Karl Jaspers: Schicksalsgefährte zu werden mit dem Kranken,Vernunft mit Vernunft, Mensch mit Mensch, in den unberechenbaren Grenzfällen einer zwischen Arzt und Kranken entstehenden Freundschaft

Zitatauswahl Moritz Nestor


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«Voraussetzung ärztlichen Handelns: Wissenschaftlichkeit und MenschlichkeitDies ärztliche Handeln steht auf zwei Säulen: einerseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem technischen Können, andererseits auf dem Ethos der Humanität. Der Arzt vergisst nie die Würde des selbstentscheidenden Kranken und den unersetzlichen Wert jedes einzelnen Menschen. Die Wissenschaft wird weitergegeben durch die Lehre … Die ärztliche Humanität dagegen wird überliefert durch die ärztliche Persönlichkeit … ist nicht zu planen. Sie entfaltet sich ohne grundsätzlichen Fortschritt neu in jedem Arzt, in jeder Klinik durch die Wirklichkeit des ärztlichen Menschen selber. Für die gilt die Regel, die der grosse englische Arzt Sydenham im 17. Jahrhundert aussprach: „Niemand ist anders von mir behandelt worden, als ich behandelt sein möchte, wenn ich dieselbe Krankheit bekäme.“»[2]

«Wissenschaft und Humanität suchen sich gegenseitig. Der humane Arzt will von der Wissenschaft nicht mehr, als sie leisten kann, will aber diese Leistung vollständig und gewissenhaft. Der wissenschaftliche Arzt weiss, dass er für die Praxis mit blosser Wissenschaft nicht ausreicht. An der Grenze des wissenschaftlich Möglichen ist er Helfer und Schicksalsgefährte des Leidenden aus der Gemeinschaft des Menschseins. Wissenschaftlichkeit und Humanität sind unlösbar verbunden. Wo Wissenschaft verlassen wird, da werden Phantastin und Täuschung ein Glaubensersatz … Die Unwissenschaftlichkeit ist der Boden der Inhumanität.»[3] 

 

«Anspruch an der Arzt: Anwalt des ganzen Menschen werden. … Er hat die Sorge für die Natürlichkeit des Menschen in seiner Umwelt. Er lässt die Untersuchung des Kranken sich nicht auflösen in ein Aggregat der Untersuchungsresultate von Laboratorien, sondern er vermag dies alles abzuschätzen, zu nutzen und unterzuordnen. Er lässt diese diagnostischen Methoden in ihren Grenzen zur Geltung kommen, aber verliert sein Urteil nicht an sie. … Ihm ist wieder etwas von der hippokratischen Haltung eigen, die den Lebenslauf ins Auge fasst, die den Umgang des Kranken mit seiner Krankheit zu gestalten vermag. … Er gewinnt durch die Dauer der Zeit jenes persönliche Verhältnis zum Kranken, in dessen Klarheit das Sterben leichter wird. Man kann es für eine Utopie erklären, die alte Idee des Arztes, wie sie im Hausarzt verkörpert war, erhalten zu wollen. … Ist es nicht auch eine Wirklichkeit ersten Ranges heute, dass Kranke jetzt wie immer in Gestalt des praktischen Arztes ihren eigentlichen Arzt suchen und finden? Wird nicht eine nüchterne, warmherzige, wissende Gestalt des persönlichen Arztseins bleiben und in kommenden Generationen immer von neuem entstehen? … Der Verstand sagt immer das Negative voraus; das Positive muss hervorgebracht und kann nicht vorausgesagt werden. Es kommt. Aber nicht von selbst, daher hat es einen Sinn für jeden zu fragen, wofür er in seinem Berufe leben wolle, wo er standhalten wolle. … Das Höchste, was ihm hier und da gelingt, ist Schicksalsgefährte zu werden mit dem Kranken,Vernunft mit Vernunft, Mensch mit  Mensch, in den unberechenbaren Grenzfällen einer zwischen Arzt und Kranken entstehenden Freundschaft. Dann darf man sich fragen, ob nicht die ärztliche Persönlichkeit auf eine legitime Weise selber zu einer heilenden Kraft wird, ohne Zauberer oder Heiland sein zu müssen, ohne dass Suggestion, ohne dass irgendeine andere Täuschung  vorliegt. Die Gegenwart einer Persönlichkeit, in ihrem Willen zum Helfen einen Augenblick ganz für den Kranken da, ist nicht nur unendlich wohltuend. Das Dasein eines vernünftigen Menschen mit der Kraft des Geistes und der überzeugenden Wirkung eines unbedingt gütigen Wesens weckt im anderen, und so auch im Kranken, unberechenbare Mächte des Vertrauens, des Lebenwollens, der Wahrhaftigkeit, ohne dass darüber ein Wort fällt. Was der Mensch dem Menschen sein kann, erschöpft sich nicht in Begreiflichkeiten. … Die ärztliche Persönlichkeit ist das …, wodurch die lernbaren therapeutischen Mittel erst ihre Führung haben.»[4]

 

«Im Umgang des Arztes mit dem Patienten ist … die Situation der Autorität gegeben, die wohltätig wirksam sein kann. … da darf der Arzt aus seiner physischen, soziologischen, psychologischen Situation niemals eine absolute Überlegenheit ableiten, als ob der andere nicht mehr ein Mensch wir er selber wäre.»[5]

 

«In Fraenkel habe ich nicht nur den für mein Leben wohltätigen Arzt gefunden. Sein Dasein wurde mir zur Grunderfahrung des Arztseins überhaupt in seiner höchsten Idee. Es scheint mir, als ob er bei seinem Eingehen auf den einzelnen Patienten eine unerhörte Verwandlungsfähigkeit besass.  Mit seiner Seele … lebte er im anderen, als ob er es selbst sei, jedoch mit dem Plus eines klaren, realistischen Verstandes, der weiter blickte als der Kranke, dem er helfen wollte. Er vermochte in der dem jeweiligen Patienten eigentümlichen Welt mit deren Bedürfnissen, Wertschätzungen und Zielen zu leben, als ob er einen Augenblick ganz damit identisch würde. Jedem einzelnen konnte er sich geben … Er hatte einen grossen Stil, wie er … eintauchte in die Mannigfaltigkeit der Welt, überall mit seiner lebendigen Anteilnahme folgte und sich die Weite unbefangener Wertungsmöglichkeiten offenhielt. … Seine Verwandlungsfähigkeit hatte ihren Antrieb in einer verschwendeten Güte des Herzens.»[6]

 

«Beruf oder Job? Aber für das Dasein aller bleiben Berufe nötig, in denen es unmöglich ist, die Arbeit durch Arbeitsauftrag in ihrem Wesen zu sichern und die faktische Leistung objektiv zureichend zu messen. Beim Arzt, Lehrer, Pfarrer u. a. ist, was der einzelne Arbeiter tut, im Kern ihres Tuns nicht zu rationalisieren, weil es auf existentielles Dasein ankommt. … Die Arbeitsfreude erwächst hier aus dem Einklang des Menschseins selbst mit seiner Tätigkeit, in der er sich ganz einsetzt». [1]

 

 

[1] Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. Fünfter, unveränderter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage, Berlin 1960, S. 59-62. Zitiert nach: Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 365f.
[2] Karl Jaspers: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze. München 1958, S. 169f. Zitiert nach: Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 367f.
[3] Karl Jaspers: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945 bis 1965. München 1965, S. 38. Zitiert nach: Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 368. 
[4] Karl Jaspers: Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze. München 1958, S. 177ff; 179-83. Zitiert nach: Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 369ff.
[5] Karl Jaspers (1959): Allgemeine Psychopathologie. Berlin-Göttingen-Heidelberg. Zitiert nach: Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 374.
[6] Karl Jaspers (1967): Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften. München, S. 129f. Zitiert nach: Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 374.

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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