«Körper sucht Seele»

15. Oktober 2024

«Körper sucht Seele»

Moritz Nestor

«Körper sucht Seele» ist das 2019 veröffentlichte erschütternde Buch von Anna Schreiber, einer ehemaligen Prostituierten, über die weithin in der Öffentlichkeit verleugneten Schrecken dessen, was wir so oberflächlich leichtfertig das «älteste Gewerbe» nennen und was jenseits der herrschenden gesellschaftlichen Mythen von «sexueller Freiheit», «Vorlieben» und «Gewerbe wie jedes andere» nur eines ist: «nacktes Schlachtvieh in perverser Variation», wie Anna Schreiber sagt.

«Körper sucht Seele» ist die menschlich bedrückende Schilderung von den die Seelen zerstörenden psychologischen Vorgänge in Frauen und Männern im Rotlichtmilieu – jenseits von ideologisch motivierten Opfer-Täter-Debatten, die oft so falsch sind und kaum oder nie auf die wirklichen seelischen Ursachen der Prostitution in Individuum und Kultur eingehen. Sei es aus finanziellen und/oder ideologischen Motiven.

Während ich Anna Schreibers Schilderungen über ihr Schicksal als Prostituierte lese, aber auch über ihren Weg wieder heraus, fällt mir Alfred Adler ein. Der Begründer der Individualpsychologie, schreibt 1927 in seinem Buch Menschenkenntnis, der «beste Menschenkenner» sei jener Typus Mensch,

«der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist.» Er, «der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte.» [2]

Auch wenn man nicht mit allen ihren theoretischen Schlussfolgerungen übereinstimmen möchte, so kann man es doch der heutigen Psychotherapeutin Anna Schreiber nicht hoch genug anrechnen, wie ehrlich und differenziert sie als mittlerweile geschulte Fachperson – dreissig Jahre nach den traumatischen Erfahrungen ihrer Rotlichtzeit –, die psychodynamischen Zusammenhänge der Prostitution aus (tiefen)psychologischer Perspektive beschreibt und für Laien wie für Fachpersonen nachvollziehbar werden lässt. Anna Schreiber lässt den Leser sehr nahe an sich herankommen, ohne dabei ihre Würde zu verlieren. Und gerade dadurch wird die seelische Wahrheit der Prostitution dem Dunkel entrissen. Anna Schreiber hat in Jahren der therapeutischen Auseinandersetzung mit sich errungen, hat Kraft gefunden, sich aus dem Elend emporzuheben, und sie lässt den Leser daran teilhaben.

Sie legt den Finger auf die tiefe Wunde im Menschenbild unserer Kultur, welche für die Prostitution ursächlich verantwortlich ist: Die Trennung von Körper und Seele/Geist – von «Sex» und Liebe. Gerade das drückt der Titel «Körper sucht Seele» aus: dass uns aus dem seelischen Schaden, den die Psychologin beschreibt, welche die Trennung von «Sex» und Liebe hervorruft, die mitmenschliche Pflicht erwächst: die Trennung überwinden, denn sie schadet. Anna Schreiber beschreibt in ihrem Buch, wie sie als Prostituierte immer gefühlloser wurde – werden musste: Um das Selbstwertgefühl, um das Gefühl für die eigene Würde wenigstens etwas vor dem Gewahrwerden des tiefen Schmerzes abzuschirmen, der in uns Menschen unweigerlich entsteht, wenn man sein «Fleisch» an neurotische Männer verkaufen muss, die dafür bezahlen.

«Keine Frau kommt als Prostituierte zur Welt», Prostitution sein ein Lebensschicksal, sagt Anna Schreiber und beschreibt ihren Weg durch eine Hölle, die jedem Gerede von «Gewerbe» und «Freiwilligkeit» Hohn spottet – bis zum bitteren Ende:

«Ich nehme Menschen um mich herum nicht mehr wahr.» (S. 152) «Ich erbreche meine Nahrung. Ich schneide meine Haut. Ich drücke Zigaretten auf meinem Körper aus. Ich spüre nichts, aber so kann ich wenigstens sehen, wie Schmerz aussieht, wenn ich ihn schon nicht mehr fühlen kann.» (S. 154)

Der erste Schritt zum Ausstieg geschieht 1984 auf einem Neckarschiff, inklusive Prostituierte gechartert von einer Ärztegruppe: «Unter Deck: jeder Mann mit jeder Frau, nacktes Schlachtvieh in perverser Variation. […] Ich hänge in den Seilen an Bord, wie ein gerupftes Huhn, wie geschlachtet und ausgenommen». (S. 207) Da fragt eine Freundin, die wie Anna Schreiber eine Tochter hat, sie unvermittelt:

«Jetzt stell‘ dir vor, sie [ihre beiden Töchter] würden hier sitzen und würden das tun, was wir tun. Stell die das mal vor!» (S. 208) «“Wir werden aufhören“, höre ich mich sprechen, ruhig und sicher. […] Dieses Leid wird aufhören, und die Liebe wird bleiben. Wir halten uns fest, weinend und lachend. […] Durch die Frage meiner Freundin kam, mit dem liebenden Blick auf mein Kind, Erkennen und Sehen der Liebe zu mir. […] Die Vorstellung, dass meine Tochter als erwachsene Frau auch nur ansatzweise derlei Erfahrungen machen müsste wie ich in dieser Zeit, war mir so unerträglich grauenvoll, so leidvoll entsetzlich, dass das klare Erkennen durchbrach […] Das war der erste und der wichtigste Schritt. Das vergass ich nie mehr. Daran konnte ich mich festhalten.» (S. 208f.)

«Aus der Kenntnis der menschlichen Seele erwächst uns ganz von selbst eine Pflicht, eine Aufgabe, die, kurz gesagt, darin besteht, die Schablone eines Menschen, sofern sie sich als für das Leben ungeeignet erweist, zu zerstören, ihm die falsche Perspektive zu nehmen, mit der er im Leben umherirrt, und ihm eine solche Perspektive nahezulegen, die für das Zusammenleben und für die Glücksmöglichkeiten dieses Daseins besser geeignet ist, eine Denkökonomie, oder sagen wir, um nicht unbescheiden zu sein, auch wieder eine Schablone, in der aber das Gemeinschaftsgefühl die hervorragende Rolle spielt. Wir haben gar nicht die Absicht, zu einer Idealgestaltung einer seelischen Entwicklung zu gelangen. Man wird aber finden, daß oft schon der Standpunkt allein dem Irrenden und Fehlenden eine enorme Hilfe im Leben ist, weil er bei seinen Irrtümern die sichere Empfindung hat, in welcher Richtung er fehlgegangen ist. Die strengen Deterministen, die alles menschliche Geschehen von der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung abhängig machen, kommen bei dieser Betrachtung durchaus nicht zu kurz. Denn es ist sicher, daß die Kausalität eine ganz andere wird, daß die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.»[3]

Prostitution, sagte 1920 Alfred Adler, könne «nur menschlichen Zuständen entspringen, die keinen Widerspruch dabei empfinden, das Weib als Mittel zur Geschlechtslust, als Objekt, als Eigentum des Mannes zu betrachten. Mit anderen Worten: die Tatsache der Prostitution ist nur in einer Gesellschaft möglich, die sich als Ziel schlechthin die Bedürfnisbefriedigung des Mannes gesetzt hat.» [4]

 

Anmerkungen

[1]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[2]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[3]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[4]      Adler, Alfred. Die individuelle Psychologie der Prostitution. In: Praxis und Theorie der Individualpsychologie. 1920

 

 

 

 

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