittlichkeit,
- als gemeine, frivole, feige Tat.
Die Idee, dass Selbsttötung ein Tötungsrecht sei, sei «naturrechtlich gedacht» (Seite 11). Würde man ein «Recht auf Suizid» schaffen, dann hiesse das:
- Niemand dürfe den Selbsttöter an seiner nun als «rechtmäßig» anerkannten Tat hindern.
- Der Selbsttöter hätte gegen jeden, der ihn daran hindern wollte, sich zu töten, ein Notwehrrecht.
- Würde man ein «Recht», sich selbst töten zu dürfen, schaffen, dann dürfte niemand denjenigen, der Beihilfe zum Suizid begeht, an der Ausübung seines «Rechts» hindern.
- Und: Wer Beihilfe zum Suizid (der «Teilnehmer», wie er sagt) mit Einwilligung des Opfers begeht, hätte dann auch ein «Notwehrrecht» gegen jeden Versuch, ihn an der Suizidbeihilfe zu hindern.
- Dann aber müßte auch «die Tötung des beachtlich Einwilligenden» [das heisst die «Tötung auf Verlangen», MN] «gleichfalls als rechtmäßige Tötungshandlung betrachtet werden.» (Seite 13)
Binding will daher kein «Recht auf Suizid». Er bleibt bei der «Freiheit». Also ist für ihn die Selbsttötung weder ein verbotene noch eine rechtmäßige Handlung.
Und jetzt wird es hochinteressant: Da das Recht die «Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens» (Seite 13) sei, sagt Bindung, könne der Mensch nicht gleichzeitig Rechtssubjekt und Rechtsobjekt sein.
Heisst:
(1) Wenn das Recht die Ordnung des Gemeinschaftslebens ist, dann anerkennt Binding die Soziabilität des Menschen. Sonst wäre ja auch ein Recht sinnlos.
(2) Warum also kann ich nach Bindung nicht sowohl Rechts-Subjekt (Täter) als auch Rechts-Objekt (Opfer) sein? Es gibt sehr wohl unrechtmässige Handlungen von mir gegen mich, bei denen ich unwürdig gegen mich handle. Und wenn jemand mich vor meinem Verbrechen gegen mich selbst in Schutz nimmt, dann handelt er in der Garantenstellung und ist fürsorglich. Und ich habe ein Recht auf diesen Garanten, der für-sorglich handelt, wenn ich nicht selbst für mich sorgen kann und mich schädige.
(3) Er schliesst also mit der obigen Argumentation die Garantenstellung und die Fürsorge aus.
(4) Wenn Suizid aber kein Unrecht von mir gegen mich ist, sondern eine angebliche „Freiheit“, dann ist der Arzt nicht mehr Garant des Lebens. Sondern wenn er mich vom Suizid abhält, ist er ein gefährlicher Gegner meiner „Freiheit“, meiner solcherart bindungslos gedachten Autonomie!
Damit hat Binding die Argumentationsfigur der modernen Euthanasiekampagne nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen.
Binding sagt: Das Recht kenne nur «den lebenden Menschen als Souverän über sein Dasein». (Seite 14) Daraus folge:
- Nur Handlungen des Lebensträgers gegen sich selbst seien unverboten.
- Die Anerkennung des Einzelnen als „Souverän über sein Dasein“ sei daher keine Aussnahme vom Tötungsverbot. Denn das Tötungsverbot untersage nur die Tötung des Mitmenschen.
- Die «Beihilfe zum Suizid» erfülle die Tötungsnorm (Tötung des Mitmenschen) und sei daher widerrechtlich.
- Nur die Handlung des Verstorbenen ist unverboten. Durch seine Zustimmung zur Beihilfe wird die Handlung Dritter nicht zur unverbotenen Handlung. Tötung auf Verlangen ist daher aus gutem Grund ein Delikt.
- Ist der Suizid unverboten, dann hat der Suizident ein Notwehrrecht gegen den, der ihn an der Ausübung seiner Tat hindern möchte. Der Zwang gegen ihn, die Tötung zu unterlassen ist rechtswidrige Nötigung. Die Retter vom Suizid haben aber als kräftiges Argument die Erfahrung auf ihrer Seite, daß der gerettete Selbsttöter oft sehr glücklich über seine Rettung ist und keinen zweiten Versuch mehr macht.
Wir würden eine große Zahl lebenskräftiger Menschen verlieren, die zu bequem oder zu feige sind, ihre «tragbare Lebenslast weiter zu schleppen.» (16)
2. Keiner besonderen Freigabe bedürfe die «reine Euthanasie» in richtiger Begrenzung.
Rein kausal betrachtet sei «Euthanasie» eine «Tötung Dritter» (Seite 16) und werde aber bisher nicht strafrechtlich verfolgt. Der Begriff «Sterbehilfe» tauche nach Bindung neuerdings auf, sei aber zweideutig. Es interessierten in der Frage der Euthanasie Schmerzmittelgaben, die eine Lebensverlängerung oder verkürzung zur Folge haben. Ein subjektives Recht auf solche Schmerzmittelgaben könne es nicht geben. Es könne strafrechtlich gesehen nur um die Frage gehen, ob sie rechtswidrig oder unverboten seien. Euthanasie sei eine Handlung gegenüber einem Kranken oder Verwundeten, dem der Tod durch eine quälende Krankheit sicher und bald bevorsteht, «so daß der Zeitunterschied zwischen dem infolge der Krankheit vorauszusehenden und dem durch das unterschobene Mittel verursachten Tode nicht in Betracht fällt.» (Seite 17)
«Wer also einem Paralytiker am Anfang von dessen vielleicht auf die Dauer von Jahren zu berechnenden Krankheit auf dessen Bitte oder vielleicht sogar ohne diese die tödliche Morphiumspritze macht, bei dem kann von reiner Bewirkung der Euthanasie keine Rede sein. Hier ist eine starke, auch für das Recht ins Gewicht fallende Lebensverkürzung vorgenommen worden, die ohne rechtliche Freigabe unzulässig ist.» (Seite 17f.)
Wenn also aufgrund einer unabwendbaren Krankheit ein qualvoller Tod bald und sicher bevorstehe, werde an dieser Tatsache nichts geändert «als die Vertauschung der vorhandenen Todesursache durch eine andere von der gleichen Wirkung, welche die Schmerzlosigkeit vor ihr voraus hat. Das ist keine ‚Tötungshandlung im Rechtssinne‘, sondern nur eine Abwandlung der schon unwiderrruflich gesetzten Todesursache, deren Vernichtung nicht mehr gelingen kann; es ist in Wahrheit eine reine Heilbehandlung. […] Als verbotene Tötungshandlung könnte solches Verhalten nur betrachtet werden, wenn die Rechtsordnung barbarisch genug wäre zu verlangen, daß der Todkranke durchaus an seinen Qualen zugrunde gehen müsse. Davon kann jedoch zurzeit keine Rede mehr sein.» (Seite 18)
Es liege hier also keine Ausnahme vom Tötungsverbot, keine rechtswidrige Tötung vor, sondern ein «unverbotenes Heilwerk von segensreichster Wirkung für schwer gequälte Kranke, um eine Leidveringerung für noch Lebende …». (Seite 19), auch wenn das derzeitige Gesetz das nicht explizit festgehalten habe.
Die Handlung dürfe zwar nicht gegen den Willen des Patienten vorgenommen werden. Aber auf die Einwilligung des Patienten komme es nicht an, denn in vielen Fällen handle es sich um Bewußtlose an denen dieser «heilende Eingriff» (Seite 19) vorgenommen werde.
3. Ansätze zu weiterer Freigabe
Bindiung resumiert: Der Suizid sei heute rechtlich unverboten. Die ‚Beihilfe zum Suizid’ auch auf Verlangen sei deliktischer Natur und rechtlich nicht freigegeben, bleibe aber straflos. Eine darüber hinausgehende «Freigabe» könne also nur noch eine Freigabe der Tötung eines «Nebenmenschen» sein, d. h. eine echte Einschränkung des Tötungsverbots.
Für eine solche Einschränkung des Tötungsverbots trete neuerdings eine Bewegung unter dem Schlagwort «Recht auf den Tod» ein. Unter «Recht auf den Tod» verstehe diese Bewegung aber kein echtes Recht, sondern «nur ein rechtlich anzuerkennender Anspruch gewisser Personen auf Erlösung aus einem aus einem unerträglichen Leben». (Seite 21)
Radikale Euthanasiebewegung
1. 1§5 D de injuriis 47, 10 des römischen Privatrechts besage, nichts könne Unrecht sein, was mit Einwilligung des andern geschehe. Dieser Satz sei für das Strafrecht dahingehend übertrieben gedeutet worden, dass jede Verletzung oder Tötung eines Einwilligenden unverboten sei. So hätten im 19. Jahrhundert W.v.Humbold, Henke, Wächter, Ortmann, Rödenbeck, Keßler, Klee, E. Rupp gedacht.
«Gemäßigte» Euthanasiebewegung innerhalb der Gesetzgebungen (!)
Auch die «gemässigte» Euthanasiebewegung argumentiere mit der Einwilligung in die Verletzung, «die im Interese ihrer klaren Erkennbarkeit und leichteren Beweisbarkeit zum Verlangen der Verletzung gesteigert wurde.» (Seite 22)
Wenn jemand auf eigenes Verlangen getötet wird, dann habe man das «Verlangen» lediglich als Strafmilderungsgrund verstanden, aber die ‚Tötung auf Verlangen’ sei ein Delikt geblieben. Erstmals habe so so das Preußische Landrecht argumentiert. Es sei das Sächsische StGB von 1838 gefolgt, dann seien viele deutsche StGBs gefolgt. Das Preußische StGB habe sich ablehnend verhalten, ebenso seine Nachfolger, das Oldenburgische StGB von 1858 und das Bayrische StGB von 1861. Das Lübecker StGB habe die ‚Tötung auf Verlangen’ für Mord oder Totschlag gehalten. Das habe zu Folge gehabt, daß der dritte Entwurf eines Norddeutschen StGB die ‚Tötung auf Verlangen’ als eigenständiges Tötungsvergehen (Min. 5 Jahre Gefängnis) aufnahm.
Die ‚Tötung auf Verlangen’ breche nach Binding nicht den Lebenswillen des Opfers. Die Brechung des Lebenswillens verleihe der Tötung aber ihre Schwere. Die Einwilligung des Opfers werde also zu recht als Strafmilderungsgrund angesehen, weshalb die ‚Tötung auf Verlangen’ objektiv als weniger schweres Delikt erscheine. Erfolge die Handlung aus Mitleid, mildere sich die Schuld. Mitleid sei aber nicht unbedingt nötig zur Strafmilderung.
Diese Argumentation habe drei Schwachpunkte:
- Wenn man Einwilligung, Verlangen und ausdrückliches Verlangen als Strafmilderungsgrund fordere, dann müssten alle Fälle, bei denen diese Gründe nicht vorliegen wiederum als Mord oder Totschlag behandelt werden.
- Die Vernichtung lebenswerten und die Vernichtung lebensunwerten Lebens werde nicht unterschieden.
- Auch wer (auf ausdrückliches Verlangen und aus Mitleid!) grausam töte, erhalte Strafmilderung.
Fünf frühere StGB (das Württemberg 1839, Art. 239; Braunschweig, § 147; Baden § 207, Thüringen Art. 120; Hamburg Art. 120) würden die Tötung auf Verlangen an einem Todkranken oder tödlich Verwundeten als „doppelt privilegiertes Tötungsverbrechen“ kennen.
Heißt: (1) Die Einwilligung des Opfers in seine Tötung und (2) eine Verwundung oder Krankheit auf den Tod können ein Strafausschliessungsgrund sein. Hier öffnet nun Bindung die Türe für die «Vernichtung lebensunwerten Lebens», wenn er, ohne zu begründen, behauptet,
«daß solch Leben den vollen Strafschutz nicht mehr verdient, und daß das Verlangen seiner Vernichtung rechtlich eine größere Beachtung zu finden hat als das Verlangen der Vernichtung robusten Lebens. Dieser sehr gute Anfang hat jedoch im Reichsstrafgesetzbuch keinen Fortgang, dagegen in der Literatur sehr lebhafte Aufnahme gefunden!» (Seite 25)
Heisst: Wenn ich Souverän über mein Leben bin und wenn mein Suizid meine ‚Freiheit’ ist, dann mindert meine Einwilligung in meine Tötung in der Tat meinen «Lebenswert». Sagt Bindung! In Wirklichkeit kann ich den «Wert» meines Lebens nicht mindern. Denn der Wert meines Lebens ist unendlich. Sonst sei zum Beispiel das Leben eines Masochisten ebenfalls weniger wertvoll, nur weil er sich schlagen lässt. Seine Tat, sich schlagen zu lassen, ist wertlos. Aber meine wertlose Tat mindert nicht meinen Wert als Mensch.
4. Gibt es Strafausschliessungsgründe für die „Freigabe der Tötung Dritter“?
Viele «namhafte» Juristen würden heute die Einwilligung für einen Strafausschließungsgrund halten, d. h. für einen Grund, die Rechtswidrigkeit völlig aufzuheben. Und es seien «von edlem Mitleid mit untragbar leidenden Menschen stark bewegte und erfüllte Stimmen für die Freigabe der Tötung solcher laut geworden». (Seite 25)
Es stehe daher nach Bindung zur Debatte, ob nicht entweder der Strafmilderungsgrund der Einwilligung oder der des unerträglichen Leidens zum Strafausschließungsgrund erhoben werden sollte, «oder ob nicht mindestens beim Zusammentreffen der beiden Privilegierungsgründe: Einwilligung und unerträglichen Leidens die Tötung als gerechtfertigt, will sagen als unverboten betrachtet werden solle?» (Seite 25)
Das Preußische Landrecht habe erstmals «für die damalige Zeit so großherzig und zugleich juristisch so fein» (Seite 26) in Teil II, Tit. XX § 833 bestimmt: «Wer tödlich Verwundeten, oder sonst Todkranken, in vermeintlich guter Absicht, das Leben verkürzt, ist gleich einem fahrlässigen Totschläger nach § 778, 779 zu bestrafen.» (Seite 26)
Nachdem nun im 19. Jahrhundert verschiedene Länderstrafrechte deutscher Länder die Tötung auf Verlangen privilegiert hätten. Hätten die Verfasser des Vorentwurfs von 1909 für ein gesamtdeutsches Strafrecht die Privilegierung dessen, «der einen hoffnungslosen Kranken ohne dessen Verlangen aus Mitleid des Lebens beraube» (Originalzitat,[2] Seite 26) unbedingt abgelehnt, denn so eine Vorschrift könne «in schlimmster Weise mißbraucht und das Leben erkrankter Personen in erheblicher Weise gefährdet werden» (Originalzzitat,[3] Seite 26). Sie seien (nach Binding) damit hinter das Preußische Landrecht zurückgefallen.
«Lebensunwert»
Hier sagt Binding 1922 das, was Peter Singer, EXIT, Dignitas, DGHS, Hacketal, Atrott, Walter Jens, Hans Küng, Künast und andere und heute noch sagen.
Für die weiteren Überlegungen sei, so Bindung, eine, dem «tiefsten Mitleiden» (Seite 26) entspringende Frage entscheidend: «Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?» (Seite 27)
Wir würden «verschwenderisch […] mit dem wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten und von ihm getragenen Leben umgehen» (Seite 27) und opferten das «teuerste Gut der Menschheit in größtem Maßstab». (Seite 27) Zum Beispiel die 12-15 Millionen Tote aller kriegführenden Mächte des Ersten Weltkrieges.
Andererseits würden wir die größte Pflege vergeuden für «nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen» (Seite 27) und eine riesige Menge an «Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendungen […], um lebensunwertes Leben so lange zu erhalten, bis die Natur […] sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt.» (Seite 27)
Binding beruft sich hierzu auf Jost und dessen Buch «Das Recht auf den Tod» (1895), der den «Lebenswert» eines Menschen nach seinem Nutzen für andere berechnet. Ein Mensch könne in die Lage kommen, «in welcher das, worin er seinen Mitmenschen noch nützen kann, ein Minimum, das aber, was er unter seinem Leben noch zu leiden hat, ein Maximum» (Originalzitat,[4] Seite 27) sei, ja der «Wert» eines menschlichen Lebens könne «nicht bloß Null, sondern auch negativ werden.» (Jost, Seite 26,[5] Binding Seite 27).
Daraus schliesst Bindung: «Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist, deren Tragung außer dem einen, ein Vorbild größter Selbstlosigkeit zu sein, nicht den kleinsten Nutzen stiftet, läßt sich in keiner Weise bezweifeln.» (Seite 28)
Es gebe also nach Binding menschliche Leben, «an deren Erhaltung jedes vernünftige Interesse dauernd geschwunden ist.» (Seite 28) Solle der Staat also diese «unsoziale Fortdauer» (Seite 28) schützen? Oder solle er «unter bestimmten Voraussetzungen ihre Vernichtung freigeben»? (Seite 28) Solle man also, fragt Binding nun, weil das Leben absolut unangreifbar sei, Leben ohne oder mit negativem Wert erhalten? Oder müsse nicht die «alle Beteiligten erlösende Beendigung als das kleinere Übel erscheinen?» (Seite 28) Für Binding ist die Bejahung dieser Fragen «nach kühl rechnender Logik» (Seite 28) zwingend und ohne Zweifel gegeben. Jede «Beendigung» eines «unwerten Lebens» müsse aber immer «durch das tiefe Gefühl für ihre Richtigkeit die Billigung erhalten. Jede unverbotene Tötung eines Dritten muß als Erlösung mindestens für ihn empfunden werden: sonst verbietet sich ihre Freigabe von selbst.» (Seite 28)
Daraus folge aber nach Bindung zwingend «die volle Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen. Nach Art des den Lebenswillen seines Opfers gewaltsam brechenden Mörders und Totschlägers kann die Rechtsordnung nie vorzugehen gestatten.» (Seite 28f.)
Für den «Geistesschwachen», der sich glücklich fühlt, verbiete sich also die Vernichtung. Nach Binding könnten für die Tötung freigegeben werden: Unrettbar verlorene Kranke oder Verwundete, «die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.» (Seite 29) Dazu rechnet er unheilbare Krebskranke, tödlich Verwundete. Und: «unerträgliche Schmerzen» setzt er dabei der «schmerzlosen Hoffnungslosigkeit» gleich. (Seite 29) Ebenso sei es egal, ob der Betreffende unter anderen Umständene hätte gerettet werden können.
Unbedingte Voraussetzungen der Mitleidstötung seien:
- «Ernstlichkeit der Einwilligung oder des Verlangens» Einwilligung des «Geschäftsunfähigen» genüge nicht, es gebe aber «beachtliche Einwilligungen auch von Minderjährigen noch unter 18 Jahren, ja auch von Wahnsinnigen.»! (Seite 30)
- «die richtige Erkenntnis und nicht nur die hypochondrische Annahme des unrettbaren Zustandes und die reife Auffassung dessen, was die Aufgabe des Lebens für den den Tod Verlangenden bedeutet.» (Seite 30)
«Wenn diese Unrettbaren, denen das Leben zur unerträglichen Last geworden ist, nicht zur Selbsttötung verschreiten, sondern was sehr inkonsequent sein kann, aber doch nicht selten sich ereignen mag den Tod von dritter Hand erflehen, so liegt der Grund zu diesem inneren Widerspruch vielfach in der physischen Unmöglichkeit der Selbsttötung, etwa in zu großer Körperschwäche der Kranken, in der Unerreichbarkeit der Mittel zur Tötung, vielleicht auch darin, daß er überwacht wird oder am Versuche des Selbstmordes gehindert würde, vielfach aber auch in reiner Willensschwäche. Ich kann nun vom rechtlichen, dem sozialen, dem sittlichen, dem religiösen Gesichtspunkt aus schlechterdings keinen Grund finden, die Tötung solcher den Tod dringend verlangender Unrettbarer nicht an die, von denen er verlangt wird, freizugeben: ja ich halte diese Freigabe einfach für eine Pflicht gesetzlichen Mitleids, wie es sich ja doch auch in anderen Formen vielfach geltend macht.» (Seite 30f.)
[1] 2. Auflage. Felix Meiner, Leipzig 1922. [einfache Zahlen in runden Klammern geben die Seitenzahl bei Binding/Hoche an, z.B. Seite 23 = (23). Wo es sich um Zitate anderer Quellen bei Bindung/Hoche handelt, heißt zum Beispiel (Originalzitat, 23), daß das betreffende Zitat von Bindung/Hoche einer anderen Quelle entnommen wurde und bei Bindung/Hoche auf Seite 23 zu finden ist. Die Orinalquelle wird in einer Fußnote angegeben.]
[2] John. Entwurf z. e. Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund .(1868), S. 432.
[3] John. Entwurf z. e. Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund .(1868), S. 432.
[4] Jost. Das Recht auf den Tod. Göttingen 1895, S. 6.
[5] Jost. Das Recht auf den Tod. Göttingen 1895, S. 26.