Leo Trotzki: Der Erste Weltkrieg als Geburtshelfer der «republikanischen Vereinigten Staaten von Europa, als Fundament der Vereinigten Staaten der Welt.»

1914/19 Zitatatuswahl Moritz Nestor

1914, Der Erste Weltkrieg als Vater der Globalisierung

 


Leo N. Trotzki. Der Krieg und die Internationale.

In: Lenin, Trotzki. Krieg und Revolution, Schriften und Aufsätze aus der Kriegszeit. Grütlibuchhandlung  Zürich 1918, S. 1-84. Zitate hier nach: Deutscher, Isaac/Novak, Georg & Dahmer, Helmut (Hg.). Trotzki, Leo: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution. Frankfurt/Main 1981, S. 74ff.

1914 wird der Aufsatz im Oktober in Zürich auf Deutsch geschrieben.

1918 wird er, als Trotzki erster Aussenminister der UdSSR ist, in den USA veröffentlicht unter dem Titel «The Bolscheviki and World Peace».

1922 folgt russische Ausgabe.

Diese Schrift soll US-Präsident Wilson unmittelbar bei der Formulierung seiner «Vierzehn Punkte» beeinflusst haben.

Ich habe aus Trotzkis Aufsatz «Der Krieg und die Internationale» die Argumentation herausdestilliert, mit der er den Ersten Weltkrieg als Geburtshelfer der «republikanischen Vereinigten Staaten von Europa, als Fundament der Vereinigten Staaten der Welt.» feiert. Die marxistische Vision eines europäischen Staates und der Globalisierung – als Resultat des Ersten Weltkrieges.


 

 

Die autoritären Marxisten als «die einzige schöpferische Kraft der Zukunft»

 

«Der Kern des gegenwärtigen Krieges ist der Aufruhr der Produktivkräfte, die der Kapitalismus erzeugte, gegen ihre national-staatliche Ausbeutungsform. Der ganze Erdball […] [ist] zur Arena einer weltumfassenden Wirtschaft geworden, deren einzelne Teile unlösbar miteinander verbunden sind. Diese Arbeit hat der Kapitalismus verrichtet. Andererseits veranlasst er auch die kapitalistischen Staaten, diese Weltwirtschaft den Profitinteressen jeder einzelnen nationalen Bourgeoisie zu unterwerfen. Die Politik des Imperialismus ist vor allem ein Zeugnis dafür, dass der alte nationale Staat […] sich überlebt hat und nun als unerträgliches Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte erscheint.» [Seite 74]

«Der Krieg von 1914 bedeutet vor allem Zertrümmerung des nationalen Staates als eines selbständigen Wirtschaftsgebietes. […]  Doch zugleich auch die Zertrümmerung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Aus dem nationalen Staat heraus revolutioniert der Kapitalismus die gesamte Weltwirtschaft, indem er den ganzen Erdball zwischen den Oligarchien der Grossmächte verteilte […] Die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage bedeutet einen unaufhörlichen Kampf  der  Weltmächte um neue und immer neue Gebiete der einen Erdoberfläche als eines Objektes kapitalistischer Ausbeutung.  Im Zeichen des Militarismus lösen ökonomische Rivalität  auf der einen Seite und Raub und Zerstörung auf der anderen Seite einander in ständigem Wechsel ab, Mächte, die die elementaren Grundlagen menschlicher Wirtschaft auflösen. Die Weltproduktion empört sich nicht nur gegen das national-staatliche Chaos, sondern auch gegen die kapitalistische Wirtschaftsorganisation selbst, die zu dieser barbarischen Desorganisation geführt hat. Der Krieg von 1914 ist der grösste Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt.» [Seite 74 und 75]

«Der Kapitalismus schuf die materiellen Voraussetzungen einer neuen sozialistischen Wirtschaft. Der Imperialismus führte die kapitalistischen Völker in historische Wirrnisse. Der Krieg von 1914 zeigt den Weg aus diesen Wirrnissen, indem er das Proletariat gewaltsam hinausführt auf den Weg der Revolutionen.» [Seite 76]

«Das imperialistische Deutschland schreibt darum die Schaffung eines mitteleuropäischen Staatenverbandes auf sein Programm. […] ein Gross-Deutschland unter der Hegemonie des jetzigen deutschen Reiches. Dieses Programm […] ist der schlagende Beweis und die erschütterndste Ausdruck […], dass es dem Kapitalismus in den Schranken des nationalen Staates zu eng geworden ist. […] Für das Proletariat kann es sich bei diesen historischen Bedingungen nicht um die Verteidigung des überlebten nationalen ‚Vaterlandes‘ handeln, das zum hauptsächlichen Hemmnis für die ökonomische Entwicklung geworden ist, sondern um die Schaffung eines weit mächtigeren und widerstandsfähigeren Vaterlandes – der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa, als Fundament der Vereinigten Staaten der Welt.» [Seite 77]

«Doch auch […] wenn man annehmen könnte, dass, der Logik der Kriegsoperationen gehorchend, der deutsche Militarismus […] dem Zarismus einen vernichtenden Schlag versetzen würde, so hätten wir es uns auch in diesem – durchaus unwahrscheinlichen – Falle versagt, in den Hohenzollern mehr als einen objektiven , auch einen subjektiven Bundesgenossen zu sehen.» [Seite 78]

«Der Krieg von 1914 verkündet die Zertrümmerung der nationalen Staaten. Die sozialistischen Parteien der nun abgeschlossenen Epoche waren nationale Parteien. […] Nicht der Sozialismus geht zugrunde , sondern seine gegenwärtige historische Äusserung. Die revolutionäre Idee mausert sich, indem sie sich von ihrer erstarrten Hülle befreit. […] Wie die nationalen Staaten zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte wurden, so wurden auch die alten sozialistischen Parteien zum Haupthindernis für die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse.» [Seite 80]

«das Brüllen der Kanonen an allen Enden Europas verkündet den Sieg der Theorie des Marxismus. Was bleibt denn jetzt noch von den Hoffnungen auf ‚ friedliche‘ Entwicklung, auf Abstumpfung der kapitalistischen Gegensätze , auf ein planmässiges Hineinwachsen in den Sozialismus?» [Seite 81]

«Der Krieg löst also nicht die Arbeiterfrage auf imperialistischem Fundament, sondern umgekehrt, er verschärft die Frage, indem er die kapitalistische Welt vor zwei Möglichkeiten stellt: Krieg in Permanenz oder Revolution. […] Wir revolutionären Sozialisten wollten den Krieg nicht. Doch wir fürchten ihn auch nicht. […] Wir bewahren in dieser höllischen Musik des Todes unser klares Denken, unsern ungetrübten Blick, und fühlen uns als die einzige schöpferische Kraft der Zukunft.»

 

 


1919, der Erste Weltkrieg als Werkzeug des Weltgeistes

«Der grosse imperialistische Krieg ist das furchtbare Werkzeug, mit dessen Hilfe die Geschichte den ‚organischen‘, ‚evolutionären‘, ‚friedlichen‘ Charakter der kapitalistischen Entwicklung gesprengt hat.»

Aus: Trotzki, Leo. Über den Fortschritt der proletarischen Revolution, 1919. Zit. n.: Deutscher, Isaac/ Novak, Georg & Dahmer, Helmut (Hg.). Trotzki, Leo: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution. Frankfurt/Main 1981, S. 137ff.

 

 

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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