Liebe – «eine Zweieinigkeit» ohne Streben nach Überlegenheit
24. August 2024 ∙ Moritz Nestor
Mit freundlicher Genehmigung des Hochzeitspaars.
«Es soll kein ‘Nehmen’ in der Liebe oder Ehe geben,
sondern ein gegenseitiges ‘Geben und Nehmen’;
eine Zweieinigkeit,
in der weder das männliche
noch das weibliche Geschlecht
nach Überlegenheit strebt.»
(Alfred Adler 1936)
Auguste Rodin, Der Kuss, etwa 1881, Musée Rodin, Paris
Liebes Hochzeitspaar
Herzlichen Dank für die Einladung zu Eurer Hochzeit. Meine leider verhinderte Frau und ich gratulieren Euch von ganzem Herzen zu Eurem Entschluss und wünschen Euch viel Kraft und Vertrauen ins Leben. Wir wissen sehr wohl, dass Ihr euch diesen Schritt nicht leicht gemacht habt.
Ihr wolltet keine Geschenke. Weil Ihr mich aber gebeten habt, an Eurer Hochzeit diese Rede zu halten, so will ich Euch diese zum Geschenk machen. Es ist mir eine grosse Ehre – das sollt ihr wissen! –, dass Ihr mir das abverlangt habt. Ihr habt mich ja bewusst als Psychologen darum gebeten!
Was also hat ein Psychologe über die Liebe «enträtselt»?
Als vor etwa 25 Jahren eine liebe Freundin und ihr Mann in einem bayrischen Dorf heirateten, stand oben auf der breiten Kirchentreppe, den Eingang versperrend, ein Baumstamm auf zwei Böcken, den das Paar mit einer etwa zwei Meter langen Baumsäge durchschneiden musste, die an jedem Ende mit einem grossen Griff für beide Hände versehen war. Diese «Ehe-Probe» entstamme einer alten Tradition, sagte der Pfarrer schmunzelnd unter dem Beifall der vor der Kirche wartenden Menge. Es heisse doch, bemerkte er, man müsse dem Menschen auf die Hände schauen, nicht auf den Mund. Bevor daher das Ja-Wort gesprochen werden könne, müssten also die beiden mit dem Zersägen des Baumstammes demonstrieren, dass sie das Grundprinzip der Liebe leben könnten, und damit sozusagen beweisen, dass ihr Ja-Wort ehrlich sei. Vorher werde niemand in die Kirche eingelassen. Der Bräutigam legte also sein schwarzes Jackett ab, krempelte die Ärmel hoch, denn es war ein heisser Sommer. Sie war durch das Brautkleid etwas benachteiligt, doch sie schafften es.
Wer einmal Arbeiten mit einer solchen Baumsäge zugeschaut hat, dem leuchtet der Sinn dieser «Ehe-Probe» sofort ein: Zeigen, ob man ganz lebens-praktisch begriffen hat, dass Liebe eine Aufgabe für zwei ist: gegenseitige Ergänzung und Hingabe. Ein Sich-aufeinander-Einlassen, ein Kooperieren-Können. – Was unserer Zeit so schwerfällt, doch dazu später.
Denken wir uns in dieses Bild hinein: Während ich die Säge mit ganzer Kraft zu mir ziehe, damit das Eisen sich wieder ein Stück tiefer ins Holz frisst, dem Ziel einen Schritt näherkommend, spüre ich, wie sie auf der anderen Seite mir den Raum dafür lässt und den Teil der Säge auf ihrer Seite stabil hält, damit nichts verklemmt und mein Ziehen gelingen kann. Tut sie das nicht, gelingt mein Ziehen nicht. Am Ende meines Zuges lasse ich mit meiner Kraft nach, bis ich merke, dass sie nun, wie ich zuvor, beginnt, die Säge zu sich zurückzuziehen, weshalb ich ihr den Zug auf die andere Seite überlasse. Ich führe nun – wie sie zuvor, die nun zieht – den auf meiner Seite frei hängenden Teil der Säge so, dass sie nicht verkantet, damit nun mit meiner Hilfe ihr Zug gelingen kann – so wie sie zuvor meinen Zug ermöglicht hat. Bis ich sehe, dass nun ich wieder an der Reihe bin.
Mit Immer-nur-ziehen-wollen oder Immer-nur-nachgeben – damit gelingt nichts. Beide müssen zu einer Zweisamkeit verschmelzen: Abwechselnd ziehend und dann wieder nachgebend – aufeinander abgestimmt.
Dem Gemeinsamen droht immer Gefahr, wenn einer der Partner den geistigen Blick fürs Ganze verliert und mit sich beschäftigt ist: Wieso stellt sie sich so an? Was denkt sie über mich? Mache ich es richtig, gut, zufriedenstellen? Was denken die Zuschauer über mich? Sehen sie nicht, wie gut ich bin? Oder schütteln sie den Kopf, was ich für eine Pfeife bin? Alle Formen des Bei-sich-Seins stören das Miteinander: Der ruhige Rhythmus von Ziehen-Nachgeben-Ziehen-Nachgeben gelingt dann am besten, wenn beide nicht damit beschäftigt sind, wie «man» sie sieht, was «man» von ihnen hält, sondern wenn sie «bei der Sache» sind. Sonst verkantet die Säge, um im Bild zu bleiben.
Eigentlich ist das doch nicht nur in der Liebe so. Immer wenn Menschen zusammenarbeiten, kommt es auf derartige innere Qualitäten an. So weitet sich der Blick, und lässt einem ahnen, dass in der Liebe etwas Urmenschliches im Mittelpunkt steht, welches alles, was wir tun, durchzieht: aufeinander-einlassen-können, kooperieren-können, bei-der-Sache-sein-können, gemeinsam-wirken-können. Wie immer man es auch bezeichnen mag. Nirgends ist es aber so nahe und so innig wie in der Liebe. Das heisst andererseits nicht, dass in den Beziehungen zu Menschen, die einem nicht so nahestehen wie der Liebespartner, das Aufeinander-einlassen-können, Kooperieren-Können, Bei-der-Sache-sein-können, Gemeinsam-wirken-können weniger bedeutungsvoll wäre. Dieser grosse Bezug soll immer auch mitgedacht werden, wenn wir nun wieder den Blick auf die Liebe zwischen Mann und Frau richten.
Als ich Dich, O., kennenlernte, habe ich das Leuchten in Deinen Augen bis heute in Erinnerung, mit dem Du uns eines Tages den Wohnwagen zeigtest, den Du für H. aus einem alten Bauwagen neu gestaltet hast. Ein freundliches Zuhause auf kleinstem Raum, alles selbst hergestellt, mit grosser Sorgfalt und Genauigkeit ausgebaut, ausgetüftelt, jeden Zentimeter ausnutzend, es fehlte nichts, ein echtes Kunstwerk – für Deine Frau. In eine Welt hineingebaut, in der das Leben weiss Gott nie einfach war und nie einfach sein wird – für uns alle nicht! Oft habe ich mir schon gedacht, als müsste Dir viel mehr bewusst sein, was Du mit diesem Zuhause für deine H. – über das Handwerkliche hinaus – für einen menschlichen Wert geschaffen hast: «Liebe reift nicht», betonte Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, «ohne Arbeit und Disziplin, Opfer und Zusammenarbeit.» (Adler, 39) Und solche Männer und Vorbilder, lieber O., die wissen, dass die Liebe kein Samstag-Abend-Ausgang-Vergnügen ist, sind auch die guten Väter, die wissen, dass ihrem Kind nichts Besseres passieren kann, als wenn das Leben ihm kräftig Steine in den Weg legt, die es bewältigen muss, daran wächst, an seelischer Kraft und Mut gewinnt und spürt, dass es ein Jemand ist. Mit der geistigen Hand der Eltern im Rücken, die ihm nicht die Steine voller Mitleid aus dem Weg räumen, sondern dem Kleinen Mut einflössen, sie zu überwinden.
Als ich Dich, H., vor vielen Jahren kennenlernte, trugst Du in Deinem Rucksack ein paar Bände von jenem eben erwähnten Alfred Adler bei Dir und erzähltest begeistert, was Du bei der Lektüre entdeckt hattest. Es war eine Wohltat, Deine geistige Regsamkeit kennenzulernen und Deine Begeisterung zu erleben für einen der grossen Pioniere der Tiefenpsychologie, von dem heute viel zu lernen wäre und der bedeutsam wäre für auflösende und zersplitternde Gesellschaften, in denen sich Gewalt und Hass hochschaukeln. Mein psychologischer Lehrer Friedrich schrieb einmal: «Adler und seine Schüler propagierten eine gewaltlose Erziehung [ohne Verwöhnung oder Laissez-faire] als wahre Prophylaxe seelischer Erkrankungen, und sie begannen in den Jahren vor dem [Zweiten Welt-]Kriege eine umfassende Eltern und Erwachsenenschulung, für die wir heute noch kein Pendant besitzen.» (Liebling, 18) Während ich mir überlegte, was ich heute hier sagen könnte, fiel mir daher ein Aufsatz von Alfred Adler aus dem Jahr 1936 ein mit dem Titel «Die Liebe ist eine moderne Erfindung» und daraus möchte ich etwas herausgreifen.
Wenn ich zurückblicke über die Jahrzehnte meines Berufsalltags, dann zieht vor meinem inneren Auge ein Strom von Hilfesuchenden vorbei, die unter den vielfältigsten Formen von Unvollkommenheiten in der Liebe litten: Das Verherrlichen des Körpers, wo doch die körperliche Liebe nur ein Element der Liebe bildet. Bis hin zur Trennung von Sexualität und Liebe. Liebe wie ein schmalziger Minnesang, dem die körperliche Liebe viel zu niedrig erschien. Männer, die wie Trophäensammler Lust erlebten, solange sie eroberten, und Frauen, die durch Verführung eroberten – wobei die Verliebtheit schnell erlosch, weil der Alltag nach der Eroberung schnell als spannungslose Langweile fad erschien und das Verliebtsein versiegte. Viele Menschen verwechselten Liebe mit der Anbetung der jugendlichen Schönheit oder mit Abenteuer und Eroberung. Und viele Beziehungen endeten in Betrügen und Betrogen-werden. In vielfältiger Form trat zutage, wie Menschen, die sich verlieben, darunter zu leiden begannen, dass ihnen zu wenig oder nicht bewusst war, «dass die Liebe eine Aufgabe für zwei ist.» (Adler, 39) Adler warnte daher: «Es soll kein ‘Nehmen’ in der Liebe oder Ehe geben, sondern ein gegenseitiges ‘Geben und Nehmen’; eine … Zweieinigkeit …, in der weder das männliche noch das weibliche Geschlecht nach Überlegenheit strebt.» (Adler, 44) Ein «vollkommen Liebender» wisse, dass er vollständige Selbstverwirklichung nur in dieser «Zweieinigkeit» erleben kann.
Wir Menschen müssen die Liebe lernen. Das beginnt mit der ersten «Zweieinigkeit» im Leben eines Menschen, mit der Liebe zwischen Mutter und Kind. Zwischen ihnen entsteht eine Gefühls-Bindung, eine «sichere Basis» für das Kennenlernen der Welt. Bis auf wenige Ausnahmen lieben alle Mütter ihre Kinder. Ihre Liebe kommt dem von Geburt an spontan nach Beziehung zu Menschen suchenden Kind entgegen: Hier macht das Kind zum ersten Mal die wichtigste Erfahrung, die ein Mensch im Leben machen kann, ohne die kein Mensch Mensch werden kann: Dass es wertvoll ist, da zu sein; dass das Leben wert ist gelebt zu werden. Die Freude der liebenden Mutter ist ein «Gutheissen» der kleinen Person. (Pieper, 314) Geliebt zu werden heisst für das Kind: jemand zu sein. Und das heisst immer: wertvoll zu sein für jemanden. Allein können wir nicht wertvoll sein.
Die Liebe der Mutter ist ein besonderes Wollen. Das Gegenteil von daher-gesagten Geburtstagsfeiersätzchen, wie «Schön dass es dich gibt.» Oder von Sätzen mit dem Hintergedanken, dass sie denjenigen, dem man sagt, man liebe ihn, dazu bringen sollen, mich zu bejahen. Liebe bedeutet vielmehr, aus dem Herzen heraus spontan einverstanden sein mit dem anderen, ihn bejahen, ihm Beifall zollen, loben und preisen, und zwar in dem «Sinn: Ich will, dass es dich … gibt!» (Pieper, 315)
Die Mutter will, dass es dieses Kind gibt, und dieses Wollen ehrt das blosse Dasein des Kindes. Wahre Liebe verfolgt keinen bestimmten Zweck, etwa: Ich liebe dich, weil Du brav warst. Wahre Liebe bejaht den anderen nicht, um etwas für sich zu erreichen. Die Liebe der Mutter ist die tiefe Freude an einem Geschenk, das der Mensch nicht hervorbringen kann: Das kleine Geschöpf. Meinesgleichen. Die Hoffnung, dass es doch weitergehen könnte mit uns Menschen. Diese Liebe lehrt das Kind, lange ehe es die Wortsprache lernt, dass es als Mensch gewollt ist, bejaht wird – nicht zu einem bestimmten Zweck, etwas um die Mutter zufriedenzustellen, stolz oder glücklich zu machen. Sondern: weil die liebende Mutter will, dass es als Mensch dasein darf, allein weil es Mensch ist. Lange bevor das Kind die Wortsprache und seinen Verstand gebrauchen lernt, lernt es hier rein emotional das, was die Würde des Menschen ausmacht: Dasein zu dürfen, weil man Mensch ist und auch zu den Menschen dazugehört – ohne Wenn und Aber – ohne Gegenleistung sozusagen. Dieses Grundwohlwollen legt im Kind das, was wir Urvertrauen nennen: den festen Kern, auf dem das Kind sich selbst als Jemand erleben lernt.
Bald schon können Missverständnisse einsetzen. Ich erinnere mich an ein etwa ein Jahr altes Mädchen, das seine Mutter nicht anschaute. Die Mutter fühlte sich vom Kind abgelehnt. Sie war jemand, die nur lieben konnte, wenn sie sich vom anderen geliebt fühlte. Sie liebte dann eigentlich nicht das Kind, und das spürte das Kind auch, sondern sorgte sich darum, ob sie geliebt wurde. Sie machte das nicht willentlich, sondern unbewusst, aus persönlicher Unsicherheit heraus. Niemals beabsichtigt sie das, was sie damit bewirkt: Denn das Kind erlebte die Unsicherheit der Mutter als Zwang, die Mutter bestätigen zu müssen, und drehte sich daher weg. Als die Mutter verstand, dass das Kind sich nicht wegdrehte, weil es sie nicht mehr liebte, sondern wegen ihrer Unsicherheit, beruhigte sich die Mutter, und das Kind schaute sie wieder an.
Die Liebe muss eben «in Ordnung» sein, damit sich das Kind als Mensch «richtig» und gut empfinden kann. Und nun ist doch auch klar geworden, dass die Liebe zwischen Mutter und Kind sich in den Grundsätzlichkeiten nicht unterscheidet von der Liebe zwischen Erwachsenen: Ein Mensch, der wirklich liebt, will nicht durch den anderen bestätigt werden, sondern will, dass der geliebte Mensch «existiert und lebt». (Pieper, 318) Er will «die Existenz des Du» – ohne Bedingung. (Pieper, 318) Der wahre Liebende kann «die Möglichkeit einer Welt nicht zulassen,» in der der andere fehlt. Liebe ist «eine Parteinahme für das Dasein des Geliebten.» (Pieper, 318) Und kein Haben-wollen des anderen.
Das Kind erlebt durch die Liebe der Mutter, dass es etwas gibt, was über das blosse Geboren-werden – über das Atmen, Trinken, Essen, Gewärmt-werden – hinausreicht. Etwas was grösser und stärker und wichtiger ist und was über das materielle Existieren und die körperliche Bedürfnisbefriedigung hinaus reicht: «von einem Menschen geliebt zu werden.»
Das gilt ein Leben lang. Wie ein liebender Erwachsener «aufblüht», so ist für das Kind die Mutterliebe die Bedingung schlechthin, damit es körperlich gesund gedeiht und eine sichere Identität entwickelt. Dann erst kann es sich ganz selbst werden, sich als wertvoll wahrnehmen, gerade weil es geliebt wird. Das werdende kindliche Ich rankt sich, bildlich gesprochen, am liebenden Du empor, das zuerst war.
Einem Tanz vergleichbar drehen sich die beiden im gegenseitigen Geben und Nehmen. «Ich brauche dich, um ich selber zu sein … Indem Du mich liebst, gibst du mich mir selbst: Du lässt mich sein.» Es ist keine Technik, sondern es ist die «aus dem Herzen kommende und im Kind gleichfalls das Herz meinende Zuwendung und Zustimmung, die wir eben allein wirkliche ‘Liebe’ nennen»: die Freude und die Bejahung des anderen. «Wie gut, dass es Dich gibt!» Alles gleicht in den Grundzügen der Eheprobe vor der bayrischen Kirche: Wie Mutter und Kind, so verschmelzen auch die erwachsenen Liebenden im gegenseitigen Geben und Nehmen zu einer «Zweieinigkeit».
Was lässt diese «Zweieinigkeit» zwischen Mann und Frau gelingen?
Das erste ist die vollkommene Gleichwertigkeit der Geschlechter: Weder zum anderen aufschauen noch auf ihn herabblicken; keine «unmöglichen Vollkommenheiten» vom anderen verlangen, zu denen man nicht selbst fähig ist, das heisst: Eine Frau ist kein Engel, und ein Mann kein Ideal. Die Zweieinigkeit leben können heisst: Nicht ohne zu geben nehmen und nicht ohne zu nehmen geben – ja, mehr zu geben bereit sein als zu nehmen. Die körperliche Anziehung bildet die Blüte an dem Baum namens Partnerschaft: sein Wasser holt er sich aus dem Zusammenspiel auf allen Ebenen: sozial, ökonomisch, geistig, emotional und biologisch. Auch in körperlichen Dingen ist Liebe eine Aufgabe, «die die harmonische und uneingeschränkte Kooperation beider Teile erfordert.» Der erobernde Don Juan ist unzufrieden, weil die Sexualität für ihn «eine Aufgabe für einen ist.» Sexuelle Lust, sagt Adler mit einem gewissen Schmunzeln, sei die «Prämie, die die Natur zur Sicherung der Fortpflanzung zahlt.» Weder Vergnügen alleine noch Fortpflanzung alleine sei ausreichend.
Und das Wichtigste: Verliert euch nicht «auf Nebengleise und in Sackgassen: es gibt immer einen Ausweg aus emotionalen Labyrinthen – alle Menschen sind von Natur aus normal veranlagt. … Sei weder Sklave der Konventionen noch deiner eigenen Eigenheiten: Vergiss nicht, dass du nicht nur ein Individuum bist, sondern eine Einheit deiner sozialen Gruppe und der gesamten Menschheit.» (Adler, 40)
An der Wand des Praxiszimmers meines psychologischen Lehrers Friedrich Liebling hing eingerahmt ein Zitat
von Peter Altenberg, dem Wiener Dichter: «Ich wachse, also bin ich erst! Kein Mensch ist – – – er wird!» (Altenberg, 73)
Es bleibt noch etwas Letztes zu sagen: «Hut ab!», «Chapeau!», H. und O., Ihr seid zwei geistig rege, ernsthafte und verantwortungsbewusste Zeitgenossen, die wissen, dass man bei sich beginnen und an sich arbeiten muss, wenn man etwas in der Welt bewegen will. Der grosse russische Dichter und Menschenkenner Fjodor Michailowitsch Dostojewski schrieb daher am 16. August 1839: «Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es enträtseln, und wenn du es ein ganzes Leben lang enträtseln wirst, so sage nicht, du hättest die Zeit verloren. Ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.»
Ich wünsche Euch in dem Sinne alles Liebe und Gute, viel Kraft und Mut. Und, wie gesagt: Verliert euch nicht «auf Nebengleise und in Sackgassen: es gibt immer einen Ausweg aus emotionalen Labyrinthen.» Ich danke auch allen Anwesenden für Eure Geduld und Aufmerksamkeit. Es braucht eben etwas Zeit, um zu sagen, was gesagt werden muss. Uns allen wünsche ich weiterhin ein schönes Fest.
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Peter Altenberg. Märchen des Lebens. Berlin 2018 [https://iphg.ch/friedrich-liebling/]
Alfred Adler. Die Liebe ist eine moderne Erfindung.
In: Menschenkenntnis. 5. Jahrgang, Heft 7-8, Zürich 1991
Englisches Original: Esquire mag., Mai 1936. Neuabdruck: Journal of Individual Psychology 27, 1971, S. 144-52
Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Briefe. 16. August 1839. St. Petersburg
Friedrich Liebling. Die Bedeutung Alfred Adlers für die moderne Psychologie. Zu seinem 20. Todestag am 28. Mai 1957.
In: Der Psychologe. 9/1957, S. 231–236.
Sowie in: Freidenker. 40/1957, S. 161–167.
Und in: Menschenkenntnis. 1/1987, S. 4-9 https://iphg.ch/wp-content/uploads/2023/04/FL-Die-Bedeutung-Alfred-Adlers.pdf
Josef Pieper. Über die Liebe. In: Ders. Werke in acht Bänden. Band 4: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Herausgegeben von Berthold Wald. Hamburg 2006