Gute Bücher

 

«Die Erfindung des Buchdruckes
ist das größte Ereignis
der Weltgeschichte.»
Victor Hugo

 

Bücher sind das Gedächtnis der Menschheit. Etwas wird unsterblich durch das Buch. Und durch das Buch können wir mit einem von unserer Gattung reden, der längst verstorben, aber sich in ihm verewigt hat.

Das soziale Lebewesen Mensch ist ein geschichtliches Wesen. Das ist eine der Grundeinsichten naturrechtlichen Denkens. Der Mensch zieht in der Gegenwart aus den Erfahrungen der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft. Da war die Erfindung des Buchdrucks ein mächtiges Mittel.

Die Erfindung des Buchdrucks und der Humanismus haben sich in der frühen Neuzeit unserer Kulturgeschichte wechselweise beeinflusst.  Das Buch bewahrt Wissen und lebenswichtige Erfahrungen der Vorfahren besser. Seine Häufigkeit und seine Verbreitung sicherten nun das überkommene kulturelle Wissen aus der Vorgeschichte besser gegen den Verfall. Durch das Buch können vergessene Weisheiten wiederhergestellt werden. Der Buchdruck ermöglichte mehr allgemeine Wissensvermittlung, auch breiterer Schichte, und mehr Bildung der Jugend. Bücher wurden billiger. Der Bildung aller Sichten war man näher gekommen. Der Buchdruck förderte die universitäre Forschung und Lehre. Der Buchdruck förderte den gebildeten Dichter. Humanisten wurden Büchersammler und Besitzer von Privatbibliotheken. Und vieles andere mehr.

Es ist einem kurzsichtigen Zeitgeist geschuldet, dass viele der hier empfohlenen Titel leider vergriffen sind. Obwohl sie von besonderer kultureller, literarischer und auch pädagogischer Qualität sind. Sie werden daher trotzdem und gerade deswegen hier empfohlen. Perlen im Schatten der Hitlisten, des Mainstreams und der Seifenopern-Welt. Perlen, die nur zu oft zu einem Kulturschatz gehören, der einer seltsamen Amnesie zum Opfer gefallen sind und fallen. Von Käthe von Roeder-Gnadeberg zum Beispiel existiert nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag.

Der Interessierte ist daher vermehrt auf Leihbibliotheken und auf Antiquariate angewiesen. Ein etwas mühseligerer Weg, der aber reichlich belohnt wird. Ich bin gerne behilflich bei der Suche von Titeln.

 

Auf dieser Seite werden Bücher empfohlen aus verschiedenen Gebieten

 

  1. Pädagogik und Schul«reformen» (gehe zu)
  2. Menschlich und pädagogisch wertvolle Kinder- und Jugendbücher (gehe zu)
  3. Bücher, die Kranken und Leidenden gut tun
  4. Medizin und Gesundheitswesen (gehe zu)
  5. Anthropologie, Kulturanthropologie (gehe zu)
  6. Eugenik, Euthanasie (gehe zu)
  7. Psychologie, Psychotherapie (gehe zu)
  8. Naturrecht, Humanismus und Demokratie (gehe zu)
  9. Marxismus (gehe zu)
  10. Erster Weltkrieg (gehe zu)
  11. Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg (gehe zu)

 


1.  Pädagogik und Schul«reformen»


 

 

 

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Vordere Umschlagseite

Hans-Dieter Schmidt & Evelyn Richter
Entwicklungswunder Mensch
Leipzig, Jena, Berlin (Ost) 1980

 

Der vordere Buchdeckel zeigt in A4-Format das Photo der zärtlichen Hand einer Mutter, um deren kleinen Finger sich das Fäustchen ihres wenige Monate alten geliebten Kindes ballt. Keine Schrift verstellt das Bild. Die eigentümliche Aussagekraft, die grobkörnigen Schwarz-weiss-Photos innewohnt, wirkt unmittelbar auf die Seele des Lesers. Könnte es ein schöneres Symbol geben für das Urmenschliche, das dieses Bild zeigt? Ein Kind und seine Mutter, Ich und Du. Die Urszene des menschlichen Lebens: die Mutterliebe, mit der das Leben beginnt. Das Ewige in der Menschheitsgeschichte: „Ein neues Licht wird angezündet, ein Stern, der vielleicht ungewöhnlich schön brennen wird, … Ein neues Wesen … küsst die Erde … “ (S. 5). Der Anfang des Menschenlebens ist die Mutter und ihre Liebe: „Vom Du zum Ich“ (S. 86). Was die europäische Pädagogik (Comenius, Erasmus, Rousseau, Pestalozzi, Herder, Schiller, Goethe und viele andere) und was die personalen Schulen der Psychologie (Individualpsychologie, Ich-Psychologie, Neoanalyse, moderne Entwicklungspsychologie, soziale Lerntheorie, personale Anthropologie und andere) schon lange betonten: An Anfang des Lebens steht das Beziehungsgeschehen zwischen Mutter und Kind, kein Trieb oder Instinkt oder Programm, sondern das interpersonale „Ich und Du“. Und aus der liebenden Begegnung des Neugeborenen mit dem mütterlichen Du wächst das Ich des Kindes heran: Vom Du zum Ich.

Während in der BRD ein Zsunami aus Frankfurt Schule, Antipädagogik, «antiautoritärer Erziehung», Kybernetik, Konstruktivismus und Ähnlichem die intellektuellen Eliten die Hochschulen, die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen mit einem kalten Firnis überzieht, unter dem die Familie als Urgrund der lebenden Menschwerdung sich beginnt aufzulösen, blieben die Menschen in der DDR bei der Familie. Das ist das Eigentümliche, das jeder erfährt, der sich unvoreingenommen mit Menschen aus der ehemaligen DDR unterhält: Während im Westen die Familie aufgelöst wurde, blieb sie im Osten erhalten.

Der Mitbegründer entwicklungswunder-mensch-img_9726des «Neuen Forums» und 1990 Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow, Sebastian Pflugbeil, bat mich einmal, ich solle ihm doch erklären, was es mit diesem Unsinn der 68er eigentlich auf sich habe. «Das pseudo-intellektuelle Geschrei dieses Dutschke hat mich immer abgestossen», meinte er. Wieso westliche Wohlstandskinder Familie und Erziehung zugunsten einer antiautoritären Erziehung abschaffen wollten, sei ihm unbegreiflich. Als ich ihm versuchte zu erklären, dass im Gefolge der Frankfurt Schule, die Familie als die  «Sozialisationsagentur des Kapitalismus» und des «autoritären Charakters»als Brutstätte des «Faschismus» diffamiert worden sei, blickte er mich mit grossen Augen an und meinte: «Das ist doch verrückt!» Als ich ihm begreiflich zu machen versuche, dass die 68er  mit den Theorien liebäugelten, dass jede Autorität schlecht sei, schüttelte er nur den Kopf. Und als ich versuche, ihm zu erklären, dass viele 68er wie besessen waren von der Idee, dass das Kind bei Geburt nach Freud «polymorph-pervers» sei und die Mutter sein erstes «Triebobjekt», da war es aus. Zu recht.

Hans-Dieter Schmidt & Evelyn Richters Buch Entwicklungswunder Mensch ist ein wunderbares Zeugnis für die Immunität des Intellektuellen und des Bürgers der DDR, die heute noch Menschen aus der ehemaligen DDR gegenüber den westlichen antipädagogischen und antifamiliären Ideologien zu eigen ist.  entwicklungswunder-mensch-img_9727

Während zum Beispiel westdeutsche Intellektuelle unter US-amerikanischem Einfluss den Menschen als Trieb- oder Instinktwesen oder Reiz-Reaktion-Wesen denaturieren,  lesen wir im Entwicklungswunder Mensch die folgenden erfrischenden Sätze von Karl Marx aus dem Jahre 1867: «Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Baum ihrer Wachszelle manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. … er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiss, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss … Ausser der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmässige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äussert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt ».

Das Wohltuende an diesem Buch ist sein unerschütterliches Festhalten an dem, was der Mensch von Natur aus ist: Ein Familienwesen, das sich nur in der und durch die Liebe zu Vater und Mutter zum Mitmenschen entwickeln kann. Die Eltern als natürliche Autoritäten und Vorbilder sind die führenden Wächter über die sozialen Anlagen des Kindes: Durch Beobachtung und Identifikation mit den geliebten Eltern – der Bub mit dem Vater, das Mädchen mit der Mutter – findet «Beobachtungslernen von der Autorität der Erzieher» statt. «Alle Erzieher bemühen sich bewusst oder unbewusst um die Gewährleistung dieser Autorität – dies mit verschiedenen Mitteln. Makarenko hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Er kritisiert falsche Methoden der Autoritätssicherung: Unterdrückung des Kindes und Machtmissbrauch, prahlerische Wichtigtuerei und kleinliche Pedanterie, predigerhaftes Moralisieren, verwöhnende und verzärtelnde Liebe und Güte, kumpelhafte ‚Freundschaft‘, Bestechung durch Geschenke und Versprechungen. Diesen falschen Mitteln setzt er die seiner Ansicht nach entwicklungswunder-mensch-img_9728richtigen entgegen. Den Eltern rät er: „Die wichtigste Grundlage der elterlichen Autorität kann nur das Leben und die Arbeit der Eltern, ihr Gesicht als Staatsbürger, ihr Verhalten sein …  Sie müssen dieses Leben aufrichtig, tatsächlich leben und brauchen sich nicht zu bemühen, es ihren Kindern extra vorzuführen.“ … Das Plädoyer Makarenkos stellt die unbefangen gelebte Autorität des ehrlichen, offenen, kritischen, werktätig schaffenden, der Gemeinschaft verpflichteten Erziehers heraus; es brandmarkt jede Form geborgter, aufgeblähter, künstlich geschaffener Autorität. Eine solche natürliche Autorität … schafft zugleich Voraussetzungen dafür, die Lust der Verantwortung zu empfinden und daraus Kräfte zu schöpfen, um den Ernst, die Bürde der erzieherischen Arbeit freiwillig, ja freudig auf sich zu nehmen. Der Lohn bleibt nicht aus: Das natürliche Wunder der kindlichen Entwicklung blüht vor den Augen des Erziehers auf, er kann sich daran ergötzen, er kann es studieren, er kann stolz darauf sein, an seinem Vollzug und seinem Ergebnis – der aktiven, bewusst handelnden und gemeinschaftsfähigen kindlichen Persönlichkeit mitgewirkt zu haben.» (S. 246) Mit diesen Worten endet das Buch.

Es sind Sätze, die könnten auch aus den hierzulande nach den 1980er-Jahren langsam in die Vergessenheit gedrängten Werken personaler Psychologen und Pädagogen stammen. Oder was erkennt man in den folgenden Sätzen des Buches: «Von Geburt an ist der Säugling als ein soziales Wesen. Er ist zwischenmenschlicher Partnerschaft und zwischenmenschlichen Austauschs bedürftig und biologisch dafür ausgerüstet. … Das Lächeln ist die erste Begrüssungsformel … [das Kind] kann gar nicht anders als zugänglich, freundlich, kontaktbereit zu sein.» (S. 86f)

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Ein Zitat aus dem Buch: Von Albert Schweitzers Humanismus durchdringen.

Es sind aber auch nachdenklich machende, warnende Sätze: Vielleicht sollten wir doch ab und zu den Menschen aus der ehemaligen DDR besser zuhören und weniger schnell lächelnd betonen, dass wir aus einem «demokratischen Land» kommen.

Dieses Buch jedenfalls ist ein zu unrecht vergessenes Plädoyer der Menschlichkeit, der Familie und der natürlichen Autorität von Vater und Mutter als ewigen Wert. Um es zu wiederholen, weil er so wichtig ist: Durch Beobachtung und Identifikation mit den geliebten Eltern – der Bub mit dem Vater, das Mädchen mit der Mutter – findet «Beobachtungslernen von der Autorität der Erzieher» statt, zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Kulturen. Das aufzulösen in eine wie auch immer geartete «neue» Welt eines «transhumanen» Menschen, ist ein Verbrechen gegen das ewige natürliche Recht des Kindes auf Erziehung durch die ersten Mitmenschen eines jeden Menschen: Vater und Mutter.

Dieser Text als PDF: Entwicklungswunder Mensch

 

 

 


 

 

 

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Arthur Brühlmeier
Menschen bilden.
Hg. von der Stiftung «Schule für das Kind»
Baden-Verlag 2007

 

Eine ausgesprochen ermutigende  Handreichung für Lehrer, aber auch Eltern, Erzieher und jeden mit Menschen Befassten ist das Buch «Menschen bilden» von Arthur Brühlmeier. Seine «Impulse zur Gestaltung des Bildungswesens nach den Grundsätzen von Johann Heinrich Pestalozzi» könnten aktueller nicht sein. Wie ein Leuchtturm in der Wüste greift das Buch in 27 Mosaiksteinen Grundsätzliches zum pädagogischen Wirken auf und setzt der gegenwärtigen pädagogisch-psychologischen Amnesie seine langjährigen Erfahrungen in Unterricht und Lehrerbildung entgegen, die sich zugleich natürlich mit grundsätzlichen erzieherischen, philosophischen und anthropologischen Gedankengängen verbinden  – nicht zuletzt als Frucht seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem grossen Volksbildner Pestalozzi.

Angesichts einer Schulentwicklung, die sich am amerikanischen «Bologna»-Modell orientiert, das letztlich unter dem Diktat der Wirtschaft steht und zu einer steten Uniformierung und hierarchischen Steuerung des Bildungsgeschehens geführt hat, lenkt er den Blick zurück auf das Wesentliche: auf das Kind, auf den Lehrer, auf das, was sich zwischen ihnen als Menschen ereignet, und auf die Frage, was Bildung eigentlich ist. Brühlmeier ist mit Pestalozzi überzeugt: «Auch der Wirtschaft und dem Staat ist am besten gedient, wenn sich die Schulen um die Bildung des ganzen Menschen kümmern und daher nicht seine Verwendbarkeit, sondern seine Menschlichkeit ins Zentrum stellen.»

Wenn er dabei Pestalozzi aufgreift, ist sein Ziel nicht, «der historischen Figur Buchstaben für Buchstaben zu folgen», sondern an den Geist Pestalozzis anzuknüpfen. Es sind zahlreiche Facetten dieses Geistes, die Brühlmeier dabei anleuchtet, mit dem lebendigen Schulalltag von heute in Verbindung bringt und dem Leser in einer Art nahebringt, die eben diesen Geist selber atmet.

Wo wir heute Gefahr laufen, den Menschen auf Hirnstrukturen, neurophysiologische und neurobiologische Abläufe zu reduzieren und jede kindliche Auffälligkeit mit einer entsprechenden Diagnose zu etikettieren, führt Brühlmeier das Denken zurück zum Wesen des Menschen: Natürlich ist der Mensch auch ein biologisches Wesen, erst in der Beziehung zu seinen Mitmenschen aber kann er Mensch werden, und er bedarf dabei sittlicher Orientierung und Bildung, um zu wahrer Menschlichkeit zu finden. So ist denn echte Bildung nicht von Erziehung  – «oder wenn man lieber will: moralischer Bildung»  – zu trennen. «Guter Unterricht ist immer auch erziehender Unterricht.» (S. 63) Dabei sind Druck, Nötigung und Gewalt keine Mittel, die zu echter Herzensbildung beitragen, obwohl natürlich unmoralischem, asozialem Verhalten klar Einhalt geboten werden muss und solches durchaus einer dezidierten Gegenposition bedarf. (Erika Vögeli in: Zeit-Fragen Nr.11 vom 15. März 2010)

 

 

 


 

 

Einspruch

Einspruch
Kritische Gedanken zum Lehrplan 21

Broschüre, 5 Fr., zu bestellen bei

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

titel_krautzJochen Krautz
Kompetenzen machen unmündig
Streitschriften zur Bildung, Heft 1.
Hrsg. Fachgruppe Grundschulen GEW Berlin

 

«Überall werden Stimmen der Unzufriedenheit laut – in den Bildungsinstitutionen bundesweit ebenso wie in Berlin. Das Gefühl, dass in den letzten Jahren etwas ganz gründlich schief läuft, teilen viele miteinander. Am augenfälligsten ist zunächst der Eindruck, dass sich zwischen politischen Absichtserklärungen und dem Berufsalltag von Lehrerinnen und Erzieherinnen ein breiter Graben auftut. … Bildung in der Demokratie heißt kritikfähig und mündig zu sein oder zu werden. Das genau bedeutet, die Dinge auf ihre Bedeutung, auf ihren Sinn und Kontext zu befragen und damit die Kunst der Unterscheidung zu beherrschen.»

 

 

 


 

 

 

Jochen Krautz
Person oder homo oeconomicus?
Zum Menschenbild der Bildungsreformen und ihren Hintergründen(PDF)

 

Die Bildungs«reformen» im Gefolge von PISA und Bologna tendieren zu einem ökonomistischen Menschenbild, das den Menschen auf seine Funktion reduziert. In dieser Sicht gilt der Mensch als steuerbar, Bildung wird zur Anpassung an gegebene Verhältnisse. Der Beitrag untersucht auf der Grundlage eines personalen Bildungsverständnisses die Herkunft dieses Menschenbildes und fragt nach dessen Auswirkungen und Hintergründen.

 

 

 


 

 

Rattner+Grosse-PädagogenJosef Rattner
Grosse Pädagogen
Vorwort von Friedrich Liebling (1965)

München 1968

«Die von der Psychoanalyse und der Individualpsychologie aufgezeigten Zusammenhänge zwischen falschen Erziehungsmassnahmen und daraus resultierender Nervosität, Neurose und Kriminalität bewiesen gleichsam mit mikroskopischer Schärfe die Wichtigkeit einer dem kindlichen Seelenleben angepassten Erziehung. Die Schule Afred Adlers hat hier bahnbrechend gewirkt. … Aber es ist eigentlich unrichtig, wenn man die tiefenpsychologische Erziehung ’neu‘ nennt und daraus etwa den Grund ableitet, sie skeptisch zu betrachten. Ein Studium der grossen pädagogischen Autoren der Vergangenheit tut kund, dass alles, was moderne wissenschaftliche Forschung zwingend darlegt, von den Dichtern und Denkern seit dem Altertum bereits ahnend vorweggenommen wurde. Es besteht eine bewundernswürdige Tradition erzieherischen Denkens seit den Anfängen des Abendlandes: vor allem vom Humanismus bis zur Klassik haben uns grosse Erzieher und Menschenkenner  in ihren Werken ein Mass von Erziehungsweisheit hinterlassen, das leider bis zum heutigen Tag noch kaum ausgeschöpft ist. Die Tiefenpsychologie lehrt uns nun, den Wert dieser historischen Erziehungsschriften zu erkennen. Im Lichte moderner psychologischer Erkenntnis werden wir uns erst der Leistung der Bahnbrecher der neuen Pädagogik bewusst; es gibt kaum eine bessere Bestätigung, die die tiefenpsychologische Erziehung finden könnte, als der Hinweis, dass sie Namen wie Erasmus, Montaigne, Vives, Comenius, Kant, Geothe, Jean Paul usw. zu ihren Vorläufern zählen darf.» (Josef Rattners Ziehvater und psychologischer Lehrer, Friedrich Liebling, in «Zum Geleit» der Ausgabe von 1965)

 

 

Friedrich Liebling. «Zum Geleit» (1965)

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

rainerwernerRainer Werner
Lehrer machen Schule
Warum gute Lehrer so wichtig sind
Berlin 2014

 

In Zeiten, in denen die Lehrerrolle immer wieder schief dargestellt wird, ein sachliches Buch, das die Lehrer aufbauen kann.

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Alfons Simon
Verstehen und Helfen
Schriften der deutschen Gesellschaft für Erziehung 2
Die Aufgaben der Schule
1950
(PDF)

 

Der Münchner Grundschullehrer Alfons Simon zeigt am Beispiel eines aggressiven Schülers, wie soziales Lernen und Wert-Erziehung auf dem Hintergrund der individualpsychologischen Pädagogik nach Alfred Adler im Schulalltag aussehen.

«Es gibt kaum eine reinere Freude, als die, die sich nach einer gut getanen Arbeit einstellt. Man fühlt sich in seinem ganzen Wesen erhoben. Wir haben ein Hindernis überwunden und sind damit ein Stück voran gekommen. Wir erleben unser eigenes Wachstum und das strahlt Kräfte aus, die den ganzen Menschen erfüllen. Dieses Wachstumserlebnis ist es, das Kinder in ihren tiefsten Schichten erfasst: in ihrem Selbstwertgefühl, ihrer Selbstachtung, in ihrem Selbstbewußtsein. Unsere wichtigste Erziehungsaufgabe ist, unseren Schülern diese doppelte, ineinander verschränkte Arbeits- und Wachstumsfreude erleben zu lassen, jedem einzelnen Kind zu helfen, sein Wachstum zu spüren und auf solche Weise seinen eigenen Wert zu entdecken

«Der Lehrer sieht in der Fehlhandlung oder Fehlhaltung des Kindes nicht den Ausfluss seines „bösen oder schuldbar schwachen Willens“ – er erkennt die früheste und tiefste Ursache der Erziehungsschwierigkeit in einer Störung der natürlichen kindlichen Entwicklung. Die jedem gesunden Kinde eingeborenen Kräfte, die zur Anpassung an die vorgefundenen Lebensumstände und zur Einordnung drängen, sind in falsche Bahnen gelenkt, gestört, unterdrückt worden; – er betrachtet es als seine Erzieheraufgabe, dem Kinde die Möglichkeit zu geben, die versäumte Entwicklung nachzuholen; – er weiss, dass das nicht mit Worten, auch nicht mit äusseren Mitteln geschehen kann, dass es dafür nur einen Weg gibt: das Kind andere Erfahrungen machen zu lassen. Das Kind wehrt zunächst ab; es hat sein Vertrauen auch in dieser Hinsicht verloren; – es versucht dann zaghaft; – es erlebt kleine Erfolge und die damit verbundenen Erfolgsfreuden; – es entdeckt in sich Kräfte und Fähigkeiten, es entdeckt sich und seinen Wert. Das Wort des Lehrers begleitet diese Selbstentdeckung; es ordnet, wo das Kind sich noch nicht allein zurechtfindet; – er bestätigt, stützt und bestärkt, wo das Kind noch zweifelt. Dieser Prozess der Zurückgewinnung des Selbstvertrauens braucht vorsichtige, behutsam-zurückhaltende Führung. Der Lehrer muss wissen, dass er es dabei mit dem Verletzbarsten im Menschen, seinem Selbstgefühl, zu tun hat.»

 

 

 


 

 

 

Alfons-Simon+Helga-Kindernöte-Erziehersorgen-Wege-und-Hilfen-Teil-1-Helga-und-ihre-Lehrerin-Teil-2

Alfons Simon
Helga
Kindernöte – Erziehersorgen – Wege und Hilfen

 

In seinem Buch «Helga» beschreibt Alfons Simon die Entwicklung eines Kindes, dem der Lehrer aus seinen Schwierigkeiten heraushilft, indem er sich diesem einen Kind in seiner Klasse besonders zuwendet. Der Einwand wurde laut, dass die anderen Kinder dabei zu kurz kämen. Hier Simons Antwort dazu: «Zugegeben – so haben wir oft sagen gehört – zugegeben, dass Helga und die Lehrerin mit dem Erreichten zufrieden sein können. War aber der Preis dafür nicht zu hoch? Mussten nicht die anderen Kinder in der Klasse dieses schöne Ergebnis damit bezahlen, dass sie zu kurz kamen, vor allem unterrichtlich? Musste die Lehrerin nicht unendlich viel Mühe und auch Zeit für Helga drangeben, die ihr dann für die übrigen Kinder fehlte? […] Die ruhiger werdende Atmosphäre, die wachsende Sympathie zwischen Lehrerin und Kindern, auch die zwischen den Kindern und Helga, das gegenseitige Vertrauen zwischen allen, dies ganze beruhigte ‹vorwiegend heitere› Klima schuf günstigste Voraussetzungen für jederlei Wachstum in allen Kindern, auch für ihr Lernwachstum. […] Das Beste, dass nämlich in solchen Klassen in jedem einzelnen Kinde in der Stille Zutrauen zu sich wächst, lässt sich nicht statistisch nachweisen. Das spiegelt sich in den Gesichtern, in der Haltung wider und in der offenen Zuneigung, die Kinder ihren Lehrern entgegenbringen, und in dem, was sie von ihnen zu Hause erzählen. […]» (Marianne Wüthrich in Zeit-Fragen)

 

 

 


 

 

 

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Michael Felten
Schluss mit dem Bildungsgerede!
Eine Anstiftung zu pädagogischem Eigensinn
2012

 

Eigentlich mag man es kaum noch hören, das permanente Gerede von der Dauerbaustelle Schule. Es sei denn, es käme ein Praktiker, der sich ganz unverschämt als Lehrer (»Schulmeister«) versteht – und einem erklärt, warum man auf hohle Reformfloskeln pfeifen kann. Die leidige Strukturdebatte: eine Sackgasse; die euphorische Propaganda für’s selbständige Lernen: ein Irrweg! Dabei könnte Schule wortwörtlich begeistern – wenn ihre menschliche Dimension in den Mittelpunkt gerät, wenn Bildung zur Beziehungssache wird! Feltens selbstbewusster Bildungsessay beleuchtet das komplexe Wechselspiel zwischen ein-und-dreißig Menschen: hier die Emotionen der Lehrer, da das Empfinden der Schüler. Sein Wissen um das Erfreuliche, Problematische und Mögliche in der Schule eröffnet eigensinnige Ansätze für die Bildungsarbeit.

 

 

 


 

 

 

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Michael Felten
Nur Lernbegleiter? Unsinn, Lehrer!
Lob der Unterrichtslenkung
2016

 

Dieser Band vermittelt forschungsbasiert und praxistauglich ein zeitgemäßes Leitbild der zentralen Haltungen und Aufgaben von Lehrpersonen. Die aktuelle Lern- und Unterrichtsforschung zeigt, dass die modische Vision vom Lernbegleiter zu kurz greift. Die überfällige Qualitätssteigerung von Unterricht, vor allem die gezielte Unterstützung von Schülern und Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten, erfordert vielmehr hochgradig lenkungs- und beziehungsaktive Lehrpersonen. Diese Rolle wird in vier Handlungsfeldern und zahlreichen methodischen Anregungen skizziert – in einem erfrischenden Stil-Mix aus Sachbuch und Essay, Praxistipps und Mitdenk-Aufgaben.

 

 


 

 

 

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Michael Felten
Auf die Lehrer kommt es an!
Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule
2010

 

Die Bildungsdebatte kreist zu sehr um Strukturfragen und Leistungsstandards. Schulerfolg und Chancengerechtigkeit sind aber vor allem eine Frage der Unterrichtsqualität. Angesichts veränderter Kindheiten erweisen sich steuernde Lehrformen der offenen Pädagogik als vielfach überlegen. Gefragt sind heute Führungsfreude, Methodenklarheit und Einfühlsamkeit. Dieses Buch beleuchtet den unterschätzten Kern allen Lernens – das menschliche Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, die pädagogische Beziehung. Es zeigt, warum Führungsfreude, Methodenklarheit und Einfühlsamkeit eine optimistische Perspektive für die Schule eröffnen. Ein ermunternder Streifzug durch Lehreralltag, Schulliteratur und Lernforschung – für angehende, erfahrene oder ausgelaugte Lehrer. Fundiert, knapp, pointiert.

 

 

 


 

 

 

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Rudolf und Renate Hänsel (Hrg.)
Da spiel ich nicht mit!
2008

 

Eminem, Counterstrike und Co. – wirkliche Vorbilder für unsere Kinder? Machen Sie sich Sorgen darüber, dass Kinder durch brutale Video- oder Computerspiele zu gewalttätigen Jugendlichen werden? Stellen Sie an den Kindern und Jugendlichen Vereinsamung, Aufmerksamkeitsstörungen und Sprachprobleme fest? Erschrecken Sie über die gewaltverherrlichenden Inhalte, die täglich im Fernsehen gezeigt werden? Mit viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl informieren Sie Menschen aus der Praxis über die neuesten Erkenntnisse zur Medienpädagogik, geben Ihnen hilfreiche Argumente gegen die „Mediengewalt“ und zeigen Ihnen anschaulich, wie Sie die Kinder und Jugendlichen vom Computer oder Fernseher weglocken können. Stärken Sie Ihre Kinder, damit sie selbstbewusst gegenüber Gleichaltrigen erwidern können: „Da spiel ich nicht mit…“ Ein unverzichtbares Buch für Lehrer/-innen, Erzieher/-innen und Eltern, denn Erfurt ist noch lange nicht vergessen … Die Autoren der vorliegenden Handreichung für Eltern und Lehrer sind Pädagogen, Psychologen, Schüler, Juristen, Kinder- und Jugendpsychiater, Neurobiologen, Medienwissenschaftler und zum größten Teil selbst Eltern oder Lehrer. Der Band stellt eigene Erfahrungen wie auch wissenschaftliche Erkenntnisse der Medienwirkungsforschung anschaulich dar.

 

 

 


 

 

 

Clifford Stoll
LogOut. Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien
Frankfurt/Main, 1999

 

Klappentext: «Müssen Klassenzimmer tatsächlich verkabelt sein, damit unsere Kinder sich in der Welt zurechtfinden? Können Computer gute Lehrer ersetzen? Werden wir bald nur noch mailen, statt von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren? Wie interaktiv ist das Internet wirklich? Mit einer gehörigen Portion Aufsässigkeit geht Clifford Stoll diesen Fragen nach und scheut auch vor provokanten Wahrheiten nicht zurück. Im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung stehen jedoch die wesentlichen Werte und Fähigkeiten, die wir unseren Kindern vermitteln wollen: Inspiration und Konzentration, Disziplin und Verantwortung – Eigenschaften, die sich von keiner CD-ROM lernen lassen.»

 

 


 

 

 

Lankau, Ralf
Kein Mensch lernt digital
Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht

Weinheim 2017

 

«Die IT-Industrie hat die Bildung als Geschäftsfeld seit vielen Jahren auf der Agenda. Wirtschaftsverbände und IT-Vertreter fordern unisono, Digitaltechnik und Programmiersprachen schon in der Grundschule zu unterrichten, damit die Schülerinnen und Schüler für die digitale Zukunft gerüstet seien. Dabei ist der Nutzen digitaler Medien im Unterricht nach wie vor fragwürdig. Ralf Lankau entlarvt in diesem Buch die wirtschaftlichen Interessen der IT-Branche und ihrer Lobbyisten. Dabei geht er sowohl auf die wissenschaftlichen Grundlagen (Kybernetik, Behaviorismus) als auch auf die technischen Rahmenbedingungen von Netzen und Cloud-Computing ein, bevor er konkrete Vorschläge für einen reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit Digitaltechnik im Unterricht skizziert. Die These des Autors lautet: Wir müssen uns auf unsere pädagogische Aufgabe besinnen und (digitale) Medien wieder zu dem machen, was sie im strukturierten Präsenzunterricht sind: didaktische Hilfsmittel.»

 

 

 


 

 

 

 

Judith Barben
Kinder im Netz globaler Konzerne
Der Lehrplan 21 als Manipulationsinstrument
Eikos Verlag 2018

 

Die Schweizer Volksschule ist ein Erfolgsmodell. Schweizer Schüler schneiden in internationalen Vergleichen immer hervorragend ab. Doch die hohe Bildungsqualität wird durch die ständigen «Schulreformen» seit den 1990er Jahren in Frage gestellt. Das Bildungsniveau ist bereits erheblich gesunken. Am meisten betroffen sind schwächere Schüler.

Mit dem umstrittenen «Lehrplan 21» sollen die fehlgeleiteten «Schulreformen» weiter vorangetrieben werden. Ein dramatischer Stoffabbau und die Auflösung aller bisherigen Strukturen wären die Folgen. Weiter ist die flächendeckende Digitalisierung der Schule geplant. Globalen Konzernen winken Milliardengewinne.

Der «Lehrplan 21» erweist sich somit als politisches Steuerungsinstrument im Dienste nicht transparenter Interessen. Tatsache ist: Der «Lehrplan 21» wurde hinter verschlossenen Türen und ohne demokratischen Auftrag erstellt.

Dieses Buch ist ein engagiertes Plädoyer für eine Volksschule, die diesen Namen verdient. Die Schule muss wieder demokratisch abgestützt sein und allen Schülern gleiche Bildungschancen ermöglichen.

 

 

 

 


 

 

 

Peter Hensinger
Trojanisches Pferd «Digitale Bildung»
Auf dem Weg zur Konditionierungsanstalt in einer Schule ohne Lehrer ?

Vortrag vom 21. Juni 2017
bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW

Kreisverband Böblingen

«Wir hatten schon viele Schulreformen, und nun wird von der Kultusministerkonferenz eine weitere angekündigt, die „Digitale Bildung“: Unterricht mit digitalen Medien wie Smartphone und Tablet-PC über WLAN. Medien und Bildungspolitiker predigen Eltern, ihre Kinder seien in Schule und Beruf chancenlos, wenn sie nicht schon in der Grundschule Apps programmieren lernen.

Die Hauptinitiative der Digitalisierung der Bildung kommt von der IT-Branche. Im Zwischenbericht der Platt- form „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ steht, wer das Bundeswissenschaftsministerium berät – nämlich Akteure der IT-Wirtschaft: Vom Bitkom, der Gesellschaft für Informatik (GI) über Microsoft, SAP bis zur Telekom sind alle vertreten (BUNDESMINISTERIUM 2016:23). Nicht vertreten dagegen sind Kinderärzte, Päda- gogen, Lernpsychologen oder Neurowissenschaftler, die sich mit den Folgen der Nutzung von Bildschirm- medien bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Die New York Times schlägt in einer Analyse Alarm: „How Google Took Over the Classroom“ (13.05.2017). Mit ausgeklügelten Methoden, den Hype um digitale Medien nutzend, greift Google nach der Kontrolle des US-Bildungswesens, auch der Kontrolle über die Inhalte.

Wer bei der Analyse und Bewertung dieser Entwicklung nur fragt „Nützen digitale Medien im Unterricht?“, verengt den Blick, reduziert auf Methodik und Didaktik und schließt Gesamtzusammenhänge aus. Denn die digitalen Medien sind mehr als nur Unterrichts-Hilfsmittel. Diesen Tunnelblick weitet die IT-Unternehmerin Yvonne Hofstetter. Sie schreibt in ihrem Buch „Das Ende der Demokratie“: „Mit der Digitalisierung verwandeln wir unser Leben, privat wie beruflich, in einen Riesencomputer. Alles wird gemessen, gespeichert, analysiert und prognostiziert, um es anschließend zu steuern und zu optimieren“(HOFSTETTER 2016:37). Grundlage dafür ist das Data-Mining – das Sammeln von Daten – für BigData Analysen. Die Haupt-Schürfwerkzeuge dazu sind das Smartphone, der TabletPC und das WLAN-Netz.» weiterlesen

 

 

 

 

 

 

 

 


2.  Menschlich und pädagogisch wertvolle Kinder- und Jugendbücher


 

Es werden hier Bücher für Kinder und Jugendliche empfohlen, die zeigen, dass Mitmenschlichkeit in „einer dürftigen Zeit“  möglich ist: Das betrifft unmittelbar das Thema  Naturrecht und Humanismus: Beispiele von geglücktem Leben, von der Überwindung von Niederlagen und Schwächen, die zeigen, dass ein ethisches Leben in der heutigen Welt möglich ist. Beispiele von Nächstenliebe, Gemeinschaftsgefühl und gegenseitiger Hilfe als Urbedürfnis des Menschen. Bücher von einem Leben ohne Rausch, Phantasy, Gewalt und bizarrem Sex. Bilder vom Leben, die zeigen, dass nichts so wertvoll ist für den Menschen als der Mensch. Literatur, die Hoffnung auf Mitmenschlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit legt, statt Angst, Horror und Verzweiflung zu schüren. Und nicht zuletzt Bücher von Liebe und Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau, die zeigen, dass Sexualität und Liebe untrennbar zusammengehören in einer tiefen personalen Begegnungen von ich und Du.

Literatur also, die Kindern und Jugendlichen helfen kann, sich, den Menschen und die Welt besser verstehen zu lernen und daraus mehr Konsequenzen ziehen zu können für ein geglückteres Leben – gelebtes Naturrecht.

«In der heutigen Zeit, in der schon die jüngsten Schüler ein eigenes Smartphone besitzen, mit dem sie sich in ihrer Freizeit eingehend beschäftigen, haben viele keine Vorstellung davon entwickeln können, wie bereichernd und erfüllend das Lesen ist, wieviel Emotionen, Informationen und Freude einem das Lesen bereiten kann, wenn man sich in seiner freien Zeit mit einem Buch auseinandersetzt und unsere Kultur über die Literatur erfahren kann. Wenn ich mal ein lesendes Kind antreffe, so ist es garantiert mit einem Phantasiebuch beschäftigt, wie z.B. ‚Harry Potter‘ oder anderen Phantasiegestalten. In der heutigen Kinder- und Jugendliteratur findet man vor allem Phantasiegeschichten, die von Hexen, Zauberern, Vampiren und Monstern handeln oder von Menschen mit phantastisch überhöhten Fähigkeiten. Die lesenden Kinder werden damit nicht mehr auf das reale Leben vorbereitet, ihr Mitgefühl wird nicht mehr angesprochen, sondern ihnen wird eine Scheinwelt vorgegaukelt, in der Hass, Gewalt und Zauberei das Denken der Kinder vernebeln und sie von der Realität wegführen.» (Daniele Beringer: Bedeutung der Klassenlektüre für die Werteerziehung)

 

 

 

 


 

 

 

Christof Siemes
Das Wunder von Bern

Unvergessen ist die Fußballmannschaft um Trainer Sepp Herberger. Legendär sind Spieler wie Fritz Walter oder Helmut Rahn. Längst ist der Gewinn der WM 1954 ein «deutscher Mythos». «Das Wunder von Bern» erzählt von diesem einzigartigen Sportereignis, von dem Anbruch einer neuen Zeit und über das Ruhrgebiet, wo das Herz des deutschen Fußballs schlägt. Denn auch der elfjährige Matthias aus Essen, der in Helmut Rahn Ersatzvater und Idol gefunden hat, fiebert mit seiner Mannschaft. Sommer 1954, nach zehn Jahren kehrt sein Vater Richard Lubanski aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück – und versteht die Welt nicht mehr. Ein gebrochener Mann. Selbstbewusst hat seine Frau Christa die Familie durchgebracht, seine erwachsenen Kinder führen ihr eigenes Leben. Sein Jüngster Matthias schwärmt nur für Fußballstars – allen voran Helmut Rahn.

 

 

 


 

 

 

Lisa Tetzner

Lisa Tetzner wuchs in Zittau als Tochter eines Arztes auf. Zeitlebens durch Krankheit eingeschränkt und zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen, konnte sie sich gut in Menschen, vor allem auch in Leidende eindenken und -fühlen und half gerne. Nach der Volksschule absolvierte sie die «Höhere Töchterschule» und besuchte anschliessend, gegen den Willen ihres Vaters, von 1913-1916 die «Soziale Frauenschule» in Berlin, die sie als «Staatlich geprüfte Fürsorgerin» abschloss. Das Erlebnis eines dänischen Märchenerzählers 1916 wurde ihr zum Schlüsselerlebnis. Sie nahm ihn sich zum Vorbild, liess sich an der Berliner Universität in Sprecherziehung und Stimmbildung ausbilden und nahm Schauspielunterricht bei Max Reinhardt. Als Mitglied verschiedener Gruppen der Jugendbewegung reiste sie als Märchenerzählerin durch Deutschland umher und beschrieb ihre Erfahrungen anschliessend in den drei Büchern «Vom Märchenerzählen im Volk» (1919), «Auf Spielmannsfahrten und Wandertagen» (1923) und «Im Land der Industrie zwischen Rhein und Rhur» (1923). In den Jahren danach fand sie eine  Anstellung als Sprecherin beim Rundfunk und bei der Schallplattenproduktion, bearbeitete Märchen für ein Kindertheater und ihre Märchensammlungen fanden bei Schriftstellern und Verlegern frohen Anklang. Mitte der Zwanzigerjahre entstanden dann eigene Theaterstücke für Kinder und ihr erstes Kinderbuch «Hans Urian».

1933 floh Lisa Tetzner als Gegnerin der Nationalsozialisten mit ihrem Mann, Kurt Kläber in die Schweiz. Ab 1934 durfte sie als Flüchtling in der Schweiz arbeiten und konnte so auch den Lebensunterhalt des Mannes sichern. Ihr Kinderbuch «Was am See geschah» wurde veröffentlicht, und 1937 erlangte sie eine Stelle als Lektorin für Sprechtechnik am Basler Lehrerseminar, wo sie bis 1955 arbeitete.. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug Lisa Tetzner an Volkshochschulen und in Buchhandlungen in Deutschland Märchen vor und half deutschen Intellektuellen, die auch Opfer der Diktatur geworden waren.

Lisa Tetzner gilt als eine der wichtigsten deutschen Schriftstellerinnen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr erstes Kinderbuch «Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise» ist noch märchenhaft gestaltet. Danach aber treten in ihren Büchern mehr kritische Schilderungen der sozialen und politischen Realität in den Vordergrund. In ihren nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen Büchern thematisiert sie immer auch persönliche Erlebnisse aus der NS-Zeit.

Als Hauptwerk Lisa Tetzners wird oft die neunbändige ‚Odyssee einer Jugend‘ «Die Kinder aus Nr. 67» genannt. Sie schrieb sie zwischen 1933 und 1949. Lisa Tetzner schildert darin die Schicksale der Freunde Erwin und Paul und noch anderer Kinder aus Berliner Mietskasernen während des «Dritten Reiches». Jeder der neun Bände schildert das Schicksal eines der Kinder und dessen Flucht vor den Nationalsozialisten. Jahre später sehen sie sich als junge Menschen in der Schweiz wieder. Ebenso bedeutungsvoll  wie diese Serie ist Lisa Teztners «Die Schwarzen Brüder», das sie zusammen mit ihrem Mann verfasste und von den armen Tessiner Bauern handelt, die ihre Buben nach Mailand verkauft haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lisa Tetzner
Die schwarzen Brüder

Das Buch erzählt die auf Tatsachen beruhende Geschichte des kleinen Giorgio aus Sonogno im Verzascatal im Schweizer Kanton Tessin, der als Kaminfegerjunge nach Mailand verkauft worden ist. Lisa Tetzner hatte in alten Chroniken von dem Schicksal solcher Buben aus dem Verzascatal und anderen Tessiner Tälern gelesen, die als Kaminfegerbuben (ital. Spazzacamini) die wegen ihrer geringen Größe in Mailand zum Reinigen in die Kamine geschickt wurden. Viele kamen bei dieser gefährlichen Arbeit ums Leben. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Schweizer Buben aus wirtschaftlicher Not nach Norditalien verkauft. Der Jugendroman wurde von Lisa Tetzner zwar begonnen, aber von ihrem Mann, Kurt Kläber,  zu Ende geschrieben. Weil er als politischer Flüchtling in der Schweiz nicht publizieren durfte, wurde das Buch unter dem Namen seiner Frau veröffentlicht. Es war damit das erste Jugendbuch Kurt Kläbers, der später unter dem Namen Kurt Held «Die rote Zora und ihre Bande» veröffentlichte.

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Lisa Tetzner
Was am See geschah. Die Geschichte von Rosmarin und Thymian

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Liz Bente L. Daeli
Was heisst hier Feigling?

Für Katrin ist der Mittwoch der schlimmste Tag in der Woche, denn da steht Sport auf dem Stundenplan und sie fürchtet sich so sehr vor dem Bockspringen. Alle nennen sie schon Feigling, ist sie denn wirklich einer? Durch Zufall erfährt sie, daß einer ihrer Schulkameraden das gleiche Problem hat. Jetzt üben sie immer gemeinsam. Und sogar ihre beste Freundin, die sie für so stark gehalten hatte, fürchtet sich vor etwas, nämlich vor der Dunkelheit. Was für eine Erleichterung, daß alles nur halb so schlimm ist, wenn man mit jemandem darüber spricht.

 

 

 

 

 


 

 

 

Peter Härtling
Nachgetragene Liebe

«Es ist weder ein wehleidiges noch ein mitleidiges Porträt, das Vaterbild Härtlings. Es ist ein im Verlauf der Erzählung immer menschlicher und feiner herauskommendes Bild: ein Skizze, die sich mit verschiedenen Strichen nach und nach zu diesem heikel-schönen und ruhigen Bild sammelt, das sich jetzt der Sohn, älter als der Vater, von diesem machen kann.» (Karl Krolow)

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Ausgabe 1998

Harriet Beecher Stowe
Onkel Toms Hütte (engl. Uncle Tom’s Cabin)

Englische Erstausgabe von 1852

Harriet Beecher Stowes Quelle für ihren Roman waren die Memoiren von Pfarrer Josiah Henson, einem früheren US-amerikanischen Sklaven. Henson flüchtete 1830 nach Kanada und lebte dort seit 1841 in Dresden, Ontario. Der 1852 veröffentlichte Roman schildert das Schicksal der afroamerikanischen Sklaven in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den USA. In der Zeitschrift The National Era, einem Organ der Sklavereigegner, erschien der Roman ab dem 5. Juni 1851 unter dem Titel «Uncle Tom’s Cabin; or, Life Among the Lowly», jede Woche eine Fortsetzung bis zum 1. April 1852. Am 20. März 1852 erschien der Roman noch vor den beiden letzten Fortsetzungen als Buch und war innerhalb von 48 Stunden vergriffen. 1852 wurden in den USA 300.000 und in England eine Million Exemplare verkauft. Das Buch wurde ins Deutsche, Niederländische, Fflämische, Französische, Spanische, Italienische und Schwedische übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe ist  von 1852.

 

 

 


 

 

 

Sven Sturm
Ab nach draussen
Verlag Quedens
Amrum 2017

Ab nach draussen! Der Naturfreund Sven Sturm nimmt sie mit seinen wunderbaren Tierfotografien mit in die Natur einer Nordseeinsel.  Seine Landschaftsaufnahmen beeindrucken durch dramatische Lichtstimmungen, wie sie unter anderem bei einem Herbststurm oder einer sternklaren Nacht erscheinen. Mit einfühlsamem Blick fängt er die vielfältigen Perspektiven der heimischen Tierwelt ein. In diesem Buch können die Grosseltern ihren Enkeln schon früh die farbenprächtigen Natur der Nordsee zeigen und ihnen erklären, welcher Vogel das ist, warum es Stürme gibt, wieso die Jahreszeiten wechseln und vieles mehr. Und die Erwachsenen können sich nicht genug sattsehen an den klaren Farben und wunderbaren Formen und Momenten der Schönheit der freien Natur, die uns Menschen doch erhält.

 

 

 

 


 

 

 

Bücher von und über Fritjof Nansen

 

 

 

Nürnberg 1952

Heinz Sponsel
Fridtjof Nansen. Das Gewissen der Welt
Nürnberg 1952

 

Ausgabe 1954

Ausgabe 1960

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Heinz Sponsel
Im ewigen Eis – Nansens Polarfahrt mit der «Fram»
Lux-Lesebogen 149
München : Sebastian Lux, ca. 1953

 

 

 


 

 

 

 

Leipzig und Berlin 1903

Fritjof Nansen
Eskimoleben

 

(Neure Ausgaben in deutscher Sprache gibt es zahlreiche.)

Fridtjof Nansen (1861 -1930) war ein norwegischer Zoologe, Polarforscher, Diplomat und Friedensnobelpreisträger. Er durchquerte 1888 als Erster Grönland über das Inlandeis. 1888 führte Nansen eine Expedition an, die feststellen sollte, ob das grönländische Inland von Eis bedeckt ist. Bei der Durchquerung der Insel von der Ost- zur Westküste kam es zu einer Verzögerung und die Gruppe verpasste das Schiff zurück nach Norwegen. Während des fast einjährigen Aufenthaltes lernte er die Grönländer näher kennen und hielt seine Eindrücke in seinem Buch Eskimoleben fest.

Orell Füssli 2013

Fachbuchverlag-Dresden 2015

Aus einem Kommentar: «Fridtjof Nansens Eskimoleben ist eine Empfehlung für all jene, die gerne etwas über die Situation und Lebenswelt der Grönländer am Ende des 19. Jahrhunderts lesen möchten. Besonders gefallen hat mir der erfrischende Stil Nansens, der geradezu vor Emotionalität strotzt. So merkt man ihm seine Begeisterung für die grönländische Kultur ebenso an, wie die Empörung über den fortschreitenden Niedergang dieser Gesellschaft. Es entsteht der Eindruck, an den Schultern gepackt und geschüttelt zu werden. Am Ende übt er Kritik an den europäischen Bemühungen mehrerer Jahrhunderte, sogenannten „primitiven“ Völkern zu „helfen“, indem ihnen europäische Werte und Technologien zugänglich gemacht oder gar aufgezwungen werden, ohne Verständnis für die existierenden Strukturen zu zeigen. Am Beispiel der Grönländer, deren Kultur Nansen im späten 19. Jahrhundert fortschreitenden Verfall attestierte, appelliert er an die Gesellschaften der „zivilisierten“ Welt, besonnener im Umgang mit anderen Kulturen zu sein.»

 

 

 

 


 

 

Thienemann Verlag 2009

Fridtjof Nansen
In Nacht und Eis
Die norwegische Polarexpedition 1893-1896

Salzwasser-Verlag 2010

Wiesbaden, Brockhaus 1952

Braunschweig und Hamburg, Westermann 1922

Leipzig, Brockhaus 1898

Man erklärt ihn zunächst zum Phantasten, als der damals einundreissigjährige Nansen 1892 der Geographischen Gesellschaft in London den Plan vorlegt, von der ostsibirischen Küste aus in einem Schiff so weit wie möglich ins Polarmeer vordringen zu wollen, um sich dann im Eis einfrieren zu lassen. Strömungen, die er im unbekannte Eismeer vermutet, sollten dann das eingeschlossene Schiff weitertreiben. Er hofft dabei über den Pol getrieben zu werden und will westlich von Spitzbergen wieder offenes Wasser erreichen. Ein Jahr später, 1893 bricht Nansens mit seinem extra für Fahrten im Eis konstruierten Schiff Fram auf. Die Drift des eingeschlossenen Schiffs verläuft allerdings nicht, wie geplant. Als abzusehen ist, dass sie zu weit südlich am Pol vorbeitreiben würden, verlässt Nansen im März 1895 mit einem Begleiter das Schiff und tritt den Marsch zum Nordpol an.

 

 

Noch bedeutender allerdings sind Nansens Verdienste als Politiker und einer der grossen Humanisten des 20. Jahrhunderts. Massgeblich an der Gründung des Völkerbundes beteiligt ist er später dessen Hochkommissar für Flüchtlingsfragen. Von 1920 bis 1930 leitet er die norwegische Delegation im Völkerbund. Er organisierte die Rückführung von etwa 500.000 Kriegsgefangenen des Weltkrieges in ihre Heimatländer. Für die zahllosen staatenlosen Flüchtlinge schuf er den Nansenpass. Er organisierte gegen internationalen Widerstand grosse Hilfsaktionen um die Hungersnot in Sowjetrussland mildern zu helfen. Für dieses beispiellose Wirken im Dienst von Mitmenschlichkeit und Völkerverständigung wurde er 1922 mit dem Friedensnobelpreises geehrt.

 

Fridtjof Nansens Rede vor dem Völkerbund zur Hungerhilfe für das russische Volk

 

 

 

 


 

 

 

Paul Honegger
Meine Reise durch die Schweiz
Verlag Hier und Jetzt, Baden 2013

1896 erschien der heute selten gewordene grosse querformatige Bildband «Meine Reise durch die Schweiz» erstmals in je einer Ausgabe auf Deutsch und Französisch. Es ist ein eindrückliches Dokument von historischen Aufnahmen aus der Schweiz um 1900 herum. Paul Honegger hat die Reise aus den 1890er Jahren im 21. Jahrhundert noch einmal gemacht und die Motive der damaligen Ausgabe  mit «parallelen» Aufnahme im heutigen Zustand dokumentiert. Entstanden ist eine wunderbare Bildreise durch die Schweiz, wobei die jeweiligen Stationen im Zustand um 1900 und um 2000 nebeneinander angeordnet sind.

 

 

 


 

 

 

Ausgabe Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main 1957

Gontran de Poncins
Kabluna
Büchergilde Gutenberg 1943, 1957

 

Ausgabe Büchergilde Gutenberg, Zürich 1943

Gontran de Poncins (1900 – 1962)

«Kabluna» ist das Wort der Eskimos der Arktis für die «zivilisierten» Weissen. Der französische Völkerkundler Gontran de Poncins, ein Nachfahre von Michel de Montaigne, der eigentlich Jean-Pierre Gontran de Montaigne, vicomte de Poncins, hiess, schrieb den wunderbaren Reisebericht «Kabluna» 1938 auf. Er hatte zwei Jahre lang unter Eskimos gelebt. Wie einer der ihren.

«Kambluna» erzählt davon, wie es dem Franzosen gelingt, «in wenigen Monaten die zivilisatorischen Gewohnheiten von Jahrtausenden abzustreifen und mit den Polareingeborenen zu leben, bei einer normalen Temperatur von von vierzig Grad Kälte und einer Ernährung von Schneewasser, rohem vereisten Fischen und Robbenfleisch. Das Buch ist der packende Bericht einer Reise in die Eiszeit, die Geschichte des Zusammenstosses zweier Denkweisen. Gontran de Poncins verliert sich nicht in Vermutungen und Reflexionen: er stellt Tatsachen dar, zeichnet Erlebtes gewissenhaft auf und berichtet Beobachtungen und Erfahrungen aus dem Leben dieser Menschen».

Das Schwierigste, berichtet Gontran de Poncins, seien nicht die Entbehrungen bei vierzig Grad minus gewesen, sondern «die Denkweise der Eskimos. Man konnte mit ihnen nicht zurechtkommen, ausser man suchte sich mit ihnen in ihrer eigenen Ausdrucksweise zu verständigen; und ich war nicht ein Tourist, für den das nebensächliche Dinge sind, sondern ich war auf die Hilfe der Eskimos angewiesen. Ich musste mit ihnen auskommen.» (S. 10)

Englischsprachige Ausgaben 1941, 1942, 1965, 1971, 1980, 2005 (Audiobook CD)

Was könnte heute sein, denkt man unwillkürlich bei dieser Haltung des französischen Völkerkundlers Gontran de Poncins, die seinen Reisebericht wie ein roter Faden durchzieht, hätten wir Europäer diese mitmenschliche Grundhaltung leben können, während wir jahrhundertlang andere Kontinente, Kulturen und Völker «entdeckten», «christianisierten» und «zivilisierten»! Die  bewundernswerte Haltung dieses Völkerkundlers aus dem Jahr 1938 gilt doch eigentlich für die Begegnung mit einem jeden Menschen! Man kann doch mit jedem Menschen, mit jedem Volk und mit jeder Kultur, «nicht zurechtkommen, ausser man suchte sich mit ihnen in ihrer eigenen Ausdrucksweise zu verständigen»! Die Extrembedingungen der unwirtlichen Eiswüste in der Arktis üben einen besonders hohen Druck auf die Menschen aus, die in ihr (über)leben wollen. So dass, möchte man meinen, Gontran de Poncins nicht viel mehr übrig blieb als die Einsicht: «ich war auf die Hilfe der Eskimos angewiesen. Ich musste mit ihnen auskommen.» Doch es war nicht der äussere Druck der  unwirtlichen Eiswüste, der den französischen Völkerkundler zu dieser gleichwertigen friedlichen Haltung gegenüber einer fremden Kultur zwang. Gontran de Poncins beschreibt, dass das Entscheidende seine innere Haltung war. Für die Priester, Trapper und Jäger nämlich, die damals unter den gleichen klimatischen Extrembedingungen wie der Völkerkundler überleben müssen, sind  die Eskimos «ausnahmslos alle „nichts wert“». Diese sich zivilisiert nennenden Weissen «leben das Leben der Eskimos, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie reisen auf Schlitten, holen Fische unter dem Eis hervor, tragen Pelze und bauen, allerdings selten, Schneehäuser (Iglus). Aber in die geistige Eskimowelt dringen sie nie und nimmer ein.» Zwischen ihnen und dem Franzosen besteht «der wesentliche Unterschied, dass ich hierher gekommen war, um in eine Welt einzudringen, die ihnen gleichgültig war.» (S. 21f.) Damit ist dieses Buch viel mehr als der wirklich packend geschriebene Reisebericht eines Franzosen aus den Dreissigerjahren. Es enthält eine Fülle von Schilderungen, die das Buch gleichzeitig auch zu einem lebendigen Lehrbuch für die Verständigung der Kulturen werden lässt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ein kleines Friedenslicht in schwerer Zeit. Und eine Hommage an das Toleranzdenken seines berühmten Urahnen Michel de Montaigne (1533-1592), der sagte, dass die Introspektion den Menschen über die Entdeckung des eigenen Wesens auch das der anderen Menschen verstehen lasse.

Die englische Ausgabe «Kabloona» rangiert Ende 2020 auf Platz 84 der «100 Greatest Adventure Books of All Time», wie «National Geographic» schreibt.  Neuauflagen in deutscher Sprache wären lohnenswert.

 

 

 


 

 

 

Karl May

 

 

1971

Hansotto Hatzig
Bertha von Suttner und Karl May

In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1971

 

Hinter dem gängigen Bild vom Abenteuerschriftsteller kommt in diesem Aufsatz von Hans-Otto Hitzig ein heute unbekannter Karl May ( 1842 – 1912) zum Vorschein. Von 1905 bis zu seinem Tode 1912 war er geistiger Mitstreiter von Berta von Suttner (1843 – 1914 ) für den Frieden.

Nachdem er ihren Vortrag in Dresden besucht hatte, schrieb er 1905 an Berta von Suttner: «Hochgeehrte Frau Baronin! Am Sonntag Abend war ich einer Ihrer Hörer. Die ersten beiden Billets, welche erworben wurden, holte sich meine Frau, eine Ihrer aufrichtigsten Verehrerinnen.»  den Brief weiterlesen

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Berta von Suttner. Die Waffen nieder

 

Karl Mays Frau Klara vermerkt am 12. Februar 1913 in ihrem Tagebuch «Bertha von Suttner hier. Schöne Stunden. Sie spricht in höchster Verehrung von Karl Mays Wirken».

Liebevoll beschreibt Hansotto Hatzig in seinem Aufsatz im Karl May Jahrbuch 1971 die heute weitgehend unbekannte Beziehung zwischen Karl May und Berta von Suttner. «Niemand hat für Karl May einen schöneren Nachruf geschrieben als Bertha von Suttner in dem Wiener Blatt ‚Die Zeit‘ vom 5. 4. 1912, in dem sie sagte, daß jeder, der Karl May im Sophiensaal [22. März 1912] sprechen gehört hat, das Gefühl gehabt haben müsse: ‚In dieser Seele lodert das Feuer der Güte.’» Über den Tod ihres Mannes hinweg blieb Mays Frau mit Berta von Suttner verbunden. Carl Zuckmayer taufte übrigens aus Liebe zu Karl Mays humanem Friedensengagement seine Tochter auf den Namen Winnetou.

Es gilt diesen unbekannten Karl May für die Jugend (wieder) zu entdecken. Man lese nur zum Beispiel Mays bewegendes Vorwort zu Winnetou I, womit er mit seinem «roten Bruder» – der untergehenden Nation der Indianer – ein Denkmal setzt: Winnetou, der «Wilde», der die humane Friedensbotschaft von Christus verwirklicht, weil er Mensch ist – ja, oft besser verwirklichen als die sich Christen nennenden «zivilisierten» Eroberer, die sein Land rauben, die rote Nation verjagen und abschlachten. Ein neuer Zugang zu dem zu unrecht vergessenen Karl May. «Ich habe Karl May in einer Zeit gelesen,» schreibt Günter de Bruyn, «in der Krieg und Militär die Ideale des deutschen Jungen zu sein hatten, und ich habe ihn immer als einen Gegner dieser Ideale empfunden. Seine Bücher vermitteln ein bestimmtes Gefühl von Freiheit, weil es immer Einzelne sind, die alle entscheidenden Dinge tun.»

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Titelbild von Sascha Schneider (1904) von Winnetou I – Kain und Abel als Symbol für den Völkermord des Weissen an seinem roten Bruder

Der ‚Jugendschriftsteller‘ Karl May war ein politischer Mensch, der die Geschichte der Eroberung Amerikas durch die Europäer, aber auch anderes koloniales Unrecht sehr gut kannte. Das Vorwort von Winnetou 1 offenbart, welch humane und naturrechtliche Gesinnung dieser Roman ausstrahlt und welches Ethos die Freundschaft von Old Shatterhand und Winnetou versinnbildlicht: Karl May verurteilt den Völkermord an den Indianern scharf. Mitten im Zeitalter des schlimmsten Kolonialismus. In seinen Indianer-Büchern weckt er durch seine lebendig und spannend geschriebenen Abenteuer-Schilderungen hindurch – vor allem auch bei jungen Lesern – ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl und die Abscheu vor Rache, Mordlust und Gier, begangen von «Christen» an «Heiden». Das macht  Karl May zu den grossen Schriftstellern einer humanen Volksbildung. Und neben den packenden Abenteuerbeschreibungen war das der Grund, warum früheren Generationen die «grünen Bände» so heiss geliebt haben. Im Vorwort Winnetou, Band 1 umreisst Karl May seine naturrechtliche Auffassung: «Wenn es richtig ist, daß alles, was lebt, zum Leben berechtigt ist …, besitzt der Rote das Recht zu existieren nicht weniger als der Weiße».

Winnetou 1

 

«Ja, die rote Nation liegt im Sterben! Vom Feuerlande bis weit über die nordamerikanischen Seen hinauf liegt der riesige Patient ausgestreckt, niedergeworfen von einem unerbittlichen Schicksale, welches kein Erbarmen kennt. Er hat sich mit allen Kräften gegen dasselbe gesträubt, doch vergeblich; seine Kräfte sind mehr und mehr geschwunden; er hat nur noch wenige Atemzüge zu thun, und die Zuckungen, die von Zeit zu Zeit seinen nackten Körper bewegen, sind die Konvulsionen, welche die Nähe des Todes verkündigen. Ist er schuld an diesem seinen frühen Ende? Hat er es verdient? Wenn es richtig ist, daß alles, was lebt, zum Leben berechtigt ist, und dies sich ebenso auf die Gesamtheit wie auf das Einzelwesen bezieht, so besitzt der Rote das Recht zu existieren nicht weniger als der Weiße und darf wohl Anspruch erheben auf die Befugnis, sich in sozialer, in staatlicher Beziehung nach seiner Individualität zu entwickeln. Da behauptet man nun freilich, der Indianer besitze nicht die notwendigen staatenbildenden Eigenschaften. Ist das wahr? Ich sage: nein! … Es war nicht nur eine gastliche Aufnahme, sondern eine beinahe göttliche Verehrung, welche die ersten ‚Bleichgesichter‘ bei den Indsmen fanden. Welcher Lohn ist den letzteren dafür geworden? Ganz unstreitig gehörte diesen das Land, welches sie bewohnten; es wurde ihnen genommen. Welche Ströme Blutes dabei geflossen und welche Grausamkeiten vorgekommen sind, das weiß ein jeder, der die Geschichte der ‚berühmten‘ Conquistadores gelesen hat. Nach dem Vorbilde derselben ist dann später weiter verfahren worden. Der Weiße kam mit süßen Worten auf den Lippen, aber zugleich mit dem geschärften Messer im Gürtel und dem geladenen Gewehre in der Hand. Er versprach Liebe und Frieden und gab Haß und
Blut. … Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver und Blei, und er mußte den überlegenen Waffen der Weißen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren dann stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden. Dadurch ist er, ursprünglich ein stolzer, kühner, tapferer, wahrheitsliebender, aufrichtiger und seinen Freunden stets treuer Jägersmann, ein heimlich schleichender, misstrauischer, lügnerischer Mensch geworden, ohne daß er dafür kann, denn nicht er, sondern der Weiße ist schuld daran. … Was hätte diese Rasse leisten können, wenn man ihr Zeit und Raum gegönnt hätte, ihre inneren und äußeren Kräfte und Begabungen zu entwickeln? Welche eigenartige Kulturformen werden der Menschheit durch den Untergang dieser Nation verloren gehen? … Er [Winnetou], der beste, treueste und opferwilligste aller meiner Freunde, war ein echter Typus der Rasse, welcher er entstammte, und ganz so, wie sie untergeht, ist auch er untergegangen, ausgelöscht aus dem Leben durch die mörderische Kugel eines Weißen. Ich habe ihn geliebt wie keinen zweiten Menschen und liebe noch heut die hinsterbende Nation, deren edelster Sohn er gewesen ist. Ich hätte mein Leben dahingegeben, um ihm das seinige zu erhalten, so wie er dieses hundertmal für mich wagte. Dies war mir nicht vergönnt; er ist dahingegangen, indem er, wie immer, ein Retter seiner Freunde war; aber er soll nur körperlich gestorben sein und hier in diesen Blättern fortleben, wie er in meiner Seele lebt, er, Winnetou, der große Häuptling der Apachen. Ihm will ich hier das wohlverdiente Denkmal setzen, und wenn der Leser, welcher es mit seinem geistigen Auge schaut, dann ein gerechtes Urteil fällt über das Volk, dessen treues Einzelbild der Häuptling war, so bin ich reich belohnt

Vollständiger Text der Einleitung zu «Winnetou, der rote Gentleman, 1. Band  (1893 – 1905) von Carl May»

 

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Moritz Nestor. Kain, wo ist dein Bruder Abel? [10. April 2018]

Moritz Nestor. Cain, where is your brother Abel? [18. April 2018]

Moritz Nestor. Caïn, où est ton frère Abel?  [18. April 2018]

Moritz Nestor. «Alte» Literatur er(neu)t gelesen – Karl May [8. August 2018]

Moritz Nestor. Karl May [2018]

 

***

 

 

«Der rote Mann kämpft den Verzweiflungskampf;
er muss unterliegen; aber ein jeder Schädel
eines Indianers, welcher später aus der Erde
geackert wird, wird denselben stummen Schrei
zum Himmel stoßen, 
von dem
das vierte Kapitel der Genesis erzählt.»

Aus: Der Sohn des Bärenjägers, Stuttgart 1890, S. 78

 

 

 

 

 

«Auch der Indianer ist Mensch
und steht im Besitze seiner Menschenrechte;
es ist eine schwere Sünde, ihm das Recht,
zu existieren, abzusprechen
und die Mittel der Existenz
nach und nach zu entziehen.»

Aus: Karl May. Ein Ölbrand. In: Das Neue Universum, Stuttgart 1882, S. 3

 

 

 

 

 

«Ein jedes Volk hat das Recht, sich selbst zu regieren.»

Aus: Karl May. Waldröslein 1884, S. 1670

 

 

 

 

 

«Ihr habt Kriegswissenschaften,
theoretische und praktische.
Und ihr habt Friedenswissenschaften,
theoretische, aber keine praktischen.
Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann;
wie man den Frieden führt,
das weiß kein Mensch.
Ihr habt stehende Heere für den Krieg,
die jährlich viele Millionen kosten.
Wo habt ihr eure stehenden Heere
für den Frieden,
die keinen einzigen Para kosten,
sondern Millionen einbringen würden?
Wo sind eure Friedensfestungen,
eure Friedensmarschälle,
eure Friedensstrategen,
eure Friedensoffiziere?»

Aus: Karl May. Ardistan und Dschinnistan 1, 17

 

 

 

 

 

 

Ich «spreche zu Ihnen nur als Schriftsteller,
als unfanatischer Laie,
der nichts und nichts erstrebt
als nur das eine, große, irdische Ziel:
Und Friede auf Erden!»

Aus: Karl Mays Vortrag am 22. März 1912 im Wiener Sophiensaal

 

 

 

 

 

 

«Wehe und tausendmal wehe dem Volke,
welches das Blut und das Leben
von Hunderttausenden vergießt,
um anderthalb Schock Ritter des eisernen Kreuzes
dekorieren zu können!
Wir brauchen Männer des Geistes,
Männer des Wissens und der Kunst.
Die wachsen
aber nicht bei Wagram oder Waterloo!»

Aus: Karl May. Brief an den Maler und Freund Sascha Schneider (1906)

 

 

 

 

 


 

 

 

Karl May
Der Ölprinz

 

Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker erfahren, dass eine Gruppe deutscher Auswanderer von einer Bande beraubt werden soll. Sie nehmen die Bande gefangen und führen die Auswanderer weiter. Der Verräter Toller, der Führer des Trecks, befreit aber heimlich den Anführer der Gefangenen. Die Beiden tun sich mit einem weiteren Schurken namens Grinley, den Halbbruder Buttlers, zusammen. Sie wollen dem Bankier Rollins eine nicht existierende Ölquelle andrehen und ihm sein Geld abnehmen. «Hobble-Frank» und «Tante Droll» wollen das verhindern. Sie gehen aber den drei Schurken in eine Falle und werden gefangen genommen. Als der Bankier und sein Buchhalter von den Schurken zu der angeblichen Ölquelle geführt werden, geraten sie in einen kriegerischen Konflikt zwischen zwei Indianerstämmen: der Nijoras und Navajos. Winnetou und Old Shatterhand befreien die Gefangenen, retten den Bankier vor den Schurken, und es gelingt ihnen schliesslich die verfeindeten Indianerstämme wieder zu versöhnen. Hier kommt zum Ausdruck, wie sehr der Ölprinz viel mehr ist als ein guter Abenteuerroman. Vielmehr veranschaulicht der Roman durch die spannende Handlung hindurch auch die antikoloniale Haltung Karl Mays, der die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner durch die Weissen zutiefst verabscheut.

Der eindrückliche Friedensschluss beginnt mit der Rede von Old Shatterhand, in der er den Ablauf des Völkermordes beschreibt:

«Meine Brüder wissen, dass ich ein Freund der roten Männer bin. Dem Indsman gehörte das ganze Land von einem Meere bis zum andern; da kam der Weisse und nahm ihm alles und gab ihm dafür seine Krankheiten. Der Indianer ist ein armer, kranker Mann geworden, welcher sehr bald sterben wird. Der Weisse ist sein Feind und hat ihn am meisten dadurch besiegt, dass er Unfrieden unter die roten Völker warf und einen Stamm gegen den andern aufhetzte. Die roten Männer waren so unklug, dies geschehen zu lassen, und sind selbst bis auf den heutigen Tag nicht klüger geworden. Sie reiben sich untereinander auf und könnten doch heut noch Grosses erreichen, wenn sie den gegenseitigen Hass fallen liessen und unter sich das wären, was sie sein sollen und wozu sie geboren sind, nämlich Brüder. Habe ich recht?»

Hier den ganzen Friedensschluss lesen

 

 


 

 

 

Karl May
Old Surehand I

 

Auch dieser Band ist mehr als ein sehr spannend geschriebener Abenteuerroman. Er enthält zum Beispiel einen längeren Dialog zwischen Old Shatterhand und einem auf Rache sinnenden indianischen Heisssporn namens Schiba-Bigk. Darin kommen Karl Mays Ablehnung der primitiven Rache und seine Friedensethik gut zum Ausdruck.

Der junge Häuptling Schiba-Bigk war einst mit Old Shatterhand befreundet. Er hat sich nun gegen Old Shatterhand gewendet, beleidigt ihn und will ihn töten. Old Shatterhand reagiert:

„Uff, uff! Ist das die Rede eines jungen Mannes, mit dem ich einst die Pfeife des Friedens rauchte?“
„Es ist die Rede eines jungen Mannes, aus dem ein grosser und berühmter Krieger geworden ist. Das Kalumet gilt nicht mehr, denn Du bist nicht mehr mein Freund, sondern mein Feind, den ich töten muss. Du hast unseren Gefangenen befreit.“
„War er der deinige? Ich befreite ihn aus den Händen der Naiini-Kommantschen; du aber gehörst zu einem anderen Stamm.“
„Die Naiini sind meine Brüder, ihr Feind ist auch meine Feind. …“

Nach einem folgenden Handgemenge überwältigen Old Shatterhand und die Seinigen den jungen Häuptling Schiba-Bigk und dessen Krieger. Old Shatterhand tritt nun zu dem Gefesselten hin.

Es galt, dem Seelenleben eines jungen, hoffnungsvollen Indianers eine Richtung zu geben, die es ihm ermöglichte, … etwas Besseres als ein roher, blutdürstiger Kriegshäuptling zu werden.

Old Shatterhand: “Der Vater meines jungen Freundes hat Tevua-Schohe geheissen, das ist Feuerstern; ich bin sein Freund und Bruder gewesen, und er war der einzige Krieger der Komantschen, den ich liebte.“

Jetzt öffnete er die Lider halb und warf einen forschenden Blick in mein Gesicht, sagte aber immer noch nichts.

„Feuerstern starb unter den Händen weisser Mörder, und mein Herz wurde krank, als ich es hörte. Wir haben ihn an den Mördern gerächt, und die Liebe, die ich für ihn hegte, ist auf seinen Sohn übergegangen.“

Er schlug die Augen auf, drehte den Kopf herum und richtete den Blick voll auf mich, verharrte aber auch jetzt noch in seinem Schweigen. Ich sprach weiter: „Old Shatterhand hatte einen Namen, der an allen Lagerfeuern ertönte, und Schiba-bigk war ein Knabe, den niemand kannte. Dennoch nahm er sich seiner an, denn er wünschte, der junge Sohn der Komantschen möchte ein Mann werden, wie sein Vater war, mild und treu im Herzen, hell und klar im Kopf und stark in der Faust. Ich geleitete dich damals durch den öden Llano estacado; ich half dir gegen deine Feinde … und war dein Lehrer in allen Dingen … Wenn ich zu dir sprach, so erschien dir meine Stimme wie die Stimme des toten Vaters, und wenn ich deine Hand in die meinige nahm, so glänzte Wonne auf deinem Gesicht, als ob meine Hand die deiner Mutter sei. Damals hattest du mich lieb.“

„Uff, uff!“ sagte er jetzt leise, und seine Augen schimmerten feucht.

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An einer anderen Stelle sagt der 90jährige Indianerhasser Old Wabble: «Die Kerle sollen nur kommen! Wir schiessen sie alle über den Haufen.» Winnetous ist die Figur Karl Mays, die als «Heide» christlicher lebt als die «Christen», die sein Land blutig erobern

Lesen Sie die die Antwort Winnetous

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


 

 

Laubi SchweitzerWerner Laubi.
Albert Schweitzer, der Urwalddoktor
1984

 

«Albert Schweitzers Lebensgeschichte wird jugendgerecht in einer einfachen, einprägsamen, gut lesbaren Sprache dargestellt. Die charakterbildenden Erlebnisse und Ereignisse, die aus dem kleinen Albert das formten, was er im Erwachsenenalter dann war, sind in diesem Buch so nachvollziehbar und eingängig beschrieben, dass jeder Schüler etwas damit anfangen kann. Kenner Albert Schweitzers wissen, dass ihn das Problem des Krieges sehr beschäftigte. Er wollte nicht einfach hinnehmen, dass die Menschen sich gegenseitig vernichten. Seine christliche Ethik, seine tiefe Liebe für die Menschen, die Tiere und die Natur liessen dies nicht zu. Und so sann er nach einem Satz, der, wenn die Menschen ihn hören und darüber nachdenken würden, Leid und Krieg auf der Welt verringern könnte. Eines Tages fand er den Satz: «Ehrfurcht vor dem Leben». Mit jeder Klasse gab es viel darüber zu diskutieren. Ich liess anschliessend an diese Gespräche die Schüler jeweils einen Aufsatz zum Thema «Ehrfurcht vor dem Leben» schreiben, was ein anspruchsvolles Thema nicht nur für Fünft- und Sechstklässler ist. Die Schüler bemühten sich redlich um dieses Thema. Mit jeder Klasse, mit der ich Albert Schweitzers Lebensgeschichte las, konnte ich beim Lesen dieses Buches viele berührende Erlebnisse machen. Ein letztes möchte ich noch anfügen. Nach Beendigung des Buches erzähle ich den Schülern jeweils noch, was nicht im Buch steht. Bei Ausbruch der Kuba-Krise 1962 schrieb Albert Schweitzer sowohl an Nikita Chruschtschow (damaliger Staats- und Parteichef der Sowjetunion) als auch an John F. Kennedy (damaliger Präsident der USA) einen Brief, in dem er eindringlich vor dem Ausbruch eines atomaren Krieges warnte. Ich las Abschnitte dieser Briefe den Schülern vor, und sie waren immer tief beeindruckt von dem Gehörten.» Aus dem Artikel von Daniele Beringer: Bedeutung der Klassenlektüre für die Werteerziehung.D

 

 


 

 

 

Gerda von Kries
Ich warte auf Waldemar.
Stuttgart, D. Gundert Verlag 1955

Die Geschichte von einem Versprechen, einer Enttäuschung und einer großen Freude. Erste Ausgabe dieser Kindergeschichte aus Westpreußen. Gerda von Kries (1901-1972) wählte mehrfach ihre Heimat Westpreußen als Schauplatz ihrer Schriften.

In «Aus unserer Bücherkiste» in «Die Kogge. Jugend- und Kinderbeilage der Ostpreussen-Warte, Nummer 10, Oktober 1958» findet sich folgende Buchempfehlung:
„Was Gerda von Kries in ihrem Buch erzählt. ist, wie sie selbst in ihrem kurzen Vorwort sagt, «eine alte Geschichte. Bald sind es hundert Jahre her, dass sie geschehen ist. Mein Vater hat sie als kleiner Junge erlebt. Er hat sie uns hin und wieder erzählt, wenn wir auf einsamen Schwarzwaldwegen miteinander wanderten, und sie hat mir so gut gefallen, dass ich sie gern aufschreiben möchte.» Und die Verfasserin sagt weiter: «Mein Vater war damals sieben oder achte Jahre alt. Er hiess Johannes, wurde aber Hänschen oder auch Hans-chen genannt. Seine Heimat war Westpreussen. Sein Vater, mein Grossvater, war Landwirt und bewirtschaftete ein grosses Gut. Das hiess Roggenhausen. Es war schön gelegen wischen Wiesen, Fehlern und Wäldern. Zwei Flüsschen trafen dort zusammen, die Issa und die Gardenga. Beide flossen durch waldige Täler, und auf der Höhe über der Schlucht lag das Gutshaus. Es war erbaut auf den Resten eines alten Schlosses, hatte dicke Mauern und tiefe Fensternischen. Rings um den Garten führte die alte Schlossmauer, und der mächtige Turm stammte noch aus der Zeit der Ordensritter.» Dies also ist der Hintergrund dieser schönen Kindergeschichte vom kleinen Hans-chen. Sie sei allen kleinen Leseratten von acht Jahren an empfohlen. Ein schönes Geschenkbüchlein für Weihnachten!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gerda von Kries (1901–1972), geboren in Freiburg/Br., studierte nach dem Abitur 1920 Evangelische Theologie. Nebenher absolvierte sie die Ausbildung in Säuglingspflege an einer evangelischen Frauenschule. Danach arbeitete sie als Pfarrgehilfin in Frankfurt/Main. Später war sie in Ostafrika in der Mission tätig, musste aber, an einer Tropenkrankheit erkrankt, nach Deutschland zurückkehren und war als Mitarbeiterin der Inneren Mission tätig. 1944 heiratete sie den Witwer einer verstorbenen Kusine und sorgte für dessen Kinder. Die Familie zog nach Westpreußen, musste aber bald wieder in den den Westen fliehen. Nach Kriegsende bewirtschaftete Sie mit ihrem Mann einen Bauernhof in Deiderode bei Göttingen. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1950 kehrte sie mit ihren Stiefkindern nach Freiburg/Br. zurück. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren entstand dort der grösste Teil ihres schriftstellerischen Werkes, das aus 51 Kinderbüchern sowie Romanen und Erzählungen für Erwachsene besteht.

 

 

 


 

 

 

Gerda von Kries (1901–1972)

Gerda von Kries
Verena Enderlin
Heilbronn 1949
Neudruck München 1996

«Das Romangeschehen rankt sich um das Schicksal der Hotzenwälderin  Verena Enderlin, die 1767 mit ihrer Familie aus dem Südschwarzwald ins Banat auswandert. Sie sieht für ihre Familie und für sich keinen anderen Ausweg aus der tiefen Armut und Not, die in ihrer sonst so wunderschönen Heimat herrschen. Mit ihrem Mann, dem „Hotzenbauern“ Josef Enderlin, und ihren vier Kindern sucht sie ihr Lebensglück im fernen Banat, in das so viele ihrer Landsleute Mitte des 18. Jh. ihre Hoffnung setzten.  […] Angenommen werden darf, dass ihr eigenes Schicksal als Kriegsflüchtling aus dem Osten einerseits sowie die Geschichte der Hotzenwälder bzw. Hauensteiner andererseits, welche Ausläufer in ihre Geburtsstadt Freiburg und bis ins Banat hatte, den Anstoß zum Roman „Verena Enderlin“ gegeben hat. Die Autorin hat sich jedenfalls mit der  Auswanderungsgeschichte  bzw. Verbannung der Hauensteiner ins Banat um die Mitte des 18. Jahrhunderts intensiv beschäftigt und den betroffenen Menschen aus dem Südschwarzwald mit ihrem Prosawerk „Verena Enderlin. Wanderschaft und Heimkehr einer Hotzenwälderin“ (Heilbronn 1949) ein literarisches Denkmal gesetzt.» [Aus: Walter Engel. Auf der Donau ins „wilde“ Banat (15). URL: https://adz.ro/banater-zeitung/artikel-banater-zeitung/artikel/auf-der-donau-ins-wilde-banat-15-1]

 

Der geschichtliche Hintergrund des Romans  um die Hotzenwälderin Verena Enderlin ist das Schicksal der freien Bauern aus dem «Hauensteiner Ländle»

«Des Schwarzwalds Freiheiten, Rechtungen und Gewohnheiten»

In der ehemaligen habsburgischen Grafschaft Hauenstein im Hotzenwald, im Südschwarzwald entstanden im Spätmittelalter genossenschaftlich organsierte bäuerliche Verbände, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation keine Seltenheit. Die in der Grafschaft Hauenstein entstandenen «Freiheiten, Rechtungen und Gewohnheiten» waren einzigartig in Süddeutschland.
Parallel zu dem Zusammenschluss der Innerschweizerischen Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden 1291 zur «alten Eidgenossenschaft» entstand damals im südlichen Schwarzwald zwischen den Flüssen Wehre, Schwarza und dem Hochrhein eine Selbstverwaltungsstruktur, die der Innerschweizerischen Entwicklung sehr nahe kam: Das Gebiet war in acht «Einungen» gegliedert.

Das Hauensteiner Ländle am Oberrhein mit seinen acht Einungen, nördlich Lörrach und Waldshut

Martin Kistler hat 2006 die «Einungsverfassung» der Grafschaft Hauenstein im Südschwarzwald wissenschaftlich beschrieben.[2] Sie umfasste einst das Gebiet des südlichen Schwarzwaldes zwischen dem «Feldberg im Norden und dem Rhein im Süden sowie den Flüssen Wehra im Westen und Schwarze und Schlücht im Osten, bedeckte also den mittleren und westlichen Teil des heutigen Landkreises Waldshut.»[3] Zwischen 1326 und 1333 entstand hier im «Hotzenwald» ein Bund von mehreren Einungen. Jede Einung war ein genossenschaftlicher Selbstverwaltungverband von mehreren Ortschaften. Die Bevölkerung in den Einungen hatte das Recht auf eigene Richter und durfte frei Waffen führen. Die Gesetze durften nur durch Vorsteher ausgeführt werden, die vom Volk frei gewählt waren. Die Grafschaft gehörte damals zu Vorderösterreich. 1371 anerkannten die Habsburger als weltliche Herrscher und das Kloster St. Blasien als kirchliche Macht die Einungsverfassung.[4] Die Urkantone der Schweiz ‑ Uri, Schwyz und Unterwalden ‑ und die Grafschaft Hauenstein hatten ursprünglich eine gleiche politische Struktur. Was in den Urkantonen die Landsgemeinde und der Landammann als Exekutive waren, das waren im «Hauensteiner Ländle» die Einungsversammlung  und der Einungsmeister. Leider gelang, anders als in der Schweiz, kein Schulterschluss zwischen Stadt und Land. Die bäuerlichen Einungen schafften kein Bündnis mit den grösseren Städten entlang des Rheins. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts brachen die «Salpetererunruhen» aus, weil die alten Rechte der freien Bauern immer mehr beschnitten wurden. Die Habsburger Regierung in Freiburg und Wien griff militärisch ein. Fast ein halbes Jahrhundert hielten Aufstände und deren Niederschlagung an. Aufständische «Salpeterer» flohen in die Schweiz, wurden zu Zwangsarbeit nach Ungarn verschleppt, andere werden hingerichtet. Schliesslich werden die Aufständischen geschlagen. «Die gefangenen Anführer verbannte man nach Ungarn. Es waren deren 27, unter ihnen die Dogerner ADAM JEHLE, KONRAD und LEONHARD GAMP. Für den Transport von Waldshut nach Günzburg an der Donau hatte der Dogerner Vogt JOHANN BAPTIST TRÖNDLE sieben Wagen mit Sitzgelegenheiten zu stellen. Im katholischen Banat verteilte man sie auf die Dörfer Beschenova, Freidorf, Karanschebesch, Lugosch, Raksch, Ujpecs (oder Vybis) und Zsackowa. LEONHARD GAMP war auf der Hinfahrt bereits in Linz gestorben und auch dort begraben.» [Quelle: Die Grafschaft Hauenstein in Vorderösterreich. URL: http://www.salpeterer.info]

[2]   Kistler, Martin. Einung und Eidgenossenschaft. Die Verfassung der vorderösterreichischen Grafschaft Hauenstein im Vergleich mit der Entwicklung und den Verfassungen der Gründungsorte der Eidgenossenschaft. Basler Studien zur Rechtswissenschaft. Reihe B, Öffentliches Recht, Band 74. Helbing & Lichtenhahn 2006
[3]   Kistler, 2006, S. 31.
[4]   Kistler, 2006, S. 11.

 

 

 


 

 

 

Gerda von Kries
Die Weichselwinde
1942
Neuauflage 1949 unter dem Titel «Die Kronacker»

Als das Hauptwerk von Gerda von Kries gilt Die Weiselwinde, ein Familienroman über die Geschichte der Familie von Kries. «Die Kronacker» basiert auf den Lebenserinnerungen zweier Ahnen der Familie von Kries  – Nathanael Gottlob und seiner Ehefrau Josephine –  sowie auf mündlichen Familien-Überlieferungen. Geschildert wird das Lebens-Schicksal der beiden Vorgenannten, im Roman: Jobst und Sabine Kronacker in ihrer Heimat Westpreußen geschildert. Weit über den familiengeschichtlichen Rahmen hinaus handelt es sich bei dem Roman um eine bewegende Schilderung von Lebensbildern und Kulturgeschichte der versunkenen Kultur Westpreussens.

 

 

 

 


 

 

 

Gerda von Kries
Kleewitter Vermächtnis

Der Roman behandelt das eigene Schicksal von Gerda von Kries im Weltkrieg und nach der Flucht.

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Bolt Svizzero

Neuausgabe 1979

Niklaus Bolt (1913)
Svizzero

 

Der Pfarrer Niklaus Bolt (1864-1947) ist nach Johanna Spyri der erfolgreichste Schweizer Jugendschriftsteller. Als Jugendautor ist er bis heute unvergessen geblieben. In dieser spannenden Erzählung ist das kühne Werk der Jungfraubahn verflochten. Ein kantiger, eigensinniger Junge aus dem Berner Oberland, angezogen durch den rauhen Zauber der Arbeit in Fels und Eis des Eigerjochs, gesellt sich zu den italienischen Tunnelarbeitern der Jungfraubahn als fast einziger Schweizer. Er duldet Hohn und Krankheit, kämpft ritterlich die Verbitterung gegen seine italienische Kameraden nieder und arbeitet sich zum Vorarbeiter hinauf. Etwas von dieser Art ist kaum je geschrieben worden: Alles ist Tat, alle Personen sind Kraftmenschen. Im Anhang zeichnet Verena Gurtner ein lebendiges Bild vom Schöpfer der Jungfraubahn, Adolf Guyer-Zeller.

 

 


 

 

Roeder-Gnadeberg Niemadskind02Käthe von Roeder-Gnadeberg
Das Niemandskind
Heidelberg. ca. 1948
Ausgabe unter US-alliierter Kontrolle

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Roeder Gnadeberg AndschanaKäthe von Roeder-Gnadeberg
Andschana – Die Geschichte eines indischen Mädchens
1956

 

Andschana, eine junge Inderin, wächst in einem Dorf am Rande des Dschungels auf, als plötzlich eine Fieberepidemie ausbricht und ihre Mutter und ihr Bruder sterben. Ihr Onkel Balu, der Bruder der Mutter, studiert in Europa und beschließt, seine Nichte nach Europa ins Nachkriegsdeutschland zu holen. Bei einer befreundeten deutschen Familie mit drei Kindern erhält Andschana ein neues Zuhause. Doch wie gegensätzlich sind Lebensstil und Lebensauffassung. Der Zweite Weltkrieg ist gerade einmal 11 Jahre zuende, da erzählt Käthe von Roeder-Gnadeberg, wie das indische Mädchen Andschana und die deutsche Familie sich trotz ihrer kulturellen Unterschiede verstehen lernen und Missverständnisse überwinden. In einer Zeit, da der Rassenwahn des Dritten Reiches kaum vorbei ist, zeigt hier eine deutsche Schriftstellerin Kindern und Jugendlichen mit ihrer Geschichte von Andschana einen neuen Weg der echten und tiefen Verständigung zwischen Kulturen und Völkern. Die Autorin hat mit Andschana 1956 ein Stück neue deutsche Literatur geschaffen, die an wertvollste Traditionen humanen Denkens aus der europäischen und vor allem auch deutschen Kulturgeschichte anschliesst, und Adornos Verdikt «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch» spielend überwindet.

 

 


 

 

 

Roeder Gnadenberg Liebe 2Käthe von Roeder-Gnadenberg
Und Liebe gehört auch dazu.
Neuausgabe: Bayreuth 1990

 

Dieser Roman führt uns in die äussere und innere Welt von Ursula und Matthias Glawen, zweier junger Menschen, die in den 50er-Jahren den Weg ins Leben der Nachkriegsgesellschaft suchen. Wir erleben sie und ihren Freundeskreis seit der Schulentlassung in Freizeit und Familie, in Ausbildung und Arbeitswelt und erfahren von ihrem Schicksal heute – nach acht Jahren.

Ihre Freuden und Nöte, ihr Können, aber auch Versagen, Ernst und Spiel begegnen uns in der ganzen Verschiedenartigkeit, in die Welt der Erwachsenen hinein, und drängender treten die Fragen des Lebens in ihrer ganzen Vielseitigkeit an sie heran. Und jeder dieser jungen Menschen kommt zu der Erkenntnis, dass Liebe das tragende Fundament aller Lebensbewältigung ist: die Liebe zum Beruf, die Nächstenliebe selbst dort, wo Auffassungen auseinanderklaffen, vor allem aber die verstehende, auch aufopferungsbereite Liebe in der partnerschaftlichen Beziehung.

 

 

 

 

 


 

 

 

Roeder Gnadeberg FranzlKäthe von Roeder-Gnadeberg
Wenn ein Mädchen Franzl heißt
Wien 1956

 

 

 

 

 

 


 

 

 

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Die Regenbogenbrücke: Ein kleiner Hase in Trauer
2011

Der kleine Hase findet durch die feinfühlige Hilfe seine Grossmutter einen Weg, mit seiner Traurigkeit und Verzweiflung umzugehen, die ihn seit dem plötzlichen Tod seines besten Freundes befallen haben. Ein Buch für Kinder und Erwachsene, das einfühlsam und in fabelähnlicher Form Antworten und Lösungen für das schwere Problem erzählt, dass wir so schwer damit fertig werden, wenn ein liebes Wesen, ein lieber Mensch von uns gehen muss.

 

 


 

 

 

 

Jean Little. Alles Liebe, Deine Anna, München 1995
Jean Little. Lass von Dir hören, Deine Anna. München 1997

 

Jean Littler alles LiebeEs gibt Literatur für Kinder, die an Gehalt und Menschlichkeit so reich ist, dass sie ihresgleichen sucht, und bei deren Lektüre man mit den Hauptdarstellern lacht, weint und schmunzelt, und die man mit einem Gefühl der inneren Bereicherung und der Verbundenheit mit der Welt und den Menschen aus der Hand legt. Die Geschichte von Anna, niedergeschrieben von der Kanadierin Jean Little in den Bänden «Alles Liebe, Deine Anna» und «Lass von Dir hören, Deine Anna», gehört dazu.

Es geht um gelebte Humanität: Um die Menschlichkeit, die Anna, deren schwerer Sehfehler lange nicht erkannt wird, im Verlauf der Geschichte zu einer reifen Persönlichkeit reifen lässt, die selber anderen Menschen weiterhelfen kann; aber auch um die Menschlichkeit, die in Nazi-Deutschland mit Füssen getreten wird und Annas Vater zu dem schweren Entschluss bewegt, seine Heimat zu verlassen und mit seiner Familie nach Kanada auszuwandern. Jean Little bettet die persönliche Geschichte Annas meisterhaft in die Zeitgeschichte ein und zeigt, wie eng das persönliche Schicksal mit dem der MJean Little lass vion direnschheitsfamilie verbunden ist. Mit Anna, die autobiographische Züge der sehbehinderten Autorin trägt, führt sie den Leser in das Denken und Fühlen eines missverstandenen kleinen Mädchens ein und erklärt ihm Annas nach aussen oft abweisende Art und ihre Probleme beim Lernen so einfühlsam, dass man Anna versteht und mit ihr mitfühlen kann. Aber Jean Little belässt es nicht dabei, die Probleme des Mädchens nachzuvollziehen, sondern stellt ihm einen Vater, eine Lehrerin und Freunde zur Seite, die sie erfassen, ihre inneren Wunden heilen helfen und sie anleiten, sich aktiv mit der Welt auseinanderzusetzen und zu versöhnen.

Das humane Menschenbild der Autorin kommt in einer Rede von Annas kanadischem Schulleiter zum Ausdruck: Glauben und Vertrauen zu haben heisse, «den Vogel singen zu hören, noch ehe das Ei ausgebrütet ist». Jean Little zeichnet Annas Entwicklung vom «Ei» zum «singenden Vogel» nach, die gelingt, weil sie auf Menschen trifft, die an sie und ihre Entwicklungsfähigkeit glauben. Ihre Kunst besteht darin, diese anspruchsvolle Thematik sehr anschaulich und sprachlich unkompliziert darzustellen, so dass bereits Kinder ab 10 Jahren Annas Geschichte lesen können. Aber auch jedem Jugendlichen und Erwachsenen sei sie wärmstens empfohlen.

 

 


 

 

ApfelmusDorothy Canfield Fisher
Das allerbeste Apfelmus
Gütersloh 1975

 

Aus Leserrezensionen: «Obgleich schon sehr alt ist dieses Kinderbuch sehr aktuell. Ein kleines Mädchen kommt aus einem sehr behüteten Umfeld in eine Farmersfamilie und erlebt dort, wie es sich in einer fordernden und nicht behüteten Umgebung sehr viel mehr entwickeln kann. Das ist ein etwas schmerzlicher Prozeß anfangs. Fisher (Anfang des letzten Jahrhunderts) beschreibt sehr einfühlsam, wie die Behütetheit Ängstlichkeit und Unsicherheit hervorbringt, wenn dies wegfällt, es dann aber zu einer positiven Veränderung kommt. Ein Buch nicht nur für Kinder!»

«Dieses Buch ist ein großes Glück. Ich habe es als Kind zum ersten Mal gelesen, geliebt und seitdem lese ich es immer mal wieder. Es handelt davon, wie aus der schlimmsten vorstellbaren Situation unerwartet etwas ganz Tolles wird. Es geht um die Überwindung von Ängsten, darum, man selbst zu werden, die eigene Kraft zu entdecken, auf die innere Stimme zu hören. Eine warmherzig und schön geschriebene Geschichte um ein kränkliches, ängstliches, verhätscheltes kleines Mädchen, das aufgrund widriger Umstände zu Verwandten aufs Land „abgeschoben“ wird, und dort nicht nur die Schönheit eines einfachen Lebens entdeckt, sondern auch Freunde findet und Selbstbewusstsein entwickelt.»

 

 


 

 

einer schaut nicht wegJule Sommersberg
Einer schaut nicht weg
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter
2003

 

Voller Vorfreude macht sich Johannes der Flötenspieler auf den Weg zum großen Musikfest in Jericho. Doch unterwegs wird er von Räubern überfallen. Verletzt und hilflos bleibt er am Wegrand liegen. Ein Priester und ein Olivenhändler gehen vorbei, ohne ihm zu helfen. Erst der Samariter Pareos kümmert sich um Johannes. Das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter, warm und kindgerecht erzählt. Mit liebenswerten Illustrationen von Oliver Wenniges.

 

 


 

 

Vater_MartinMig Holder
Ein grosser Tag für Vater Martin
nach Leo Tolstoi

 

Vater Martin lebt ganz allein für sich in einem gemütlichen kleinen Dorf im weiten Russland. Er ist Schuhmacher und immer fröhlich – oder doch fast immer. Eines Tages erwartet Vater Martin hohen Besuch. Doch der kommt ganz anders als er es sich vorgestellt hat. Leo Tolstoi hat diese Geschichte für Kinder aus dem Französischen übernommen. Der deutsche Text ist eine freie Nacherzählung von Mig Holder. Für Kinder ab 4 Jahren

Aus dem Inhalt: «Als es dunkel wurde und der graue Dezembernebel wieder durch die Straßen kroch, zündete der Schuster traurig seine Öllampe an und setzte sich in de Schaukelstuhl. Er nahm wieder das Buch zur Hand. Aber sein Herz war zu schwer und seine Augen zu müde, um die Worte zu entziffern. „Es war doch alles nur ein Traum“, dachte er verzagt. „Und ich hatte mich so darauf gefreut, dass Jesus zu mir kommt.“ Tränen stiegen in seine Augen, so dass er kaum noch etwas sehen konnte. Doch plötzlich war ihm, als sei er nicht mehr allein im Zimmer. Zogen da nicht Menschen durch  die Werkstatt? Vater Martin wischte sich die Tränen aus den Augen. Waren das nicht der Straßenkehrer und die junge Frau mit ihrem Kind – all die Leute, die er heute gesehen und gesprochen hatte? „Hast du mich nicht  erkannt? Hast du mich wirklich nicht erkannt, Vater Martin ?“ , fragten sie im Vorbeigehen. „Wer seid ihr?“ rief der alte Schuster. „Sagt es mir!“ Da hörte Vater Martin  dieselbe Stimme wie in der Nacht zuvor, obwohl er nicht hätte sagen können, woher sie kam: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mit zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mit zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Wo immer du heute einem Menschen geholfen hast, da hast du mir geholfen!“ Dann war alles wieder still. „Kinder, Kinder!“ murmelte Vater Martin leise und kratzte sich am Kopf. „Dann ist er also doch gekommen! Dann hat Jesus mich tatsächlich besucht!“ Er lächelte und seine Augen zwinkerten fröhlich hinter der kleinen Brille.»

 

 


 

 

Johannes Mario Simmel: Ein Autobus, groß wie die Welt

Johannes Mario Simmel
Ein Autobus, groß wie die Welt
München 1970

 

Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, gehörte mit seinen brillant erzählten zeit- und gesellschaftskritischen Romanen und Kinderbüchern zu den international erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, ihre Auflage nähert sich der 73-Millionen-Grenze. Der Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse wurde 1991 von den Vereinten Nationen mit dem Award of Excellence der Society of Writers ausgezeichnet. «Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme, Motive«, sagte Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller.

Zum Buch: Mit 19 Kindern, einer Kindergärtnerin, einem Chauffeur und einem schwarzen Schaf namens Josef fährt der Autobus in die winterlichen Berge, damit die Kinder sich dort erholen können. Aber was geschieht in den Bergen nicht alles an Schlimmem! Das Schaf Josef reißt aus, zwei Lawinen donnern zu Tal, der Autobus bleibt stecken, ein Bub wird lebensgefährlich krank, die Großen versuchen, Hilfe zu holen, und die Kinder bleiben allein. Und da lernen sie die Spielregeln menschlichen Zusammenlebens in Frieden. So wird ihr Autobus plötzlich groß wie die Welt.

 

 


 

 

Nie wieder ein Wort davon?Barbara Gehrts
Nie wieder ein Wort davon?
München 1978

 

Zunächst scheinen es nur die Entbehrungen und Belastungen, die die Kriegsjahre mit sich bringen, zu sein, die Hannas Familie im Zweiten Weltkrieg bedrücken. Doch geprägt von der politischen Haltung des Vaters gegen das Regime Hitlers erkennt die Familie immer deutlicher die gefährliche Staats- und Kriegsführung jener Zeit. Ängste und Schrecken von Krieg und politischer Verfolgung brechen auch über die Freunde von Hannas Familie und schließlich sogar über die engsten Angehörigen herein. Ein persönliches Buch, ein politisches Buch, das aufzeigen will, daß Freiheit mehr ist als Abwesenheit von Gewalt.

 

 

 


 

 

 

AntoElisabeth Zöller
Anton oder die Zeit des unwerten Lebens
Frankfurt/Main 2012

 

In «Anton» erzählt die Autorin die Geschichte ihres Onkels Anton und seiner Familie während des «Dritten Reichs». Anton, ein  aufgeweckter Junge, wird von einer Straßenbahn angefahren, erleidet schwere Hirnverletzungen und ist behindert. Für Behinderte wird das Leben in Hitlerdeutschland gefährlich. Anton ist mathematisch begabt und malt gut. Onkel Franz, der Lehrer ist, verspricht, auf Anton aufzupassen. Trotz dieses Schutzes hat es Anton nicht leicht, denn natürlich darf sich auch Onkel Franz nicht zu auffällig verhalten, sind doch einige der Kollegen stramm auf den Führer eingeschworen. Gepiesackt und schikaniert wird Anton sowohl von einigen Lehrern als auch von Mitschülern, viele der Kinder bekommen sogar verboten, mit so einem Krüppel zu spielen … Die Familie erlebt die Reichsprogramnacht mit. Irgendwann verstecken die Eltern ihren Sohn zu Hause. Durch die Schrecken der Zeit gelingt es ihnen mit Hilfe von Verwandten und guten Menschen, dass Anton den Krieg überlebt. Ein trauriges und ein bewegendes Menschenschicksal, das in kind- und jugendgerechter Sprache einen Einblick gibt in das Deutschland Hitlers.

 

 


 

 

NachtstimmeIlse Kleberger
Die Nachtstimme
1982

 

Benjamin erkrankt länger, gerät in den Alkohol und schafft den schulischen Anschluss nicht mehr. Das Buch zeigt eindrucksvoll die Ursachen und Konsequenzen des Alkoholismus bei Jugendlichen, und es zeigt einen Weg auf, wie man dem Teufelskreis entkommen kann. Im Falle Benjamins durch die Freundschaft zu einer Frau, deren Stimme er zunächst nur vom Telefon her kennt.

 

 

 


 

 

WeltzeituhrIsolde Heyde
Treffpunkt Weltzeituhr
Würzburg 1984

 

Die Autorin, 1931 in der Tschoslowakei geboren, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und übersiedelte 1979 von der DDR in die BRD, wo sie seitdem als freie Schriftstellerin arbeitet.  «Treffpunkt Weltzeituhr» erhielt 1985 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Es geht um die vierzehnjährige Inka, die erstmals wieder, auf einer Klassenfahrt nach Berlin, durch die DDR fährt, die sie vor vier Jahren verlassen musste. Leicht war es nicht, eine Mutter zu akzeptieren, die eine Republikflüchtige war. Doch als die Mutter ihren Arbeitsplatz verliert, beginnt Inka zu ihr zu halten. Da erst fühlt sie sich stark genurg, an der Klassenfahrt teilzunehmen und in Ost-Berlin ihre alte Freundin wiederzutreffen.

 


 

 

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Buchdeckel der Ausgabe von 1921

Wilhelmine von Hillern [1873]
Die Geier-Wally
Leipzig 1921

 

Man muss das 1873 erstmals erschienene Buch im Original lesen, es ist zu gut geschrieben, und leider wurde sein  Inhalt in zahlreichen Verfilmungen und noch zahlreicheren Bearbeitungen für Bühne ideologisch vereinnahmt, verflacht oder verfälscht.

Anna Stainer-Knittel, Selbstporträt 1857

Wilhelmine von Hillern schuf ihren Roman auf der Grundlage der Lebensgeschichte der Tirolerin Anna Stainer-Knittel (1841 – 1915), einer Porträt- und Blumenmalerin. Sie suchte Anna Knittel in Innsbruck auf und lernte sie kennen, nachdem sie gehört hatte, dass Anna mit 17 Jahren, an einem Seil hängend, einen Adlerhorst in einer Felswand nahe dem Weiler Madau ausgenommen hatte. Eine eigentliche Männerarbeit, mit der damals die Schafherden geschützt wurden. Aber nachdem ein Jahr zuvor dabei schier eine Unglück passiert wäre und sich nun kein Mann freiwillig für das Wagnis meldete, zeigte sich die eigensinnige Anna Knittel als Frau dieser Männersache durchaus gewachsen. Damit und in vielem anderen verweigerte sie sich dem traditionellen Frauenbild und gilt manchen als frühes Beispiel weiblicher Emanzipation. Schon früh erhält das künstlerisch begabe Mädchen  Privatunterricht, wird von einem Künstler gefördert, studiert ein Zeit lang an der Münchner Kunstakademie und ist berufstätige Mutter. Seit 1873 bis ins hohe Alter führte sie in Innsbruck eine «Zeichen- und Malschule für Damen».

Die Schauspielerin Frl. Schwartz als Geier-Wally,

In dem Roman Geier-Wally wächst die hübsche Walburga Strominger nach dem frühen Tod ihrer Mutter als einzige Tochter des reichsten Bauern im Tal auf, einem herrschsüchtigen, harten Mann. Die Magd Luckard ist Wally ein liebevoller Mutterersatz. Wally wird einmal den Hof erben. Der Vater erzieht sie hart, wie einen Jungen. Keiner der Männer im Tal wagt es, das Nest eines Lämmergeiers in einer Felswand auszuräumen. Wallys Vater verspottet die Männer des Dorfs öffentlich als Feiglinge und seilt seine Tochter zum Geiernest in der Felswand ab. Wally räumt trotz der Angriffe des Muttertiers das Nest aus. Zerkratzt und blutend mit einem Geier-Küken wieder oben angelangt, küsst der stolze Vater sie zum ersten Mal in ihrem Leben. Wally  zieht das Geier-Küken auf, daher ihr Übername «Geier-Wally».

Ausgabe von 2016, Selbstporträt von Anna Steiner-Knittel in Lechtaler Tracht aus dem Jahr 1869

Mit 16 verliebt sich Wally bei ihrer Firmung in das fesche Mannsbild Joseph, der einen Bären erlegt hat. Aber Wallys Vater lehnt den «Bären-Joseph», wie er genannt wird, als Schwiegersohn ab. Er hat seine Tochter schon dem finsteren Vinzenz versprochen und zieht daher Wally vorzeitig vom Fest und von Josef weg nach Hause. Als darob die verliebte Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben weint, verprügelt sie der lieblose Vater.

Wally verabscheut den Vinzenz. Weil der Vater seine  Tochter nicht bezwingen kann, verbannt er sie mit ihrem Geier Hansl auf eine Hochalm als Schaf- und Ziegenhirtin. Als Wally im Herbst zurückkehrt, ist der Vater erkrankt, und der Vinzenz führt schon den Hof. Vor Wallis Rückkehr ist die alte Luckard nach einem Streit vom Hof gejagt worden und voller Gram darüber gestorben. Der Vater verbietet Wally das Wohnhaus. Sie muss als Futtermagd leben und beim Vieh schlafen. Die gedemütigte Tochter verliert schliesslich die Beherrschung, als Vinzenz einen alten Knecht brutal misshandelt und schlägt diesen mit einem Beil nieder. Da Wally in den Keller gesperrt werden soll, schleudert sie ein brennendes Scheit in den Heustadel, um entfliehen zu können, während alle mit Löschen beschäftigt sind.

Mit grosser Menschenkenntnis gestaltet Wilhelmine von Hillern Wallys Lebensweg durch schwere Verstrickungen und Schicksalsschläge hindurch. Ihre Geier-Wally ist im besten Sinne des Wortes ein Stück Volksliteratur, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts aufkommt und die den Vergleich mit den Werken von Jeremias Gotthelf und Peter Rosegger, um nur einige zu nennen,  nicht zu scheuen braucht. Mit einem genauen Blick für Beziehungsabläufe und Konflikte zwischen Vater und Tochter sowie zwischen Josef und Wally gestaltet die Autorin einen wahren Bildungsroman, in dessen Zentrum die innere Entwicklung eines unverstandenen, hart und lieblos erzogenen Mädchens und dessen Suchen und Ringen um ehrliche Liebe und Anerkennung steht. Es ist das das klassische Thema des Bildungsromans in der Tradition von Goethes Wilhelm Meister oder Gotthelfs Ueli der Knecht: Wie ein Mensch seinen Lebensweg geht, sich aus Niederungen des Lebens aus eigener Kraft herausarbeitet, wie er aus Irrungen und Konflikten lernt und schliesslich in der bestehenden Gesellschaft Fuss im Leben fassen kann. Ein wahrer «Anti-Adorno»! Aber das nur nebenbei.

Programmheft, Berlin 1921

Es vergehen tragische Szenen, Kämpfe um Stolz und Überlegenheit, um Liebe und Trotz. Denn Lieben ist für Wally lange zu sehr mit Unten-sein verbunden – bis Joseph und Wally sich schliesslich doch finden, nicht mehr immer im anderen die Ursache für ihre eigenen Gefühle sehen, sondern einander echt verzeihen und auf dem Hof noch einige glückliche Jahre zusammenleben. «Wally und Joseph sind früh gestorben, die Stürme, die an ihnen gerüttelt, hatten die Wurzeln ihres Lebens gelockert», so schliesst der Roman – ein Werk, wie es heute kaum noch geschrieben wird. Ein Roman einer untergegangenen Welt und doch auch – in seinen packenden Schilderungen menschlicher Schicksale und der Suche nach Liebe in einer oft grausamen Welt – ein zeitloses Werk, das heutigen jungen Leuten eine längst vergangene geschichtliche Epoche einfühlbar zugänglich machen kann.

Wilhelmine von Hillerns  Buch merkt man bei jeder Zeile an, wie sehr die Autorin in der Kultur ihrer Heimat und ihrer  Epoche verwurzelt ist, wie sehr sie mit den Menschen ihrer Heimat mitlebt, sich in sie eindenken und einfühlen kann, weil sie das Volk kennt. In diesen Bildungsroman eingewoben, findet sich aber auch ein grossartiges Charakterbild, das  mit erstaunlich viel psychologischem Verständnis ausgemalt ist.

Wilhelmine von Hillern als junge Frau

Als Wilhelmine von Hillern 1876 ihren Roman veröffentlicht, ist die Tiefenpsychologie noch nicht geboren. Alfred Adler, der Begründer  der Individualpsychologie ist gerade einmal sechs Jahre alt und wird erst vor dem Ersten Weltkrieg als einer der drei Pioniere der Tiefenpsychologie den Begriff ‚männlichen Protest‘ prägen. [1], [2] Sein Schüler Otto Rühle spricht von ‚Protestmännlichkeit‘.[3] Gemeint ist, dass im Klima der kulturellen  Vorherrschaft des Mannes (gleich: Oben, Härte, Stärke, wertvoll) über die Frau (gleich: Unten, Schwäche, passiv, minderwertig) Jungen wie Mädchen schon in der Kinderstube ein Erziehungsklima erleben, in welchem Weiblichkeit (und damit auch Milde, Güte und Nächstenliebe) als angeblich minderwertig abgewertet und eine übertriebene «Männlichkeit» (und damit Gewalt, Härte, Lieblosigkeit, Herrschsucht und Strenge) als angeblich höherwertig verherrlicht wird. Das Mädchen beginnt  in diesem Erziehungsklima, schon in den ersten Kinderjahren – ausgerichtet auf diese Fiktion von Männlichkeit gleich höherwertig, Härte und Stärke –, ihre eigene Weiblichkeit als vermeintliche soziale Minderwertigkeit abzulehnen (männlicher Protest). Es übernimmt kulturell für höherwertig geltende «männliche» Charaktereigenschaften, um nicht, wie es fühlt, weniger «wert» zu sein als die vom Patriarchat für wertvoller gehaltenen Buben. In diesem  Erziehungsklima entwickelt  das Mädchen schnell einmal typische männliche Eigenschaften, benimmt sich wild wie ein Junge und ähnliches, zum zu zeigen, dass das Mädchen auch «gut» ist, und trainiert einen grossen seelischen Ehrgeiz, wie ein Mann alle anderen zu übertrumpfen, um als Frau zu gelten. Ist dabei aber davon getrieben, es doppelt so «gut» machen zu müssen wie ein Mann, um mit der für hörerwertig geltenden Männerwelt  «gleichziehen» zu können. Typische Frauenfiguren aus Politik, Kultur und Geschichte erinnern, auch heute noch, an diese Überkompensation von «männlicher» Machtausübung. Mehr als dreissig Jahre vor Adler gestaltet Wilhelmine von Hillern mit ihrer Geier-Wally ein Mädchenschicksal, gezeichnet von den Folgen harter Prügelpädagogik und «männlichem Prostest». Verstrickt ihn einen tragischen Kampf und Protest gegen männliche Überwertigkeit und Härte, die sie gleichzeitig auch bewundert, zappelt sie «im Netz ihrer Fiktion» von der angeblichen Höherwertigkeit des Mannes.

Liest man die Geier-Wally auch mit einem «individualpsychologischen Auge», wird recht anschaulich deutlich, wie viel Wilhelmine von Hillern mit ihrem anschaulichen Charakterbild der Walburga Strominger ahnend vorweggenommen hat, was die historisch spätere Adlersche Individualpsychologie als Tragik der harten Prügelpädagogik beschreibt und darlegt, welche Folgen im Gemüt eines Mädchens sich einnisten, das im Erziehungsklima der kulturellen Höherbewertung des Mannes über die Frau aufwächst.

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski hat einmal gesagt, man könne ein Leben lang versuchen, das Rätsel Mensch zu lösen, und man verliere dennoch keine Zeit dabei, denn man tue das, weil man Mensch sein wolle. Wilhelmine von Hillern und viele andere Dichter haben mit ihrer intuitiven Menschenkenntnis die wissenschaftlichen Erkenntnisse der tiefenpsychologischen Menschenkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts im erstaunlich hohem Mass ahnend vorweggenommen. Sie dürfen daher getrost auch zu den Wegbereitern der modernen Tiefenpsychologie gezählt werden. Es sind ja gerade die lebendigen Schilderungen von Menschen, wie der Geier-Wally, die sich in Handlungen verstricken, von denen sie sagen können, was sie sie getan haben, die aber nicht verstehen, warum sie es getan haben. – Sie verdeutlichen lange vor den wissenschaftlichen Bemühungen der Tiefenpsychologen, was unbewusste Gefühle und Handlungen sind.

Wir bewundern die Grösse dieser Dichter und  ihre mitmenschliche Kraft. Uns erfasst die ahnende Tiefe ihres drängenden Nachdenkens und ihrer Seelenschilderungen. Ihr Interesse am und ihr reiches Wissen vom Menschen. Ihre Hochachtung selbst vor dem einfachsten Menschen, welcher längst der gesellschaftlichen Verachtung anheimgefallen und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestossen ist. So klagt Friedrich Schiller zum Beispiel einen «gemeinen Verbrecher» nicht als Ausgeburt einer verderbten Menschennatur an und schürt niedere Rachegefühle, wie dies heute unseren Kindern und Jugendlichen tagtäglich in den Massenmedien in unerträglichem Ausmass – vom immer gleichem montonen Rachegedanken durchzogen – vorgeführt wird, sondern lässt den armen Teufel als einen von uns verstehbar werden, der die Achtung vor sich – «Verbrecher aus verlorener Ehre» nennt ihn Schiller [4] – und damit auch vor anderen verloren hat. Nicht zuletzt durch die Haltung seiner Mitmenschen – durch unsere Haltung.

Man lernt durch solche Lektüre tiefer zu blicken: hinter  die vorurteilsbeladenen Oberflächlichkeiten des Zeit-Urteils. Der Dichter führt uns durch die Eindringlichkeit seiner Schilderungen der seelischen Verstrickungen zu einem Lesen, bei dem man an sich selbst miterlebt, was das wahre Motiv einer verächtlichen Tat ist und: worüber man noch nie nachgedacht hat – und integriert dadurch in seinem eigenen gefühlsmässigen Menschenbild ein Stück mehr Menschenkenntnis und Mitmenschlichkeit: Wäre ich an Stelle dieser Romanfigur gewesen, wäre unter den gleichen Umständen geboren und erzogen worden und aufgewachsen, wäre ich in die gleichen Verstrickungen geraten – ich hätte wahrscheinlich ähnlich oder auch so gehandelt wie dieser Mensch da, den uns der Dichter so eindringlich nahe schildert und den unsere oberflächliche aufgepeitschte Zeit schreierisch gellend verurteilt. Der Leser kann so durch das Lesen der Dichter ein Stück weit dem niederen Wunsch entrinnen, an jenem lockenden Machtstreben teilhaben zu wollen, durch welchen kleine Seelen etwas mehr eingebildete Grösse empfinden, wenn sie nach Rache schreien. So wird der Dichter letztlich zum Lehrer der psychologischen Wissenschaft und einem verständigeren inneren Menschenbild. Daran teilzuhaben ist auch das Verdienst von Wilhelmine von Hillern, der Schöpferin der Geier-Wally.

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[1 ] Adler, Alfred [1910]. Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. In: Adler Alfred, Furtmüller Carl (Hg.) [1914]. Heilen und Bilden. Frankfurt/Main 1973, S 85–93

[2] Adler Alfred [1912, 1919] Über den nervösen Charakter: Grundzüge einer vergleichenden Individual-Psychologie und Psychotherapie. Kommentierte, textkritische Ausgabe, hg. von Witte KH, Bruder-Bezzel Almut. Göttingen 1997

[3] Rühle, Otto [1925]. Die Seele des proletarischen Kindes. Frankfurt/Main 1975, S. 16, 52, 82ff.

[4] Schiller, Friedrich [1786]. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Stuttgart 2014

 

 

 


 

 

 

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Hans Abplanalp
I gah nid furt
Basel 2016

 

Paul Hauswirth ist Bergbauer auf der Mutthöchi im Kanton Bern. Die Bewirtschaftung seines Hofs verlangt ihm und seiner Familie einiges ab. Sie führen ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben. Jäh wird ihre Existenz von aussen bedroht: Eine Volksinitiative verlangt, abgelegene Gebiete im Kanton aus Spargründen zu schliessen und deren Bevölkerung auszusiedeln. Hauswirth wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, doch sein Kampf kann das ungerechte Schicksal nicht abwenden.
Die Bauern der Mutthöchi können es anfänglich gar nicht glauben, dass eine derartige Inhumanität mehrheitsfähig werden könnte. Paul Hauswirth und seine Frau wehren sich bis zum Schluss gegen die Vertreibung. Seine Frau stirbt voller Gram an einem Herzinfarkt und Paul Hauswirt muss psychiatrisch behandelt werden. Mehrere erschütternd schwere Schicksale unter den von ihren Höfen Vertriebenen durchziehen den Roman.

Vordergründig geht es um den eidgenössischen Finanz- und dem kantonalen Lastenausgleich. Es werden im Verlauf der Handlung aber auch die dahinter liegenden tieferen ideologischen Lager deutlich sichtbar, die zu diesem Solidaritätsbruch im Schweizervolk geführt haben: Zum einen ein rein ökonomischer Sparkurs auf dem Rücken der Bergbauern, denen man nachsagt, sie würden viel kosten aber keine Steuern einbringen und die beraten werden von weltfremden „Raumplanern“ und „Umweltingenieuren“. Im Hintergrund und ungesagt, aber deutlich durchschimmernd steht die Absage gewisser Kreise an landwirtschaftliche Selbstversorgung und die Hinwendung zu industriellen Landwirtschaftsprodukten aus dem Ausland.
Auf der anderen Seite schwelgen tiefenökologische Naturschützer davon, dass mit der Vertreibung der Bergbauern die zehn angeblich unrentablen Agrarflächen wieder „zurück zur Natur“ kommen und zur neuen Heimat von Wolf und Luchs werden. Sie träumen von „Wilderness“ und einem „Naturwildpark“ – ohne Menschen. Der Zwillingsbruder derartiger Naturschützer stellt sich auch schnell ein: Geschäftstüchtige Studenten der Hochschule Luzern, die Tourismus und Eventmanagement studiert haben und die in den verwilderten Gebieten Treckings, Überlebenstrainings planen. Eine Firma will die verlassenen alten Bauernhäuser auf Luxusstandard „zwägchlepfe“ und an potente Interessenten vermieten: private Reservate mit einmaliger Intimsphäre in abgelegner Wildnis für Käufer aus dem Showbusiness, der Wirtschafts- und Finanzwelt aus dem In- und Ausland mit entsprechendem Portemonnaie. Eine Gratiszeitung titelt wütend: Man vertreibe die ursprüngliche Bevölkerung und lasse dafür „ein paar reiche Säcke“ rein.

In der psychiatrischen Klinik Waldau, wohin Paul Hauswirth schliesslich gebracht werden muss, da er mit dem Sturmgewehr um sich schiesst und nach dem Tod seiner Frau seelisch zusammenbricht, nimmt sein Leben eine Wende. Er trifft auf eine bosnische Putzfrau, die in den Jugoslawienkriegen ein schweres  Schicksal erlitten hat. Ihr Mitgefühl und die Hilfe seiner Enkel führen ihn wieder ins Leben zurück.

Es ist nur ein schwacher Trost, wenn manche Buchbesprechungen darauf hinweisen, dass aufgrund der Schweizer Verfassung sich die Geschichte in der heutigen Realität so nicht abspielen könnte. Die ideologischen und politischen Hintergründe der fiktiven Volksabstimmung sind jedoch nur zu real geschildert und bestimmen die schweizerische Tagespolitik nachhaltig. Mit der Erzählung möchte der Autor die Diskussion anregen: „Wohin will unser Land?“. Der ehemalige Schulleiter Hans Abplanalp hat dieses Buch seinen sechs Enkelkindern gewidmet. Es wirkt gerade deswegen so eindringlich direkt und kräftig, weil es in Berner Mundart geschrieben ist.

Der 1947 geborene und pensionierte Lehrer und Schulleiter Hans Abplanalp hat die seltene Gabe, einen komplizierten Stoff so in mitmenschlich einfühlsam geschilderte Lebensschicksale einzubetten, dass Menschen jeden Alters die geschilderten anspruchsvollen Probleme sehr gut verstehen können.  Aus jeder Zeile erklingt die Liebe des Autors zur Schweiz, sein Mitgefühl und seine Solidarität mit denen, die unser täglich Brot mit ihren Händen schaffen.

 

 

 

 


4.  Medizin, Gesundheitswesen


 

Maio Hoffnung

Giovanni Maio
Therapieziel Hoffnung – Zur Bedeutung der Hoffnung in einer technisierten Medizin
In: Zeitschrift für medizinische Ethik.
Ärztlich assistierter Suizid I. Ausgabe: 3/2015. 61. Jahrgang

 

Das Thema Hoffnung führt ein Schattendasein in der medizinethischen Literatur, obwohl eine gute Behandlung von Patienten auf einen differenzierten Begriff der Hoffnung angewiesen bleibt. Denn das Hoffen stellt eine zutiefst menschliche Fähigkeit dar, ohne die wir nicht existieren könnten. Hoffnung ist keine rein theoretische Einsicht, kein bloßes Resultat der Abwägung oder des Messens, und doch ist sie eine Empfindung, die auf guten Gründen basieren muss. Das Besondere der Hoffnung liegt gerade in ihrem Doppelcharakter: Sie bezieht sich auf grundsätzlich Realisierbares und zugleich impliziert sie das Anerkennen der Unverfügbarkeit und Nichtgarantierbarkeit des Erhofften. Was bedeutet Hoffnung in unserer Zeit? Was bedeutet Hoffnung für kranke, speziell für chronisch kranke Menschen oder gar für Sterbende? Gerade in der Medizin, die unweigerlich mit existenziellen Fragen zu tun hat, muss vertiefter über die Hoffnung nachgedacht werden.

 

 


 

 

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Heinrich Schipperges
Rudolf Virchow
Reinbeck bei Hamburg 1994

 

Zu den grossen Gestalten des 19. Jahrhunderts, die ihr Leben der Lösung der sozialen Frage zur Sicherung des Friedens widmeten, zählt Rudolf Virchow, dessen Todestag sich 2002 zum hundertsten Male jährte. Ihm, dem Professor für Pathologie, verdanken wir die Begründung der Medizin als Wissenschaft. Eine systematische Bekämpfung der Krankheiten wurde durch das neue naturwissenschaftliche Verständnis von Krankheit erst möglich, und die Medizin nahm während der zweiten Hälfte des 19. Jh. einen derartigen Aufschwung, dass die Menschen heute im Schnitt etwa doppelt so alt werden wie vor hundert Jahren.

Virchow war aber nicht allein Wissenschaftler und Arzt im Dienste am kranken Menschen. Er war ein äusserst vielseitiger Mensch mit einer ungeheuren Schaffenskraft. „Der soziale Standpunkt,“ schreibt einer seiner Biographen, „ist zweifellos der Hauptnenner, der … es Virchow möglich machte, so viele Dinge zur gleichen Zeit zu tun.“[1] Mediziner, Naturforscher zu sein hiess für Virchow, nicht nur den Menschen und seine Krankheiten zu erforschen, um den einzelnen heilen zu können, sondern hiess für ihn immer, auch die sozialen Bedingungen einzubeziehen, die einen Menschen krankmachen können.

Prägend für diese Haltung schon des 26jährigen Virchow waren seine erschütternden Erfahrungen auf einer Reise im Auftrag des preussischen Kulturministeriums in das oberschlesische Typhusgebiet im Jahre 1848, von der er berichtet: „Eine verheerende Epidemie und eine furchtbare Hungersnot wüteten gleichzeitig unter einer armen, unwissenden und stumpfsinnigen Bevölkerung.“ Er beschreibt in seinen Unterlagen, wenn man die „grossen Reihen von Zahlen, von denen jede einzelne Not, grauenvolle Not ausdrückt, [sieht,] kann man diese ungeheuren Summen von Elend nicht mehr verleugnen, so darf man nicht mehr zögern, alle Konsequenzen aus so entsetzlichen Erfahrungen zu ziehen, welche sie zulassen.“[2] Virchow denkt weiter: „Die Medizin hat uns unmerklich in das soziale Gebiet geführt und uns in die Lage gebracht, jetzt selbst an die grossen Fragen unserer Zeit zu stossen. Bedenke man wohl, es handelt sich für uns nicht mehr um die Behandlung dieses oder jenes Typhuskranken durch Arzneimittel und Regulierung der Nahrung, Wohnung und Kleidung, nein, die Kultur von anderthalb Millionen unserer Mitbürger, die sich auf der untersten Stufe moralischer und physischer Gesunkenheit befinden, ist unsere Aufgabe geworden.“[3] „Ich selbst“, schrieb Virchow, „war mit meinen Konsequenzen fertig, als ich von Oberschlesien nach Haus zurückeilte …[sie] fassen sich in drei Worten zusammen: Volle und unumschränkte Demokratie.“ [4] Eine allgemeine „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“[5] müsse dazutreten. Die wissenschaftliche Auswertung seiner Reise hatte Virchow gelehrt, dass schlechte Lebensbedingungen ‑ Armut, mangelnde Bildung, Hunger und mangelnde Hygiene ‑ zur entscheidenden Ursache von Seuchen werden können. Krankheiten wie Typhus, Skorbut, Tuberkulose und „Geisteskrankheiten“ nannte er daher „künstlich“, weil durch von Menschen geschaffene soziale Missverhältnisse verursacht. „Sie sind“ – so Virchow – „Attribute der Gesellschaft, Produkte der falschen oder nicht auf alle Klassen verbreiteten Kultur.“[6]

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Denkmal für Rudolf Virchow in Berlin (Bild: Andreas Steinhoff)

Virchow war klarer Gegner des Marxismus´ und lehnte den Klassenkampf ab. Die volle Verwirklichung von Menschenrechten, Gewaltenteilung, Demokratie und allgemeiner Bildung waren für den Liberalen Virchow der einzig denkbare Ausweg aus der sozialen Frage. Virchow steht damit in der Tradition naturrechtlichen Denkens: „Die Aufgabe der Naturforschung ist es, die Eigenschaften der Naturkörper und die Geschichte der Naturerscheinungen zu verfolgen und so die Gesetze erkennbar zu machen, nach denen sich der Lauf der natürlichen Vorgänge regelt … dass es nicht der letzte Zweck sein kann, liegt auf der Hand … auf den Menschen angewendet, zeigt sich diese Auffassung in der Forderung des Humanismus, den Menschen seiner Natur nach zu erforschen und dem Einzelnen die Möglichkeit naturgemässer Entwicklung in so ausgedehntem Masse als möglich zu gewähren. Daraus ergeben sich bestimmte Konsequenzen für das öffentliche und private Leben.“[7]

Für das politische Leben fordert der Arzt Virchow: „Eine vernünftige Staatsverfassung muss das Recht des Einzelnen auf eine gesundheitsmässige Existenz unzweifelhaft feststellen.“[8] „Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die Verwirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich ausführbar.“[9]

Privat waren für Virchow weder der Ruhm des grossen wissenschaftlichen Werkes noch die Ehre des Abgeordnetensessels oder Ähnliches die treibende Kraft für sein gewaltiges Lebenswerk. Er riskierte mit seiner Sympathie für die Revolution von 1848 sogar seine Stelle. Arzt sein, wie er es verstand und ein langes und reiches Leben lang lebte, hiess (in seinen Worten) „Anwalt der Armen“ sein. Aus der Achtung vor der Würde eines jeden und dem Wissen, dass Friede in der Gesellschaft nicht auf den Bajonetten ruht, wollte er mit seinem politischen wie wissenschaftlichen Handeln die Lage der Menschen verbessern. Naturforscher und Arzt sein war für ihn untrennbar damit verbunden, die Welt auch als seine Welt zu sehen, die er bis ins hohe Alter politisch und wissenschaftlich humaner gestalten half.

Seiner republikanischen Auffassung folgend, suchte er das politische Engagement nicht auf der Barrikade, sondern in einer 41jährigen Parlamentstätigkeit. 1859 findet man ihn als Abgeordneten der Dritten Klasse im Preussischen Landtag und als Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. 1861 wird er ins preussische Abgeordnetenhaus gewählt. 1880 geht er als Abgeordneter der oppositionellen Fortschrittspartei in den Reichstag ein und ist dort einer der grossen Gegenspieler von Bismarck. 1893 wird er Rektor der Universität Berlin. Wohl die direktesten Erfolge erzielte er als Stadtverordneter von Berlin. Aufgrund der Steinschen Reformen boten die preussischen Gemeindeversammlungen – im Gegensatz zum Reichs- und Landtag ‑ relative grosse Handlungsfreiheiten, die Virchow nützte: „Rudolf Virchow hat sich in hingebungsvoller Arbeit des ihm von der Stadtverwaltung übertragenen Auftrags entledigt, den Bericht über die Vorarbeiten zur Durchführung der Wasserversorgung, der Schwemmkanalisation und der damit untrennbar verbundenen Rieselfeldwirtschaft zu erstatten. In Gemeinschaft mit dem Baurat Wieber hat der grosse Forscher und Volksmann seine ganze zähe ausdauernde Arbeitskraft daran gesetzt, um dieses grossartig erdachte Werk allen Widerständen und gehässigen Angriffen zum Trotz“ – Bodenspekulanten weigerten sich zum Beispiel lange, Wasserleitungen legen zu lassen – „zu einem gedeihlichen Ende zu bringen. … War die preussische Hauptstadt in dieser anfangs kanalisationslosen Zeit ein überall verrufenes Typhusnest gewesen, so wurde sie nach Durchführung dieser sinnvoll ineinandergreifenden Anlagen zu einer der gesundesten und saubersten, mit Schmuckplätzen versehenen Städte Europas.“[10] Sein politisches Credo bestand in dem in Ratsversammlungen ständig wiederholten einen Satz: „Licht, Luft, Wasser, Wohnung, Schule, Bildung, Wohlstand und Freiheit für jeden Bürger!“[11] Die Stadt Berlin ernannte ihn wegen seines Engagements und seiner Nähe zum Volk schon früh zum Ehrenbürger.

Seine langjährigen Vorträge in den Berliner Handwerksvereinen machen Virchow auch zum Pionier des Volkshochschulgedankens.[12] Er setzt sich für Volkshygiene ein und kämpft gegen das preussische Dreiklassenwahlrecht: „Die Gerechtigkeit erfordert es, dass wir ein Wahlsystem aufgeben, welches den Zensus in irgendeiner Form zur Masssgabe der Wahlberechtigungen macht. … In der Tat birgt das Dreiklassensystem grosse soziale Gefahren in sich. … Wenn die Meinung entsteht, dass da ein Wahlsystem existiert, welches andere Resultate gibt als das allgemeine gleiche Wahlrecht geben würde, wenn die Vorstellung entstehen kann, dass dieses Wahlsystem angetan sei, die öffentliche Stimme des Landes zu fälschen, da, meine Herren, hat man auch die Pflicht, die Sache zu ändern und der Gerechtigkeit nachzugeben. Und daher, meine Herren, sind wir der Überzeugung, dass es durchaus kein revolutionärer Akt wäre, sondern dass es ein in eminentem Masse konservativer Akt wäre, in friedlichen Zeiten, wo es möglich ist, in ruhiger Weise die Entwicklung des Volkes zu fördern, diesen Schritt zu tun.“[13] Jede gesellschaftliche Ungerechtigkeit beschäftigte ihn.

Vor allem seine Erlebnisse in Schlesien hatten ihn auf die ungelöste soziale Frage gestossen und empört: „Die Erde bringt viel mehr Nahrung hervor, als die Menschen verbrauchen; das Interesse der Menschheit erfordert es keineswegs, dass durch eine unsinnige Aufhäufung von Kapital und Grundbesitz in den Händen einzelner die Produktion in Kanäle abgleitet wird, welche den Gewinn immer wieder in dieselben Hände zurückfliessen lassen.“[14] Soziale Ungerechtigkeit bringt Not und Krankheit und damit Unfrieden hervor, war die Lehre aus Schlesien:  „Denn zu dem Schrecken der Hungersnot und der Seuchen tritt sofort noch der dritte, der des Krieges. Diese drei sind verbrüdert, die drei apokalyptischen Reiter, welche die Kinder der Menschen würgen.“ [15] Der von Preussen gewonnen Krieg von 1870/71, in dem Virchow – zu einer Zeit, da das junge Rote Kreuz auf den Schlachtfeldern noch wenig verbreitet war ‑ zur Linderung der Kriegsnot Lazarettzüge und Liebesgaben an die Soldaten organisierte, sollte Virchow nur noch mehr in seiner Überzeugung stärken, dass die „Geschicke der Menschheit sich leichter und bequemer ordnen [lassen] als auf dem Schlachtfeld.“ [16] Und er gab der Hoffnung Ausdruck, „dass es einstmals möglich sein werde, das Band der Humanität um die getrennten Glieder des Menschengeschlechts zu schlingen.“[17] Als Parlamentarier kämpft er daher auch gegen Todesstrafe und Militarisierung.

Die intensive Beschäftigung mit Anthropologie, Menschheits- und Naturgeschichte und Ethnologie waren für Virchow daher kein Hobby, sondern – auch dies ein Vorbild – er betrachtete erweitertes Wissen und ausgewertete Erfahrungen auf allen Gebieten, die den Menschen betrafen, als unerlässlich für seinen Beruf – eine ständige Arbeit am Menschenbild. Virchow lehrt uns auch, dass man als Arzt auch frühere Entwicklungsstufen der Menschheit und die alte Geschichte studieren müsse, um die aktuellen Zuständen und Zeitströmungen verstehen zu können. Das macht doch den Menschen als geschichtliches Wesen aus, dass er mit seiner Vernunft die Fehler der Vergangenheit erkennen kann und – auf Bewährtem aufbauend – Neues bauen kann und die alten Fehler vermeiden lernen kann. Einer der entscheidenden Beiträge zum Frieden in einer Gesellschaft und in der Welt kann so von der Wissenschaft kommen. Virchows vielfältige vergleichende Untersuchungen machten ihn so auch zum entschiedenen Gegner des Rassenwahns.[18]

Es fehlt die Zeit, alles aufzuzählen, was dieses reiche Leben hervorgebracht hat. Virchows breites Lebenswerk zeigt, welche innere Kraft, Leistungsfähigkeit, Ausdauer und Mitgefühl entstehen können, wenn ein Mensch aus einem „sozialen Standpunkt“ heraus handelt.

Virchow ist mehr als der berühmte Vielarbeiter, leistungsfähige Wissenschaftler und engagierte Politiker. Er ist einer der Grossen des 19 Jahrhunderts. Wie sein Leben gestaltete, ist mitmenschliches Vorbild ethischer Massstab: Dafür nämlich, wie ein Mensch das verwirklichen kann, was man als Mensch ganz sein kann, wenn man sich bildet und engagiert und seine innere Zielsetzung auf das Gemeinwohl ausrichtet und nicht im einsamen Streben nach Macht und Ruhm (oder Besitz) endet. Denn Ursprung und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen waren für Virchow der Mensch als Person: „Staat und Stadt erhalten ihren Wert nur durch die Menschen und ihre Arbeit. Aller Reichtum, alle Bedeutung der Stadt wie des Staates beruht in letzter Instanz auf der Tätigkeit ihrer Bewohner.“[19] Und Virchow ist Massstab dafür, was ein Mensch tun kann, der seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, aus der er kommt, von der er alles, hat und ohne die er nichts wäre, voll wahrnimmt und sich seiner „Bringschuld“ bewusst ist. Eine Kraftquelle aber auch für jeden heutigen Arzt. Denn wie viele versacken heute nicht in aufreibenden Kostendiskussionen, Verwaltungsreformen etc. und verlieren dabei aus dem Auge, was das eigentliche Ziel der ärztlichen Tätigkeit ist: für den Menschen – nicht für die Obrigkeit und Macht – da zu sein, „Anwalt der Armen“ zu sein, wie Virchow sagte. Schiller ‑ einer von Virchows geistigen Mentoren ‑ drückte es einmal so aus: Lebe in deinem Jahrhundert, aber sein nicht sein Geschöpf! Gib den Menschen etwas, aber nicht, was sie wollen, sondern wessen sie bedürfen!

Karen und Moritz Nestor, 2003

[1]   Schipperges, 1994, S. 9
[2]   Virchow, Rudolf (1879): Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre. Band 1. Berlin, S. 321.
[3]   ebd., S. 325.
[4]   ebd., S. 321f.
[5]   ebd., S. 335.
[6]   Virchow, Rudolf (1849): Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin. Berlin. S. 47.
[7]   Virchow, Rudolf (1854): Empirie und Transcendenz. In: Arch. path. Anat. Physiol. klin. Med. Nr. 7. S. 28.
[8]   Virchow, Rudolf, 1879, S. 330.
[9]   Virchow, Rudolf: Brief vom 1. Mai 1848. In: Rabl, Marie (Hg.) (1906): Rudolf Virchow. Briefe an seine Eltern 1839-1864. Leipzig. S. 145.
[10]   Kastan, Isidor (1919): Berlin, wie es war. In: Bauer. S. 91.
[11]   Virchow, Rudolf. In: Bauer S. 89.
[12]   Bauer, 92
[13]   Bauer, S. 70
[14]   Virchow, Rudolf: Arch. path. Anat. 2(1849), S. 315. In: Schipperges, S. 95.
[15]   Bauer, S. 54
[16]   Bauer, S. 69
[17]   Bauer, S. 69
[18]   Bauer, 101
[19]   Virchow, Rudolf. Zit. n. Bauer, S. 123.

 

 

 


 

 

 

majo_den_kranken_menschen_verstehen-183x300Giovanni Maio
Den kranken Menschen verstehen: Für eine Medizin der Zuwendung
Freiburg/Br. 2015

 

Nach all seinen medizinkritischen Büchern der letzten Jahre legt Giovanni Maio mit seinem neuesten Werk ein «Ermutigungsbuch» vor. Als Philosoph und Arzt mit langjähriger klinischer Erfahrung ist es ihm ein grosses Anliegen, Patienten Zuversicht zu vermitteln und allen, die in den ambulanten und stationären Einrichtungen tagtäglich ihren Dienst am Menschen verrichten, Mut zu machen, bei ihrer Sache zu bleiben und sich ihre inneren Werte nicht durch die Ökonomisierung und eine einseitig technisch-naturwissenschaftliche Medizin rauben zu lassen. Für seine Darlegungen hat Maio eine allgemeinverständliche Sprache gewählt.
Rezension in Zeit-Fragen Nr. 32, 2015

 

 

 


 

 

 

majo_geschaeftsmodell-186x300Giovanni Maio
Geschäftsmodell Gesundheit

 

In Deutschlands Krankenhäusern ist die Aufenthaltsdauer der Patienten in den letzten zwei Jahrzehnten um die Hälfte verkürzt. Über 50 000 Stellen im Pflegebereich wurden gestrichen. Kranke Menschen werden immer häufiger vorzeitig entlassen, nur um mit einem anderen Leiden gleich wieder aufgenommen zu werden. Die Anzahl gut bezahlter Operationen nimmt stetig zu, während Abteilungen, die sich nicht rentieren, geschlossen werden, unabhängig vom Bedarf. In keinem Land der Welt sind mehr Krankenhausbetten im Besitz privater Klinikkonzerne. Das Gesundheitswesen entwickelt sich zu einer Gesundheitswirtschaft, und in keinem Wirtschaftszweig sind derzeit höhere Renditen zu erwirtschaften. Was steckt dahinter? Dieses Buch ist ein Plädoyer für den Weg zu einer Heilkunst, die den Patienten als Menschen und nicht als «Kunden» im Blick hat, die Gesundheit nicht als Ware verkauft und die medizinische Versorgung als Sorge um den Kranken und nicht als Dienstleistung versteht.

 

 

 


 

 

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Fritz Meerwein
Das ärztliche Gespräch
Bern 1986

 

Meerwein (1922 – 1989), Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker, arbeitete an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich «Burghölzli», absolvierte eine Lehranalyse bei Gustav Bally und arbeitete ab 1955 als Psychotherapeut in eigener Praxis und war Konsiliararzt am Universitätsspital Zürich. 1971 wurde er  Titularprofessor an der Universität Zürich. Meerwein war einer der Pioniere der Psychoanalyse in Zürich. Er rief den medizinpsychologischen Dienstes an der Abteilung für Onkologie des Universitätsspitals Zürich ins Leben, war Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie.

 

 

 


 

 

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Alla Jaroshinskaja
Verschlusssache Tschernobyl
Basisdruck 1994

 

«Alla Jaroshinskaja unternimmt ein schwieriges Experiment, sie erzählt die schon oft geschriebene Geschichte der Katastrophe von Tschernobyl aus der Sicht der einheimischen Bevölkerung. Damit eng verwoben ist ihre Geschichte – der zähe Kampf einer Provinzjournalistin um das Recht, die Wahrheit suchen, finden und dann publizieren zu dürfen. Unerbitterlich dokumentiert sie mit Namen und Funktion, wer durch sein Schweigen, durch seine Lügen und durch angepasstes Verhalten dazu beigetragen hat, dass Millionen von Menschen uniformiert, nicht gewarnt, ungeschützt von der Katastrophe getroffen wurden. Sie benennt Journalisten, Lokalpolitiker, Parteifunktionäre und Wissenschaftler, und sie gelangt schließlich bis an die Spitze des sowjetischen Staatswesens. Schneidend scharf wird das Buch mit seinem zweiten Teil, das 40 Geheimprotokolle aus den Kremlarchiven dokumentiert. Ein Husarenstück, wie die Autorin diese einmaligen Dokumente in ihren Besitz bringt. Anhand dieser Protokolle wird deutlich, auf welch perfide Weise das Lügengespinst um Tschernobyl vom ersten Tag an systematisch, Faden um Faden, gesponnen wurde. Die Fragen der couragierten ukrainischen Journalistin wird niemand vergessen, der dieses Buch in die Hand genommen hat. Für sie ist selbstverständlich, dass Politiker über Leichen gehen, lügen, wegschauen. Alla Jaroshinskaja, geboren 1953 in Shitomir (Ukraine), Journalistin und Politikerin; erhielt 1992 den Alternativen Nobelpreis.» (Klappentext)

 

 

 


 

 

 

Alice Schwarzer
Prostitution – Ein deutscher Skandal!
Wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden?

Köln 2013

 

Ein «Beruf wie jeder andere». Prostitution ist das älteste Gewerbe der Welt. Prostitution wird es immer geben. Stimmt das? Ist nicht ganz Ähnliches vor gar nicht so langer Zeit auch von der Sklaverei gesagt worden? Und wird Sklaverei nicht heute von Humanisten und Demokraten geächtet? In Ländern wie Schweden oder Frankreich redet man im Zusammenhang mit Prostitution von der Menschenwürde der Frauen – und Männer. Und bekämpft die internationale Frauenhandels-Mafia. Nur in Deutschland wird der «Verkauf» von Körper und Seele verschleiernd «Sexarbeit» genannt und gilt die Prostitution als ein «Beruf wie jeder andere» – und nur in Deutschland öffnete eine rot-grüne Gesetzesänderung 2002 mit einem Gesetz den Frauenhändlern Tür und Tor. 90 % aller Prostituierten in Deutschland kommen aus den ärmsten Ländern in Osteuropa und Afrika. Doch auch die meisten deutschen Prostituierten landen in der Altersarmut. In dem von Alice Schwarzer herausgegebenen Band informieren Autorinnen und Autoren über den Skandal des «deutschen Sonderweges», die bittere Realität der Frauen in der Prostitution – und den Kampf von Feministinnen an ihrer Seite.

 

Aus dem INHALT:

 

Ellen Templin, Chefin eines Domina-Studios in Berlin-Schöneberg (Seite 171-178)

 

Seit der «Legalisierung» der Prostitution durch das 2002 durch die rot-grünen Regierung Schröder/Fischer erlassene Prostitutionsgesetz sind die Sexanzeigen des Berliner Stadtmagazins «Tip» von einem Tag auf den anderen hemmungslos geworden, «auch die Freier brutaler. Von einem Tag auf den anderen. Wenn man sagt: Das mache ich nicht – antworten die heutzutage: Hab dich nicht so, das ist doch dein Beruf!»

«Neulich hat mich ein Mann angerufen, die ich nicht kannte, und mich gefragt: Kann ich dir nachmittags mal für zwei, drei Stunden meine Monika zum Jobben vorbeischicken? Auf Nachfrage stellte sich heraus: Monika ist seine Ehefrau, und sie haben Schulden und brauchen Geld. Das ist beileibe nicht das einzige Angebot dieser Art, das ich in den vergangenen Jahren bekommen habe.»  

«Früher lief SM [= Sadomasochismus: sexuelles Lusterleben durch Zufügen oder Erleiden von Gewalt] unter ‚Perversion‘, nicht nur prostituiertentechnisch, sondern auch medizinisch gesehen. Heute ist Sadomasochismus ’normal‘ und inzwischen lässt sich etwa jeder fünfte Freier lustvoll quälen». «Früher hatten die Freier wenigstens noch ein schlechtes Gewissen. Das gibt es heute nicht mehr. Sie wollen immer mehr.»  

«Unter Prostituierten wird jetzt noch mehr gesoffen, werden noch mehr Drogen genommen, wird noch mehr gekotzt, gibt es noch mehr Schuppenflechte.»

«Ich kenne keine einzige Prostituierte, die sich als ‚Prostituierte‘ krankenversichert hätte – was ja angeblich der grosse Vorteil der Gesetzesreform [von 2002] sein soll. Auch hier im Studio will doch keine, dass die anderen wissen, was sie tut. Viele hier haben Kinder. Die meisten zwei. Die sagen immer: Meine Kinder dürfen das nie erfahren.»

«Für die Zuhälter ist das neue Gesetz natürlich ein Traum. Die sind jetzt ja nur noch Manager …»

«Es gibt keine freiwillige Prostitution. Eine Frau, die sich prostituiert, hat Gründe, in erste Linie psychische. … Und in zweiter Linie hat hat sie finanzielle Gründe. … Die Seele von Frauen, die sich prostituieren, ist immer schon zerstört.»

«Es gibt allerdings Frauen, die, nachdem sie sich zum ersten Mal prostituiert haben, sagen: Zum ersten Mal in meinem Leben hat mir ein Mann Komplimente gemacht. … Das heisst, deren Selbstwertgefühl ist noch nicht mal im Keller – es existiert überhaupt nicht.»

«Eine der Frauen … war beim Therapeuten, … . Und der hat ihr doch tatsächlich gesagt, er fände das toll, was sie macht. Als sie mir das erzählt hat, habe ich es ihr nicht geglaubt. Ich bin also auch hin. Und ich habe ihm gesagt, wie verzweifelt ich bin, dass ich mich schäme und überhaupt nicht klarkomme damit, dass ich mich prostituiere. Da hat er mir geantwortet: ‚Das ist doch gar kein Problem. Ich finde das gut, was sie machen. Das ist doch jetzt auch ein richtiger Beruf.»

«Früher hat man uns gesagt, mit uns stimme was nicht, weil wir Prostituierte sind. Jetzt stimmt mit uns was nicht, wenn wir nicht gerne Prostituierte sind.»

 

«Prostitution ist eine unmenschliche Tätigkeit – und kein Beruf wie jeder andere.»

 

 

 


 

 

 

Anna Schreiber
Körper sucht Seele
Zürich 2019

 

«Körper sucht Seele» ist das 2019 veröffentlichte erschütternde Buch von Anna Schreiber, einer ehemaligen Prostituierten, über die weithin in der Öffentlichkeit verleugneten Schrecken dessen, was wir so oberflächlich leichtfertig das «älteste Gewerbe» nennen und was jenseits der herrschenden gesellschaftlichen Mythen von «sexueller Freiheit», «Vorlieben» und «Gewerbe wie jedes andere» nur eines ist: «nacktes Schlachtvieh in perverser Variation», wie Anna Schreiber sagt.

«Körper sucht Seele» ist die menschlich bedrückende Schilderung von den die Seelen zerstörenden psychologischen Vorgänge in Frauen und Männern im Rotlichtmilieu – jenseits von ideologisch motivierten Opfer-Täter-Debatten, die oft so falsch sind und kaum oder nie auf die wirklichen seelischen Ursachen der Prostitution in Individuum und Kultur eingehen. Sei es aus finanziellen und/oder ideologischen Motiven.

Während ich Anna Schreibers Schilderungen über ihr Schicksal als Prostituierte lese, aber auch über ihren Weg wieder heraus, fällt mir Alfred Adler ein, der Begründer der Individualpsychologie, der 1927 in seinem Buch Menschenkenntnis schreibt, dass «ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muß. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.»[1] Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, schreibt 1927 in seinem Buch Menschenkenntnis, der «beste Menschenkenner» sei jener Typus Mensch, «der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist.» Er, «der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte.»[2]

Auch wenn man nicht mit allen ihren theoretischen Schlussfolgerungen übereinstimmen möchte, so kann man es doch der Psychotherapeutin Anna Schreiber nicht hoch genug anrechnen, wie ehrlich und differenziert sie als mittlerweile geschulte Fachperson – dreissig Jahre nach den traumatischen Erfahrungen ihrer Rotlichtzeit –, die psychodynamischen Zusammenhänge der Prostitution aus (tiefen)psychologischer Perspektive beschreibt und für Laien wie für Fachpersonen nachvollziehbar werden lässt. Anna Schreiber lässt den Leser sehr nahe an sich herankommen, ohne dabei ihre Würde zu verlieren. Und gerade dadurch wird die seelische Wahrheit der Prostitution dem Dunkel entrissen. Anna Schreiber hat in Jahren der therapeutischen Auseinandersetzung mit sich errungen, hat Kraft gefunden, sich aus dem Elend emporzuheben, und sie lässt den Leser daran teilhaben. Sie legt den Finger auf die tiefe Wunde im Menschenbild unserer Kultur, welche für die Prostitution ursächlich verantwortlich ist: Die Trennung von Körper und Seele/Geist – von «Sex» und Liebe. Gerade das drückt der Titel «Körper sucht Seele» aus: dass uns aus dem seelischen Schaden, den die Psychologin beschreibt, welche die Trennung von «Sex» und Liebe hervorruft, die mitmenschliche Pflicht erwächst: die Trennung überwinden, denn sie schadet. Anna Schreiber beschreibt in ihrem Buch, wie sie als Prostituierte immer gefühlloser wurde – werden musste: Um das Selbstwertgefühl, um das Gefühl für die eigene Würde wenigstens etwas vor dem Gewahrwerden des tiefen Schmerzes abzuschirmen, der in uns Menschen unweigerlich entsteht, wenn man sein «Fleisch» an neurotische Männer verkaufen muss, die dafür bezahlen.

«Keine Frau kommt als Prostituierte zur Welt», Prostitution sein ein Lebensschicksal, sagt Anna Schreiber und beschreibt ihren Weg durch eine Hölle, die jedem Gerede von «Gewerbe» und «Freiwilligkeit» Hohn spottet – bis zum bitteren Ende: «Ich nehme Menschen um mich herum nicht mehr wahr.» (S. 152) «Ich erbreche meine Nahrung. Ich schneide meine Haut. Ich drücke Zigaretten auf meinem Körper aus. Ich spüre nichts, aber so kann ich wenigstens sehen, wie Schmerz aussieht, wenn ich ihn schon nicht mehr fühlen kann.» (S. 154) Der erste Schritt zum Ausstieg geschieht 1984 auf einem Neckarschiff, inklusive Prostituiert gechartert von einer Ärztegruppe: «Unter Deck: jeder Mann mit jeder Frau, nacktes Schlachtvieh in perverser Variation. […] Ich hänge in den Seilen an Bord, wie ein gerupftes Huhn, wie geschlachtet und ausgenommen». (S. 207) Da fragt eine Freundin, die wie Anna Schreiber eine Tochter hat, sie unvermittelt: «Jetzt stell dir vor, sie [ihre beiden Töchter] würden hier sitzen und würden das tun, was wir tun. Stell die das mal vor!» (S. 208) «“Wir werden aufhören“, höre ich mich sprechen, ruhig und sicher. […] Dieses Leid wird aufhören, und die Liebe wird bleiben. Wir halten uns fest, weinend und lachend. […] Durch die Frage meiner Freundin kam, mit dem liebenden Blick auf mein Kind, Erkennen und Sehen der Liebe zu mir. […] Die Vorstellung, dass meine Tochter als erwachsene Frau auch nur ansatzweise derlei Erfahrungen machen müsste wie ich in dieser Zeit, war mir so unerträglich grauenvoll, so leidvoll entsetzlich, dass das klare Erkennen durchbrach […] Das war der erste und der wichtigste Schritt. Das vergass ich nie mehr. Daran konnte ich mich festhalten.» (S. 208f.)

«Aus der Kenntnis der menschlichen Seele erwächst uns ganz von selbst eine Pflicht, eine Aufgabe, die, kurz gesagt, darin besteht, die Schablone eines Menschen, sofern sie sich als für das Leben ungeeignet erweist, zu zerstören, ihm die falsche Perspektive zu nehmen, mit der er im Leben umherirrt, und ihm eine solche Perspektive nahezulegen, die für das Zusammenleben und für die Glücksmöglichkeiten dieses Daseins besser geeignet ist, eine Denkökonomie, oder sagen wir, um nicht unbescheiden zu sein, auch wieder eine Schablone, in der aber das Gemeinschaftsgefühl die hervorragende Rolle spielt. Wir haben gar nicht die Absicht, zu einer Idealgestaltung einer seelischen Entwicklung zu gelangen. Man wird aber finden, daß oft schon der Standpunkt allein dem Irrenden und Fehlenden eine enorme Hilfe im Leben ist, weil er bei seinen Irrtümern die sichere Empfindung hat, in welcher Richtung er fehlgegangen ist. Die strengen Deterministen, die alles menschliche Geschehen von der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung abhängig machen, kommen bei dieser Betrachtung durchaus nicht zu kurz. Denn es ist sicher, daß die Kausalität eine ganz andere wird, daß die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.»[3]

Prostitution, sagte 1920 Alfred Adler, könne «nur menschlichen Zuständen entspringen, die keinen Widerspruch dabei empfinden, das Weib als Mittel zur Geschlechtslust, als Objekt, als Eigentum des Mannes zu betrachten. Mit anderen Worten: die Tatsache der Prostitution ist nur in einer Gesellschaft möglich, die sich als Ziel schlechthin die Bedürfnisbefriedigung des Mannes gesetzt hat.»[4]

[1]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[2]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[3]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[4]      Adler, Alfred. Die individuelle Psychologie der Prostitution. In: Praxis und Theorie der Individualpsychologie. 1920

 

 

 

 


5.  Anthropologie, Kulturanthropologie


 

 

 

Klaus Taschwer, Benedikt Föger
Konrad Lorenz
Biographie
Wien 2003

 

Die Biografie von Klaus Taschwer und Benedikt Föger ist die erste grosse Biographie über Konrad Lorenz, die eine Menge an bisher unbekanntem Material aus privaten und öffentlichen Archiven zusammenfügt.

Als Verhaltensforscher erneuerte Lorenz 1968 in «Das sogenannte Böse» Freuds unwissenschaftliche These vom Aggressions«trieb». Als Galeonsfigur der Grünen kämpfte er gegen die Atomkraft und prangerte die «Acht Todsünden der Menschheit» und die «Verhausschweinung» des von der Zivilisation degenerierten  Menschen an. Konrad Lorenz, Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen erhalten 1973 der Nobelpreis für Medizin und Physiologie.

Die Online-Zeitung der Universität Wien zitiert am 9. Oktober 2001 in dem Artikel «Der Führer der Graugänse»: «Wie tief Lorenz tatsächlich in den Nationalsozialismus verstrickt war, wurde in den öffentlichen Diskussionen des Jahres 1973 nicht beantwortet». Föger und Taschwer belegen ausführlich, wie sehr das Menschen- und Weltbild im Denken, Schreiben und Forschen von Konrad Lorenz zwischen 1938 und 1945 auch nach dem Krieg bis zu seinem Tod das gleiche war. Benedikt Föger: «Es war uns sehr wichtig, dass dieses Buch gerade keine Anwerfung wird, sondern ausschließlich auf nachvollziehbaren Fakten beruht. Wir wollten auch niemandem aus der Familie nahe treten. Föger … kann sich noch gut daran erinnern, wie kurz nach Beginn seines Studiums eine Schweigeminute für den verstorbenen Konrad Lorenz abgehalten wurde. Später wurde «eine Vitrine am Gang des Biozentrums gestaltet. Da waren dann die Graugänse und ich glaube auch die Dohlen sehr schön dargestellt und unter anderem war auch eine Publikationsliste ausgestellt. Auf der haben sämtliche Artikel der dreissiger und vierziger Jahre gefehlt, die politisch bedenklich waren, von denen aber bekannt war, dass sie existieren.» Föger stösst 1991 auf den Domestikationsartikel von Lorenz aus dem Jahr 1940: «Eines Abends habe ich dort in Ruhe diesen Artikel gelesen und war fassungslos. Es war so, dass ich mir gedacht habe, das gibt’s einfach nicht. Das gibt’s einfach nicht, dass dieser Mensch so hoch gehalten werden kann und auch so sehr als moralische Instanz gilt, wenn er so etwas von sich gegeben hat. Und vor allem sich später nie wirklich davon distanziert hat. Mir war auch ein völliges Rätsel, dass er trotz einer solchen Schrift, die ja bekannt war, den Nobelpreis bekommen hatte. Denn das strotzte nur so von Rassenideologie.» Föger: «Zum Teil wird die Naturwissenschaft immer so als unpolitische Wissenschaft gesehen und sieht sich selbst auch gerne so, gerade die Biologie oder die evolutionäre Psychologie, also die Humanethologie. Dabei sollte man sich durchaus bewusst machen, dass das einfach in dieser Zeit [1933-1945] entstanden ist. Die Schriften aus den 1940er Jahren von Konrad Lorenz sind die Gründungselemente für diese Fachrichtung. … “

 

 

 


 

 

 

Portmann biologische FragmenteAdolf Portmann
Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen
Basel 1969

 

Am 21. Juli 2010 schrieb ein Leser unter dem Pseudonym «Chieminko», der dieses „alte“ Buch wegwerfen wollte, folgende bemerkenswerte Rezension: «Auf der Rückseite des harten, blauen Buches ist gestempelt „Ausgeschieden am 23.5.1989 Goethe-Institut Kyoto Bibliothek“. Weitere 20 Jahre stand das Buch ungelesen in meinem Buecherregal. Soll es jetzt zum Muell kommen? Das antiquarische Buch schien es aber nicht zu wollen. Dann fasste ich Mut und wendete die erste Seite um. Im Vorwort steht : Erschien sind die Studien erstmals 1944. In der 2. Auflage wurde das Werk 1956 unter dem Titel „Zoologie und das neue Bild des Menschen“ neu herausgegeben, wodurch diese Vorarbeiten zu einer umfassenderen Anthropologie im letzten Jahrzehnt weiter verbreitet worden sind. Hiermit weiss man, dass Adolf Portmann ( 1897-1982) nicht nur Biologe, Zoologe, sondern auch Naturphilosoph sowie Anthropologe war. Nach der Einleitung kommt dann das Kapitel „Der neugeborene Mensch“. Schon ganz am Anfang des Kapitels treten zwei Begriffe „Nesthocker“ und „Nestfluechter“ auf, die man im Kopf behalten muss. Was bedeuten sie wohl? Nesthocker wird nicht nur fuer verwoehnte Jugendliche beim Elternhaus gebraucht. Urspruenglich stammt die Bezeichnung aus der Verhaltensforschung. Ein Nesthocker bedarf nach der Geburt noch besonderer Pflege im Nest, waehrend ein Nestfluechter in weit entwickeltem Zustand geboren wird, weil die Entwicklung im Mutterleib viel laenger dauert als bei Nesthockern. Man hat den eigentlich fuer Jungvoegel ueblichen Namen auf die Wirbeltiere ausgedehnt, wo nun allerdings kein Nest vorkommt. Nach Beispiel der Tabelle I (S.29) gehoeren viele Insectivoren, Nager u. marderartige Raubtiere zu den Nesthockern, und Huftiere, Robben, Wale, Affen sowie Halbaffen zu den Nestfluechtern. Zu welchem von beiden gehoert dann ein Menschenbaby? Es reift im Mutterleib zur Stufe des Nestfluechters mit offenen Sinnesorganen u. ausgebildeten Bewegungssystemen heran, aber es ist bei der Geburt ueberhaupt nicht faehig, sich fortzubewegen und angewiesen auf die Totalversorgung der Eltern. Wegen seiner offenen Augen u. Gehoergaenge sollte es eigentlich den Nestfluechtern zugeordnet werden aber durch seine Unfaehikeit zur selbstaendigen Fortbewegung aehnelt es einem Nesthocker. D.h. die Hilflosigkeit des menschlichen Saeuglings ist ein ganz besonderer Ausnahmezustand der Saeuger, die vollentwickelt zur Welt kommen und sich schon unmittelbar nach der Geburt artgerecht verhalten koennen. Durch vergleichende Untersuchung der Entwicklungsverhaeltnisse bei Saeuger kam Portmann zu dem Schluss, dass wir Menschen eigentlich viel zu frueh geboren werden und um den Reifezustand etwa eines Pferde- od. Elefantenbabys zu erreichen, muesste unsere Schwangerschaft etwa 21 Monate dauern, und er ueberzeugte sich, dass wir tatsaechlich es tun !! Er praegte dabei den Begriff der „physiologischer Fruehgeburt“. Wir verbringen ein Jahr nach der Geburt als extrauteriner Embryo. Wegen des „sozialen Uterus“ sei das Menschenkind offen fuer Umwelteinfluesse und koenne vieles lernen, mehr als wenn es Zeit im dunklen, reizarmen Mutterleib verbringe. Das Entscheidende ist, nach Portmann, dass die physiologische Fruehgeburt ermoegliche, das spezifisch Menschliche auszumachen. Das Buch setzt zwar keine eingehende Kenntnisse voraus. Aber wegen des streng wissenschaftlichen, trocknen Stils braucht man vielleicht etwas Geduld, oder schlaeft einfach ein. Ich persoenlich bin fuer das Buch sehr dankbar, weil mir bei der Lektuere eine alte Frage meiner Kindheit eingefallen ist; Immer wenn ich ein Tierprogramm im Fernsehen sah, bewunderte ich etwa wie Pferde-, oder Hirschenbabys, die mit ihren frischgebackenen Beinen aufstanden und nach ihren Muettern rannten. Ich wurde dann nachdenklich, wenn ich sie mit dem Menschenbaby verglich. Auch meine Familie wunderte sich darueber. Warum ist nur ein Menschenbaby so hilflos? Die naive Frage geriet aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit. Dank Portmann hat sich die jaemmerliche Hilflosigkeit unsres Babys zur unersetzbaren, wertvollen Phase unseres Lebens verwandelt, bei der wir erst faehig sind, das Menschliche wie Sprechen, Gehen nud Denken zu lernen. Das Buch ist zwar alt, aber mir kommt es nicht vor, als haetten Portmanns Auffassungen heute schon an Aktualitaet verloren. Es wird nach wie vor in meinem Regal bleiben.»
«Ernsthafte Erforschung von Adolf Portman. URL: http://www.amazon.de/Biologische-Fragmente-einer-Lehre-Menschen/dp/3796504884»Joachim Illies (1976): Das Geheimnis des Lebendigen. Leben und Werk des Biologen Adolf Portmann

 

 


 

 

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Joachim Illies
Das Geheimnis des Lebendigen
Leben und Werk des Biologen Adolf Portmann

1976

«Die Entwicklung der Biologie auf dem gegenwärtigen Stand entscheidender Kenntnisse ist bahnbrechend mitgeprägt worden durch die Arbeiten des international bekannten Basler Gelehrten Adolf Portmann. Dieser bedeutende Schweizer Zoologe, der im Frühling 1982 seinen 85. Geburtstag begehen kann, hat durch seine grundlegenden Forschungen sowie durch seinen klaren geistigen Standort die moderne Biologie auf völlig neuc Wege geführt. Selten wird der Leser bei deI Lektüre einer Biographie derart mitgerissen, wie beim vorliegenden Werk von Joachim Illies. Der Autor hat den Lehrstuhl für Zoologie an der Universität Giessen inne und ist Leiter der Aussenstelle eines Max-Planck-Institutes in Deutschland. In formvollendetem Deutsch skizziert er den Werdegang und die Forschungsarbeit Portmanns, dessen bahnbrechende Ideen über biologische Anthropologie – um nur ein Beispiel zu nennen – einen wesentlichen naturwissenschaftlichen Beitrag unserer modernen Zeit zu einer Lehre des Menschen darstellen.» (weiterlesen)

Als 1976 die «Goethe-Stiftung für Kunst und Wissenschaft» Adolf Portmann den «Goethe-Preis für Kunst und Wissenschaft» verlieh, sagte Rudolf Trümpy in seiner Laudatio: «Als Vertreter der Naturwissenschaften im Stiftungsrat bin ich beauftragt worden, den Goethe-Preis für Kunst und Wissenschaft Adolf Portmann zu überreichen. Es liegt gerade bei Adolf Portmann ein hoher Sinn darin, dass diese Auszeichnung den Namen Johann Wolfgangs von Goethe trägt. Sein gesamtes Wirken ist von tiefem und ernstem Humanismus geprägt; es gilt dem beständigen Streben nach einem ganzheitlichen Welt- und Menschenbild. Wie kein Anderer hat er sein Wissen, sein Denken und sein Fühlen aus der Studierstube herausgetragen; Unzählige hat er zum Nachdenken über die Grundprobleme der Biologie und der Menschwerdung geleitet.»

 

 


 

 

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Adolf Portmann
Naturschutz wird Menschenschutz
Zürich 1971

 

Sieht man die hemmungslose Entfaltung wirtschaftlicher und technischer Macht an, dann ist man „nicht ohne weiteres bereit, den Befreiungskampf des abendländischen Geistes von dogmatischen Fesseln der Kirche einseitig nur im Bild des Aufsteigs von Nacht zum Licht darzustellen … Niemand wird aus der Sicht unserer Zeit und trotz der neuen Bedrohungen durch die Technik den Kampf der Kirche nun rückblickend gutheissen. … Doch das Wissen darum, dass es einer grossen geistigen Macht möglich war, den Kampf gegen die wissenschaftliche Neugier während Jahrhunderten in der Lebenspraxis wirksam zu führen, lenkt den Blick der heute ratlosen, bedrohten Menschen auf ein zentrales Problem unserer Zeit: Wo ist heute die Macht, wo sind heute die Mächte, die eine weithin erkannte Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bedrohung durch die Technik tatkräftig führen könnte? … Bezeichnend für die Verwirrung der Gemüter beim Forschen nach den Ursachen des Heraufkommens der Technik ist der Versuch von seiten amerikanischer Soziologen, von Theologen sekundiert, die judeo-schristliche Weltsicht dafür verantwortlich zu erklären. Schuld am Hochkommen der Technik ist nach dieser Ansicth die von der altbiblischen und christlichen Lehre verbreitete Auffassung des Menschen als höchstes Wesen der ganzen irdischen Schöpfung, das Wesen, das zur Herrschaft berufen und für sie geschaffen sei! Diese Behauptung übergeht völlig die viel wichtigere Tatsache, dass trotz dieser Einstellung zum Menschen die judeo-christliche Dogmatik 2000 Jahre lang jede explosive Entwicklung des Forschung und Technik nach Kräften verhindert hat aus der klaren Einstellung gegen die Wissbegierde. … Die Gestaltung [die Lebensformen, MN] um uns, ohne uns und vor uns in Jahrmillionen geworden, sind Glieder einer lebendigen Welt, die wir nicht selbst machen können und deren Komplexität und Rätselhaftigkeit um so deutlicher vor uns steht, je mehr wir durch die Forschung vom Mikrokosmos des Lebensstoffs erfahren. Diese vertiefte Einsicht muss in uns das Gefühl der Ehrfurcht vor diesem ohne uns Gewordenen wecken, eine neue, vom Wissen geförderte Ehrfurcht, ein Wissen nicht nur um neue Fortschritte der Forschung, sondern um die Verantwortung unserer Nachwelt gegenüber, die das Recht auf ein Dasein inmitten der Fülle des Lebens hat, die uns Heutige noch umgibt. Nur der Aufbau solcher Ehrfurcht … kann für die Zukunft die  Legitimation einer neuen Haltung der Natur gegenüber geben, …, aus der heraus Wille und Macht wirksam werden können, um den heutigen grenzenlosen Egoismus des Gewinns oder des technischen Ehrgeizes einzudämmen, zu beherrschen. … Der Schutz aussermenschlichen Lebens ist Schutz unseres eigenen Daseins vor entsetzlicher seelischer Verödung. So erhält heute das Wort Naturschutz einen neuen erweiterten Sinn: als Umweltschutz für die Erhaltung der Voraussetzungen der menschlichen Existenz – als Bewahrung des Lebendigen, das wir nicht selbst machen können. … Es wird nicht lange gehen, und Naturschutz als Menschenschutz wird auch für die Orientierung der Forschung ein Leitmotiv von grösster Bedeutung sein. — Die neuen Normen der Mässigung zu finden …, das ist ein grosse Aufgabe der Erziehung auf allen Stufen des menschlichen Wirkens.» So zieht der Zoologe, Anthroploge und Philosoph Aldolf Portmann (1897 – 1982) im Rückblick auf seine mehr als ein halbes Jahrhundert dauernde reiche Lehr-, Forschungs- und Lebenserfahrung die Schlussfolgerung für einen echten humanen Naturschutz. Diese Schlussfolgerung endet weder in der Frontstellung der Tiefenökologen und Mathusianer gegen den Menschen: Schutz der Natur vor dem Menschen durch „die backs“ („Zurücksterben“). Noch im Diktaturgehabe grüner Populisten.

 

 


 

 

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Adolf Portmann
Das Tier als soziales Lebewesen

 

Von Anbeginn seiner zoologischen Forschungen an erforschte Portmann neben dem Menschen auch Wahrnehmung und Handeln der Tiere. Lange vor Lorenz und Tinbergen ist er ein zu unrecht vergessener Pionier der Verhaltensforschung. Seine Dissertation schrieb er über das Verhalten der Libellen am Oberrhein. 1953 veröffentlicht er ein weiteres verhaltensbiologisches Grundlagenwerk: „Das Tier als soziales Wesen“. Portmann schätzte die soziale Dimension in der Tierwelt hoch ein und prägte massgeblich ein neues Verständnis vom Tier: Tiere haben eine „Innenwelt“. Darin war Portmann geprägt von Jakob Johann von Uexküll. Portmann spricht auch von der „Innerlichkeit“. Überflüssige Anfeindungen sahen darin etwas Mystisches. Portmann zeigt in diesem Buch im Durchgang durch diele Tierarten, dass mit Innerlichkeit nichts anderes gemeint ist als die Tatsache, dass wir auch im tierischen Leben auf je eigene Art das finden, was wir beim Menschen „Subjekt“ nennen: ihre auf einer „geistigen“ „Innenwelt“ beruhende Fähigkeit, selbst wahrzunehmen, zu erleben und spontan zu handeln. Zusammen mit Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen prägte Adolf Portmann mit seiner Auffassung vom Sozialen in der Menschen- und Tierwelt die Philosophische Anthropologie des Zwanzigsten Jahrhunderts massgeblich.

 

 


 

 

17005144865Adolf Portmann
Tötungshemmung und Arterhaltung.
In: Die Frage der Todesstrafe. Zwölf Antworten
Frankfurt/Main & Hamburg 1965

 

„Man wird dem Biologen dafür dankbar sein, daß er mit einer Denkweise bricht, die in der Natur nichts als Kampf sehen wollte und alle in andere Richtungen weisenden Erscheinungen nur als trügerischen Schein wertete, der einen verborgenen, aber unablässigen Kampf aller gegen alle für uns nur verschleierte. Adolf Portmann erinnert gern an ein Zitat von Thomas Henry Huxley, dem Großvater von Aldous und Julian Huxley, der, ähnlich wie Ernst Haeckel in Deutschland, die Darwin’sche Lehre in England popularisierte. Nach Huxley stand „vom Gesichtspunkt des Moralisten“ die Tierwelt ungefähr auf demselben Niveau wie der „Gladiatorenkampf“, der übrigens von der gleichen Struktur eines Kampfes „für Zuschauer“ ist wie die vorhin erwähnten Hahnenkämpfe: ‚Die Kämpfer werden gut genährt und zum Kampf losgelassen, wobei der Stärkste, Behendeste und Gerissenste leben bleibt, um noch am nächsten Tag zu kämpfen. Der Zuschauer braucht seinen Daumen nicht zu senken; denn kein Pardon wird gegeben.‘ Hier wurde also schlichtweg behauptet, die Natur im Ganzen benehme sich so, wie sie sich benimmt, wenn sie vom Zuschauer Mensch veranlaßt wird, in ihren Instinkten zu entarten. Sich auf einen so verstandenen ‚Kampf ums Dasein‘ zu berufen, im Sinne einer naturwissenschaftlichen Rechtfertigung politischer Ziele, wie das in der Vergangenheit so oft geschah, wird in Zukunft also nicht mehr so leicht fallen können.“

 

 


 

 

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Adolf Portmann
Entlässt die Natur den Menschen?
Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie

1970

 

«Hände weg von der Umzüchtung des Menschen! Das zwanzigste Jahrhundert brachte die Revolution durch Biochemie und Biophysik. Molekularbiologie erlaubt nun gewaltige Missbräuche, weil unsere Kenntnis der Ökologie erstaunlich gering ist. Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft wird mit den – unter Umständen durchaus positiven – Forschungsergebnissen nicht fertig. Künstliche Besamung und Versuche über die Aufzucht der Keime ausserhalb des Mutterkörpers bringen juristische, soziale und seelische Probleme, ja sogar politische mit sich. Die Konsequenzen der Versuche über Hirnentwicklung und Intelligenzsteigerung, über Drogen und Medikamente sowie die Verlängerung der Lebensdauer müssen unbedingt abgeklärt und überdacht werden. Die Regeln und Gebote der Vergangenheit gelten heute nicht mehr; neue Entscheidungen stehen bevor. Dennoch gibt es eine „zu bewahrende Norm“: Hände weg von der biologischen Umzüchtung des Menschen! Die werdende Biotechnik hat genug heilende Aufgaben: Hilfe für die Bewahrung der Natur um uns, Hilfe für die faktischen Leiden des Menschen.» Diese mahnenden Worte Portmanns erschienen sinnigerweise in der „Arche Nova“. Sie bilden zugleich den letzten seiner in diesem Band vereinten 21 Aufsätze aus der Zeit von 1955 bis 1970.

 

 

 


 

 

 

Michael Landmann
Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur
München 1961 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Michael Landmann
Philosophische Anthropologie. MenschlicheSelbstdeutung in Geschichte und Gegenwart.
Berlin 1964

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

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Michael Tomasello
Warum wir kooperieren
Frankfurt/Main 2010 

 

Michael Tomasello, 1950 in Bartow/Florida geboren, promovierter Psycholog, war lange Jahre Professor für Psychologie und Anthropologie an der Emory University. Seit 1998 ist er Ko-Direktor am Max Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. 2010 wurde er mit dem Max-Planck-Forschungspreis ausgezeichnet.

In der europäischen Kulturgeschichte wird die Frage nach der Natur des Menschen von zwei grundsätzlichen Positionen bestimmt: (1) die Menschen kämen egoistisch zur Welt und die Gesellschaft müsse ihnen Kooperation anerziehen; (2) die Menschen seien von Natur aus kooperativ veranlagt, könnten aber später durch Erziehungs- und Kultureinflüsse egoistische Haltungen entwickeln. Michael Tomasellos Studien mit Kindern und Schimpansen bestätigen wieder einmal die aus der philosophischen Anthropologie überkommene Auffassung, dass Kinder mit einer Disposition zur Hilfsbereitschaft und Kooperation geboren werden, dass sie unter dem Einfluss von  Erziehung- und der Kultureinflüssen antisoziale und egozentrische Haltungen und Charaktereigenschaften auf der «unnützen Seite des Lebens» erlernen können. Tomasellos Befunde verifizieren damit empirisch die alte naturrechtliche Auffassung der philosophischen Anthropologie vom zoom politikon (Aristoteles), das aufgrund seiner angeborenen mitmenschlichen Neigungen erziehungsbedürftig und erziehbar ist. Tomasellos Befunde stimmen in hohem Masse mit der Anthropologie des Zoologen Adolf Portmanns überein, bestätigen und ergänzen sie; ebenso mit den anthropologischen Grundlagen des personalen Stroms innerhalb der Tiefenpsychologie, vor allem der Individualpsychologie Alfred Adlers und der Neoanalyse.

 

 


 

 

Montague aggessionAshley Montag (Hg.)
Mensch und Aggression: Der Krieg kommt nicht aus unseren Genen
Weinheim 1974

 

«Die von DARWIN beschriebene und mittlerweile durch anthropologische Studien belegte biologisch tiefverwurzelte soziale Orientierungsfähigkeit des Menschen hat sich im Laufe der Evolution als eindeutiger Selektionsvorteil herausgestellt. Die Notwendigkeit der Gruppenorientierung, der Kooperation, der gegenseitigen Rücksichtnahme und Vertrauenswürdigkeit als Bestandteile eines „evolutionsbedingten Gemeinschaftsgefühl [s] und -verhalten [s]“ (LEAKEY & LEWIN 1977) bilden die Grundlage eines wissenschaftlichen Verständnisses menschlichen Handelns. Auch aus diesem Grunde gehören Annahmen über einen biologisch bedingten Aggressionstrieb in den Bereich der Spekulation und der Ideologie (vgl. MONTAGU 1974; BANDURA 1979; MUMMENDY 1984).»
Aus: Aspekte der menschlichen Sozialnatur. URL: http://www.adhs-schweiz.ch/Bilder/Aspekte_der_menschlichen_Sozialnatur.pdf

 


 

 

LewontinR. C. Lewontin, S. Rose & L. J. Kamin
Die Gene sind es nicht
München 1988

 

Seit über 100 Jahren behaupten biologische Deterministen, dass alles Verhalten in den Genen festgelegt sei, und rechtfertigen damit alle Ungleichheiten in Status, Rasse und Geschlecht als ’naturgegeben‘ und ‚unvermeidbar‘. Eine leidenschaftliche und umfassende Kritik dieser Ideologie liefern nun die bekannten Wissenschaftler Richard C. Lewontin, Zoologe, Steven Rose, Neurobiologe und Leon J. Kamin, Psychologe. Sie geben einen systematischen Überblick über die wissenschaftlichen und sozialen Wurzeln dieser Theorie. Am Beispiel zentraler Problemfelder wie Intelligenzmessung, Geschlechtsrollen, psychisch abweichendes Verhalten, politisch unerwünschter Protest u. a. zeigen sie die nachteiligen Auswirkungen deterministischen Denkens. Die Autoren belassen es aber nicht bei ihrer Kritik, sondern skizzieren als wünschenswerte Alternative eine emanzipierende Sicht der Biologie und Psychologie vom ‚Wesen der menschlichen Natur‘.

 


 

 

21J5Q0EHVHL._BO1,204,203,200_Wolfram Henn
Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte nicht arm dran sind
Der Mythos von den guten Genen
Freiburg/Br. 2004

 

Aus dem Inhalt: «Kehren wir nun zu unserer eingangs gestellten Frage zurück, ob wir angesichts des neuen Wissens aus Biologie und Genetik ein neues Menschenbild entwerfen müssen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Wir sind dabei davon ausgegangen, dass ein solches neues Selbstverständnis nur dann nötig wäre, wenn uns die Naturwissenschaften moralisch bedeutsame neue Einsichten über uns selbst gebracht hätten. Ist dies der Fall? Ich meine, die Antwort lautet eindeutig nein. … Jeder Mensch muss damit rechnen, genetisch kranke Nachkommen zu haben. Erwünschte Eigenschaften des Nachwuchses können nicht durch Genmanipulation gefördert werden, sondern nur durch Erziehung. … ‚Gute‘ oder ’schlechte‘ Gene gibt es nicht; … Eugenik als kollektive Erzeugung von ‚Erbgesundheit‘ kann nicht funktionieren, weil es dafür weder sinnvolle Ziele noch taugliche Mittel gibt.»

 


 

 

14380086544Leon Kamin 
Der Intelligenz-Quotient in Wissenschaft und Politik
Darmstadt 1979

 

«Cyril Burt, der bis 1963 Lehrstuhlinhaber des Instituts für Psychologie des University College in London war, hatte unter mehr als 20 Pseudonymen u.a. „Margaret Howard“ und „Joan Conway“ im „British Journal of Statistical Psychology“, deren Herausgeber er war, publiziert. Mit erfundenen Untersuchungen versuchte er zu untermauern, daß Intelligenz eine ererbte Eigenschaft sei. Dabei ging es um eineiige Zwillinge, die in unterschiedlicher Umgebung aufgewachsen waren. Ergebnis: 80% der Intelligenz sind ererbt. Leon Kamin, Psychologieprofessor in Princton USA, war es dann, der statistisch Fehler nachwies und den Stein ins Rollen brachte
Walther Umstätter: Informationsmanagement und die Schlamperei in der Wissenschaft

 


 

A. Mummendey, V. Linneweber & G. Löschper
Aggression: From Act to Interaction

In: A. Mummendey (Hrg.): Social Psychology of Aggression
Berlin 1984, S. 69-106

 

 

 

 

 

 


 

Bandura AggressionAlbert Bandura
Aggression: Eine sozial-lerntheoretische Analyse
Stuttgart 1979

 

Aggression beruht nicht auf einem Triebgeschehen, sondern auf dem «Lernen am Modell»: «Vorschulkinder wurden in vier Gruppen eingeteilt, die unterschiedliche Erfahrungen machten: Gruppe 1 machte die Beobachtung eines aggressiven Erwachsenen. Gruppe 2 beobachtete den gleichen Erwachsenen in einem Film. Gruppe 3 wurde eine als Katze verkleidete Figur in einem Film mit gleichem aggressivem Verhalten präsentiert. Gruppe 4 war Kontrollgruppe ohne aggressives Modell. Das aggressive Verhalten bestand in der Mißhandlung einer großen Puppe. Anschließend wurden die Kinder in einen Raum gebracht, in dem sich die Spielpuppe befand. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Die Kinder der Experimentalgruppen 1 – 3 zeigten fast doppelt soviele aggressive Akte, wie die der Kontrollgruppe 4. Das menschliche Filmmodell (Gruppe 1) hat dabei offensichtlich die stärkste Wirkung gehabt. Bandura führte in einem weiteren Laborexperiment mit 96 Kindern (Alter im Schnitt: 4,5 Jahre) eine weitere Untermauerung seine Konzeption des Modell-Lernens durch. Dazu wurden die Kinder in fünf Gruppen eingeteilt, von denen die (1) erste erwachsene Personen beobachtete, die einer Plastikpuppe körperlich und verbal aggressiv zusetzten. (2) Die zweite Gruppe sah die gleiche Szene als Film, (3) die dritte dasselbe modifiziert als Trickfilm. (4) Die vierte Gruppe sah einen Film, in dem die Erwachsenen keinen aggressiven Handlungen nachgingen. (5)Die fünfte Gruppe schließlich erhielt gar keine Darbietung. Anschließend wurden alle Kinder durch die Wegnahme ihres momentanen Spielzeugs frustriert und in einen Raum gebracht, der neben anderen Gegenständen die gleiche Plastikpuppe enthielt, die während der Darbietung verwendet worden war. Es zeigte sich eindeutig, dass alle Kinder, denen ein sich aggressiv verhaltendes Modell präsentiert worden war, in der anschließenden Spielsituation deutlich mehr aggressive Verhaltensweisen insgesamt zeigten, als Kinder, denen ein nicht-aggressives Modell oder gar keins angeboten worden war
Werner Stangel: Lernen am Modell – Albert Bandura. URL: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNEN/Modelllernen.shtml

 


 

 

der_falsch_vermessene_mensch-9783518281833_xxlStephen Jay Gould
Der falsch vermessene Mensch
Frankfurt/Main 1984

 

Messen und Klassifizieren sind Elemente der Wissenschaft und gehören zu den Garanten von Objektivität. Doch Zahlen und Klassifikationen können auch die Urteile und Vorurteile der Wissenschaftler wiederspiegeln. Mit den Schädelmessungen begannen im 19. Jahrhundert die Versuche, die menschliche Intelligenz zu messen. Später hat man den Intellgenzquotienten eingeführt. Damit wurde Intelligenz verdinglicht. Und das führte wiederum zu falschen Beurteilungen und Einteilungen der Menschen nach Rassen und Schichten. Das Dogma, dass gelernte Unterschiede zwischen Menschen hauptsächlich aufs „Erbgut“ zurücktzuführen seien, wurde damit zementiert. Als Folgen sind bestürzenden Unmenschlichkeiten und Ungerechtigkeiten zu beklagen. Es stimmt nicht, dass die biologische Ausstattung des Menschen schicksalbestimmend ist. Gould deckt historisch systematisch die Fehler der Theoriegeschichte des wissenschaftlichen Vererbungsdenkens auf. (Volker Sommer: Das krumme Ding mit der Intelligenz. Stephen Jay Goulds Abrechnung mit den Intelligenzforschern aus zwei Jahrhunderten. ZEIT vom 13. April 1984)

 

 

 


 

 

 

41Ahq3781EL._SX327_BO1,204,203,200_Felix Hasler
Neuromythologie
Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung
2013

Alle machen Hirnforschung. Kaum eine Wissenschaftsdisziplin kann sich wehren, mit dem Vorsatz Neuro- zwangsmodernisiert und mit der Aura vermeintlicher experimenteller Beweisbarkeit veredelt zu werden. Die Kinder der Neuroinflation heißen Neurotheologie, Neuroökonomie, Neurorecht oder Neuroästhetik. Der gegenwärtige Neurohype führt zu einer Durchdringung unserer Lebenswelt mit Erklärungsmodellen aus der Hirnforschung. Bin ich mein Gehirn? Nur ein Bioautomat? Felix Haslers scharfsinniger Essay ist eine Streitschrift gegen den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten: ein Plädoyer für Neuroskepsis statt Neurospekulation.

 

 

 


 

 

 

Wie_der_Mensch_OriginalRichard E. Leakey & Roger Lewin
Wie der Mensch zum Menschen wurde
Hamburg 1977

 

Richard E. Leakey, Direktor des Nationalmuseums in Nairobi/Kenia, ist ein angesehener Paläontologe und Anthropologe; Roger Lewin ist Biochemiker und naturwissenschaftlicher Herausgeber der Zeitschrift „New Scientist“. Ein Hauptanliegen der Autoren ist es, die These vom angeborenen Aggessionstrieb des Menschen zu widerlegen, die gerade heute oft genug als Entschuldigung für alle möglichen menschlichen Verhaltensweisen herhalten muss. Ihrer Ansicht nach ist im Gegenteil die Kooperationsbereitschaft das Hauptcharakteristikum des Menschen, das sich während der über Millionen Jahre dauernden Existenzform als Jäger und Sammler herausgebildet hat.
Im Kapitel «Zukunft der Menschheit» heisst es: «Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Unterscheidung zwischen sogenannten Weissen und sogenannten Schwarzen eine der grössten Bedrohungen für den Frieden in unserer Welt darstellt. Ganz abgesehen von den sterilen und hohlen Argumenten, mit denen der Nachweis für Unterschiede der Intelligenz bei Schwarzen und Weissen erbracht werden soll, ist eine Einteilung der Menschheit in zwei solch starre Kategorien barer Unsinn. Es gibt keine wirklich schwarzen oder weissen Menschen. Natürlich variiert der Grad der Pigmentierung innerhalb der verschiedenen Völker, und das muss auch so sein, weil das Pigment die Funktion hat, die Haut vor ultravioletten Strahlen zu schützen. Denn je mehr man sich dem Äquator nähert, um so unfiltrierter erreichen diese Strahlen den Körper und erhöhen damit die Notwendigkeit eines Schutzfaktors. Deshalb ist es ganz klar, dass Völker, die seit langen Zeiten in der Nähe des Äquators leben, eine stärker pigmentierte Haut haben als weiter entfernt lebende. Deshalb kann man nur von unterschiedlichen Brauntönen sprechen und nicht von einer Schwarz-Weiss-Trennung

 


 

 

KolonialismusBuchcoverHeiko Möhle (Hg.)
Branntwein, Bibeln und Bananen – Der deutsche Kolonialismus
in Afrika – eine Spurensuche
Berlin/Hamburg 2011

 

«Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal vergangen» – dieser Leitspruch könnte für das Buch stehen, das hier in vierter, durch einen Index und ein Literaturverzeichnis erweiterter Auflage erscheint, genauso aber auch für das Werk Heiko Möhles insgesamt. Das Besondere an seinem Wirken ist, dass es die Gegenwärtigkeit des Vergangenen nicht nur analytisch erfasst, sondern sie auch sinnlich erfahrbar gemacht hat. Dafür ist Hamburg, das «Tor zur Welt», mit seiner Kolonialgeschichte ein günstiger Ort. Dies zieht sich durch von der ersten Stadtrundfahrt «Hamburg-Dritte Welt» 1989, noch im universitären Kontext, bis zu den vielen gut besuchten kolonialhistorischen Stadtrundgängen, die er bis kurz vor seinen Tod 2010 durchgeführt hat. Titel wie «Sklaven, Schnaps und Schokolade», «Zwischen Völkerschau und Tropeninstitut» oder «Branntwein, Bibeln und Bananen» (so der Titel des kolonialhistorischen Stadtrundgangs von der Börse zur Speicherstadt im Hafen) sind vielen Hamburgern im Ohr. Genauso die Hafenrundfahrten, zu denen Heiko Möhle maßgeblich beigetragen hat: «Hoffnung Hafen», «Von Schatzkisten und Pfeffersäcken», «Tor zum Weltreich» oder «Meer-Bananen-Republiken». Hier geht es in unterschiedlichen Facetten um Welthandel, Migration und Kolonialgeschichte, an wechselnden Orten und mit wechselnden Medien, auch mit Musik und Literatur.
Aus: Peter Langlo & Christoph Schmitt: Branntwein, Bibeln und Bananen – Der deutsche Kolonialismus in Afrika. Nachruf auf Heiko Möhle. In: Neue Rheinische Zeitung. Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2016.

 


 

 

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Ruth Benedict
Urformen der Kultur
Hamburg 1955

 

Die Anthropologie befasst sich mit dem Menschen als Geschöpf der Gesellschaft. Für den Anthropologen sind unsere Sitten und Gebräuche und die irgendeines Stammes in Neuguinea zwei möglich Gesellschaftssysteme, die sich mit der Lösung ein und derselben Aufgabe befassen. Anthropologie war solange unmöglich, als die Unterscheidung zwischen uns und dem Primitiven, zwischen uns und dem Barbaren, zwischen uns und dem Heiden unser Denkbild in Banne hielt. Wir mussten uns erst von dem alten Trugbild losmachen, dass wir  nicht mehr unwillkürlich unsere Religion dem Aberglauben unserer Mitmenschen entgegensetzten. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam diese Elementarerfordernis der Anthropologie auch nicht dem hellsten Kopf in unserer westlichen Kultursphäre zum Bewusstsein. Die neue Völkerkunde, wie sie von Benedict, Mead und Malinowski begründet wurde, zeigt, dass die Verhaltensweise des Menschen nicht rein biologisch erklärbar sind. Der Mensch verfügt nicht über eine biologisch vorbestimmte kulturelle Welt. Er muss sich Kultur selbst schaffen. Der Mensch ist sich selbst ständig Aufgabe. Kultur ist die umgearbeitete Natur, ohne die der Mensch nicht leben kann. Diese Lebensform, nur in und durch Kultur als Mensch leben zu können, ist des Menschen natürliche Lebensform. Ruth Benedicts Werk gehört zu den Pionierleistungen der neuen Kulturanthropologie, die vor und nach dem Zweiten Weltkrieg dem westlichen Kulturimperialismus eine wissenschaftliche Absage erteilt.

 

 


 

 

Anne Löchte
Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea
2005

 

Das Buch ist die Doktorarbeit von Anne Löchte. Johann Gottfried Herder gehört zusammen mit Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe und Christoph Martin Wieland zum «Weimarer Viergestirn». Es handelt sich um die bedeutendsten Dichter und Schriftsteller der «Weimarer Klassik». Sie arbeitet heraus, dass Herder ein scharfer Gegner von Kolonialismus, kulturellem Hochmut und Rassismus ist. Herder verabscheut den zerstörerischen und kriegerischen Nationalismus. Er verachtet die Arroganz des Adels, kritisierte den Staat Friedrichs des Grossen und bewundert die direkte athenische Demokratie der Antike. Er ist als gläubiger Christ scharfer Gegner des Machthungers der damaligen römischen Kirche. Er hält die Selbstbestimmung für das natürliche Recht einer jeden Kultur, preist Völkerverständigung, friedlichen Kulturaustausch und das Lernen der Völker voneinander. Nichts ist ihm fremder als das, was wir heute «nation building», «humanitäre Intervention» oder Kulturimperialismus nennen würden. Er war scharfer Gegner von Eroberung und Imperialismus. Das grosse Verdienst von Anne Löchte besteht darin, in ihrem Buch Herder von einer grossen Menge an Angedichtetem und Ignorantenschmutz befreit zu haben. Man sagte ihm nach, es führe von ihm ein direkter Weg zu völkischer «Teutomanie». Er habe die erste «geschlossene Theorie des modernen Nationalismus vorgelegt». Er sei ein «historischer Relativist», er liefere eine «Legitimierung des Kolonialismus», weise «rassistische Tendenzen» auf und sehe den «weissen Mann» als «Ur-Menschen» usw. Den Gipfel der Ignoranz bildet Nathan Gardels vernichtendes Urteil: «Of course, Herder’s Volksgeist became the Third Reich.»[6] Was einem der grössten Humanisten der «spezifisch deutschen Kultur» in mehr als hundert Jahren angehängt worden ist, erinnert an Goethes beissende Verse aus den Zahmen Xenien: «Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.»

Anne Löchte bemerkte zum Beispiel auch, dass der moderne Kulturbegriff der von Frans Boas begründeten Kulturanthropologie auf Herder und auf Wilhelm von Humboldt und auf dessen geographische, geschichtliche und psychologische Forschungen zurückgeht. In der Tat waren es gerade Herder und Humboldt, die Frans Boas tief geprägt hatten, als der junge Deutsche mit 29 Jahren wegen einer Liebe in die USA auswanderte. Geboren 1858 in Minden/Westfalen, wuchs Frans Boas auf als Sohn liberaler, weltoffener jüdischer Eltern, Sympathisanten der Freiheitsideen der 1848er Revolution und Anhänger der Aufklärung und der Weimarer Klassik. Er besuchte das Mindener Gymnasium mit seinem klassischen humanistischen Fächerkanon, las seinen Homer und interessierte sich früh für fremde Kulturen. An den Universitäten Heidelberg, Bonn und Kiel studierte er Mathematik, Physik und Geographie und legte 1881 mit 23 Jahren sein erstes Doktorexamen ab. Er wurde Assistent am Berliner Völkerkundemuseum, wo ihn Rudolf Virchow, der Begründer der naturwissenschaftlichen Medizin, förderte. 1885 legte er mit 27 Jahren in Berlin sein zweites Doktorexamen in Geographie ab. Dieser im Geiste der Aufklärung, des Humanismus, der Weimarer Klassik und des Liberalismus erzogene und gebildete Deutsche Frans Boas begründet mit dem geistigen Rüstzeug der europäischen Kultur, in dessen Zentrum die «spezifisch deutsche Kultur» stand, in den USA die moderne Kulturanthropologie. Heute wird sie bedenkenlos «amerikanisch» genannt …

Die ernsthafte Beschäftigung mit Herder hat in der letzten Zeit zugenommen. Man kann dankbar sein, dass Anne Löchte eine sachliche Auseinandersetzung mit Herders Kulturauffassung vorgelegt hat. Zweitgutachter war Hansjakob Werlen, Mitglied der Internationalen Herder-Gesellschaft. Die Arbeit wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung mit Geldern des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschunggefördert. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein unterstützte den Druck. Eine «übergreifende Untersuchung», schreibt Löchte, sei nicht zuletzt deswegen geboten gewesen, «weil es in der Rezeptionsgeschichte [Herders] zahllose falsche Darstellungen gibt, deren Spektrum von vergleichsweise harmlosen Fehlinterpretationen bis zu abstrusen Schuldzuweisungen reicht.»[8] Die ernsthafte Beschäftigung mit Herders Werk habe in den letzten Jahrzehnten zugenommen, berichtet sie. Das war auch dringend nötig, wie der Rundbrief der Internationalen Herder Gesellschaft vom April 2004 deutlich macht, worin von der «völlig windigen Herder-Kenntnis der Gegenwart» beklagt wird.

Anne Löchte schreibt sachlich, differenziert. Sie wägt bedächtig und genau ab und wird Herder historisch gerecht. Sie untersucht seine Vorstellungen von Kultur und Humanität von den Ideen über die Humanitätsbriefe bis zum Spätwerk Adrastea. Sie will einen Forschungsbeitrag leisten und nicht die Aktualität von Herders Ideen aufzeigen. Dies bleibt dem Leser überlassen. Dieser hält mit Anne Löchtes Studie ein Werk in Händen, mit dem er über die wirklichen Absichten und die zutiefst humanen Ideen eines der grössten Denker der (eigenen) deutschen Kultur nachdenken und dessen Bedeutung für unsere Zeit selbständig abschätzen kann. Das Buch ist zudem, obwohl nicht so beabsichtigt, durch seine Sachlichkeit ein sehr aktuelles Buch zur Frage nach der «spezifisch deutschen Kultur», aber auch zur gründlichen Klärung der Frage, was denn eine Kultur überhaupt ist und warum das Leben in Kulturen die natürliche Lebensform des Menschen ist.

In den sechziger Jahren begannen Schulaufsätze noch gerne mit Sätzen wie «Schon die alten Griechen wussten …» Was die «völlig windigen Herder-Kenntnisse der Gegenwart» betrifft, könnte man sich daran erinnern, dass schon die alten Griechen wussten, dass die Klugheit die Grundlage der historischen Gerechtigkeit ist. Klugheit sei, meinten sie, wenn man einen Menschen so wahrnehmen kann, wie er ist, nicht wie es einem beliebt. Zu den gefährlichsten Dingen gehört die langsame Verzerrung des historischen Gedächtnisses einer Kultur für ihre eigenen humanen Leistungen, also für die positive Seite ihrer Identität. Hier liegt die Aufgabe: Was die «spezifische deutsche Kultur», ja was Kultur in Wirklichkeit ist, aus seiner Vergessenheit wieder zu befreien. Das historische Gedächtnis der europäischen Völker für ihre eigenen kulturellen Leistungen muss wieder wirklichkeitsgetreu werden. Herders Rehabilitation durch Anne Löchte war ein wichtiger Schritt dazu.

 

*

 

Anne Löchtes Bemerkung, dass der Kulturbegriff der modernen Kulturanthropologie massgeblich auch auf Johann Gottfried Herder zurückgeht, findet sich hervorragend herausgearbeitet in:

Christian Grawe
Herders Kulturanthropologie. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit im Lichte der modernen Kulturanthropologie
Bonn 1967

 

 

 

 


6.  Eugenik, Euthanasie


 

 

51xukW+tqqL._SX408_BO1,204,203,200_Ludger Weß
Die Träume der Genetik
2. Auflage

Frankfurt/Main, Mabuse 1998

 

Die Gen-Technologie ist heute als Machtwissenschaft an die Seite der Atom-Technologie getreten. Wie begreifen die Genetiker selbst ihre Forschungstätigkeit? Darüber geben die Lehrbücher der Genetik keine Auskunft, obwohl fast alle Genetiker, die die Entwicklung Ihrer Disziplin maßgeblich beeinflußten, programmatische Texte hinterlassen haben: Träume von der Macht über das Leben und einer besseren Welt, die mit Hilfe von Gen-Technik Wirklichkeit werden sollten. Diese Machtvisionen sind ein Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Entwicklungen in der Genetik und Fortpflanzungsmedizin. Dieses Buch enthält die politischen Manifeste namhafter Pioniere der modernen Genetik über den Einsatz von Samenbanken, Retortenbabies und menschlichen Genkarten zur „Befreiung der Frau“ und zur Herstellung einer „wohlhabenden, befriedeten Weltgesellschaft“. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese gentechnischen Sozialutopien die Theorie und Praxis der Genetik bis heute beeinflußt haben. (Rezension von Frau Dr. med. Overdick-Gulden, «Ärzte für das Leben».)

 

 


 

 

F-Wagner+MenschenzüchtungF. Wagner, W. Heitler, A. Portmann, G.H. Schwabe, W. Kütemeyer, K. Rahner, F. Vonesse, G. Strickrodt
Menschenzüchtung
Das Problem der genetischen Manipulation des Menschen
München 1970

 

Als Genetik erhebt die Biologie heute den Anspruch, den universalen Eingriff der Wissenschaft in die Natur auf die Natur des Menschen selbst zu richten durch planmäßige Veränderung seiner Erbanlagen, seiner Persönlichkeit und seiner Aufbaustrukturen einschließlich des Gehirns. Im vorliegenden Band wird das Problem der genetischen Manipulierung des Menschen von hervorragenden Fachgelehrten unter dem Gesichtspunkt der Biologie, Physik, Medizin, Soziologie, Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft kritisch untersucht.

 

 


 

 

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Günter Altner, Ernst Benda, Georges Fülgraf
Menschenzüchtung, eth. Diskussion über die Gentechnik.
Im Auftrag der Leitung des Deutschen Evangelischen Kirchentages
1985

 

Der Band vereinigt die Vorträge und die Podiumsdiskussion zum Thema Gentechnik vom Deutschen Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf 1985. Welche zum Teil beklemmenden Perspektiven sich aus den Gentechnik ergeben, darüber informiert Georges Fülgraff. Die berechtigte Sorge gegenüber Gen-Wissenschaftlern, die erklären, «Ersatzmutterschaft wäre der erste Schritt zu Fortpflanzungstechniken, bei denen man eigene Kinder herstellen lässt und sie als fertige Produkte übernimmt» sei keine Technik- oder Wissenschaftsfeindlichkeit, erklärte er. Damit würden Kritiker ausgegrenzt. Günter Altner fordert ein Moratorium: Nicht nur die Folgen des Eingriffs in das menschliche Erbgut, sondern auch die Folgen der genetischen Manipulation bei nichtmenschlichen Lebewesen müssen gründlich erforscht werden, bevor Unwiderrufliches geschehen ist.

 

 

 


 

 

 

KostenexplosionBernard Braun, Hagen Kühn, Hartmut Reiners
Das Märchen von der Kostenexplosion
Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik
Frankfurt/Main 1998
 (PDF)

 

Drei ausgewiesene Fachleute und Praktiker knöpfen sich die gängigen Vorstellungen vor, die die Diskussion um die Gesundheitspolitik seit Jahren prägen. Herauskommt: Alles falsch! Weder ist der Standort Deutschland durch zu hohe, Krankheitskosten unattraktiv, noch gibt es massenhaften Mißbrauch oder eine Kostenexplosion. Argumente für wache Bürger und Patienten. Seit Mitte der 70er Jahre wird die Reform des Gesundheitssystems in periodischer Regelmäßigkeit diskutiert. Von Krisen und Kostenexplosion, vom Mißbrauch durch Patienten und Institutionen ist ebenso die Rede wie von gewinnorientierten Ärzten und Zulieferindustrien. In dieser Debatte haben sich Schlagworte, Einzelfälle und Stereotypen verselbständigt und den Status vermeintlich sachlicher Argumente erhalten. Es ist kein Zufall, daß der entsprechende empirische Nachweis häufig ausbleibt. Nicht selten straft er nämlich die Krisenrhetoriker Lügen oder deckt Probleme auf, die politisch nicht opportun sind. Da ist es einfacher, die Schuld bei den Betroffenen zu suchen und vom Mißbrauch der Kassenleistungen durch die Patienten zu sprechen oder gar existentielle Ängste zu schüren, indem soziale Absicherung und die Gefährdung des Standortes Deutschland in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt werden. So ist ein Dickicht von Halbwahrheiten und Märchen entstanden, das die Grundlage der aktuellen Gesundheitspolitik bildet und das dieser Band entflechten möchte.

 

 

 


 

 

 

bildschirmfoto-2016-10-25-um-16-56-57Edwin Black
War Against the Weak
Thunder’s Mouth Press, 2003, 2007, 2012

 

«Anfang vorigen Jahrhunderts beschlossen amerikanische Forscher, Politiker und Viehzüchter die „Schaffung einer überlegenen nordischen Rasse“. 60 000 Männer und Frauen, zumeist Arme und Farbige, wurden zwangssterilisiert – Anregung für das Eugenik-Programm der Nazis. … Gedeckt von eugenischen Gesetzen, verstümmelten US-Ärzte bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts über 60 000 Männer und Frauen durch Sterilisation. … Das ganze Ausmaß dieses Medizin-Verbrechens beschreibt der amerikanische Publizist Edwin Black jetzt in einem Aufsehen erregenden Buch. Mit Hilfe Dutzender Rechercheure trug er rund 50 000 einschlägige Dokumente aus amerikanischen und europäischen Archiven zusammen. Zudem wertete Black Tagebücher, Gerichts- und Krankenakten Betroffener aus. Der Autor … schildert den „Kreuzzug“ einer Clique einflussreicher und angesehener US-Bürger, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, mit Hilfe der Eugenik die Vereinigten Staaten von armen, einfältigen, kranken, kriminellen und – vor allem – farbigen Einwohnern zu befreien. … „Die romantische Idee vom Schmelztiegel Amerika“, schreibt Black, „ist ein Mythos.“ Viele Neuankömmlinge blieben lange Zeit unter sich, siedelten sich in eigenen Stadtvierteln an oder zogen im Trupp als Wanderarbeiter über Land. Den etablierten Amerikanern gefiel das demografische Chaos nicht besonders. Wissenschaftler, Ärzte und Ökonomen wetterten mit pseudowissenschaftlichen Thesen gegen die ungeliebten Neubürger. „Unser Land wurde von nordischen Menschen besiedelt und aufgebaut“, schrieb etwa Lothrop Stoddard, ein führender Eugeniker; doch nun sei „eine Invasion von Menschenhorden aus den Alpenländern und Mittelmeerstaaten“ erfolgt, ergänzt durch „asiatische Elemente wie Levantiner und Juden“.» Aus: Rainer Paul: Krieg gegen die Schwachen. In: DER SPIEGEL 5/2004, 26. Januar 2004. Die Homepage des Autors ist eine Fundgrube.

 

 

 


 

 

 

51+9mX5R7bL._AA160_Benno Müller-Hill
Tödliche Wissenschaft
Die Aussonderung von Juden,
Zigeunern und Geisteskranken 1933-1945
Frankfurt/Main 1993

 

1984 veröffentlichte Benno Müller-Hill das Buch über die Geschichte der Humangenetik und die Verbrechen deutscher Wissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Buch erschien in der Folge 1988 auf Englisch bei Cambridge University Press und wurde in den folgenden Jahren in sieben weitere Sprachen übersetzt. Zuletzt wurde es auf Englisch 1998 in den USA beim Verlag der Cold Spring Harbour Press aufgelegt.
«Naturwissenschaftler interessieren sich nicht für die Geschichte ihrer Wissenschaft. Sie leben in der Gegenwart. Fünfzehn Jahre alte Veröffentlichungen sind Prähistorie. Wenn sich ein Naturwissenschaftler für die Geschichte seines Faches interessiert, dann kann man im allgemeinen annehmen, daß ihm sonst nichts einfällt – er gehört nicht mehr dazu. Und wenn einer sich dazu noch für die nie publizierte Geschichte „schlechter Experimente“ interessiert, und das war das große „eugenische Experiment“ der Nazis, dann ist die Verständnislosigkeit vollkommen. Ein Experiment, das nicht gegangen ist, interessiert niemanden. Dem widmet man keine Zeile.
Ja, weshalb mache ich das? Vor einigen Jahren hielt ich eine Vorlesung über „Die Philosophen und das Lebendige“. Dabei bemerkte ich, daß am Ende des letzten Jahrhunderts ein eigenartiger Prozeß einsetzte, der die Aufgabe der Sinngebung der Welt den Philosophen und Theologen entzog und sie Ärzten und Naturwissenschaftlern überantwortete. In der letzten Stunde meiner Vorlesung wollte ich über die biologischen Ideologen des „Dritten Reiches“ sprechen. Ich stellte fest, daß es nur wenig Literatur über sie gab.
Während eines Forschungsfreisemesters konnte ich mich ein halbes Jahr meinen Nachforschungen widmen. Damals und in den darauffolgenden Jahren habe ich zunächst Wissenschaftszeitschriften, Bücher und Broschüren diagonal gelesen. Später ging ich in in- und ausländische Archive. Dann habe ich versucht, die überlebenden Anthropologen und Psychiater ausfindig zu machen und mit ihnen zu sprechen.» [Rezension von Benno Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft. Die verdrängte Geschichte der Humangenetik unter Hitler. In: ZEIT Online vom 13. Juli 1984, 8:00 Uhr. (PDF)]

 

 

 


 

 

 

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Uwe Henrik Peters
Karsten Jaspersen – 1940 … der einzige deutsche Psychiater, der alles riskierte, um den Krankenmord zu verhindern
2013

 

Uwe Henrik Peters (geb. 1930) ist emeritierter Professor für Neurologie und Psychiatrie-Psychotherapie an der Universität zu Köln. Sein «Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie» ist ein allgemein anerkannter Klassiker der Psychiatrie und fehlt in kaum einer Praxis. Peters ist Autor von mehr als 400 Büchern und Einzelpublikationen. Höhepunkte waren unter anderem «Anna Freud. Ein Leben für das Kind»; «Hölderlin – Wider die These vom edlen Simulanten», vor allem aber auch:  „Psychiatrie im Exil – Die Emigration der dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933-1939“ von 1992 und Arbeiten zum «Überlebendensyndrom» nach dem Holocaust, der «Psychiatrie der Verfolgten» und der «Nazipsychiatrie» nimmt Peters eine führende Position in der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit ein. 28 Jahre lang war er Herausgeber der führenden Fachzeitschrift «Fortschritte der Neurologie-Psychiatrie» und ist weiterhin deren Editor Emeritus.
«1940 Dr. Karsten Jaspersen leitet die psychiatrische Frauenklinik der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta . Ende Juni 1940 trifft bei ihm ein Schreiben vom Leiter der Reichsärztekammer ein. Danach müssen bis spätestens 1. August 1940 über alle 300 Patientinnen Fragebögen zur planwirtschaftlichen Erfassung ausgefüllt werden. Bis dahin sind es nur ein paar Wochen. Dr. Jaspersen, der schon vorher davon gehört hatte, wurde auf der Stelle nach allen Seiten aktiv, denn er hatte erfasst, dass ein Massenmord von bis dahin nie gekannten Ausmaßen geplant war. Er besuchte Kollegen oder schrieb an sie, darunter berühmte Psychiater wie Ewald, Bumke, Rüdin, Bostroem, Braun, um sie davon abzuhalten, sich an der Aktion zu beteiligen. In Schreiben an die Staatsanwaltschaft, die Gestapo, den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, an Viktor Brack, den Leiter der Aktion (1948 zum Tode verurteilt und gehenkt), an viele staatliche und kirchliche Würdenträger, an den Reichsleiter Martin Bormann und andere einflussreiche Personen schrieb er, nach geltendem Recht sei das Beihilfe zum Mord (was stimmte). Auch war es Jaspersen, der den Graf v. Galen, Bischof von Münster, ausführlich über alles informierte. Dieser leitete das Schreiben aber zunächst nur an den Vorsitzenden der kath. Bischofskonferenz weiter, der nichts unternahm. Erst etwa ein Jahr später hat v. Galen dazu öffentlich etwas gesagt und wurde damit der Löwe von Münster , wie das Volk ihn nannte. Der Erfolg blieb auf einen kleinen Bereich beschränkt. Aber es ist für uns Heutige wichtig zu wissen, dass es einen gab, jedenfalls einen, der die Risiken einer Gewaltdiktatur im Kriege auf sich nahm, um bedrohte Kranke zu schützen.»

 

 

 


 

 

 

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Uwe Henrik Peters
Nazipsychiatrie – Aufstieg und Fall
Köln 2011

 

«In dem vorliegenden Buch wendet sich Uwe Henrik Peters der anderen Seite, der Seite der Verfolger und ihrer Zeit zu. Was dachten sich die Täter? Warum taten sie, was sie taten? Wieviel Verantwortung tragen die Geschehenlasser? Wir können uns kaum noch in ihr Denken und das Denken ihrer Zeit hineinversetzen, müssen es aber versuchen. Peters hat diesen Versuch gewagt und findet die Antwort in den Äußerungen der Täter selbst!»

 

 

 

 

 

 


 

 

 

tödlicher ZeitgeistFranz Christoph
Tödlicher Zeitgeist
Köln: Kiepenheuer und Witsch 1990

 

Franz Christoph (1953-1996) war seit 1975 Initiator und Mitglied der «Krüppelbewegung». Sein Buch «ist kein Beitrag zur – gegenwärtig an Umfang und Bedeutung zunehmenden – Debatte über Euthanasie und Sterbehilfe. Es ist ein Buch gegen diese Debatte, und zwar in jeder Form. Es richtet sich gegen die Aufhebung des Tabus, Lebensrechte von Menschen in Frage zu stellen, und gegen den Versuch, diese Aufhebung mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung zu legitimieren.» Man kann dem wertvollen Engagement von Franz Christoph (1953-1996) und seinen Mitstreitern nur zustimmen, vor allem auch ihrem Widerstand gegen den nihilistischen «Euthanasie»-Philosophen Peter Singer. Auch wenn man Franz Christophs These «Ohne Hass ist kein Widerstand möglich» nicht folgen kann: Vor allem dem Widerstand seiner und anderer Behindertenverbände verdankt Deutschland, dass es länger von Peter Singers Tötungsphilosophie verschont blieb als andere Länder.

 

 

 


 

 

 

Klaus Dörner
Tödliches Mitleid. Zur Frage der Unerträglichkeit des Lebens.
Oder: die Soziale Frage: Entstehung, Medizinisierung, NS-Endlösung, heute, morgen
3. Auflage, Gütersloh 1988

«Wann wird aus einem Menschen ein Ding? Klaus Dörner geht den Wurzeln die- ser Frage nach. Er findet sie in der 200jährigen Geschichte der „Sozialen Frage“, die eng mit der Industrialisierungsgeschichte zusammenhängt. Der Autor formuliert sie so: „Was machen wir Bürger mit denen, deren Leistung sie industriell unbrauchbar macht?“ Eine Frage, die uns in Zukunft, wenn bereits ein Drittel der Bevölkerung Rentner sind, noch beschäftigen wird. Die aktuelle Diskussion um Sterbehilfe gewinnt vor diesem Hintergrund noch einen anderen Aspekt. Wie schnell kann aus dem Recht auf den Tod ein Zwang zum Verschwinden werden. Dörners engagierten Schilderungen merkt man an, daß er nicht nur intellektuell, sondern auch emotional betroffen ist. Dabei gelingt es ihm, die Klippe der moralischen Anklage zu umschiffen. Gleichzeitig öffnet er den Blick für die Möglichkeit der Wahl zwischen zwei unterschiedlich begründeten, aber gleichberechtigten Handlungsweisen im Umgang mit den Betroffenen. Für jeden, der bei Themen wie Sterbehilfe, Euthanasie, Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen verantwortungsvoll mitreden und handeln will, ist dieses Buch eine Pflichtlektüre.» Aus: Deutsches Ärzteblatt 1989; 86(8): A-484

 

 

 

 

 


 

 

 

 Medizin ohne MenschlichkeitAlexander Mitscherlich & Fred Mielke
Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses

 

Im Anschluß an den Nürnberger Prozeß gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher fanden von 1946 bis 1949 zwölf Nachfolgeprozesse statt; der erste von ihnen war der sog. Ärzteprozeß vor dem 1. Amerikanischen Militärtribunal in der Zeit vom 9.12.1946 bis 19.7.1947. Die Urteile wurden am 20.8.1947 verkündet.

 

 


 

 

Erfassung zur VernichtungKarl Heinz Roth (Hrg.) 
Erfassung zur Vernichtung
Von der Sozialhygiene zum «Gesetz über Sterbehilfe»
Berlin 1984

 

«Kostendämpfung» und «Sozialabbau» zur Bewältigung der Krise brachten Politiker schon einmal dazu, nur noch zwischen Gesunden und Toten zu unterscheiden. Parallelen sind auffallend. Pate für die deutsche Sozial- und Bevölkerungspolitik der 80er Jahre steht der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn, gest. 1931. Seine Konzepte wurden von den Nazis nicht annähernd verwirklicht. Die „Erbbiologische Bestandsaufnahme“ funktionierte seit den 20er Jahren und ermöglichte den Zugriff auf das unangepaßte „böse Drittel“. Voraussetzung war die lückenlose Erfassung aller Personendaten aus Anstalten und Heimen, Kranken- und Melderegister, Polizeiakten, Arbeits-, Standes- und Sozialämtern. Diskussionsprotokolle zum „Gesetz über Sterbehilfe“ (>Euthanasie-Gesetz<) belegen, daß die Übernahme der Anstaltsmorde in öffentliche Verwaltungspraxis geplant war.

 

 

 


 

 

 

Götz Aly et al.
Reform und Gewissen. «Euthanasie» im Dienst des Fortschritts
Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik: 2 
Berlin 1985 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Götz Aly et al.
Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren
Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik: 1
Berlin 1985

 

 

 

 

 

 


 

 

Segal+Die-Hohenpriester-der-Vernichtung-Anthropologen-Mediziner-und-Psychiater-als-Wegbereiter-von

Lilli Segal
Die Hohenpriester der Vernichtung
Anthropologen, Mediziner und Psychiater als Wegbereiter von Selektion und Mord im Dritten Reich
Berlin 1991

 

Lilli Segal (1913-1999), promovierte Biologin, jüdische Widerstandskämpferin, stand 1944, aus einem französischen Militärgefängnis kommend, auf der Rampe von Auschwitz von Dr. Josef Mengele. Im November 1944 gelingt ihr die Flucht. Sie widmet ihr Buch «Herrn Professor Benno Müller-Hill in Köln, dem geistigen Vater dieses Buches». Ihre persönliche Erfahrung während der Zeit des Massenmordes und der ständig drohenden eigenen Vernichtung bestimmen den völlig zu urecht als «polemisch» kritisierten Stil ihres Buchs, das der Dietz-Verlag erstmals 1989 herausbrachte. Die Kritik hängt damit zusammen, dass  Lilli Segal so empfindliche Themen anschneidet, wie zum Beispiel den Zusammenhang zwischen nationalsozialistischer Rassenpolitik und der  Intelligenz- und Zwillingsforschung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg: Die von Lilli Segal historisch systematisch herausgearbeiteten Zusammenhänge lassen Namen mit akademischem Glanz wie Pearson, Binet, Yerks, Jensen, Eysenck, Burt, Wilson (Soziobiologie), Pro Familia, und viele andere in einem für die akademischen Patina unvorteilhaften Licht erscheinen. Lilli Segal spricht auch offen an, wie viele Anthropologen, Ärzte und Psychiater, die Wegbereiter des nationalsozialistischen Selektions- und Mordprogramms waren, nach 1945 in der Bundesrepublik weitgehend unbehelligt zu Rang und Namen kamen. Die Anfeindungen gegen das Buch liegen daran, dass Lilly Segal der von Benno Müller-Hill zu Recht gestellten Frage unvoreingenommen nachgeht: Warum «am Ende des letzten Jahrhunderts [19. Jh.] ein eigenartiger Prozeß einsetzte, der die Aufgabe der Sinngebung der Welt den Philosophen und Theologen entzog und sie Ärzten und Naturwissenschaftlern überantwortete»? Auf diese Frage sind heute noch die Antworten merkwürdig dünn gesät.

 

 


 

 

 

Spaemann FuchsRobert Spaemann & Thomas Fuchs
Töten oder sterben lassen?
Worum es in der Euthanasiedebatte geht
Freiburg/Br. 1997

 

«Die Verblüffung durch die Thesen Peter Singers und seine Durchbrechung des seit 1945 herrschenden Euthanasie-Tabus beginnt erst allmählich einem sokratischen Nachdenken über die guten Gründe für dieses Tabu zu weichen.
Zunächst haben wir es zu tun mit der demographischen Situation der westlichen Industrieländer. Sie ist historisch beispiellos. Während der medizinische Fortschritt dazu geführt hat, dass immer mehr Men- schen immer älter werden, propagieren seit Jahrzehnten alle öffentlichen Meinungsbildner einen Lebensstil, auf Grund dessen nun bald immer weniger junge Menschen diese älteren Menschen zu ernähren haben. Die Pille – wie immer man sonst über sie denken mag – begünstigt diese Entwicklung. Außerdem war der sogenannte Generationenvertrag nicht als Drei-Generationenvertrag, sondern leider als Zwei-Generationenvertrag konzipiert, also so, dass er diejenigen ökonomisch privilegiert, die es vorziehen, sich im Alter von den Kindern anderer Leute erhalten zu lassen. Daß diese Kinder dann einmal, wenn es soweit ist, nicht begeistert ein würden, war zu erwarten.
Es ist nun bald soweit. Und es gehört schon ein hohes Maß an Naivität dazu, im Ernst an Zufall zu glauben, wenn ausgerechnet in diesem Augenblick und ausgerechnet in ebenjenen westlichen Industrieländern die Tötung kranker oder alter Menschen legalisiert oder deren Legalisierung gefordert und ernsthaft diskutiert wird.»
Aus: Robert Spaemann (2006): Töten oder sterbenlassen? In: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 11/2006 PDF

 

 

 


 

 

 

sind alle PersonenMichael Frensch, Martin Schmidt, Michael Schmidt (Hrg.)
Euthanasie. Sind alle Menschen Personen?
Schaffhausen: Novalis Verlag 1992

 

Das Buch enthält die Vorträge, die an der Kinsauer Sommerakademie («Euthanasie – ein Angriff auf die Person des Menschen») 1990 gehalten wurden.  Robert Spaemann widerlegt Peter Singers Behauptung, nicht alle Menschen seien Personen. Lotte Stahlmann schildert ihre Erfahrungen mit behinderten Kindern, die durch Peter Singers Thesen direkt bedroht sind. Michael von Cranach dokumentiert die Praxis der Euthanasie im Bezirkskrankenhaus Kaufleuten im Dritten Reich. Hans-Bernhard Würmeling fragt nach den Grenzen ärztlichen Handelns und Michael Frensch behandelt die Euthanasiefrage als Vater eines behinderten Kindes.

 

 

 


 

 

 

 

bildschirmfoto-2016-10-29-um-22-52-27Rainer Beckmann et al.
Es gibt kein gutes Töten
Acht Plädoyers gegen Sterbehilfe

 

 

 

 

 

 


 

 

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Axel W. Bauer 
Normative Entgrenzung
Themen und Dilemmata der Medizin- und Bioethik in Deutschland
Wiesbaden 2017

 

„Das Buch bietet in 24 Kapiteln einen systematischen Einblick in methodische und thematische Fragen der Medizin- und Bioethik in Deutschland von 1995 bis 2016. Dieser beginnt mit metaethischen Aspekten der Relation zwischen Ethik und Moral sowie mit der keineswegs unproblematischen Fächerkombination von Medizinethik und Medizingeschichte an den deutschen Universitäten. Sodann werden zentrale bioethische und biopolitische Diskursfelder wie Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik, prädiktive Medizin sowie Sterbehilfe und Transplantationsmedizin erörtert, die ausnahmslos brisante normative Probleme am Beginn und am Ende des menschlichen Lebens betreffen. Anders als im derzeitigen bioethischen „Mainstream“ liegt in diesem Buch der Akzent auf der Betonung des Vorrangs der unantastbaren Würde des Menschen vor dessen niemals absolut zu denkender Autonomie.“

 

 

 


 

 

 

 

 

Axel Bauer: Suizidbeihilfe durch Ärzte und Angehörige? bildschirmfoto-2016-10-29-um-23-20-57

 

Professor Dr. med. Axel Bauer, Leiter des Fachgebiets Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg weist in seinem aktuellen Artikel “Suizidbeihilfe durch Ärzte und Angehörige?” sehr differenziert und detailliert auf die Auswirkungen und Gefahren des neuen §217 StGB hin. Der Artikel wurde jüngst in der “Zeitschrift für Lebensrecht” von der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. veröffentlicht.

 

 

 

 

 


 

 

 

 


7.  Psychologie, Psychotherapie


 

 

 

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Alfred Adler
Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe
Berlin 1898 

Reprint 1987

 

Alfred Adler ist nicht nur einer der grossen Pioniere der Tiefenpsychologie, sondern auch der vergessene Pionier der Psychosomatik und Sozialhygiene. Adler dachte schon zu Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit bereits psychosomatisch, als er noch keine Persönlichkeitslehre entworfen hatte. Als Assistenzarzt beschäftigte er sich nämlich schon in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Einfluss der sozialen Fragen auf die Gesundheit, also mit sozialmedizinischen Themen der öffentlichen Gesundheit und der Arbeitsmedizin. Das «Gesundheitsbuch» ist sein Erstlingswerk. Darin untersucht er, wie die wirtschaftliche Situation mit bestimmten Berufskrankheiten zusammenhängen, und wies auf die daraus für die öffentliche Gesundheit entstehenden Schäden hin: Es werde sich zeigen, dass Krankheit mit ein Produkt schlechter sozialer Verhältnisse sein könne. Adler klagt die zeitgenössische Medizin an, an der Existenz sozial bedingter Krankheiten einfacher vorbeizusehen. Das fügte den damals für gewöhnlich von Medizinern akzeptierten Krankheitsursachen eine weitere hinzu. Adler hatte diesbezüglich in Rudolf Virchow, dem Begründer der naturwissenschaftlichen Medizin, einen würdigen Mitstreiter, der sich zum Beispiel bei den oberschlesischen Webern ebenfalls mit den Auswirkungen sozialen Elends auf die Volksgesundheit beschäftigte und forderte, als Arzt müsse man auch (Sozial)Politiker sein, um die sozialen Ursachen von Krankheiten bekämpfen zu können.

 

 

 


 

 

 

 

Alfred Adler
Die andere Seite
Eine Massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes

Wien 1919

 

 

 

 


 

 

 

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Ausgabe 1933

Alfred Adler
Der Sinn des Lebens
Wien und Leipzig 1933

Studienausgabe 2008

«Drei Fragen sind jedem unwiderruflich aufgegeben: die Stellungnahme zu den Mitmenschen, der Beruf, die Liebe. Alle drei, untereinander durch die erste verknüpft, sind nicht zufällige Fragen, sondern unentrinnbar. Sie erwachsen aus der Bezogenheit des Menschen zur menschlichen Gesellschaft, zu den kosmischen Faktoren und zum anderen Geschlecht. Ihre Lösung bedeutet das Schicksal der Menschheit und ihrer Wohlfahrt. Der Mensch ist ein Teil des Ganzen. … Man kann sich diese Fragen wie eine mathematische Aufgabe vorstellen, die gelöst werden muss. Je grösser der Fehler, desto mehr Verwicklungen drohen dem Träger eines fehlerhaften Lebensstils, die nur ausbleiben scheinen, solange er nicht auf die Tragfähigkeit seines Gemeinschaftsgefühls geprüft wird. Der exogene Faktor, die Nähe einer Aufgabe, die Mitarbeit und Mitmenschlichkeit verlangt, ist immer der auslösende Faktor des fehlerhaften Symptoms, der Schwererziehbarkeit, der Neurose und der Neuropsychose, des Selbstmordes, des Verbrechens, der Süchtigkeit und der sexuellen Perversion.» (Seite 9)

 

 

 

 


 

 

 

Fritz Künkel
Krisenbriefe
Schwerin 1933
Neuausgabe: Tübingen 1977

 

Aus der Arbeit der Individualpsychologischen Beratungsstellen in den 20er und Anfang der 30er Jahre entstand diese Arbeit, heute so wichtig und aktuell wie damals. Die kommentierten Briefwechsel zwischen Psychologe und Ratsuchenden zeigen nicht nur abstrakt den Zusammenhang von Wirtschaftskrise und psychischem Leiden. Sie geben vielmehr zugleich Hilfe bei der Bewältigung von Problemen, die sich auch heute stellen: Arbeitslosigkeit, das Absinken der Mittelschichten, die Behinderung selbstbewußten Handelns und emanzipatorischen Denkens schlagen sich in zunehmender Ängstlichkeit und Konkurrenz nieder. Künkel zeigt, daß nur das radikale Festhalten am Prinzip der Gleichheit der Menschen den Weg aus der Krise weist.

Erster Teil: Erziehung – Ein Fünfjähriger streikt – Eine Zwölfjährige entgleist – Ein Zehnjähriger ärgert sich – Eine Sechzehnjährige politisiert – Ein Lehrer hat Disziplinschwierigkeiten – Eine Lehrerin kämpft gegen Gruppen – Zweiter Teil: Liebe – Flucht in die Vollkommenheit – Flucht ins Abenteuer – Eine weiche Ehe – Eine harte Ehe – Heilsame Trennung – Ehelosigkeit – Dritter Teil: Beruf – Verfehlter Beruf – Erzwungener Beruf – Schlimme Kameraden – Schlimme Untergebene – Schlimme Vorgesetzte – Schlimme Freizeit – Vierter Teil: Arbeitslosigkeit – Ein aussichtsloser Student – Eine aussichtslose Laborantin – Ein Schiffer – Ein Straßenmädchen – Ein Revolutionär – Ein Christ.

 

 

 

 


 

 

 

Gertrud Schwing
Ein Weg zur Seele des Geisteskranken
Zürich 1940

 

Leseprobe

Patientin Alica, 30 Jahre als Katatonie. Zelle Nr. 4. Unheimliche Stille und Erstarrung erwarten uns. Kein Ton, keine Bewegung verraten, dass die eingerollte Gestalt unter der Decke noch lebt. Jede Beziehung zur Aussenwelt ist seit Monaten abgebrochen, die Augen geschlossen, der Mund verstummt. Die Kranke kann nur auf künstlichem Wege ernährt werden. Selbst das Minimum an Pflege erheischt viel Mühe. Ich setzte mich während einiger Tage immer zur selben Zeit (nach einem mündlichen Rat von Herrn Dr. Holos) eine halbe Stunde still neben das Bett. Drei, vier Tage bleibt es still in der Zelle. Doch dann hebt sich die Decke ganz wenig. Zwei dunkle Augen schauen sich vorsichtig um. Angst und ein tiefes Wundsein liegen darin. Langsam erscheint das ganze Gesicht. Leer, tot ist es, wie eine Maske. Ich verhalte mich völlig passiv und, dadurch sicher gemacht, richtet sie sich auf und beginnt mich zu beobachten. Und am nächsten Tag öffnet sich der Mund, der so lange verstummt war. „Bist du meine Schwester?“ fragt sie. Auf mein „Nein“ fährt sie weiter: „Aber jeden Tag bist du zu mir gekommen, heute gestern und vorgestern.“ [Seite 10]

[Schwing Gertrud Ein Weg zur Seele des Geisteskranken Seiten 1-28]

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Dissertation 1977

Annemarie Kaiser
Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler
Ein Vergleich mit Befunden aus Entwicklungspsychologie,
Psychopathologie und Neopsychoanalyse
Dissertation, Universität Zürich 1977

Ausgabe 1981

Annemarie Buchholz-Kaiser erlangte 1977 mit dieser Abhandlung ihre Doktorwürde an der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich bei Prof. Dr. Wilhelm Keller.

1981 wurde eine erweiterte Fassung der Dissertation von der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Zürich, Leitung Friedrich Liebling, herausgegeben. Sie trug den neuen Titel «Das Gemeinschaftsgefühl. Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Eine Darstellung wichtiger Befunde aus der modernen Psychologie» und war ergänzt mit einem Vorwort sowie Ausführungen zur Gruppenpsychotherapie im letzten Kapitel «Schlussfolgerungen für den psychotherapeutischen Prozess».

 

 

 

 

 


 

 

 

ABK MontrealAnnemarie Buchholz-Kaiser
Individualpsychologische Bildungsarbeit
Aspekte der analytischen Bearbeitung von Persönlichkeitsproblemen in Gruppen
Vortrag, gehalten am 16. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie vom 7.-10. Juli 1985 in Montreal

Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler im Vergleich zu der Therapie der Psychosen bei Frieda Fromm-Reichmann
Vortrag, gehalten am 15. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie vom 2. bis 6. August 1982 in Wien.

Zürich 1985

 

Montreal 1985: «Ab 1955 haben sich an der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle in Zürich, Leitung Friedrich Liebling, vielfältige Formen von Gruppenarbeit entwickelt, die nach dem Tode von Friedrich Liebling 1982 von Annemarie Buchholz-Kaiser bis zu deren Tod 2014 fortgesetzt wurden. Diese Gruppenarbeiten widerspiegeln ein breites Spektrum  an psychologischen Vorgängen. Dieser reichen von der anspruchsvollsten Form, der analytischen Gruppenarbeit, bis zur losesten und selbständigsten Form, den Arbeitsgemeinschaften oder Seminarien, die mehr einem psychologisch-pädagogischen Anliegen entspringen. Die Gruppenarbeit stand bezüglich Persönlichkeitstheorie und Menschenbild ganz in der individualpsychologischen Tradition. Annemarie Buchholz-Kaiser legt im ersten der beiden Vorträge ihre Erfahrungen dar, die sie bei ihrem Lehrer Friedrich Liebling und auch in ihrer eigenen Zeit als Psychotherapeutin  in diesen Gruppenarbeiten gesammelt hatte. Im zweiten Aufsatz führt Annemarie Buchholz-Kaiser in sehr gedrängter Form in das Thema ihrer Dissertation ein: Das Gemeinschaftsgefühl als das Kernstück der Adlerschen Persönlichkeitslehre im Vergleich zur Therapie der Psychosen bei Frieda Fromm-Reichmann.»

Wien 1982: «Für uns Individualpsychologen ist das Gemeinschaftsgefühl das Kernstück der Adlersehen Persönlichkeitslehre. Aus der Stellung des Individuums in der Gemeinschaft lassen sich seine Charakterstruktur und sein Lebensstil ermitteln. Gemeinschaftsgefühl ist das tragende Element für die gesunde Bewältigung der Lebensaufgaben in allen Bereichen. Vom Gemeinschaftsgefühl her lässt sich die Neurosenlehre bestimmen, und es gibt auch die Grundlage für das Verständnis der Psychose. Vielleicht gerade weil diese Einsichten Alfred Adlers bis heute zu wenig zur Kenntnis genommen wurden, ist die Hilflosigkeit auf dem Gebiet der Therapie der Psychosen noch so gross. Darum greife ich in meinem Referat aus den vielen Vergleichsmöglichkeiten mit Befunden der Entwicklungspsychologie und der Neopsychoanalyse das Konzept der Psychotherapie der Psychosen bei Frieda Fromm-Reichmann heraus.»

 

 

 


 

 

 

9783596273263-de-300Harry Stack Sullivan
Die Interpersonale Theorie der Psychiatrie

 

Sullivan hat ab den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts in den USA eine  tiefenpsychologische Psychotherapie der Schizophrenie entwickelt – mit sehr gutem Erfolg. Das zu einer Zeit, als in Deutschland die «Geisteskranken» als angeblich «lebensunwertes Leben» verachtet und dann umgebracht wurden. Sullivan zählt zu den sogenannten Neoanalytikern. Josef Rattner, ein profunder Kenner von Sullivan, schrieb dazu: «Die Lehre von Harry Stack Sullivan wird von vielen kompetenten Beobachtern als die Psychiatrie unserer Zeit betrachtet. Man beginnt, Sullivan in die Gruppe der grossen Pioniere der Tiefenpsychologie einzureihen, die Entscheidendes zum Verständnis der menschliche Natur ans Licht gebracht haben.»

 

 

 

 


 

 

 

416qH2XzY5L._SL500_BO1,204,203,200_Harry Stack Sullivan
Das psychotherapeutische Gespräch

Neben Frieda Fromm Fromm-Reichmann, Karen und Horney und Franz G. Alexander gehört Sullivan (1892 – 1949) zu den Grossen der Neopsychoanalyse, die ein «dynamische Psychiatrie» in den USA begründeten. Sullavan war nach seinem Medizinstudium Leiert für klinische Forschung an Schizophrenen am Sheppard and Enoch Pratt Hospital (Towson, Md), 1938 gründete er die Zeitschrift «Psychiatry» und hielt ab 1939 seine berühmten Vorlesungen über«Conceptions of Modern Psychiatry» an der von ihm gegründeten Washington School of Psychiatry. «Das psychotherapeutische Gespräch» ist heute noch das einzige, das einzige in der psychiatrischen Litaratur, das den Praktiker in die notwendigen Methoden des psychiatrischen Gesprächs einführt. Es basiert auf  Tonbandaufnahmen von zwei Unterrichtsfolgen, die Suillivan ab der Washington School of Psychiatry hielt. Darin kann man den Entdecker der modernen Psychiatrie gleichsam bei seiner psychotherapeutischen Arbeit beobachten und davon lernen. Im Zentrum der Therapie steht der Aufbau einer tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehung zwischen den Gesorächspartnern.

 

 

 


 

 

 

71VNXWNZ79L._SX282_BO1,204,203,200_.gifMarguerite A. Sechehaye
Tagebuch einer Schizophrenen: Selbstbeobachtungen einer Schizophrenen während der psychotherapeutischen Behandlung
Frankfurt/Main 1973

 

Marguerite A. Sechehaye (1887 – 1964) war eine Schweizer Psychoanalytikerin, die ihre Lehranalyse bei Raymond de Saussure absolvierte. Sie gehört zu den ersten Psychotherapeuten, die sich mit den Psychosen auseinandersetzte und das schizophrene Erleben zu verstehen suchte. In ihrem «Tagebuch» schreibt sie: «Der Schizophrene aber, auch wenn er sich in einem Zustande geistigen und physischen Verfalls befindet, der an Wahnsinn gemahnt, bleib im Besitz einer Seele, einer Intelligenz und hat zuweilen sehr heftige Gefühle, die er jedoch nicht auszudrücken mag. Sogar in Zeiten totaler Gleichgültigkeit oder Erstarrung, in denen er nichts mehr spürt, bleibt dem Kranken noch eine unpersönliche Hellsicht, die ihn nicht nur befähigt, wahrzunehmen, was um ihn herum vorgeht, sondern auch, sich über seinen Gemütszustand klarzuwerden. (…) Und dann entdecken wir bei ihm ein ganzes Leben, bestehend aus Kämpfen, unsäglichen Qualen, armseligen Freuden, ein Gefühlsleben, das dem Anschein nach nicht zu vermuten war und das für den Psychologen äusserst aufschlussreich ist.» 1947 erscheint das Buch in französischer Sprache. Es schildert die zehnjährige, erfolgreiche Psychotherapie Renées, eines jungen Mädchens mit der Diagnose Schizophrenie. 1950 veröffentlichte sie ein zweites Buch über dieselbe Patientin unter dem Titel «Tagebuch einer Schizophrenen: Selbstbeobachtungen einer Schizophrenen während der psychotherapeutischen Behandlung». Darin beschreibt das junge Mädchen ihr Erleben während der Therapie. Sechehaye kommentiert diese Schilderungen im zweiten Teil. Später adoptierte Sechehaye Renée. Renée legte ihr Pseudonym ab und wurde unter ihrem wirklichen Namen Louisa Düse Psychotherapeutin. Zwischen 1951 und 1952 hielten Sechehaye und Düse Vorlesungen an der psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich. Diese erschienen 1954 unter dem Titel «Introduction à une psychothérapie des schizophrènes». Sechehayes Arbeiten wurden von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten aufgegriffen, die unter anderem auch von ihr lernten, verstehend Zugang zum schizophrenen Erleben zu gewinnen, zum Beispiel Silvano Arieti (1915–1981), Gaetano Benedetti, Luc Ciompi und Erich Wulff.

 

 


 

 

 

 

Josef Rattner
Das Wesen der Schizophrenen Reaktion
München, Basel 1963

Josef Rattner gründet seine Beiträge zur Tiefenpsychologie auf die Individualpsychologie Alfred Adlers. Zwischen 1945 und 1968 lebt er in Zürich bei seinem Ziehvater Friedrich Liebling, einem wegen des Nationalsozialismus in die Schweiz emigrierten Individualpsychologen aus der Wiener Schule. Rattner studiert im Zürich Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Germanistik und Kunstgeschichte, anschliessend Medizin. «Das Wesen der schizophrenen Reaktion» ist seine Dissertation in Medizin. Ab 1955 ist er Mitarbeit an der «Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle» in Zürich, Leitung Friedrich Liebling, auch «Zürcher Schule für Psychotherapie» genannt. 1968 siedelt er um nach Berlin. Dort gründete er den «Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie» und wenige Jahre später das gleichnamige Institut.

 

 

 

 

 

 


 

 

 

16297335993Clara Thompson
Die Psychoanalyse

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

9760539662Emil Schmalohr
Frühe Mutterentbehrung bei Mensch und Tier
Entwicklungspsychologische Studie zur Psychohygiene der frühen Kindheit
München 1980

 

Emil Schmalohr, geb. 1927, Professor für Psychologie, geht hier den unter dem Schlagwort Hospitalismus und Deprivation beschriebenen Mangelerscheinungen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung nach. Diese Untersuchungen und ihre Ergebnisse gehören zu den erregendsten Entdeckungen der Kinderpsychologie und haben schicksalhafte Einflüsse auf die Entwicklung der Persönlichkeit aufgedeckt. Ihre psychohygienischen Konsequenzen sind bei der alltäglichen Trennung von Mutter und Kind nicht nur in Heimen, Krankenhäusern und Pflegefamilien, sondern auch bei der Berufstätigkeit der Mutter von erheblicher sozialpolitischer Brisanz. Als Forderung nach einer ständigen Beziehungsperson behalten sie ihre Aktualität auch angesichts alternativer Modelle zu einer Erziehung in der Kernfamilie, die im Gefolge der Emanzipation der Frau diskutiert werden

 

 

 


 

 

 

 

31AYoqhDzNL._UY250_Manfred Velden (2005)
Biologismus – Folgen einer Illusion
Göttingen 2005

„Der Professor für Physiologische Psychologie beschreibt in wissenschaftshistorischer Sicht ein Grundmißverständnis seines Faches: daß die menschliche Psyche nicht etwa nur eine unbestritten biologische Grundlage hat, sondern – und hier setzt Velden das weitreichende Mißverständnis an – „darüber hinaus auch über biologische Prozesse erklärt werden kann“. Velden bezeichnet es als eine sein Fach von Anfang an leitende Illusion, „daß sich psychische Prozesse generell im Sinne einer Naturwissenschaft, also in Form allgemeinverbindlicher Regeln (Gesetze), beschreiben lassen“. Diese Illusion sei der Psychologie gleichsam mit in die Wiege gelegt worden, als sie sich im neunzehnten Jahrhundert als Wissenschaft konstituierte.“ (Aus einer Renzension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)

 

 

 


 

 

 

978-3-8471-0180-2Manfred Velden
Hirntod einer Idee
Göttingen 2013

 

„Das Buch stellt die wissenschaftlichen Methoden der Bestimmung der Erblichkeit im Einzelnen dar. Aus diesen Methoden folgt eindeutig, dass es einen allgemeinen Wert für die Erblichkeit der Intelligenz nicht geben kann (die veröffentlichten Erblichkeiten schwanken zwischen 10 und 90 %) und dass ein Erblichkeitswert praktisch nichts darüber aussagt, in wieweit die Intelligenz verändert werden kann. Die Geschichte der Erforschung der Erb­lichkeit der Intelligenz wird nachgezeichnet. Ganz offensichtlich ist das Fach von Unseriösität geplagt und hat in großem Umfang sozialen Schaden angerichtet, zum Beispiel in Zusammenhang mit Eugenik (Zwangssterilisierung), Immigration (Veränderung von Einwanderungsquoten für die U.S.A.) oder Bildungspolitik (Einschränkung der Studierquote in England und

 

 

 


 

 

 

9783980062138-deGünter Dahl
Uns dürfte es gar nicht geben
Dreizehn Wege aus der Sucht – Betroffene berichten
Berlin 1994

 

Tausende Alkohol- und Drogenabhängiger versuchen immer wieder, von ihrer Sucht loszukommen. 13 Menschen berichten über ihren Weg aus der „Hölle“. Diese dreizehn Menschen haben es geschafft, in Selbsthilfe! Keine Rechtfertigung, nur das Eingestehen: So war ich, und das habe ich aus mir gemacht. Dieses Buch macht Mut. Es zeigt: Leben, das entglitten ist, lässt sich zurückholen.

 

 

 

 

 

 


8.  Naturrecht, Humanismus und Demokratie


 

 

 

 


SchelauskeHans Dieter Schelauske
Naturrechtsdiskussion in Deutschland
Ein Überblick über zwei Jahrzehnte 1945-1965
Bachem 1968

 

Der totale Krieg, den das Dritte Reich geführt hatte, endete mit dem totalen Zusammenbruch. Die Überwindung der Unrechtsherrschaft setzte ehe neue Regelung des sozialen Zusammenlebens der Menschen und Gruppen nach den Massstäben der Gerechtigkeit voraus. ‚Wir haben es erlebt, dass der Staat, der der Vertreter des Rechts sein sollte, der Staat in seiner totalitären Form, als Förderer dessen auftrat, was wenigstens einem grossen Teil der Menschheit als Ungerechtigkeit erscheint.‘ Der praktischen Rechtsauflösung war als Wegbereiterin eine fortlaufende theoretische Auflösung des Rechtsgedankens vorangegangen, die in der Verneinung der selbständigen Bedeutung der Rechtsidee zum Rechtspositivismus führte. Der Platz war leer, als der totale Staat kam, seinen Machtwillen an die Stelle des Rechts setzte und rücksichtslos die positivistischen Grundsätze anwandte, die natürlich nicht für eine solche Anwendung gedacht waren. Der Rechtspositivismus war durch das Ereignis des Zusammenbruchs kompromittiert. Die Reaktion war eine spontane Hinwendung zum Naturrecht. Eine Erörterung begann, die Theologen, Juristen und Philosophen gleichermassen auf den Plan rief und von 1945 bis 1965  beschäftigte. Das literarische Niederschlag dieser Renaissance des Naturrechts füllt einige stattliche Bücherregale. Das Buch ist eine Bestandsaufnahme dieser zwanzigjährigen Diskussion und Grundlage für weiterführende Diskussionen. Denn die Naturrechtsfrage ist, wie Thomas Württemberger sagte, «eine echt philosophische Fragestellung,  die mitten in den Kern menschlicher Existenz führt». (Siehe auch: Die Naturrechtsrenaissance in Deutschland nach 1945 in ihrem Historischen Kontext – Mehr als nur eine Rechtsphilosophische Randnotiz? – Assist. Prof. Dr. Dr. Arndt Künnecke (pdf)

 

 

 


 

 

 

bildschirmfoto-2016-10-25-um-18-54-18Hans Haug
Menschlichkeit für alle
Die Weltbewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds
Bern/Stuttgart/Wien 1991

(Inhaltsverzeichnis)

 

Der Gedanke und das Werk des Roten Kreuzes sind wohl das grösste Geschenk, das unser Land der Menschheit gegeben hat. Bedürfte es einer Rechtfertigung der Existenz des Kleinstaates Schweiz, so wäre allein schon diese Schöpfung und ihre treuhänderische Verwaltung über ein volles Jahrhundert zum Wohl aller Erdenbewohner Rechtfertigung genug.“ So schrieb Fritz Traugott Wahlen, der ehemalige schweizerische Bundespräsident.  Und Albert Schweitzer sagte: Das Jugendrotkreuz „macht die Jugend mit dem Gedanken der Ehrfurcht vor dem Leben bekannt. Dass es sie nicht nur die Liebe zu den Menschen lehrt, sondern sie auch zum Nachdenken über die Gültigkeit, die wir der Kreatur gegenüber haben sollen, anregt, weiss ich aus so manchen Stimmen, die ich aus Schülerkreisen vernommen habe. Sie waren mir liebliche Musik.“ Dies nur zwei Stimmen aus dem Kapitel „Worte zum Roten Kreuz und Roten Halbmond und zur Humanitätsidee“, die in diesem Buch auf Seite 682 zu finden sind. Das über 700 Seiten starke Buch will, so schreibt der Autor Hans Haug, einer der Gründer des Zivilschutzverbandes, „an die Verbreitung einer präzisen und gebührenden Kenntnis des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes beitragen. Anders als die meisten schon vorhandenen Schriften und Bücher, die Teilaspekten gewidmet sind, wird hier versucht, das Ganze zu erfassen und darzustellen. Das IKRK, die Nationalen Gesellschaften, die Liga als ihr Weltbund und die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung in ihrer Gesamtheit. Grosses Gewicht wird auf die Grundsätze der Bewegung – Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität – sowie auf das besonders vom IKRK geförderte humanitäre Völkerrecht gelegt.“  Man hat einmal die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 einen Ausdruck des durch die Weltkriege gewachsenen ’sittlich rechtlichen Gewissens der Menschheit‘ genannt. Gleiches sollte man von der Bewegung des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes denken und sagen. Dieses Buch legt davon ein überreiches Zeugnis davon ab. Es ist ein Zeugnis für die ewigen Wahrheiten des Naturrechts.

Den Autoren ist es in der Tat hervorragend gelungen, das Ganze dieser internationalen humanitären Bewegung in einem Gesamtbild anschaulich werden zu lassen. Dadurch wird es dem unernsten Zeitgeist in seiner ganzen Grösse wieder vor Augen gestellt.

Ein Geschenk der Schweiz an die Menschheit konnte das Roten Kreuz nur werden, weil dieser Kleinstaat als Willensnation gelernt hat zu leben. Der Wille zur Freiheit in demokratischer Ordnung, der Wille zur Würde des Menschen wachsen immer nur aus dem Kleinen empor. Die gelebte Souveränität ist die soziale Garantie der Menschenrechte. Das ist Naturrecht pur.

Diese humane Substanz des Schweizervolkes hat einen Sohn hervorgebracht, dem das Leiden keine Ruhe mehr liess. Was aus dieser anfänglichen Tat Henry Dunants geworden ist, schildert dieses Buch. Möge es eines Tages zu Pflichtlektüre werden im wieder entstandenen Fach Schweizergeschichte – wenn unseren Schulen sich einmal wieder auf ihren ureigensten Zweck besonnen haben werden: die Bildung gebildeter, eigenständiger und gemeinschaftsfähiger Staatsbürger, die dem Dienst am Gemeinwohl verpflichtet sind: Ehrlich und in Gleichwertigkeit tragfähige Lösungen zu suchen für alle.

 

 

 


 

 

 

Faust

Helmut Faust
Geschichte der Genossenschaftsbewegung
Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland sowie ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum
3. überarbeitete und stark erweiterte Auflage 1977

 

Helmut Faust behandelt einen Gegenstand, den die akademische Geschichtswissenschaft bislang sehr stark vernachlässigt hat. Gegenüber den Vorauflagen ist das Werk sehr stark erweitert und überarbeitet worden und bietet dem Historiker der Arbeiterbewegung eine Fülle von Material und Anregungen für seine Arbeiten. Es ist z.Z. keine Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland erhältlich, die in biobibliographischer Hinsicht gleich vollständig ist und einen ähnlich großen Zeitraum umfasst. Es ist eine «personale Geschichtsbetrachtung» und Faust vermeidet eine «quantifizierende Betrachtungsweise». Da die Genossenschaftsidee der sozialen Natur des Menschen und der darin verankerten Gegenseitigen Hilfe entspringt, gehören als conditio sine qua non Freiwilligkeit und Gleichwertigkeit zu den beiden Grundprinzipien von Genossenschaften. Faust geht daher bewusst auf Distanz zu den kollektivistischen, elitären und autoritären Theoretikern der Arbeiterbewegung, die Freiheit und gemeinschaftliches Produzieren mit Terror herbeizwingen wollten, was nichts mehr mit der Grundidee der Genossenschaft zu tun hat. Eine der schlimmsten historische Beispiel dafür ist die Politik der Kollektivierung nach dem Ersten Weltkrieg in der Ukraine, der Kornkammer Europas, welche die russischen Marxisten in Russland mit brutalem Terror durchführten. Vor allem der frei wirtschaftenden Bauernschaft unterstellten die Marxisten, allen voran Lenin, die freie Wirtschaftsweise bringe «Tag für Tag, Stunde für Stunde Kapitalismus hervor». «Zunächst waren die Kulaken (die reichen Bauern) dran. Später auch die Dorfarmen. Wer nicht freiwillig in Kolchosen (sowjetische Großbetriebe) eintrat, galt als Staatsfeind, erhielt keine Arbeit und wurde zwangsenteignet.» (Juri Krawtschenko) 45 Millionen hungerten. Der britische Historiker Robert Conquest beziffert die Gesamtopferzahl des Terrors unter dem autoritären bolschewistischen Sozialismus damals in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg auf bis zu 14,5 Millionen Menschen. Zu recht geht Faust auf diesen Teil der Arbeiterbewegung, wenn man ihn denn so nennen will, nicht ein, weil Kollektivierung und Terror nichts mit Genossenschaft zu tun haben. Gerade dass Faust in diesem Sinne konsequent personale Geschichtsschreibung betreibt, trotz stramm von links wehendem Zeitgeist, das macht das Buch so wertvoll.

 

 

 


 

 

 

16893043315Ulrich Im Hof
Das gesellige Jahrhundert

 

Ulrich Im Hof (1917 – 2001) heimatberechtigt in Basel und Schaffhausen, war ein Schweizer Historiker. Er studierte Geschichte und Germanistik in Basel, promovierte 1944 und war bis 1968 Gymnasiallehrer in St. Gallen, Basel und Bern. 1968 wurde er an der Universität Bern Professor für Schweizer Geschichte der Frühen Neuzeit. Er beschäftigte sich insbesondere mit dem 18. Jahrhundert, der Geschichte der Universitäten und der Geselligkeit im Ancien Régime. Das 18. Jahrhundert war die Blüte der auf allgemeinen Nutzen gerichteten Gesellschaften. Es gab mehrere hundert Sozietäten in Europa und Amerika, wenn man die Tochtergesellschaften hinzuzählt. Kaum eine Großstadt jener Zeit – was ungefähr 10 000 Einwohner bedeutete – war ohne solche Gesellschaft. Man schrieb Briefe, wählte Mitglieder, lobte Preise aus, publizierte Zeitschriften geringer Auflagenhöhe. Zufall war es nicht, daß um 1770, als der Schatten von Massenhunger und Bürgerkrieg sich auf Alteuropa legte, die Sozietätsbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Die Schweiz war ein Zentrum der Sozietätsbewegung, und so ist es ein Fachmann der Schweizer Geschichte, der die erste Gesamtdarstellung vorlegt – kundig, übersichtlich und sehr lesbar.

 

 

 

 


 

 

 

 

Marc Aurel

Marc Aurel
Selbstbetrachtungen
Übersetzt und herausgegeben von Roland Nitsche
Zürich 1948

 

«Die Dinge der Aussenwelt haben nicht Macht über die Seele, sie haben keinen Zugang zu ihr und können sie nicht umstimmen oder bewegen. Nur die Seele selbst stimmt und bewegt sich und wertet auf Grund ihrer eigenen Urteile die Dinge der Aussenwelt.»  Es ist eine humane und soziale Philosophie. Marc Aurel betont, dass nichts logisch wahr sein könne, was nicht auch moralisch gut ist. Die Erkenntnis des Wahren ist nie Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Tun des Guten. Im Zentrum dieser Philosophie steht das Problem der Gemeinschaft. Marc Aurel gehörte zur jüngeren Stoa, die eindringlich moralisch im Sinne eines vom Glauben an die Vernunft getragenen Zusammenwirkens aller Menschen die Frage nach der Welt beantwortet. So ist die erste Sozialmoral der abendländischen Kultur entstanden, die sich dem Nihilismus des untergehenden römischen Reiches entgegenstellt und eine neue Weltordnung schafft, die dem Christentum auffällig nahe ist. Die neue Übersetzung von Nitsche schuf einen brauchbaren Text, der auch für Laien  leicht lesbar ist.

 

 

 

 


 

 

 

 

9783518382226-de-300Reinhold Schneider (1938)
Las Casas vor Karl V.
Szenen aus der Konquistadorenzeit
Frankfurt/Main 1990

 

Reinhold Schneider hat in seinen Arbeitsnotizen vom Gewissen des Abendlandes gesprochen, dessen Sprecher Las Casas sei. Las Casas (1474-1566), der leidenschaftliche Streiter für die Gleichberechtigung der Indios in den amerikanischen Kolonien gegen die mit seinem Missionsauftrag unvereinbare Ausbeutung und den Völkermord durch die spanischen Eroberer, schifft sich nach Spanien ein, wo er den Kaiser für einen grundsätzlichen Wandel in der Kolonialpolitik gewinnen will.

 

 

 


 

 

 

 

 

41t8NpxCssL._SX416_BO1,204,203,200_Johannes Meier & Annegret Langenhorst (Hg.)
Bartolome de las Casas
Der Mann – das Werk – die Wirkung
1992

 

Mit einer Auswahl von auf Deutsch übersetzten Texten von Las Cassa‘ und einem Interview mit Gustavo Gutierrez. Batolomé de Las Cassa gehört zu den denkwürdigen Gestalten aus der Geschichte des Christentums. «Die Geschichte Europas und Amerikas ist (…) eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft» sagte Martin Kriele 1980 in seinem Buch Die demokratische Weltrevolution. Las Cassa ist ein solches historisches Beispiel der Überwindung von Unrecht und Gewalt «aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft» und zu recht nennen ihn die Autoren einen «Gefährten der Völkerfamilie auf ihrem Weg ins 21. Jahrhundert».

 

 

 


 

 

 

 

18113584841 Albert Schweitzer
Straßburger Predigten
München 2013

 

Aus der Reihe von Predigten, die Albert Schweitzer als Vikar von Sankt Nikolai in Straßburg in den Jahren 1900 bis 1913 und 1918 bis 1919 hielt, wird hier ein Auswahl vorgelegt. Sie umfaßt Predigten zu den Festzeiten des Kirchenjahrs, Missionspredigten und schließlich die ersten Predigten über das Thema ”Ehrfurcht vor dem Leben”. Damit ist ein wichtiger Querschnitt durch das Wirken diesen großen Vorbildes unserer Zeit als Prediger gegeben

 

 

 

 


 

 

 

 

SutorBernhard Sut0r
Politische Ethik

 

Die Katholische Soziallehre wurde im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage, dem Liberalismus und dem autoritären Marxismus entwickelt. Gegen beide hat sie ihre Prinzipien einer gerechten Ordnung entwickelt. Im 20. Jahrhundert wurde sie präzisiert und zunehmend auf Hauptfelder der Politik angewandt: politische Ordnung, Menschenrechte und Demokratie, internationale Politik, Krieg und Frieden, Entwicklung und Ökologie. Inwieweit wird die Katholische Soziallehre den Bedingungen politischen Handelns in Interessen- und Machtkonflikten gerecht? Was sind wichtige Beiträge der Kirche zu einer Ethik des Politischen und was typische Defizite infolge der Neigung zu kurzschlüssigem Moralisieren? Bernhard Sutor betont, dass eine politische Ethik auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, nicht von der Offenbarung, von der personenhaften Sozialnatur des Menschen ausgehen muss. Damit ist seine politische Ethik primär  nicht religiös oder sonst konfesionell gebunden, sondern primär naturrechtlich und kann, ganz im Geiste des modernen Naturrechts seit der Entdeckung Amerikas, ebenso als säkulare Ethik gelesen werden.

 

 

 


 

 

 

Alexander Rüstow
Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit

In: Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Götz Briefs, Hans Hermann Walz, Ulrich von Pufendorf, Wolfgang Frickhöffer
Was wichtiger ist als Wirtschaft
Ludwigsburg 1960

 

Der Band enthält neben dem Vortrag Rüstows auch alle anderen Vorträge der 15. Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale-Maktwirtschaft am 29. Juni 1960 in Bad Godesberg. Eine Tagung, die sich aus naturrechtlicher Sicht für eine „Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit ausspricht, die in „überwirtschaftlichen“ naturrechtlichen Werten verankert sind. Rüstows Aufsatz ist deshalb bedeutend,  weil er darin den naturrechtlichen Fixpunkt nennt, von von dem aus jede Planwirtschaft, und damit auch jede totalitäre politische Struktur,  – egal ob nach UdSSR oder Washington Consensus-Art, nach Brüsseler oder welcher Couleur auch immer – als gegen die Würde des Menschen gerichtet abzulehnen ist: „Wir sind der Meinung, daß es unendlich viele Dinge gibt, die wichtiger sind als Wirtschaft. Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das Religiöse, das Ethische das Ästhetische, kurz gesagt, das Menschliche, das Kulturelle überhaupt. Alle diese großen Bereiche des Menschlichen sind wichtiger als die Wirtschaft. Aber sie alle können ohne die Wirtschaft nicht existieren; für sie alle muß die Wirtschaft das Fundament, den Boden bereiten. Primum vivere, deinde philosophari. Wenn die Wirtschaft nicht dafür sorgt, daß die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens gegeben sind, können alle diese Dinge sich nicht entfalten. Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft zu stellen Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich in den Dienst dieser Forderungen zu stellen. Es ist der eigentliche Zweck der Wirtschaft diesen überwirtschaftlichen Werten zu dienen. Daraus folgt innerhalb des Eigenbereichs der Wirtschaft sehr vieles. Es folgt daraus vor allem, daß die Wirtschaft ihrerseits nicht Formen annehmen darf die mit Jenen überwirtschaftlichen Werten unvereinbar sind. Darauf beruht ganz wesentlich unser Widerspruch gegen die Planwirtschaft. Es hat sich erwiesen, und es läßt sich auch grundsätzlich nachweisen, daß die Planwirtschaft mit Notwendigkeit in dem Maße, wie sie sich entwickelt mit totalitärer Diktatur gekoppelt ist. Eine totale Planwirtschaft läßt sich anders als mit totalitärer Diktatur überhaupt nicht durchführen und ist nie anders durchgeführt worden. Da wir aus sehr grundlegenden überwirt­schaftlichen Gründen die Diktatur ablehnen, müssen wir aus denselben überwirtschaftlichen Gründen auch die Planwirtschaft ablehnen.“ (Rüstow-Aufsatz im Internet)

 

 

 

 


 

 

 

 

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Karl Albrecht Schachtschneider
Prinzipien des Rechtsstaates
Nürnberg 2007

 

Es gibt keine Freiheit ohne Recht und es gibt kein Recht ohne Staat. Der Rechtsstaat gehört zur Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit. Seine Prinzipien sind das Gerüst einer Republik, eines Gemeinwesens freier Menschen, das freilich auch demokratisch und sozial sein muß. „Prinzipien des Rechtsstaates“ ist ein Kompendium der Lehre vom Rechtsstaat, das einerseits die republikanische Freiheitslehre umsetzt und andererseits die Rechtsprechung vor allem des Bundesverfassungsgerichts zu den Prinzipien des Rechtsstaates kommentiert. Beides paßt gut zusammen. Die Prinzipien des Rechtsstaates, wie sie in Deutschland praktiziert und gelehrt werden, können für alle Gemeinwesen, welche den Menschenrechten verpflichtet sind, hilfreich sein. Freilich ist auch von den Gefahren der europäischen Integration für den Rechtsstaat zu berichten. Die Mißachtung der Prinzipien des Rechtsstaates verletzt die Menschen in ihrer Würde.

 

 


 

 

 

Martin Kriele

Martin Kriele (1931–2020) war Professor für Allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht, Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik der Universität Köln und zugleich Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen. Seine Person und sein Werk stehen in der Geschichte des Naturrechts nach dem zweiten Weltkrieg aus einem ganz speziellen Grund einzigartig da.

Gegen Ende der Sechzigerjahre beginnt ein mehr als zwanzigjährige Renaissance des Naturrechts. Dieter Schelauske hat sie in seiner historisch systematischen Studie «Naturrechtsdiskussion in Deutschland. Ein Überblick über zwei Jahrzehnte 1945-1965» (1968) dargestellt. Jürgen Habermas von der zweiten Generation der «Frankfurter Schule» fertigt diese zwanzig Jahre mit der lapidaren Bemerkung ab, sie sei  «unter dem Niveau der Philosophie» geblieben. [Jürgen Habermas. Theorie und Praxis, 4. Auflage, Frankfurt/Main 1971, S. 118.] Nota bene: Es war eine öffentliche Diskussion, «die Theologen, Juristen und Philosophen gleichermassen auf den Plan rief und über zwanzig Jahre hin auf das lebhafteste beschäftigte: die Diskussion um die vielen Fragen des Naturrechts, deren literarischer Niederschlag so gross ist, dass sich damit einige stattliche Bücherregale füllen lassen.»[Schelauske, 1968, S. 18.] Ende der Sechzigerjahre verstummt sie allmählich.

 

 

 

 

9783492104869-de-300 Martin Kriele
Die demokratische Weltrevolution
Warum sich die Freiheit durchsetzen wird
München 1988

 

Die Geschichte der demokratischen Revolution ist die Geschichte des Mündigwerdens des Menschen. Der Rechtszustand, der den Menschen und den Völkern Freiheit zur Selbstgestaltung ihres Lebens gewährleistet und diese Freiheit zugleich so beschränkt, daß die anderen Menschen und Völker die gleiche Freiheit genießen, ist die der Natur des Menschen allein gemäße Gestalt des Zusammenlebens. Das ist der Grund, weshalb der demokratischen Revolution eine natürliche Tendenz auf universale Ausbreitung innewohnt: Sie ist die Weltrevolution schlechthin.

 

 

 


 

 

 

9783451189708-de-300Martin Kriele
Befreiung u. politische Aufklärung
Plädoyer für die Würde des Menschen (1980)

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Yamada MessnerHideshi Yamada & Johannes Michael Schnarrer 
Zur Naturrechtslehre von Johannes Messner und ihre Rezeption in Japan
Wien 1996

 

«Wenn man an die Aufgabe, die Natur des Menschen zu erklären und zu ergründen, herangehen will, scheint es mir angebracht, den Menschen vor allem als Familienwesen aufzufassen, was Johannes Messner, ehemaliger Wiener Sozialethiker, in seinen Werken deutlich ausgeführt hat. Nach Messner sind objektive und subjektive Wirkweise des Naturgesetzes im Menschen zuinnerst verbunden. Weil der Mensch in Wirklichkeit viel ursprünglicher und zuallererst Familienwesen ist, als üblich in sich fertiges Wesen gedacht. «In der Familie erfährt er die Formung seiner Haltungen und Verhaltensweisen wie überhaupt seines Geistes bis auf den tiefsten Grund, und in der Familiengemeinschaft lernt er, was ihm als Gesellschaftswesen und als Einzelwesen im Streben nach Erfüllung seines Glückstriebes, also in seinem Wertstreben, wahrhaft zum Wohle ist. Es ist die unmittelbare, ihm in diesem Zusammenleben durch seine Natur aufgenötigte Erfahrung, die für seine Selbstbestimmung der Anlass zu den seiner Natur gemässen Verhaltensweisen wird.» Weil in der Familie inhaltsbezogen erfahren und erlernt, sind die sittlichen sowie rechtlichen Prinzipien, also die Naturrechtsprinzipien, in unterschiedlichen Bereichen dementsprechend anwendbar. Sie sind also nicht inhaltsleer, wie Hans Kelsen und Ernst Topitsch kritisieren.» (Hideshi Yamada)

 

 


 

 

 

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Iris Glockengiesser (2011)
Mensch – Staat – Völkergemeinschaft
Eine rechtsphilosophische Untersuchung zur Schule von Salamanca
Bern 2011

 

«Das Aufeinandertreffen der Kulturen infolge der Entdeckung Amerikas brachte die mittelalterlichen Denkgebäude des nun alten Kontinents ins Wanken oder gar zum Einsturz. Die Europäer wurden zum Umdenken gezwungen, da die tradierten Antworten auf die neuen Fragen nicht recht passen wollten. Das galt insbesondere für den Umgang mit den nichtchristlichen Ureinwohnern Amerikas, die im Rahmen der Conquista – als nahtlose Fortsetzung der Reconquista, die zur Vertreibung der Mauren in Spanien geführt hat – unterjocht, versklavt und zwangschristianisiert wurden.Dies bildete den politischen und sozialen Hintergrund, vor dem die Schule von Salamanca – darunter Francisco de Vitoria und Francisco Suárez, um nur die wichtigsten zu nennen – zu einem menschenwürdigeren Umgang mit den Indios aufforderte. Glockengiesser widmet sich diesen Theorien, die sowohl damals als auch heute noch revolutionären Esprit zu versprühen vermögen, steht die Schule von Salamanca doch für den Ursprung des modernen Völkerrechts, das mehr meint als lediglich das Recht der Nichtbürger, wie es das antike Rechtsdenken lehrte, sondern ein Recht zwischen gleichberechtigten und souveränen Staaten, unabhängig von Glaube oder Kultur. Daher wird ausgehend vom Menschenbild, welches den Menschen als vernunftfähig, frei und zugleich gemeinschaftsbildend beschreibt, über die höchste Form der menschlichen Gemeinschaft, den Staat, der Bogen bis hin zum Verhältnis zwischen diesen politischen Gemeinschaften gespannt.» (Aus: Patrick Stellbrink (2012): Rezension zu: Iris Glockengiesser: Mensch – Staat – Völkergemeinschaft. Bern: 2011. In: Portal für Politikwissenschaft. URL: http://pw-portal.de/rezension/34904-mensch–staat–voelkergemeinschaft_41958)

 

 


 

René Roca

 

Bernhard Meyer und der liberale Katholizismus der Sonderbundszeit. Religion und Politik in Luzern (1830–1848)
Diss. Zürich 2001

«’Wahre Volkssouveränität’ oder ‚Ochlokratie’? Die Debatte um die direkte Demokratie im Kanton Luzern während der Regeneration», in: Der Geschichtsfreund, 156. Band, Altdorf 2003, S. 115–146.

«’Alte’“ und ‚neue’ Gemeindefreiheit als Fundament. Die historischen Wurzeln der schweizerischen direkten Demokratie», in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56, Nr. 2, Basel 2006, S. 187–198.

«100 Jahre Raiffeisenbank am Rohrdorferberg. Vom zarten Pflänzlein zum stattlichen Baum», in: Reussbote, Nr. 38, 16.5.2006 (1. Teil); Reussbote, Nr. 39, 19.5.2006 (2. Teil); Reussbote, Nr. 40, 23.5.2006 (3. Teil).

«Die Entwicklung direktdemokratischer Strukturen am Beispiel des Kantons Luzern (1830–1848)», in: Graber, Rolf (Hg.): Demokratisierungsprozesse in der Schweiz im späten 18. und 19. Jahrhundert. Forschungskolloquium im Rahmen des Forschungsprojekts «Die demokratische Bewegung in der Schweiz von 1770 bis 1870. Eine kommentierte Quellenauswahl», Bern 2008, S. 77–84.

Mitautor beim lokalgeschichtlichen Projekt: «Rohrdorferberg. Geschichte von Oberrohrdorf, Niederrohrdorf und Remetschwil.» (Autor des Kapitels: «Die Grossgemeinde im Wandel – Von der Helvetischen Revolution 1798 bis zur Bildung von neuen Gemeinden 1854»), S. 87–143, Zürich 2011.

«Schweizerische Geschichtswissenschaft und Demokratieforschung – Vom Mythos über die Ignoranz zum historischen Untersuchungsgegenstand», in: Auer, Andreas; Roca, René (Hg.): „Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen“, im Druck.

«Die Vetodebatte im Kanton Luzern», in: Auer, Andreas; Roca, René (Hg.): «Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen», im Druck.

«I.P.V. Troxler und seine Auseinandersetzung mit der Helvetik. Von der repräsentativen zur direkten Demokratie», in: Zurbuchen, Simone (Hg.): „Menschenrechte und moderne Verfassung. Die Schweiz im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert“, im Druck.

Artikel «Sonderbund», in: Historisches Lexikon der Schweiz, Band 11, hg. von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Basel 2012; nebst weiteren Artikeln wie «Sarnerbund«, «Schutzverein» etc. (siehe auch: www.hls.ch).

 

 

44437C7C35373739347C7C434F50[1]Rene Rocca
Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll… Die schweizerische direkte Demokratie in Theorie und Praxis – Das Beispiel des Kantons Luzern
Zürich 2012

 

Die direkte Demokratie ist in der Schweiz wie in keinem anderen Land ein zentraler Bestandteil der politischen Kultur. Es erstaunt daher, dass ihre Entstehung bisher kein zentrales Forschungsthema der Geschichtswissenschaft darstellt. Um diese Forschungslücke endlich zu schliessen, wird mit der vorliegenden Untersuchung der Anfang einer systematischen Aufarbeitung des Themas in Angriff genommen. Erstmals wird die Theorie der direkten Demokratie definitorisch klarer erfasst. Auf diesem Fundament formten sich im 19. Jahrhundert in der Schweiz auf kantonaler Ebene direktdemokratische Systeme. Mit dem Kanton Luzern wird ein solches Beispiel beschrieben, dem weitere folgen werden. Die Schweiz muss ihre historischen Wurzeln kennen; das ist wichtig für ihr Selbstverständnis, aber auch um ein Modell für interessierte Länderzu sein.

 

 


 

 

 

bub_gb_sSbToPyo8ooCHugo Grotius (1707)
De Jure Belli ac Pacis libri tres
Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens
Paris 1625 

Neuer deutscher Text
Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1950

 

„Zu den großen Niederländern der Zeit gehört auch jener Sohn aus gutem Delfter Hause, Huigh de Groot, der sich bald lateinisch Hugo Grotius nannte, 1583 geboren. … 1609 veröffentlichte er das Werk, dessen Titel fast noch bekannter wurde als der Name seines Autors: Mare Liberum – Von der Freiheit der Meere. Ein Werklein in lateinischer Sprache, gerade mal 36 Seiten, mit dem er den Anspruch der Spanier und Portugiesen auf ein Monopol im Kolonialhandel zurückweist und das Recht des jungen niederländischen Staates auf freie Schifffahrt und freien Handel verteidigt. Das Meer gehöre niemand, jeder könne es befahren und nutzen. Die Schrift, ursprünglich im Auftrag niederländischer Handelsherren entstanden, zeigt schon beim jungen Grotius die große Begabung, juristische Konstruktionen in den Dienst einer politisch wirksamen Rechtsüberzeugung zu stellen. Mare Liberum erschien anonym und wurde heftig diskutiert, der Papst stellte es sofort auf den Index. Grotius aber arbeitete weiter an seinen Ideen und entfaltete sie schließlich 1625 in seinem großen Buch De Iure Belli ac Pacis (Über das Recht des Krieges und des Friedens), das Grundlage der Völkerrechtsordnung werden und bleiben sollte – bis heute“ (Aus: Uwe Wesel: Die neue Weltordnung)

 

 


 

 

 

41FtnldQpcL._SL500_SY344_BO1,204,203,200_Samuel von Pufendorf (1673):
Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur
Frankfurt/Main 1994

 

 

 

 

 

 


 

 

 

bsb10042524_00005

Samuelis Pufendorfii
De officio hominis et civis prout ipsi praescribuntur lege naturali
1673

[Gebührenfrei digital herunterladbar von der «Digitalen Bibliothek» der Bayrischen Staatsbibliothek München: URL: http://www.digitale-sammlungen.de/index.html?c=suchen&ab=&kl=&l=de]

 

 

 

 

 

 


 

 

 

4803869456Christian Thomasius
Vom Laster der Zauberei
Über die Hexenprozesse

 

Thomasius (1655 – 1728) ist einer der entscheidenden aus einer langen Reihe von Kämpfern, die oft unter Einsatz ihres Lebens den Mut aufbrachten, gegen die unseligen Hexenverbrennungen aufzutreten. Auch für Thomasius war das nicht ungefährlich. Er trug für eine humane Strafordnung im Sinne der Aufklärung und wesentlich zur Abschaffung der Hexenprozesse und der Folter bei.

 

 


 

Vattel VölkerrechtEmer de Vattel
Des Herrn von  Vattels Völkerrecht oder gründliche Anweisung, wie die Grundsätze des natürlichen Rechts auf das Betragen und auf die Angelegenheiten der Nationen und Souveräne angewendet werden müssen
Drei Bücher, aus dem Französischen übersetzt von Johann Philip Schulin

Franckfurt und Leipzig 1760

 

[Alle drei Bände der Übersetzung von Schulin kann man gebührenfrei digital herunterladen von der «Digitalen Bibliothek» der Bayrischen Staatsbibliothek München: URL: http://www.digitale-sammlungen.de/index.html?c=suchen&ab=&kl=&l=de]

 

 

 


 

 

 

FreistetterWerner Freistetter
Internationale Ordnung und Menschenbild
Anthropologische Grundlagen der Ordnung der Völkergemeinschaft in der Naturrechtslehre von Johannes Messner
Innsbruck-Wien 1994

 

Werner Freistetter arbeitet heraus, dass die Grundlage der Völkerrechtsethik in der Naturrechtslehre Johannes Messners die Anthropologie ist. Damit verfolgt Messner einen induktiven Weg. Er geht von der menschlichen Erfahrungswirklichkeit aus. Messner betont in seiner Naturrechtsethik die entscheidende Bedeutung einer sittlichen Ordnung, de alle Menschen und Völker in gleicher Weise berechtigt und verpflichtet. Seinem Denken liegt zugrunde, dass die Menschen von Natur her gleichwertig sind.

 

 

 

 


9. Marxismus


 

 

 

Arthur Koestler, André Gide, Ignazio Silone,
Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender

Ein Gott, der keiner war

Sechs Intellektuelle schildern ihre Bekehrung zum Kommunismus und ihre Gründe für die spätere Abkehr. Das Bindeglied zwischen den sechs äußerst verschiedenen Persönlichkeiten – drei Schriftstellern und drei Journalisten – ist, dass sie alle den Kommunismus erwählten, weil sie bereit waren, bourgeoise Freiheiten zu opfern, um den Faschismus zu bekämpfen, und weil sie – insbesondere nach den Moskauer Prozessen und dem Hitler-Stalin-Pakt – ohne Einbindung in den Apparat ihre Enttäuschung artikulieren und individuelle Konsequenzen ziehen konnten. Die autobiographischen Essays, intern gegliedert nach «Die Aktivisten» (Arthur Koestler, Ignazio Silone, Richard Wright) und «Gläubige Jünger» (André Gide, Louis Fischer und Stephen Spender), erschienen 1950 in einer Hochphase des Kalten Krieges und wurden in erster Linie als Zeugnisse des Anti-Kommunismus gelesen, einem Verdikt, das die meisten Autoren überwiegend bis heute aus dem linken intellektuellen Diskurs eliminierte. Es ist erstaunlich, wie schmerzlos im Vergleich zu diesen Autoren 1989 an den meisten westlichen Intellektuellen vorbeigegangen ist.

 

 

 

 


 

 

Arthur Koestler
Sonnenfinsternis

Koestlers weltberühmter Roman über den einstigen Volkskommissar Rubaschow, der den politischen Säuberungen innerhalb seiner eigenen revolutionären Partei zum Opfer fällt und in gnadenlosen Verhören zur Strecke gebracht wird, deckt die Mechanismen totalitärer und diktatorischer Systeme auf. Der Roman entstand 1939 in Frankreich. Die von Koestlers damaliger Lebensgefährtin angefertigte Übersetzung erreichte den Londoner Verleger gerade noch rechtzeitig vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris; das deutsche Originalmanuskript ging verloren. Koestler selbst übersetzte den eigenen Roman später anhand der englischen Ausgabe zurück ins Deutsche. Die Deutsche Erstveröffentlichung erschien 1946 in London!

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Ignazio Silone
Notausgang

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Wera Figner
Nacht über Russland. Lebenserinnerungen

In ihrem Buch erklärt Vera Figner, wie sie von Aufsätzen der Utilitaristen geprägt wurde, die als Ziel eines jeden Menschen empfahlen, «das größtmögliche Glück einer möglichst großen Anzahl Menschen zu verschaffen». Wegen Beteiligung an der Planung von Attentaten auf den Zaren Alexander II., wurde sie am 10.(22.) Februar 1883 als letztes Mitglied des Exekutivkomitees der Narodnaja Wolja verhaftet. Zwanzig Monate verbrachte sie in Untersuchungshaft in der Peter-und-Paul-Festung. 1884 zum Tode verurteilt, wurde ihre Strafe in lebenslänglich umgewandelt und in den folgenden zwanzig Jahren in Schlüsselburg, auf der Insel der Toten, vollstreckt. Nach der Februarrevolution 1917 amnestiert, leitete sie das Komitee zur Hilfeleistung für befreite Sträflinge und Verbannte, das 2 Mio Rubel an ca. 4.000 Menschen verteilte. Sie war Mitglied der Konstituante, die am 19. Januar 1918 von den Bolschewiki aufgelöst wurde.

 

 

 

 


 

 

 

 

Albert Camus
Der Mensch in der Revolte
Reinbek bei Hamburg 1969

L’homme révolté, erschienen 1951

«Die Analyse der Revolte führt mindestens zum Verdacht, dass es, wie die Griechen dachten, im Gegensatz zu den Postulaten des heutigen Denkens eine menschliche Natur gibt. … Er fordert zweifellos für sich den Respekt, aber in dem Mass, in dem er sich mit einer natürlichen Gemeinschaft identifiziert.»

«Wir leben im Zeitalter des Vorsatzes und des vollkommenen Verbrechens. Unsere Verbrecher … haben ein unwiderlegbares Alibi, die Philosophie nämlich, die zu allem dienen kann, sogar dazu, die Mörder in Richter zu verwandeln. … Sobald man aber, mangels Charakters, nach einer Doktrin rennt, sobald das Verbrechen anfängt, seine Gründe in der Vernunft zu suchen, wuchert es wie die Vernunft selber und nimmt alle Formen logischer Denkschlüsse an. … Am Tag, an dem das Verbrechen sich mit den Hüllen er Unschuld schmückt, wird – durch eine seltsame, unserer Zeit eigentümlichen Verdrehung – von der Unschuld verlangt, sich zu rechtfertigen. … In der Zeit der Ideologien muss man sich mit dem Mord auseinandersetzen. Wenn der Mord Vernunftgründe hat, leben unsere Zeit und wir in ihrer Konsequenz. Wenn er keine hat, leben wir im Irrsinn … wenn nichts einen Sinn hat und wenn wir keinen Wert befahren können, ist alles möglich und nichts von Wichtigkeit. Ohne Für und Wider hat der Mörder weder unrecht noch recht. … Man kann nicht dem Mord eine Logik zugestehen, wenn man sie dem Selbstmord verweigert. Ein Geist, der von der Idee des Absurden durchdrungen, lässt zweifelsohne den Mord aus Schicksalsbestimmung gelten, doch nicht den überlegten Mord. Angesichts dieser Kluft sind Mord und Selbstmord ein und dasselbe, beide muss man zusammen bejahen oder verwerfen. So führt denn der absolute Nihilismus, der den Selbstmord zu legitimieren bereit ist, noch leichter zum Mord aus Überlegung. Wenn unsere Zeit leichtweg die Rechtfertigung des Mordes annimmt, so aus dem Grund jeder Indifferenz dem Leben gegenüber, die das Kennzeichen des Nihilismus ist. … Wenn man dem Selbstmord seine Gründe abspricht, ist es gleicherweise unmöglich, dem Mord solche zuzusprechen. Es gibt keinen halben Nihilisten. … Vom Augenblick an, da man die Unmöglichkeit der absoluten Verneinung anerkennt, und Leben auf irgendeine Weise kommt dieser Anerkennung gleich, ist das Erste, was sich nicht leugnen lässt, das Leben des anderen. … wo doch Leben an sich schon ein Werturteil ist. Atmen heisst urteilen.» 

Das Buch enthält vor allem auch Camus‘ Auseinandersetzung mit dem autoritären Sozialismus: «Der autoritäre Sozialismus hat die lebendige Freiheit beschlagnahmt zugunsten einer idealen, erst noch kommenden Freiheit.» Es ist speziell die kritische Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre, der sich dem Stalinismus verschrieben hatte. Doch es ist mehrt: «Zwei Jahrhunderte metaphysischer oder historischer Revolte laden zum Nachdenken ein. … [es] sollte wenigstens möglich sein, eine durchgehenden Faden darin zu finden.» Camus beschreibt die «aussergewöhnliche Geschichte von Europas Hochmut. … Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich weigert, zu sein, was es ist. Die Frage ist, ob diese Weigerung ihn nur zur Vernichtung der anderen und seiner selbst führen kann …». Camus stellt die Frage damit auch an unsere Zeit.

 

 

 


 

 

 

Panait Istrati
Band I : Auf falscher Bahn. Sechzehn Monate in Russland
Band II : So geht es nicht ! Die Sowjets von heute
Band III: Rußland nackt. Zahlen beweisen

Panait Istrati (* 22. August 1884 in Braila, Rumänien; † 16. April 1935 in Bukarest) ist ein rumänischer Schriftsteller. 1927 reist er gemeinsam mit seinem bulgarischen Freund Christian Rakowski  in die Sowjetunion, wohin sie zu den Feiern des 10. Jahrestages der Oktoberrevolution eingeladen sind. Rakowski ist gerade als Botschafter der UdSSR inParis abberufen worden, da er der trotzkistischen Linksopposition angehört und wird noch im selben Jahr aus der KPdSU ausgeschlossen und verbannt. 1941 wird er vom NKDW erschossen. Die kommunistische Partei zeigt den Besuchern 1937, was man sie sehen lassen will: das Paradies des «neuen Menschen». Bald nach der Ankunft hat Istrati den griechischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis kennengelernt. Bald planen die beiden, in die UdSSR überzusiedeln. Wie alle anderen Intellektuellen, welche das bolschewistische «Arbeiterparadies» nach dem Ersten Weltkrieg besuchen, ist auch Istrati zunächst begeistert und schliesst seine Reise mit einem Aufenthalt in Griechenland ab, wo er in feurigen Propagandareden die fortschrittlichen Leistungen der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale preist.

Istrati zur Kur in Davos

Eine zweite Reise, die über ein Jahr dauert, beginnt im Winter 1928, als Panait Istrati zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Schweizer Sängerin Marie Louise Baud-Bovy, und seinem Freund Nikos Kazantzakis und dessen späterer Frau Eleni Samios, auf eigene Faust und Kosten erneut in die UdSSR reisen. Istrati glüht zunächst immer noch für die UdSSR. Sie kommen bis ans Polarmeer, von dort aus in die Moldau, zum Ural und nach Süden zum Kaukasus. Auf dieser Reise wird Istrati vollkommen desillusioniert.

Auch Kazantzakis ist nicht mehr begeistert von den Bolschewiki, bleibt aber dem Land gegenüber trotzdem noch wohlwollend. Istrati aber zutiefst enttäuscht und erschüttert über das, was er erlebt hat. Anders als sein Freund Kazantzakis verfasst er eine empörte Abrechnung mit der bolschewistischen Diktatur, die unter dem Titel «Vers l’autre flamme» 1929 erscheint, deutsch «Auf falscher Bahn». Er verurteilt  darin die «rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiter durch eine Bürokratie, die bereit ist, alles zu tun, um ihre Privilegien zu verteidigen». Panait Istrati ist der erste Schriftsteller von Weltrang, «der die Sowjetunion und die KPdSU, die seit 1922 unter dem Einfluss ihres Generalsekretärs Josef Stalin stand, von der Warte eines Sozialisten aus in aller Öffentlichkeit angriff.» Vor Istratis Buch hat es «nur wohlwollende oder sogar begeisterte Reiseberichte gegeben, die keinesfalls ausschliesslich von organisierten Kommunisten oder Kommunistinnen stammten», sondern auch zum Beispiel von Humanisten, wie zum Beispiel dem Nobelpreisträger Romain Rolland und anderen bekannten Schriftstellern. (Birgit Schmidt)

Panait Istrati und sein Freund Nikos Kazantzakis

Schlagartig distanzieren sich nach der Veröffentlichung alle seine bisherigen Freunde von Istrati, vor allem auch sein bisheriger Mentor Romain Rolland, der Panait Istrati in tiefer menschlicher Not geholfen hat, ebenso seine früheren kommunistischen Freunde, insbesondere die strammen stalinistischen Intellektuellen der Kommunistischen Partei Frankreichs – allen voran Henri Barbusse. Istrati wird als «Faschist» verleumdet, und eine Hetzkampagne gegen ihn setzt ein. Von den Trotzkisten, denen er ansonsten fernsteht, wird Istrati hingegen vereinnahmt. Istratis Buch erscheint als erster von drei Bänden, die unter seinem Namen veröffentlicht werden. Die anderen beiden Bände sind aber nicht von ihm verfasst, sondern schützen durch seinen Namen ihre wahren Autoren: Band 2 «Soviets», deutsch «So geht es nicht! Die Sowjets von heute», stammt von Victor Serge. Band 3 ist von Boris Souvarine und trägt den Titel «La Russie nue», die deutsche Ausgabe heisst «Russland nackt. Zahlen beweisen». Sowohl über Serge als auch über Souvarine hängen damals schon die Schatten der Vernichtung durch den «roten Terror» der Bolschewiki. Istrati schützt sie durch seine Autorenschaft.

Bukarest, April 1935, Beerdigung

Tafel an dem Haus in Paris, in dem Istrati von 1922 bis 1930 seine Hauptwerke schrieb

Schließlich kehrt Panait Istrati krank und gebrochen nach Rumänien zurück, wo er 1935 an den Folgen seiner Tuberkulose-Erkrankung stirbt.

 

 

Birgit Schmidt
«Ich bin kein Theoretiker, aber ich verstehe den Sozialismus ganz anders.» Leben, Arbeit und Revolte des rumänischen Schriftstellers Panaït Istrati
Verlag  Edition AV, Bodenburg 2019

Was Istrati im Lande des «neuen Menschen» gesehen hat …

«’Ich gedenke seiner mit Rührung‘, schreibt der russische Autor […]  Victor Serge, mit dem Istrati lange befreundet war, in seinen Erinnerungen […]: ‚Er war noch jung, mager wie die Bergbewohner des Balkans […], ungemein begeistert zu leben! […] Er schrieb ohne die mindeste Vorstellung von Grammatik  und Stil zu haben, aber als geborener Dichter, der mit ganzer Seele von ein paar einfachen Dingen ergriffen war, Abenteuer, Freundschaft, Revolte, Fleisch und Blut. Er war unfähig zu theoretischen Erörterungen und infolgedessen gegen sophistische Fallstricke gefeit. Man sagte zu ihm in meiner Gegenwart: „Panait, man kann keine Omeletten machen ohne Eier zu zerschlagen. Unsere Revolution … usw..“ Er rief: „Gut, ich sehe die zerschlagenen Eier. Wo ist eure Omelette?“» (S. 13) (Victor Serge. Beruf Revolutionär. 1901-1917-1941. Frankfurt/Main 1967, S. 311)

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Alja Rachmanowa (Galina Djuragina)

Alja Rachmanowa (* 27. Juni 1898 in Kasli in der Nähe von Jekaterinburg im Ural als Galina Djuragina; † 11. Februar 1991 in Ettenhausen, Ostschweiz) ist das schriftstellerische Pseudonym von Galina Djuragina, die als erste von drei Töchtern einer großbürgerlichen Familie in Kasli aufwuchs. Ihre Kindheit beschreibt sie in ihrem 1932 erschienenen Buch «Geheimnisse um Tataren und Götzen. Meine Jugenderlebnisse im Ural.». Es ist das wohlhabende grossbürgerlich christlich-orthodoxe Elternhaus und die archaische Lebensweise der Tataren, die das Kind prägen. Sie sagt von sich: «Ich habe das grosse Glück gehabt, meine Kindheit und Jugend in den felsigen Bergen und an den verzauberten Seen des Ural zu verbringen, in einer eigenartigen Welt, die mir sowohl die geheimen Kräfte der Natur, als auch die des Menschenlebens besonders nahe brachte, die meinem leidenschaftlichen Wunsche, ihren Rätseln auf den Grund zu kommen, immer neue Nahrung gab, und meine Liebe zu Gott, zu den Menschen und zum Guten immer mächtiger werden liess.»

Als Jugendliche gerät sie in den Terror des marxistisch-leninistischen Putschs, den Bürgerkrieg und die Installation der «Diktatur des Proletariats» unter Führung der Bolschewiki. In «Studenten, Liebe, Tscheka und Tod. Tagebuch einer russischen Studentin», das 1931 als erster Band ihrer Trilogie «Meine russischen Tagebücher» erschien, behandelt sie die Geschichte ihrer Familie während jener Zeit: Sturz des Zaren, Putsch der Bolschewiki und roter Terror, den man schaudern miterlebt und den Leser gar nicht einmal so selten vor dem inneren Auge an ähnliche Abläufe während des «Kalten Krieges» erinnert. So wird zum Beispiel ein Abt zum «Beweis», dass es keinen Gott gibt, öffentlich gepfählt. Erschiessungen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Plünderungen, Krankheit, Angst und Schrecken sind infolge des Roten Terrors an der Tagesordnung. «Wir können uns schon gar nicht mehr vorstellen, dass man ausgekleidet schlafen, anders als flüsternd sprechen, auch nur eine Minute leben kann, ohne zu fürchten, man werde erschossen», vertraut die Studentin Galina Djuragina ihrem Tagebuch an. Sie wagt es kaum noch aus seinem Versteck hervorzuholen. Ihre Heimatstadt Kasli wird im Bürgerkrieg zunächst von der Weißen Armee erobert, und vorübergehend tritt Entspannung ein. Aber dann nähert sich die Rote Armee. Sie Familie Djuragina flieht nach Irkutsk, wo Galina mit dem Psychologiestudium beginnt.

Alja Rachmanowa und ihr Sohn Jurka etwa 1930

«Ehen im roten Sturm. Tagebuch einer russischen Frau» schliesst unmittelbar an «Studenten, Liebe, Tscheka und Tod.» an. Galina verliebte sich in einen österreichischen Kriegsgefangenen, der aus Liebe zu ihr in dem vom Bürgerkrieg geschüttelten Russland bleibt. Fünf Monate darauf heiraten sie in Omsk, wohin die Familie hatte ziehen müssen, und leben dort in einem Waggon auf dem Güterbahnhof. 1922 kommt ihr Sohn Jurka in einem sowjetischen «Gebärhaus» unter schwierigen pflegerischen und hygienischen Bedingungen zur Welt. Die ersten Ehejahre Galinas mit ihrem aus Czernowitz stammenden und in Salzburg aufgewachsenen Mann Arnulf von Hoyer sind überschattet von Hunger, Kälte und dem Roten Terror der Marxisten-Leninsten, der sie in ständiger Angst vor der Liquidierung zittern lässt. Die Ehe wird zu einer «Insel des Glücks», die dem Terror und der Mangelwirtschaft täglich abgetrotzt werden muss. – Es erinnerte mich immer an jene Menschen aus der DDR, die mir sagten, dass für sie die Familie das «staatsfreie» Rückzugsgebiet gewesen sei, wohl ähnlich der «Insel des Glücks» inmitten des allerdings unvergleichlich schlimmeren marxistischen Terrors der Bolschewiki. – Auf der Rückfahrt von Omsk treffen sie auf Züge voller apathisch Verhungernder. Als sie in ihrer Heimatstadt ankommen, hat das ehemalige Dienstmädchen alle Zimmer ihres Hauses vermietet und darf ihnen auf Anweisung der Kommunisten keines zum Wohnen überlassen. Arnulf von Hoyer, der im Buch Otmar heisst,  findet eine Stelle als Englischlektor, Galina hält Vorlesungen über Psychologie der Kindheit und Kinderliteratur. 1925 wird die dreiköpfige Familie ohne Angabe von Gründen aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Sie versuchen in Wien Fuss zu fassen. Galina hat mit Veröffentlichungen kein Glück. Man beschliesst, ein Lebensmittelgeschäft im Wiener Bezirk Währing zu eröffnen (im Roman Ottakring). Arnulf muss die in Russland abgelegten und in Österreich nicht anerkannten Prüfungen nachholen. Galina sorgt als Milchfrau für den Unterhalt. Jede freie Minute schreibt sie die Geschichten, die ihr von ihrer Kundschaft erzählt werden, auf. Sie leidet unter Heimweh, die Briefe ihrer Eltern sind bedrückend, und sie wird  vom sowjetischen Geheimdienst beschattet. 1927 übersiedelte die Familie in  Arnulf von Hoyers Heimatstadt Salzburg. Er tritt eine Lehrerstelle an und übersetzt die Tagebücher seiner Frau. Der Verlag Anton Pustet bringt sie heraus, und die Lebensumstände bessern sich erstmals. Zum Schutz ihrer in Russland verbliebenen Verwandten nimmt sie das Pseudonym Alja (Alexandra) Rachmanowa angenommen. Das Werk «Milchfrau in Ottakring», in welchem sie diese Zeit beschreibt, wird ein Erfolg. Ihre Werke werden in 22 Sprachen übersetzt.

Die Familie zieht in eine Villa am Giselakai, Arnulf bekommt eine Stelle als Gymnasiallehrer. Nach der Annexion Österreichs wird  Alja Rachmanowa aus der «Reichsschrifttumskammer» ausgeschlossen, und ihre Bücher werden verboten. Als im April 1945 der 23-jährige Sohn Jurka in den letzten Kämpfen um Wien von den Russen erschossen wird, flieht sie mit ihrem Mann vor den kommunistischen Truppen in die Schweiz.

In «Die Fabrik des neuen Menschen», erschienen 1935, schildert Alja Rachmanowa bewegende Lebenschicksale und deckt in der Konfrontation mit der Ideologie des Marxismus/Kommunismus nach und nach die tiefsten Sehnsüchte des Menschen auf, die sich auch durch Ideologien nicht ersticken lassen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Friedrich Bachman
Meine Erlebnisse in Russland
während der Hungersnot im Wolgagebiet 

15 seitige Broschüre über die Reise des Emmentalers Friedrich Bachmann
erschienen 1921

Millionen Menschen starben im russischen Wolgagebiet an Hunger, und weitere 15 Millionen Menschen machten sich auf den ca. 2000 Kilometer langen Marsch nach Turkestan. Friedrich Baumann will ins fruchtbare Wolgagebiet auswandern und schildert aus eigenem Erleben die grauenhaften Szenen dieses Elends, das von der kommunistischen Kollektivierung zur millionenfachen Massenvernichtung durch Hunger führte.

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Peter Kropotkin
Meine Unterredung mit Lenin
und andere Schriften zur Russischen Revolution

Edition Libertaire Nr. 3
Hannover 1980

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

Viktor Andrejewitsch Kravtschenko
Ich wählte die Freiheit

Viktor Andrejewitsch Kravtschenko (* 1905 in Jekaterinoslaw; gestorben 25. Februar 1966 in Manhattan) war ein sowjetischer Ingenieur und späterer Handelsdiplomat in Washington, D.C., der dort 1944 um politisches Asyl bat. Sein 1946 veröffentlichtes Buch «I Chose Freedom» / «Ich wählte die Freiheit» erregte großes Aufsehen. Darin beschreibt er das System des Gulag. Kravtschenkos Enthüllungen wurden von westlichen kommunistischen Parteien und ihrer Medien massiv bekämpft. Die Wochenzeitschrift «Les Lettres françaises» schimpfte ihn einen Lügner und westlichen Spion. Krawtschenko klagte dagegen wegen Verleumdung. Den Prozess in Paris 1949 gewann Krawtschenko. Er wurde 1966 in einem New Yorker Hotel erschossen aufgefunden. Sein «Tod wurde offiziell als Selbstmord eingestuft, und diese Ansicht wird weithin akzeptiert, auch von dem Biographen Gary Kern.[7] FBI-Akten, die Kern nach einem sechsjährigen Rechtsstreit erhielt, zeigen, dass Präsident Lyndon B. Johnson ein starkes Interesse an der These von Kravtschenkos Selbstmord hatte und verlangte, dass das FBI feststelle, ob Kravchenkos  Abschiedsbrief authentisch oder eine sowjetische Fälschung war.[2] Das FBI entschied, dass er authentisch sei, doch einige Details über Kravtschenkos letzte Tage bleiben fragwürdig, und sein Sohn Andrew glaubt, dass der Vater Opfer eines KGB-Attentats gewesen sein könnte.[3][4] Andrew Kravtschenko produzierte 2008 den Dokumentarfilm «The Defector»[8][9] über seinen Vater.[10] Kravtschenkos Entschluss, aus der Sowjetunion überzulaufen, führte dazu, dass die Familienmitglieder, die er zurückliess, Schikanen, Inhaftierungen und sogar dem Tod ausgesetzt waren, wobei mehr als 30 Verwandte Kravtschenkos in der Sowjetunion als Vergeltung für sein Überlaufen getötet wurden.[2] Es ist bekannt, dass Kravtschenkos Aufenthaltsort 1944 von NKWD-Agenten entdeckt wurde, insbesondere von Mark Zborowski, und dass er in der Folge vom NKWD und später von KGB-Spezialkräften genau überwacht wurde[11][12][13][14].» [eigene Übersetzung aus: Wikipedia. Victor Kravchenko (defector)]

[7] G. Kern. The Kravchenko Case: One Man’s War On Stalin, Enigma Books 2007
[2] Mitchell Landsberg. Searching for Tato. In: Los Angeles Times vom 11. Mai 2003
[3] Soviet defector’s sons finally meet. In: Tri-city Herald vom 4. Januar 1992, S. 2
[4] Seth Mydans. First Meeting For Two Sons of a Defector. In: The New York Times vom 4. Januar 1992
[8] The Defector: a documentary film, American Sterling, archived from the original on 29 December 2008
[9] The Defector, US: Wild at heart films
[10] R. Wilcox. Target Patton: The Plot to Assassinate General George S. Patton. Regnery Publishing 2008, S. 249
[11] Kravchenko was in hiding after his defection. He was given the covername KOMAR/GNAT by Soviet agents. See the Venona project documents on the National Security Agency site at: www.nsa.gov. (See especially New York to Moscow messages of May to August 1944, nos. 594, 600, 613–14, 654, 694, 724, 726, 740, 799, and 907.)
[12] Top Secret: Information on „Mars“ on „Gnat“ Archived 26 June 2010 at the Wayback Machine De-classified Venona project document from the US National Security Agency [Streng geheim: Informationen über „Mars“ auf „Gnat“ Archived 26 June 2010 at Wayback Machine Entklassifiziertes Venona-Projektdokument der US National Security Agency]
[13] The Venona Story (PDF), The National Security Agency.
[14] „Top Secret: The Shadowing of „Gnat““, Venona project (PDF: https://web.archive.org/web/20100626202918/http://www.nsa.gov/public_info/_files/venona/1945/19jan_defector_kravchenko.pdf), US: National Security Agency, 1945, archived from the original (PDF) on 26 June 2010

 

 

 

 


 

 

 

 

Wassili Peskow
Die Vergessenen der Taiga.
Die unglaubliche Geschichte einer sibirischen Familie jenseits der Zivilisation
München 1996

«Mein russisches Abenteuer. Auf der Suche nach der wahren russischen Seele». Dumont Reise Verlag 2016

Durch die Kirchenreform des Patriarchen Nikon 1653 kam es  in Russland zum heftigen Religionsstreitigkeiten. Auf einer Synode 1666 und 1667 beschloss die Russisch-Orthodoxe Kirche den Ausschluss aller Gemeinschaften und jedes anderen, der die Reformen ablehnte, und belegte sie mit dem Kirchenbann. In den kommenden Jahrhunderten wurden diese «Altgläubigen» verfolgt  und immer weiter in unzugängliche Waldgebiete Russlands getrieben. Die Bolschewiki unter Stalin verfolgten sie ebenso. Die im Buch von Wassili Peskow beschriebene sechsköpfige «altgläubige» Familie Lykow flieht vor den Kommunisten 1936 in die sibirische Taiga und lebt dort 250 Kilometer von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt, von allen vergessen, bis sie 1978 zufällig durch ein Team von Geologen entdeckt wird. Bekannt wird ihr Schicksal durch Berichte in der Komsomolskaja Prawda. Im Sommer 2010 besucht Jens Mühling Agafia, die letzte Überlebende der Familie in der Taiga. Er schildert die Begegnung in seinem Buch «Mein russisches Abenteuer»

 

Hier ein Bericht über Agafia

 

 

 

 

 


10. Erster Weltkrieg


 

 

 

220px-Philipp_Wiktop_Kriegsbriefe

Philipp Witkop
Kriegsbriefe gefallener Studenten
München 1928

 

Das Buch erlebte zwischen 1915 und 1928 verschiedene Ausgaben und wurde ständig erweiter. Der Autor, Philipp Witkop, war Germanistik-Professor an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg/Br. Aus vielen Tausenden von ihm von Verwandten zugesandten Feldpostbriefen wählte er die aussagekräftigsten aus. Das Buch ist eines der erschütterndsten Dokumente, das belegt, dass die Menschen nicht gerne oder aus einer angeblichen angeborenen Mordlust in den Krieg ziehen, wie dies zur gleichen Zeit Sigmund Freud in seinem bei Brai Brit gehaltenen Vortrag „Unser Verhältnis zum Tode“ (1915) erdichtete: «Die Menschen sterben wirklich, auch nicht mehr einzeln, sondern viele, oft Zehntausende an einem Tage. … Das Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wiederbekommen.» (Freud: Unser Verhältnis zum Tode, Seite 51)
In dem Brief Brief des Studenten Johannes Haas vom 7. Oktober 1915 aus Jouy heisst es: «Mein lieber Vater! Wie groß ist der kleine Konrad geworden, wie männlich und stark. Mit welcher Seelengröße hat er sich durch die Schwere der Zeit gerungen, mit der ich so machtlos rang. Mein lieber Bruder, im Tode hast Du mich auf den richtigen Weg geführt.
Sieh, lieber Vater, jetzt bin ich ähnlich wie Du: Was man ‚Patriotismus‘ nennt, den Klimbim habe ich nicht. Wohl aber Erbarmen, Mitfühlen mit der Not des lieben deutschen Volkes, Einsehen und Helfenwollen für die Schwächen und Fehler. Und so will ich denn nicht aus meinem Volke fliehen, auch nicht mit den Gedanken und dem Herzen. – Nein, mich mitten hineinstellen in die große Not, in den Jammer. Ein rechter Kämpfer sein für mein Volk. Frei sein von von dem proletarischen Klassenhaß. Mit liebeblutendem Herzen zu Felde ziehen gegen alles, was nicht so ist, wie es sein soll in unserem Volke oben und unten! …» In seinem letzten Brief vom vom 1. Juni 1916 heisst es: «Liebe Eltern! Ich liege auf dem Schlachtfeld mit Bauchschuß. Ich glaube, ich muß sterben. Bin froh, noch einige Zeit zu haben, mich auf die himmlische Heimkehr vorzubereiten. Dank Euch, Ihr lieben Eltern! Gott befohlen. Hans»

 

 

 


 

 

 

WK I Ausstellung

Roman Rossfeld, Thomas Buomberger & Patrick Kury (Hg.)
14/18 Die Schweiz und der Grosse Krieg

 

Das von 19 Historikerinnen und Historikern verfasste Werk ist das Buch zur gleichnamigen Wanderausstellung. Die Wanderausstellung ist zweisprachig und wird in der deutschen und französischen Schweiz von 2014 bis 2017 zu sehen sein. Zur Ausstellung ist umfangreiches didaktisches Material für Sek 1, Sek 2 und das entsprechende Dossier für Lehrpersonen vorhanden, das sowohl für sich alleine als auch für einen Besuch genutzt werden kann. Es ist die bisher umfangreichste Publikation zur Schweiz im Ersten Weltkrieg. Es fasst den neuesten Forschungsstand zusammen, präsentiert weitgehend unveröffentlichtes Bildmaterial und ist dank eines gut lesbaren Schreibstils für ein breites Publikum geeignet. Der Erste Weltkrieg hat zu Umwälzungen und Erschütterungen geführt, wie kaum ein Ereignis zuvor. Auch die Schweiz war davon stark betroffen, obwohl sie als neutrales Land von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont blieb. Der Ausnahmezustand des Krieges hatte soziale und politische Verwerfungen zur Folge. Die staatlichen und privaten Reaktionen darauf prägen die Entwicklung und Strukturen unseres Gemeinwesens zum Teil bis heute: Beides zeigt die Ausstellung „14/18 – Die Schweiz und der Grosse Krieg“. NÄCHSTE AUSSTELLUNGSORTE: Frauenfeld: 15.04.2016-23.10.2016 und Zug: 16.04.2016-30.10.2016

 

 

 

 

 

 

 


11. Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg


 

 

 

 

 

Ulrich Völklein
Geschäfte mit dem Feind.
Die geheime Allianz des großen Geldes während des Zweiten Weltkriegs auf beiden Seiten der Front

Unter bewußter Verletzung des »Trading with the Enemy Act«, der wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Feind untersagte, haben US-amerikanische Firmen währen des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis lukrative Geschäfte gemacht. Hier handelt es sich nicht etwa um Einzelfälle, sondern und die Crème de la crème der US-amerikanischen Wirtschaft: Chase National Bank, First National City Bank, Ford, General Motors, ITT, Pilot Insurance Company, Standard Oil u.v.m. Auch auf deutscher Seite waren nur die ersten Adressen vertreten: unter ihnen Allianz und Münchner Rückversicherung, deutsche Bank, I.G. Farben, Opel. Jetzt, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende, hat das Nationalarchiv in Washington Dokumente über die Kollaboration deutscher und amerikanischer Kriegsgewinnler freigegeben, so daß sich auch dieses Kapitel der Geschichte nicht länger verstecken läßt.

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Frohriep Ulrich, Schumacher Hans J, Münch Armin, Maletzke Helmut
Rudolf Petershagen und die kampflose Übergabe der Stadt Greifswald: Zeitzeugen erinnern sich
Verlag der Nation 1981

Angelika Petershagen war die Frau des legendären Greifswalder Stadtkommandanten, der am 30. April 1945 mit der kampflosen Übergabe an die Sowjetarmee die Stadt vor der Zerstörung bewahrte und 1969 dort starb. Weniger bekannt ist die Rolle seiner Ehefrau Angelika, die danach bis zu ihrem Tode 1995 in der Stadt wohnen blieb. 1981 veröffentlichte sie im Verlag der Nation ihre Memoiren. Als beim Stadtkommandanten von Greifswald, Oberst Petershagen, im April 1945 der Entschluss reifte, die Stadt kampflos an die sowjetischen Truppen zu übergeben, war ihm bewusst, dass es dazu Verbündete brauchte – und die Zustimmung seiner eigenen Frau. Das Buch erzählt aus dem Leben von Angelika Petershagen und wie es zum Entschluss ihres Mannes kam. Greifswald gegen «Führerbefehl» kampflos zu übergeben.

In den ersten Jahren nach Kriegsbeginn 1939 gehörte Major Petershagen zum Stab der Ersatzdivision in Stettin. Als er nach Frankreich versetzt wurde, meldete seine Frau sich zum Rot-Kreuz-Dienst. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war Major Petershagen in den Krieg einbezogen. In der Schlacht um Charkow erhielt er das Ritterkreuz, wurde Oberst und Kommandeur des Greifswalder Regiments, das im Herbst 1942 bis nach Stalingrad kam.

Memoiren von Rudolf Petershagen, Berlin Ost, Verlag der Nation 1985

Während des Genesungsurlaubs nach einer Verwundung Ende September 1942 überraschte der hoch dekorierte Oberst seine Frau mit seiner in den jüngsten Monaten gewonnenen Überzeugung, dass die Einnahme von Stalingrad noch lange ausbleiben werde, ja, dass dieser Krieg gegen Russland überhaupt nicht zu gewinnen sei. Für Frau Angelika war diese Offenbarung im Hinblick auf ihre bisherige patriotische Einstellung geradezu ein Schock. Die Verwundung heilte schneller als erwartet. Ihr Mann wurde nach Stalingrad zurückgeflogen. Doch Ende November 1942 wurde Oberst Petershagen schwer verwundet und traf wenig später wieder in Greifswald ein. Er war nicht mehr frontdiensttauglich. Am 1. Januar 1945 wurde er Stadtkommandant von Greifswald. In den folgenden Wochen und Monaten reifte in ihm der Entschluss, die Stadt kampflos an die sowjetischen Truppen zu übergeben, was am 30. April 1945 erfolgte. (lesen Sie den vollständigen Text)

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

Gian Trepp
Bankgeschäfte mit dem Feind: Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Zweiten Weltkrieg: Von Hitlers Europabank zum Instrument des Marshallplans, 1997

«Trepps spannend geschriebenes Buch verzeichnet minutiös die sinistren Aktivitäten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die bereits während des Krieges der Öffentlichkeit nicht verborgen blieben und auf alliierter Seite zu wachsendem Widerstand gegen die BIZ führten.» (Neue Zürcher Zeitung)

 

 

 

 

 


 

 

 

Annedore Leber
Das Gewissen steht auf.
64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933 – 1945, gesammelt von Annedore Leber, herausgegeben in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher.

Berlin und Frankfurt/Main 1954

 

Das tragische Leben und Sterben von 64 Deutschen wirft Fragen auf: Was gilt der Mensch im Zeitalter der modernen totalen Diktatur? Lässt ein Gewalt-Regime Raum für Widerstand? Aus welchen Motiven heraus wagen Menschen die Auseinandersetzung mit einem solchen System? Ist der sichtbare Erfolg Maßstab für die Wirkung eines Aufstandes gegen den Terror? Aus jener unübersehbaren Zahl aller Gegner und Opfer der Diktatur – bekannter und unbekannter – tritt hier der einzelne Mensch heraus: der Arbeiter, der Soldat, die Krankenschwester, der Geistliche, die Studentin, der Politiker. In der Sammlung von 64 Einzelschicksalen spiegeln sich die Motive von hunderten, ja tausenden Menschen wider und die Aktionen von Gruppen aus verschiedensten Teilen Deutschlands. In Bild und Text und durch die Veröffentlichung bisher unbekannter Dokumente wird ein schwer erforschbarer Abschnitt deutscher Geschichte lebendig.

 

 


 

 

 

Walther Hofer, Herbert R. Reginbogin
Hitler, der Westen und die Schweiz

«Freiwillig, ohne . . . Zwang» häben amerikanische Unternehmen den Nazi-Staat intensiv vor und selbst nach Beginn des Kriegs unterstützt. Trickreich häben englische und amerikanische Unternehmen versucht, die «weltweiten Strukturen des ,corporate capitalism’» zu bewahren. Dies beeinflußte zuweilen den Kriegsverlauf. So übermittelte das Telekommunikationskartell Transradio selbst im Krieg Nachrichten von Deutschen und Briten. Dadurch konnte Deutschland die Route der alliierten Schiffe ausfindig machen – und umgekehrt. In England genehmigte die Regierung sogar einige dieser Kartelle. In den Vereinigten Staaten wurde Managern erst ab dem Frühjahr 1944 wegen Geschäften mit dem Feind der Prozess gemacht.

 

 

 

 


 

 

 

 

Peter Steger (Hg.)
Komm wieder, aber ohne Waffen
Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft in Wladimirer Lagern
70 Jahre Frieden
Erlangen 2015

«Auf 340 Seiten breitet das Buch in der kundigen Redaktion von Stadtarchivar Andreas Jakob und seiner Mitarbeiterin, Dorothea Rettig, und gelungen gestaltet von Kathrin Eckert die Jugendjahre von mehr als 40 Wehrmachtssoldaten aus, gezeichnet von Krieg, Gefangenschaft und Heimkehr. Am 22. Juni 1991 nahm erstmals eine Veteranendelegation aus Erlangen – 50 Jahre nach dem Einmarsch der Hitlertruppen in die UdSSR – auf dem Platz des Sieges an den Feierlichkeiten teil; Dietmar Hahlweg hielt am 9. Mai 1995 vor den Wladimirer Medien eine Rede, die sein Nachfolger im Amt, Siegfried Balleis, fünf Jahre später auf dem Ehrenfriedhof vortragen durfte. Bürgermeisterin Elisabeth Preuß und der Weltkriegsveteran Wolfgang Morell sprachen am 22. Juni 2011 auf dem Platz des Sieges, am 8. Mai 2015 wurde auf dem Gelände des Traktorenwerks ein Denkmal für Kriegsgefangene eingeweiht, und tags darauf trat mit Florian Janik erstmals ein Deutscher auf dem Platz des Sieges auf. Dazwischen 2002 die Auszeichnung von „Rose für Tamara“, des von Fritz Wittmann herausgegebenen Erinnerungsbandes an Krieg und Gefangenschaft, durch Bundespräsident Johannes Rau mit dem „1. Preis für bürgerschaftliches Engagement in Rußland“. Nur in diesem Klima konnte auch das Buch entstehen – und dank dem Vertrauen der Veteranen, die so offen über ihre Erinnerungen sprechen.  Was man von den Veteranen lernen kann: Gelassenheit und Disziplin. Es waren wohl diese Tugenden, die im Verein mit einer robusten Gesundheit das Überleben der Gefangenenlager erst ermöglichten. Hinzu kam aber immer wieder die Güte von Krankenschwestern und Ärztinnen, von Lagerkommandanten und Bewachern, von Werksdirektoren und Zivilisten, die den einstigen Feinden wie Menschen begegneten und oft mit ihnen teilten, so wenig sie auch selbst hatten. Deshalb ist zu wünschen, daß sich bald jemand findet, um das Buch ins Russische zu übersetzen. Die Gegner von gestern setzen da nämlich den Wladimirern ein Denkmal der Humanität.» (Aus: Komm wieder, aber ohne Waffen! – 70 Jahre Frieden, 15. Dezember 2015 von wladimirpeter)

 

 

 

 


 

 

 

Hans Werner Danowski
Im Angesicht der Madonna
Kurt Reuber und sein Stalingrad
Hannover 2012

«1939 wird Kurt Reuber Truppen- und Seuchenarzt in Russland. Er erlebt die Schlacht um Stalingrad 1942/43 und stirbt 1944 in sowjetischer Gefangenschaft. Arzt, Theologe und
Künstler – seine Berufe helfen ihm, im Angesicht des Grauens und Elends zu überleben. Er porträtiert die Menschen, die ihm begegnen, die Kinder und die Alten, die Soldaten und die Bauern. Und er zeichnet die Stalingrad- und Gefangenenmadonna. Der bekannte ehemalige hannoversche Stadtsupernintendent Hans Werner Danowski spürt der Geschichte hinter den Gesichtern nach.»

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

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Bernd Haunfelder
Not und Hoffnung.
Deutsche Kinder und die Schweiz 1946-1956
Münster 2008

 

«Das erste Land, das der hungernden deutschen Bevölkerung nach dem Krieg half, war die Schweiz. Seit Anfang 1946 erhielten mehr als zwei Millionen Kinder der britischen, französischen und sowjetischen Zone tägliche Speisungen. Dazu waren Ovomaltine, Kakao und Schokolade heiß begehrt. Außerdem gelangten zehntausende Tonnen Medikamente, Kleidung und Paketsendungen nach Deutschland. Davon, aber auch von Patenschaften zugunsten von Flüchtlings- und Vertriebenenkindern, vor allem aber von der größten Kinderhilfsaktion nach 1945, ist in diesem Buch die Rede. Mehr als 44.000 unterernährte und kranke deutsche Jungen und Mädchen reisten von 1946 bis 1956 zu einem dreimonatigen Erholungsaufenthalt in die Schweiz. Diese Zeit sei eine der prägendsten des Lebens gewesen, wird in den hier veröffentlichten Erinnerungen oft gesagt. Ein vergessenes, aber ein vielfach sehr anrührendes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte wird in Texten und mehr als 120 Bildern dargestellt.»

«Das erste Land, das der hungernden deutschen Bevölkerung nach dem Krieg half, war die Schweiz. Seit Anfang 1946 erhielten mehr als zwei Millionen Kinder der britischen, französischen und sowjetischen Zone tägliche Speisungen. Dazu waren Ovomaltine, Kakao und Schokolade heiß begehrt. Außerdem gelangten zehntausende Tonnen Medikamente, Kleidung und Paketsendungen nach Deutschland. Davon, aber auch von Patenschaften zugunsten von Flüchtlings- und Vertriebenenkindern, vor allem aber von der größten Kinderhilfsaktion nach 1945, ist in diesem Buch die Rede. Mehr als 44.000 unterernährte und kranke deutsche Jungen und Mädchen reisten von 1946 bis 1956 zu einem dreimonatigen Erholungsaufenthalt in die Schweiz. Diese Zeit sei eine der prägendsten des Lebens gewesen, wird in den hier veröffentlichten Erinnerungen oft gesagt. Ein vergessenes, aber ein vielfach sehr anrührendes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte wird in Texten und mehr als 120 Bildern dargestellt.» (Klappentext)

 

 


 

 

Fritz Wittmann
Rose für Tamara
2001

Am 2. Januar 2001 erschien unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Oberbürgermeisters von Erlangen, Dr. Dietmar Hahlweg, dem Initiator der Städtepartnerschaft Erlangen-Wladimir, die erste Auflage des einzigartigen Buchs «Rose für Tamara» von Fritz Wittmann. Fritz Wittmann verfasste dieses Buch in Zusammenarbeit mit Peter Steger, dem Städtepartnerschaftsbeauftragten der Stadt Erlangen. Der bewegende Untertitel des Autors Fritz Wittmann aus Baiersdorf lautet: «Bei einer russischen Umarmung spürt man selbst zur Winterszeit noch durch die dickste Wattejacke die Herzlichkeit.» Einer, der es am eigenen Leibe erfahren hat, schreibt so.

Das Buch enthält die Erinnerungen von Fritz Wittmann und weiteren zehn ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, die Jahre nach dem Krieg in Lagern der russischen Stadt Wladimir und in anderen Lagern der UdSSR lebten.

Das östlich von Moskau hinter der Front gelegene Wladimir wurde im Sommer 1941 nach dem Einmarsch der Wehrmacht zur Lager- und Lazarettstadt umfunktioniert. Als der deutsche Vormarsch im Winter vor Moskau gestoppt wurde, verschlug es die ersten Erlanger als Kriegsgefangene nach Wladimir.

„Ewige Flamme“, Denkmal in Wladimir für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges

Im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches von 2008, dem 25jährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft Erlangen-Wladimir, schreibt der Erlanger Erste Bürgermeister Andreas Galster: «Ja, es gab viele schreckliche Erlebnisse. Aber hatten die deutschen Soldaten nicht erst den Schrecken in ein Land gebracht, das keinen Krieg wollte? Und mussten sie nicht mit Rache und Hass rechnen? Um so erstaunlicher, mit wieviel Mitgefühl und Anteilnahme seitens der Bevölkerung und teilweise sogar der Bewacher und Befehlshaber, vor allem aber des Krankenhauspersonals die Kriegsgefangenen behandelt wurden. Eben davon erzählen die Autoren des Sammelbandes, der von Fritz Wittmanns humanem Geist und ungebrochenem Willen zur Versöhnung geprägt ist. In Wladimir war man übrigens von diesem Friedenswerk so angetan, dass man es bereits 2002 in russischer Übersetzung und ergänzt durch Erinnerungen von russischen Zeitzeugen veröffentlichte.»

Der Autor hat dafür den ersten Preis des Deutsch-Russischen Forums für Bürgerengagement erhalten. Es sollte eine «menschliche Feindberührung» sein, schreibt Fritz Wittmann. Ein Projekt, das ihm gelungen ist.

Vor allem besticht das Buch den Historiker durch eine Geschichtsschreibung «fernab von allen Klischees und Feindbildern, aber auch ohne jede Beschönigung und Geschichtsglättung». Eine Rarität an Objektivität und Sachlichkeit, gepaart mit Menschlichkeit und Völkerfreundschaft, fernab von Auftragsgeschichtsschreibung.

Still wird man beim Lesen, sehr still. Ein Buch, das in jeden Politik- und Geschichtsunterricht gehört. Und man wünscht sich, es würden diese Veteranen der Wehrmacht, die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, mehr respektiert. Sie wissen, was Krieg in Russland heisst, sie waren in Stalingrad, und sie kennen das russische Volk aus ureigener Erfahrung – als Soldaten und als Gefangene. Und zwar so gut wie keiner von den Eliten in Regierungsverantwortung, die den Respekt vor dem Krieg verloren haben und dabei sind, uns erneut in den Krieg zu treiben. (Diesen Text als PDF)

 

 

 


 

 

 

IMG_7525Franz Scholz
Görlitzer Tagebuch 1945/46
Wächter, wie tief ist die Nacht?

Würzburg: Johann Wilhelm Naumann 1975

 

Der 1909 in Breslau geborene Franz Scholz war von 1940 bis 1946 Priester und Kuratialpfarrer der Kirchengemeinde St. Bonifatius in Görlitz-Ost, dem heutigen Zgorzelec in Polen. Über die schwere Zeit vom 10. Februar 1945 bis zum 1. Juni 1946 dieser Tätigkeit berichtet sein Tagebuch, das er damals führte. Nach zwanzig Jahren veröffentlichte er es 1975 mit der Widmung «Den Deutschen und den Polen, die sich unbarmherziger Zeit den Gliedern des jeweils entrechteten und gedemütigten Volkes gegenüber als Nächste erwiesen haben. (Luk 10, 36)» Er erlebt die tiefsten menschlichen Abgründe auf allen beteiligten Seiten – vor allem auch den Strom der vertriebenen Schlesier durch Görlitz. Seine Schilderungen sind ein vergessenes Geschichtsbuch der besonderen Art, das eigentlich in jeden Geschichtsunterricht gehört. Denn Scholz schildert realitätsgerecht, politisch kenntnisreich und menschlich fest seinem Ziel treu bleibend, in einer Zeit der «Recht- und Heimatlosigkeit» den Menschen sich als Mitmensch zu erweisen. Ein leider vergessenes Zeugnis von personaler Geschichtsauffassung. Ein dringend nötiges Vorbild heutiger Geschichtsschreibung.

 

 

 


 

 

 

IMG_7523Benno Tins
In den Pferchen
Als Deutscher in Deutschland kriegsgefangen

München-Feldmoching 1966

 

Benno Tins (1903-1990) hat als französischer Kriegsgefangener zwischen April und August 1945 die berüchtigten Gefangenenlager am Rhein erlebt. Seine auf «Zufallspapier» gekritzelten Tagebucheinträge hat er 1966 veröffentlicht. »Da ich an meinen Aufzeichnungen von damals nichts mit Schrägblick auf Mentalitäten von heute retuschierte, könnte ihnen vielleicht auch von weiteren Kreisen der Charakter eines Zeitdokuments zugebilligt werden», schreibt Benno Tins im Vorwort, und er musste schreiben, dass eine Dokumentation darüber, was sich in den «Massenpferchen für deutsche Kriegsgefangene» damals abspielte, „mancherorts für unwichtig erachtet werde». Er erlebte nicht mehr, dass 1989 der kanadische Historiker James Bacque die erste Auflage seiner Forschungsarbeit über das Massensterben 1945/46 veröffentlichte, als in den Kriegsgefangenenlagern auf den  Rheinwiesen fast 1 Million deutscher Soldaten verhungerten. 2002 und 2008 erschienen erweitere Neuauflagen.

 

 

 


 

 

 

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Konrad Heiden [1936/1937]. 
Adolf Hitler
Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit
Ein Mann gegen Europa 
Weltbild Verlag 2014

 

Im amerikanischen East Orleans nahe Cape Cod findet sich ein kleiner Fels mit der Aufschrift „KONRAD HEIDEN. WRITER. FOE OF NAZIS. 1901–1966“ Der in München geborene Journalist und Schriftsteller war während der Weimarar Republik SPD-Mitglied. Er studierte ab 1920 Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, verfolgte parallele dazu die politische Szene in München und erlebte Hitlers Aufstieg aus nächster Nähe. Weder einen Übermenschen noch Popanz nannte er ihn, sondern einen ‚Massenerschütterer‘. Einzigartig ist die Unmenge von Materialien, Quellen und Zeitzeugenaussagen, die Heiden sammelte, anfangs auch in Wirtshäusern und Hinterzimmern, wo Hitler zunächst auftrat. Heidens umfangreiche Hitler-Biografie ist die erste fundierte Studie über Hitler. Nahe zu alle Biografen Hitlers bedienen sich der Biografie Heidens, ob das Joachim Fests „Hitler. Eine Biografie“ ist oder Ian Kershaws „Hitler Gesamtausgabe“.

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Konrad Heiden. Geschichte des Nationalsozialismus. Die Karriere einer Idee. Berlin: Rowohlt 1932

Der Leser merkt bald erstaunt, wie sehr das herrschende Hitler-Bild immer noch verzerrt ist von Dogmen aller Couleur. Sollte das der Grund sein, warum diese Biografie trotz ihrer anfänglich hohen Auflagen nach dem Krieg so lange unbekannt blieb?

Vor allem Heidens genaue Analyse des Hitlerschen Charakters anhand seiner Reden und Schriften besticht. Man erkennt die typischen Charakterzüge des korrupten skrupellosen Machtmenschen, den wir auch unter heutigen Menschen antreffen: „Das ist der fanatische Wille zur Borniertheit, der nur lernen will, was er schon weiß; der den Schmerz der Erkenntnis scheut und nur das Wohlgefühl des Rechthabens sucht. Und nun stelle man sich vor, wie ein Mensch mit solchem Hang zum Vorurteil später fremde Völker und Rassen … beurteilen, verkennen und verleumden musste!“ Konrad Heiden sah seine Zeit durch keine ideologische Brille. Er fehlt in unserem Geschichtsunterricht.

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Konrad Heiden. Geburt des dritten Reiches. Geschichte des Nationalsozialismus bis Herbst 1933. Zürich. Europa-Verlag 1934

«Heiden erkannte von Anfang an die Gefährlichkeit der braunen „Bewegung“ und bekämpfte sie mit seinen Mitteln: einem messerscharfen Verstand, einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und ebenso deutlichen wie prägnanten Worten. Dafür handelte er sich den Hass der Nazis ein. Heiden wurde zu einem Verfolgten, verlor Job und Heimat, musste während des „Dritten Reiches“ um sein Leben bangen. Was ihn nicht davon abhielt, weiter analytisch brillante Artikel und Bücher zu schreiben, die ihn aus Sicht der Machthaber zum Staatsfeind Nummer eins machten. Die Nazis jedenfalls schäumten vor Wut. … Was Heidens Schilderungen bis heute so authentisch und anschaulich macht, war die Nähe zu den Protagonisten. Aust fasst das präzise zusammen: „Er kannte die Nationalsozialisten fast alle aus den frühen Tagen der Bewegung in München, vielleicht zu gut. Er war tatsächlich ein alter Bekannter des ,Führers‘ Adolf Hitler, sein kritischer, oftmals spöttischer Begleiter und Beobachter seit Jahrzehnten, ein Chronist des Aufstiegs zur Macht, ein intimer Kenner der Ränkespiele, der Freundschaften und Feindschaften, der Rivalitäten und Intrigen innerhalb der ,Nationalsozialistischen Arbeiterpartei‘ NSDAP.“ Und dabei ging es ihm nicht zuletzt um die besondere historische Situation, die die folgende Katastrophe einschließlich Holocaust und Weltkrieg ermöglichte. Er sah bereits sehr frühzeitig, was andere nicht sahen, womöglich nicht sehen wollten. Auch das zeichnet einen guten Reporter aus. … In seinem Ende 1932 veröffentlichten Buch „Geschichte des Nationalsozialismus“ las sich das so: „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott und selbst in seinem Blutdurst ohne Genuss.“ …  Zugute kam Heiden außerdem, dass er offenbar Informanten aus dem unmittelbaren Umfeld des „Führers“ hatte. Was bei der Antwort auf die wichtige Frage half, wie das System Hitler überhaupt funktionierte. Bei seinen Recherchen erkannte Heiden denn auch frühzeitig, was heute leicht in Vergessenheit gerät: Hitlers Charisma und seine rhetorischen Fähigkeiten. „Er ist auf den Höhepunkten seiner Rede ein von sich selbst Verführter, und mag er lautere Wahrheit oder die dickste Lüge sagen, so ist jedenfalls das, was er gerade sagt, in dem betreffenden Augenblick so vollständig der Ausdruck seines Wesens, seiner Stimmung und seiner Überzeugung von der tiefen Notwendigkeit seines ganzen Tuns, dass selbst von der Lüge noch ein Fluidum von Echtheit auf den Besucher überströmt.“»

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Konrad Heiden (Bild: Nachlass Konrad Heiden, K. Heiden 5a, Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung)

Nur: Wer kennt heute noch diesen Konrad Heiden? Wer erinnert sich an den Hitler-Gegner der ersten Stunde? Weiß, dass er so präzise wie kaum ein anderer die Grundlagen des NS-Regimes beschrieben hat?

Konrad Heiders extrem faktenreiche, brillant und hellsichtig geschriebene Hitler-Biografie erschien erstmals 1936 in einem Schweizer Verlag. Das deutsche Generalkonsulat meldete damals bezeichenderweise nach Berlin: „Das Buch ist gefährlich und wird, da der Verfasser stets versteht, sich den Anschein der Objektivität zu geben, in weiten hiesigen Kreisen, insbesondere bei den Intellektuellen eine für uns ungünstige Wirkung hervorrufen.“

 

 

 

 

 

 


 

 

 

bildschirmfoto-2016-10-25-um-22-48-21Stefan Aust
Hitlers erster Feind
Der Kampf des Konrad Heiden
Rowohlt 2016

 

«Er war einer seiner schärfsten Kritiker, und doch soll Hitler sich bei Veranstaltungen manchmal geweigert haben, mit seiner Rede zu beginnen, bevor er nicht eingetroffen war: Konrad Heiden. Als Mitarbeiter der angesehenen „Frankfurter Zeitung“ gehörte er zu den ersten Publizisten, die den Aufstieg der Nazis kritisch begleiteten. Auf seiner zweibändigen Hitler-Biographie, die 1936/37 in der Schweiz herauskam, bauten fast alle späteren Lebensbeschreibungen des Diktators auf. Und doch ist Heiden heute nahezu vergessen. Stefan Aust porträtiert diesen faszinierenden Mann und lässt aus seiner Perspektive Hitlers Aufstieg und Herrschaft lebendig werden. Heiden, Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, hatte sich bereits während seines Studiums in München Anfang der zwanziger Jahre gegen den Nationalsozialismus engagiert. „Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott und selbst in seinem Blutdurst ohne Genuß“ – so charakterisierte er die Bewegung in einem Buch, das Ende 1932 im Rowohlt Verlag herauskam. Im März 1933 zur Flucht gezwungen, setzte Heiden seinen Kampf gegen das Regime unter Lebensgefahr fort. In den USA galt er als führender Experte für das NS-Regime und dessen „Staatsfeind Nr. 1“. 1966 starb er in New York. Es ist höchste Zeit, sich dieses Hitler-Gegners der allerersten Stunde wieder zu erinnern.» (Rezension)

 

 

 

 


 

 

 

Victor Farias
Heidegger und der Nationalsozialismus
Frankfurt/Main 1989

Als die französische Erstausgabe des Buches 1987 erschien, löst es einen mittleres Erdbeben unter Europas Intellektuellen aus. Martin Heidegger, die Ikone der akademischen Avantgarde, ein Brauner!  Schon Guido Schneeberger hat 1962 in seiner «Nachlese zu Heidegger» das Jahr untersucht, in welchem Heidegger Rektor der Universität Freiburg/Br. war, und genügend an Dokumenten für ein ausgewogenes Urteil über die Rolle zusammengetragen, die Martin Heidegger als eilfertigen Kumpan der Nationalsozialisten zeigte. Auch der Freiburger Professor der PhilosophieRainer Marten hat in den Siebzigerjahren diese dunkle Vergangenheit seines einstigen Lehrers immer wieder offen angesprochen. Der Freiburger Germanist Prof. Carl Pietzcker zitierte in der Freiburger Stadtzeitung und anderswo jenen anderen Heidegger, der zum Beispiel 1933 as Rektor der Freiburger Universität seinen Studenten sagte: «Nicht Lehrsätze und ‚Ideen‘ seien die Regeln Eures Seins. der Führer selbst und allein  i s t  die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. … Heil Hitler! Martin Heidegger, Rektor». Doch in der Öffentlichkeit herrschte weithin ein «Pakt des Verschweigens» und der «lautlosen ideellen Verabredung», auf den grossen Heidegger nichts kommen zu lassen. Doch 1987 ging die Ära des Ostblocks zuende und interessanterweise liess gerade diese Umbruchszeit eine kritischere Beschäftigung mit Martin Heidegger in der Öffentlichkeit zu. Victor Farias lüftete den Muff des Tausendjährigen Reiches unter Heideggers Talar und schrieb eine politische Biographie, welche die Begeisterung Heideggers für den Nationalsozialismus so umfassend darstellte, dass der «Pakt des Verschweigens» nicht mehr haltbar war.  Nun aber unternahm es Jürgen Habermas von der Frankfurter Schule, Heideggers braune Vergangenheit, nun da sie nicht mehr zu verschweigen war, doch wieder zu relativieren: «Zwischen Werk und Person darf kein kurzschlüssiger Zusammenhang hergestellt werden.» (Vorwort in Farias, S. 34) Dass allerdings die braune politische Vergangenheit des Menschen Martin Heidegger sehr wohl und sehr viel etwas mit dem Werk des Philosophen Martin Heidegger zu tun hat, hat 1998 der deutsch-persische Philosoph Hassan Givsan in seinem Buch «Eine bestürzende Geschichte: Warum Philosophen sich durch den ‚Fall Heidegger‘ korrumpieren lassen» minutiös herausgearbeitet.

 

 

 

 

 


 

 

 

James Bracque (2008): Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945-1946. Selent: Pour le Merite

James Bracque
Der geplante Tod
Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen
und französischen Lagern 1945-1946

Selent: Pour le Merite 2008

 

Der Forschungsbericht ist erstmals 1989 erschienen. 2008 erschien eine erweiterte Neuauflage. Als «Other Losses» («andere Verluste») tarnten der US-Streitkräfte 1956/46 das Massensterben deutscher Kriegsgefangener in amerikanischen Lagern auf deutschem Boden. Der kanadische Historiker James Bracque arbeitet heraus, dass General Eisenhower diesen Massenmord gezielt betrieben und systematisch verschleiert hat. Die Bilanz: In den berüchtigten Lagern der Franzosen und der Amerikaner auf den Rheinwiesen wurden nach Kriegsende fast eine Million deutscher Kriegsgefangener durch Hunger vernichtet. «Eisenhowers Hass, toleriert von einer ihm gefügigen Militärbürokratie, erzeugte diesen Horror der Todeslager, der mit nichts in der amerikanischen Militärgeschichte vergleichbar ist», schreibt Dr. Ernst F. Fisher, jun., pensionierter Oberst der US-Army 1988 im Vorwort zur aktuellen Ausgabe. Aber nicht nur ehemalige Soldaten, auch Frauen und Kinder waren unter den Opfern. Kinder, die erst sechs Jahre alt waren, schwangere Frauen, Männer über sechzig, alles konnte man unter den Gefangenen in diesen Lagern finden. Aus französischen Berichten geht hervor, dass sich unter 100 000 Personen, die von den Amerikanern an die Franzosen übergeben wurden, 32 640 Frauen, Kinder und alte Männer befanden. Ein schrecklich schweres Buch, ein nötiges Buch. Es gibt der Wahrheit die Ehre. Und es macht klar, dass Nürnberg im Prinzip nötig war. Dass aber auf der Anklagebank dort einige Massenmörder in Amt und Würden fehlten, die sich hinter Richterroben versteckten.

 

 

 


 

 

Bruno Grimm (1939): Gau Schweiz? Dokumente über die nationalsozialistischen Umtriebe in der Schweiz. Herausgegeben von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Zürich: Jean Christoph Verlag

Bruno Grimm
Gau Schweiz?
Dokumente über die nationalsozialistischen Umtriebe in der Schweiz
Herausgegeben von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz

Zürich: Jean Christoph Verlag 1939

 

«Wenn die Propaganda ein ganzes Volk mit einer Idee erfüllt hat, kann die Organisation mit einer Handvoll Menschen die Konsequenzen ziehen.», schreibt Adolf Hitler in «Mein Kampf», die SPS zitiert ihn auf Seite 29 dieser Schrift. Man wusste 1939 nur zu gut, was das hiess. «Gau Schweiz?» fragt die SPS, «Das Hakenkreuz über der freien Eidgenossenschaft? – Welcher Schweizer, stehe er in diesem oder jenem Parteilager, schrickt da nicht auf und nimmt unwillkürlich die entschlossenste, verbissenste Abwehrstellung an! … Die Gefahr bannen, heisst sie erkennen. …Darum halten wir es für einen Dienst am Lande, wenn in der vorliegenden … Dokumentation die weitverstreuten Teilerscheinungen ertsmals gesammelt und zur Kenntnis gebracht werden. Und wir bitten im Interesse von Volk und Heimat jeden Eidgenossen: orientiere dich rechtzeitig, erkenne die Gefahr und handle als Schweizer! Zürich, Mai 1993, Sekretariat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz: Stocker.» Eine Broschüre, die weit über die Aufgabe der Abwehr nationalsozialistischer Propagandaeinflüsse hinausweist, und zwar auf die immerwährend geforderte Wachsamkeit aller Völker: «Die Gefahr bannen, heisst sie erkennen» gilt zu allen Zeiten, vor allem immer auch dann, wenn imperiale Machtansprüche sich fünfter Kolonnen bedienen, um Brückenköpfe im zu erobernden Land bilden zu können. «Wenn man jemand eine Wohlthat anzunehmen zwingen will,» schreibt der Schweizer Natur- und Völkerrechtler Emer Vattel 1760, «so mus man eine Gewalt über ihn haben; die Nationen aber sind durchaus frey und unabhängig. Die ehrsüchtigen Europäer, welche die Amerikanischen Nationen angreifen, um sie, wie sie sagen, gesitteter zu machen, und in der wahren Religion zu unterrichten; diese unrechtmässige Eroberer, sage ich, versteiften sich auf einen eben so lächerlichen als ungerechten Vorwand

 

 

 


 

 

 

img_9738Jürg Stüssi-Lauterburg & Hans Luginbühl
Freier Fels in brauner Brandung. Die Schweiz in den schwersten Jahren des Bundesstaates 1940 bis 1942
Baden 2009

 

„Zum Unbehagen im Kleinstaat Schweiz gehört, dass die Leistungen des eigenen Landes systematisch verkleinert werden. Ein Schriftsteller verkürzt «Rettungsboot» zu «Boot» und «stark besetzt» zu «voll», ein anderer behauptet, das Réduit, diese «hochgemute Idee», habe aus den Schweizer Soldaten «Verteidiger der Murmeltiere» gemacht!

Wie war das doch gleich? Diese naheliegende Frage beantwortet das vorliegende Buch. Erstmals werden die amerikanischen diplomatischen Depeschen aus der vom braunen Ozean umbrandeten Schweiz umfassend ausgewertet und für die Geschichtsschreibung herangezogen. …

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Winston Churchills Karte von 1941

Ein Gesamtkunstwerk, das jene harten Jahre in der Schweiz atmet, ist das Berner Rathaus, das in der Amtszeit von Regierungsrat Robert Grimm 1940 bis 1942 so grundlegend umgestaltet wurde … . Angesichts durch die Bedrohung durch die Nazis hatte der einstige Generalstreikführer die Mehrheiten für dieses Werk in der einigenden Gewissheit gewonnen, dass es den Schulterschluss aller demokratischen Kräfte bedurfte, um sich der Bedrohung mit Aussicht auf Erfolg zu erwehren.

Die Bauinschrift fasst das Vermächtnis der Zeit, bernisch knapp, aber mit überschiessender Bedeutung für die ganze Schweiz, klar zusammen.

«Volk von Bern. Die Erneuerung dieses Rathauses in schwerer Zeit ist Ausdruck Deines stolzen Willens. 1940-42»

Daran eine von den Unbillen der totalitären Epoche sehr weit entfernte schweizerische Gegenwart zu erinnern, ist unser Ziel!“

 

 

 


 

 

 

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Wolfgang Schumann (Hg.)
Konzept für die «Neuordnung» der Welt. Die Kriegsziele des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg.

Berlin (Ost) 1977 

 

Eine Dokumentation aus dem Blickwinkel der DDR mit Moskau-Schlagseite. Und doch: Eine Fundgrube für sonst eher schwer zugängliche Dokumente und Quellen. Zum Beispiel viele Dokumente, die zeigen, wie die Pläne für die «Neuordnung» Europas als «Grossraum unter deutscher Führung» weitgehend auf den Machtbereich hinauslief, den heute die EU beansprucht. Das «neue Europa» sollte schliesslich in einem «Europäischen Staatenbund» enden: ein «in sich geschlossenes und einiges Europa», um «im Wettkampf und Handelsverkehr der Gesamtwelt eine führende Rolle zu spielen». In solchen und ähnliche Worten, die aus ähnlichen Machtansprüchen stammen und von heutigen Äusserungen nur schwer zu unterscheiden sind, schrieb zum Beispiel Richard Riedl unter dem Titel «Weg zu Europa – Gedanken über ein Wirtschaftsbündnis europäischer Staaten» ein Programm für die Schaffung einer «europäischen Wirtschaftsgemeinschaft» – lange bevor es eine solche gab. Riedls Denkschrift wird dem IG-Farben-Konzern zugerechnet, wo sie im 1944 «Arbeitskreis für Aussenwirtschaftsfragen» zirkulierte.

 

 


 

 

 

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Hiltgunt Zassenhaus.
Ein Baum blüht im November.
Ein ergreifendes Zeugnis der Nächstenliebe und Menschlichkeit
aus dem Zweiten Weltkrieg

 

Hiltgunt Margret Zassenhaus (1916 – 2004) war eine Hamburger Ärztin und Autorin. Ihre Unterstützung skandinavischer Gefangener im Zweiten Weltkrieg machte sie zum «Engel von Fuhlsbüttel»: Nach der deutschen Invasion in Dänemark und Norwegen 1940 wurden zahlreiche Gefangene in die Hamburger Strafanstalt Fuhlsbüttel verbracht. Im Oktober 1942 war ein Höchststand von 469 norwegischen Häftlingen zu verzeichnen. Die Justizverwaltung stellte am 17. Okt 1942 Hiltgunt Zassenhaus als Dolmetscherin und zur Briefzensur ein, die sie jedoch unterlief.

 

 

 


 

 

 

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Hiltgunt Zassenhaus
Halt Wacht im Dunkel
Wedel in Holstein: Alster Verlag 1947

 

Die erste romanhafte Verarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Autorin in Hamburg als Zensorin und Übersetzerin für Häftlinge aus Skandinavien gearbeitet hat. In späteren Jahren behandelte Hiltgunt Zassenhaus dieses Thema noch einmal in dem Roman «Ein Baum blüht im November».

Der Spiegel vom 17. Januar 1948 meldet «Hiltgund Zassenhaus, die Hamburger Studentin, durch ihre Betreuung skandinavischer KZ-Häftlinge während des Krieges bekannt, erhielt eine besondere dänische Unterstützung. Damit sie ihr medizinisches Studium an der Universität Bergen finanzieren kann, soll der Ertrag aus der dänischen Auflage ihres Buches „Halt Wacht im Dunkel“ ihr allein zukommen. Verleger, Uebersetzer, Druckerei und Händler verzichteten auf ihren Gewinnanteil von 30000 Kronen zugunsten der Autorin.»

 

 

 

 


 

 

 

 

Helga Hirsch
Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950
Berlin 1998

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

Heinz Esser
Die Hölle von Lamsdorf. Dokumentation über ein polnisches Vernichtungslager
Herausgeber: Landsmannschaft der Oberschlesier e. V. Bundesverband, Ratingen, Haus Oberschlesien
Dülmen 1981