«Managed Care», Auswirkungen des amerikanischen Modells auf die ärztliche Behandlung – und was wir heute erleben

25. April 2005 Dr. med. Frederick John Nahas

Die Arzt-Patient-Beziehung

Seit Hippokrates steht die Arzt-Patient-Beziehung im Mittelpunkt der ärztlichen Behandlung. Die Grundprinzipien medizinischer Praxis entstanden aus dieser Beziehung. Sie ist vielleicht eine der wichtigsten und intensivsten aller Beziehungen. Denn erstens muss in relativ kurzer Zeit ein Vertrauens­ver­hältnis aufgebaut werden; zweitens steht viel auf dem Spiel, wenn man seine Gesundheit in die Hände eines Arztes legt, und drittens ist die Gefährdung durch den Krankheitsprozess die gemeinsame Hauptsorge von Arzt und Patient.

Wenn ein Patient einen Arzt aufsucht, tut er dies meistens, weil er befürchtet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Seine Angst basiert im allgemeinen auf einem oder mehreren Symptomen wie Schmerzen, Fieber, Blutung oder anderen beunruhigenden Beobachtungen. Leicht ziehen Patienten falsche Schlüsse oder be­fürchten das Schlimmste. Die Angst vor der Ungewissheit schwindet erst, wenn die Diagnose gestellt ist.

Patienten wissen, dass jeder Arzt über eine je eigene Kombina­tion von Erfahrung, Engagement für den Patienten und Fähigkeiten verfügt. Sie wissen auch, dass eine falsche Diagnose, eine verzögerte Behandlung oder eine falsche Behandlung Risiken für einen guten Verlauf oder gar für das Leben bedeuten können. Jeder Patient möchte ohne Kompromisse vom besten zur Ver­fü­gung steh­en­den Arzt untersucht und behandelt werden. Die Qualität der Behandlung ist für ihn der wichtigste Faktor bei der Entscheidung, wo und durch wen er sich behandeln lassen will. Aus diesem Grund muss die Arzt-Patient Beziehung frei von jedem Kompromiss bleiben.

Am Anfang jeder ärztlichen Behandlung steht das Erheben einer genauen Anamnese (Krankengeschichte) und die sorgfältige körperliche Untersuchung. Darauf aufbauend stellt der Arzt eine vorläufige Arbeitsdiagnose und führt, wenn nötig, Labortests durch, fertigt Röntgen­bilder an oder veranlasst weitere Spezialunter­su­chungen. Bei Bedarf zieht er Spezial­ärzte bei, um die Diagnose zu sichern und mit ihnen die Behandlungsmöglichkeiten zu erörtern. Steht die Diagnose einmal fest, hängen die Behandlungs­möglichkeiten von ver­schie­de­nen Faktoren ab wie Schwere der Erkrankung, Alter des Patienten, Begleiter­krankungen oder gewünschtem Resultat.

 

Das Managed-Care-Modell

Im „Managed Care“-Krankenversicherungsmodell (das in den USA bereits üblich ist; Anm. d. Übers.) steht der Arzt ständig unter Zeitdruck, wie weiter unten deutlich wird. Deshalb ist er gezwungen, bei der Aufnahme der Kranken­geschichte (Anamnesegespräch) und bei der körperlichen Unter­suchung abgekürzte Verfahren zu verwenden – obwohl er aus seiner Ausbildung weiss, dass solche abgekürzten Verfahren zu unvollständigen Diagnosen und Behandlungsfehlern führen.
Im Managed-Care-Modell müssen immer Kosten gespart werden. Dabei ist die Rolle des Hausarztes als „Gatekeeper“(„Torhüter“) der Schlüssel zur Kostenreduktion. Das Gatekeeper-Prinzip bedeutet, dass der Patient nicht selbständig zu einem Spezialarzt gehen darf, sondern nur nach Überweisung durch seinen Hausarzt.

Die Managed-Care-Versicherungen schliessen Verträge mit den Hausärzten ab und überwachen deren Tätigkeit ganz genau. Falls ein Arzt zu hohe Kosten verursacht, kann er von der Leistungs­pflicht ausgeschlossen werden. Die Versicherung kündigt den Vertrag und streicht ihn von der Liste der zugelassenen Ärzte.[2]

Die Macht der Managed-Care-Firmen besteht in der grossen Zahl von Patienten, die bei ihnen versichert sind (in den USA läuft ein grosser Teil der Krankenversicherungen über die Arbeit­geber; Anm. d. Übers.). Die meisten Arbeitgeber bieten ihren Angestellten das Managed-Care-Versicherungsmodell an, weil es am kostengünstigsten ist.

 

Kopfpauschalen

Im Managed-Care-Modell wird das System der „Kopfpauschalen“ (capitation) angewendet (es entspricht dem bei uns propagierten «Ärztenetzwerk mit Budgetverantwortung»; Anm. d. Übers.[3]). Kopfpauschalen führen dazu, dass die Hausärzte die Behandlungen zeitlich und qualitativ einschränken. Die Versicherung zahlt dem Hausarzt einen festen Betrag (Kopfpauschale) pro Monat und Patient, unabhängig davon, wie oft und wie lange er diesen sieht. Damit wird ein negativer Anreiz geschaffen, Patienten zu behandeln und teure Abklärungen zu veranlassen. Der Arzt fährt finanziell besser, wenn er seine Patienten möglichst selten sieht und sie möglichst kurz behandelt.

Das Kopfpauschalen-System ist für die Versicherungsfirmen höchst profitabel. Durch weniger Konsulta­tionen, abgekürzte Anamnesegespräche und abgekürzte Untersuchungen entdeckt der Arzt weniger gesundheitliche Probleme, deren Behandlung Geld kosten würde. Auch verordnet er weniger Laboruntersuchungen und teure Spezialuntersuchungen und überweist weniger Patienten an Spezialärzte, was ebenfalls Kosten spart.

Es wäre realitätsfremd zu glauben, dass Ärzte trotz der finanziellen Einbussen den ethischen Gesichtspunkt stets an erste Stelle setzen werden. Dies wäre zu ihrem eigenen Nachteil und würde ihnen in vielen Fällen verunmöglichen, ihre Praxen weiter zu führen. So stellt das Managed-Care-Modell die Ärzte vor ein schweres ethisches Dilemma.

 

Der Fallmanager

Teure Spezialuntersuchungen wie etwa ein MRI (Kernspintomographie) darf der Arzt im Managed-Care-Modell nur nach Zustimmung des „Fallmanagers“ durchführen. Der Fall­manager ist ein Angestellter der Versicherungsfirma und hat in vielen Fällen nur einen dreiwöchigen Kurs in medizinischer Terminologie absolviert. Er stützt sich bei seinen Einschätzungen auf  Richtlinien der Versicherung, welche die „Firmenpolitik“ bezüglich verschiedenen Diagnosen und Spezial­untersuchungen festlegen. Diese widersprechen nicht selten den medizinischen Kenntnissen und Erfahrungen des Arztes und gefährden die Sicherheit der Patienten.

Eine Managed-Care-Richtlinie schreibt zum Beispiel vor, dass eine MRI-Untersuchung nur gemacht werden darf, wenn vorher eine Röntgenaufnahme gemacht wurde. Vermutet der Arzt aber eine Schädigung des Gehirns, so ist eine Röntgenaufnahme wertlos. Trotzdem muss sie gemacht werden. Danach muss der Arzt den Fall erneut dem Fallmanager unterbreiten und ihn davon überzeugen, dass ein MRI notwendig ist. Dadurch werden die Diagnose und Behandlung hinausgezögert, was ein Gesundheitsrisiko sein kann.

 

Patientensicherheit gegen Dollars?

Die Managed-Care-Firmen wissen, dass Spitäler sehr teure Einrichtungen sind. Deshalb ermutigen sie die Ärzte, Behandlungen und Untersuchungen, die traditionell im Spital durchgeführt wurden wie kleinere Operationen oder invasive Untersuchungen in ihren eigenen ambulanten Praxen vorzunehmen. Dies obwohl Spitäler bezüglich Sicherheit, Hygiene und Zugang zu Notfalldiensten grosse Vorteile bieten. Dadurch wird oft die Sicherheit des Patienten und die Behandlungsqualität aufs Spiel gesetzt. Die Versicherungen tauschen diese wert­vollen Güter gegen Dollars ein.

Managed-Care-Firmen ermutigen Hausärzte auch, eine Reihe von Untersuchungen selbst durch­zuführen, die normalerweise Spezialärzte machen wie zum Beispiel Gewebeentnahmen der Haut, gynäko­logische Abstriche, Kehlkopfspiegelungen und Darmspiegelungen. Davon profitiert ebenfalls die Versicherung, denn diese Leistungen wären beim Spezialarzt teurer.
Managed-Care-Versicherungen können verlangen, dass Hausärzte Patienten mit Depressionen selbst behandeln, statt sie dem Psychiater zu überweisen. Laut Versicherungsrichtlinien müssen den Patienten Antidepressiva verschrieben werden. Diese „Richtlinien“ verneinen den Wert psychologischer Verfahren, wo man mit den Patienten spricht, um mit ihnen den Grund ihrer Depression herausfinden, damit sie lernen können, besser damit fertig zu werden. Die Politik der Managed-Care-Firmen ist auch hier nicht durch gute Behandlungsqualität begründet, sondern durch Kosteneinsparungen.

Eine der gängigsten Behandlungsrichtlinien besagt, dass Patienten mit Fieber aus dem Spital entlassen werden können, wenn die Temperatur nicht mehr als 38,5°C beträgt. Es gibt keine wissenschaftliche Studie und keinen Beleg, aus denen hervorgehen würde, dass dies ange­messen ist.  Es ist un­mittelbar erkennbar, dass diese Behandlungsrichtlinie bei einem Teil der Fälle nur zu zusätzlichen Kom­plikationen und möglicherweise zur Wiedereinweisung des Patienten ins Spital führt. Die Managed-Care-Firma weiss genau, wie viele dieser Patienten infolge der verfrühten Entlassung aus dem Spital zusätzlicher Behandlung bedürfen. Sie wägt die daraus entstehenden Kosten gegenüber den Einspa­rungen ab, die durch die verfrühten Entlassungen erzielt werden. Es handelt sich also um eine reine „Geldspar-Richtlinie“. Die Managed-Care-Firma hat sich entschieden, eine bestimmte durch ihre Richtlinien verursachte Komplikationsrate zu akzeptieren, weil sich damit Geld sparen lässt. Die Sicherheit der Patienten wird gegenüber den finanziellen Vorteilen wenig oder gar nicht berücksichtigt.

Notfallstationen sind extrem teuer. Ein Besuch kostet nicht selten 2’500 Dollar. Es gibt Fälle, in denen ein Notfallraum absolut notwendig ist. Managed-Care-Versicherungen bezahlen in der Regel Behandlungen in Notfalleinrichtungen nur dann, wenn vorgängig die Zustimmung des Haus­arztes eingeholt wurde. Dies kann zu Verzögerungen mit tödlichem Ausgang führen. Es ist schon vorgekommen, dass Hausärzte, die Patienten diese Zustimmung gegeben haben, anschliessend von der Liste der Managed-Care-Versicherung gestrichen wurden.

 

Keine Haftung für die Folgen

Wie die erwähnten Beispiele zeigen, legen die Versicherungsfirmen in vielen Fällen eigene Behand­lungs­­­richtlinien und Standards fest, die den anerkannten wissenschaftlichen Standards wider­sprechen – ohne für die Folgen haften zu müssen. Der Arzt steht vor dem Dilemma, entweder richtig zu behandeln und dafür Sanktionen der Versicherung in Kauf zu nehmen oder die Richtlinien der Versicherung zu befolgen und dafür ein schlechtes Behandlungs­resultat in Kauf zu nehmen. Viele Ärzte lösen das Problem, indem sie falsche Angaben machen und einen kränkeren Patienten vor­täuschen, um ihn richtig behandeln zu können.
Die Frage der Haftung ist bei all diesen Sparmassnahmen für die Managed-Care-Firmen kein Problem, denn der Oberste Gerichtshof der USA hat entschieden, dass ausschliesslich der Arzt für Behandlungsfehler haftet, auch wenn die Fehlbehandlung eindeutig eine Folge von Entscheidungen und Vorschriften der Versicherungen war.

 

Medizinischer Fortschritt und verbesserte Behandlungsqualität

Bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts bezahlten die Patienten ihre Behandlungen meistens selbst, entweder mit Geld oder Naturalien. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt führte aber dazu, dass die Ausbildung der Ärzte immer länger und der personelle Aufwand der Spitäler immer grösser wurde. Das verteuerte auch die Behandlungskosten.
Um die gestiegenen Kosten für ärztliche Behandlungen zu tragen, wurden Kranken­versiche­run­gen gegründet. Das Prinzip war einfach. Jedes Mitglied einer Gemeinschaft trug mit einer festgesetzten Geldmenge zu einem gemeinsamen Pool bei. Wenn ein Mitglied erkrankte, wurden die Behandlungskosten solidarisch aus dem gemeinsamen Pool gedeckt. Das Risiko wurde auf alle verteilt.

Mit den Fortschritten in der medizinischen Wissenschaft und Technologie stiegen die Heilungs­­raten, die Lebensqualität und die Lebensdauer enorm. Heute stehen ganze Klassen neuer Medikamente zur Verfügung, chirurgische Techniken, Diagnose- und Behand­lungs­verfahren wurden weiterentwickelt. Diese technologische und wissenschaftliche Weiterent­wicklung schreitet bis zum heutigen Tag immer schneller voran. Die Zahl der Spezial­gebiete nahm zu; in praktisch jedem Gebiet der Medizin stehen heute viel mehr Behand­lungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Behand­lungsergebnisse haben sich weiter verbessert, so dass heutige Patienten erwarten, effizient und erfolgreich behandelt zu werden.

 

Höhere Heilungsraten und ein längeres Leben

Historisch betrachtet wird von den Ärzten ein sehr hoher Erfolgsstandard erwartet. In der Chirurgie zum Beispiel werden Operationen mit Sterblichkeitsraten von mehr als 2% als „riskant“ betrachtet. Sterblichkeitsraten von 1% und weniger gelten als „akzeptabel“. Ein voller Operationserfolg ohne Komplikationen oder Tod wird in 93% der Fälle erwartet. Von Ärzten für Innere Medizin erwartet man, dass die Diagnose in praktisch allen Fällen voll­ständig und richtig ist. Solch hohe Maßstäbe werden in keinem anderen Beruf angelegt.

Wie dargelegt, ist der Anstieg der medizinischen Behandlungskosten das Resultat einer besseren medizinischen Versorgung und einer verbesserten Behandlungsqualität. Diese Kosten sind keineswegs überproportional zu den anderen Lebenskosten wie für Wohnung, Kleidung und Nahrung gestiegen. Eigentlich sind die Kosten für ärztliche Behandlungen – gemessen an der Tatsache, dass sie höhere Heilungsraten, eine bessere Lebensqualität und ein längeres Leben ermöglichen – heute tiefer als je zuvor.
Dennoch begannen Versicherungs­firmen und Politiker, mit der Behauptung, die medizinischen Behandlungskosten seien zu hoch, das Gesundheitswesen zu „managen“. Die Ver­siche­run­gen fingen an, willkürlich fixe Geldbeträge für bestimmte medizinische Leistungen festzulegen.

 

Absurde Klagen wegen „ärztlicher Kunstfehler“

In den Medien wurde über absurd hohe Abfindungssummen bei sogenannten ärztlichen Kunst­fehlern berichtet. Patienten sind heute bestens über ihre Rechte informiert. Jedes nicht erwartungsgemässe Behandlungsresultat eröffnet ihnen und ihren Familien  die Möglichkeit, ein Gerichtsverfahren gegen den Arzt einzuleiten. Dabei geht der Patient kein finanzielles Risiko ein. Es ist wie Lottospielen, ohne ein Los zu kaufen. Der Patient braucht sich nur an einen Anwalt zu wenden, der auf ärztliche Kunstfehler spezialisiert ist. Dieser wird ausnahmslos einen Arzt finden, der eine „Fallbescheinigung“ ausstellt und bestätigt, dass er den Fall begutachtet und eine „Abweichung vom Behandlungs­standard“ gefunden hat. Tatsächlich gibt es wenige uneingeschränkt gültige Standards, weil es unzählige unterschiedliche Meinungen, Krankheits­ver­läufe und Patienten unterschiedlichen  Alters mit unterschiedlichen Begleit­erkrankungen gibt. Alle diese Faktoren haben einen Einfluss auf die Behandlung und das Ergebnis. Die sogenannte Abweichung vom „Standard“ kann eine Fehldiagnose betreffen, eine verspätet gestellte Diagnose, ein Behandlungsversäumnis, eine versäumte Diagnose oder einen technischen Fehler. Die Variationen und Kombinationen sind vielfältig.

Ein Gerichtsverfahren gegen einen Arzt verursacht der Haftpflicht­versiche­rung Kosten von mindestens 25’000 Dollar, nur um auf das Verfahren einzutreten. Die weiteren Prozesskosten können in die Hunderttausende gehen, mit dem fast sicheren Ergebnis, dass das Gericht dem  Patienten einen immensen Betrag zuspricht. Um das zu vermeiden, ziehen es die meisten Versicherun­gen vor, einen Vergleich abzuschliessen. 40 Prozent der Entschädigungssummen gehen jeweils an den Anwalt. Selbst für lächerlichste Klagen haben Versicherungen schon Hundert­tausende von Dollars bezahlt. Eltern haben schon gegen Frauenärzte geklagt, weil ihr Kind in der Schule schlecht lernte. Die Eltern behaupteten, dies sei die Folge eines Behand­lungs­­fehlers des Frauenarztes gewesen. Bei den Frauenärzten wurde die Haftungsdauer auf 21 Jahre ausgedehnt, bis das „Baby“ erwachsen ist!

 

Unbezahlbare Prämien und defensive Medizin

Die Wirkung dieser „Kunstfehler-Klagen“ gegen Ärzte auf deren Haftpflicht­ver­siche­rungs­­prämien liegt auf der Hand. Gewisse Spezialärzte zahlen bis zu 400’000 Dollar Haftpflicht­ver­siche­rungs­prämien jährlich. Wurde ein Arzt mit mehreren Klagen wegen Behandlungsfehlern konfrontiert, so wird er für die Versicherung zu einem untragbaren Risiko.
Dieses Schema führt dazu, dass die erfahrensten Ärzte, die am meisten Patienten gesehen und behandelt haben, unweigerlich irgendwann mit Fehlbehandlungsklagen konfrontiert werden. Die Gerichtsverfahren häufen sich im Laufe der Zeit und der Erfahrung an, was dazu führt, dass Ärzte mit der grössten Berufserfahrung nicht mehr versicherbar sind. Sie müssen ihre Praxis aufgeben. Auf diese Weise verbleiben der Gemeinschaft die völlig unerfahrenen Ärzte und sehr viele Ärzte mit wenig Berufserfahrung, dafür aber ohne grössere Gerichtsverfahren.

Die besten und intelligentesten Studenten entscheiden sich heute für andere Studiengänge als für Medizin. Sie wollen nicht nach Jahren der Ausbildung in einem für Ärzte feindseligen Umfeld für ein tiefes Honorar arbeiten müssen und gleichzeitig hohe Schulden für ihre Ausbildung abzahlen und enorme Versicherungsprämien leisten. Diese Entwicklung kann zu einem drastischen Ärztemangel führen, was eine hohe Krankheits- und Sterblichkeitsrate zur Folge haben wird.

Aus Angst vor Gerichtsklagen betreiben viele Ärzte eine «defensive Medizin». Sie verordnen mehr Untersuchungen, verschreiben mehr Medikamente, ziehen mehr Spezialisten bei und bestellen die Patienten häufiger als nötig, aus Angst, man könnte ihnen mangelnde Sorgfalt vorwerfen. Gleichzeitig müssen sie die Richtlinien der Managed-Care-Firmen erfüllen, die zu Behandlungsfehlern führen. Dies wiederum hat Gerichtsklagen und defensive Medizin zur Folge. Der Teufelskreis kann nur durchbrochen werden,  wenn die Lotterie-Atmosphäre im Zusam­men­hang mit den Kunstfehler-Klagen endlich gestoppt wird und wenn die Ärzte wieder gemäss ihrem ärztlichen Wissen behandeln können. Auch müssen die Managed-Care-Firmen für ihre Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden können.

 

Absurde Richtlinien der Managed-Care-Firmen

Die Managed-Care-Firmen sind beständig daran, neue Richtlinien auszutüfteln, mit denen noch mehr Kosten eingespart werden können. Die Verwendung von Generika (kostengünstigen Nachahmerprodukten; Anm. d. Übers.) ist eine Möglichkeit zu sparen. Eigentlich sollten Generika identisch sein mit den Originalmedikamenten, doch sind sie in der Realität häufig schlechter. Auch bei Medikamenten aus der gleichen Stoffgruppe ignorieren die Versiche­rungen die Tatsache, dass es Qualitätsunterschiede gibt. Die Versicherungen lassen meistens nur ein Medikament aus einer Stoffgruppe zu.
Ausschluss aus der Zahlungspflicht

Managed-Care-Firmen schliessen bestimmte teure oder aufwendige Behandlungen aus der Zahlungs­pflicht aus. Dies können chirurgische Eingriffe bei Krampfadern sein, Magen-Bypässe bei krankhaftem Übergewicht, plastische Chirurgie, Nasenchirurgie oder Brust­wiederherstellungen nach Brustamputationen. Diese Operationen werden zum Teil als kosmetische Eingriffe eingestuft und nicht bezahlt. Auch psychiatrische Behandlungen, Rehabilitation bei Drogen- und Alkoholsucht und Physiotherapie (Krankengymnastik) werden oft nicht bezahlt.

Kosten für Behandlungen ausserhalb des Managed-Care-Netzwerkes werden oft nur teilweise oder gar nicht übernommen. Dies ist ein Problem für Patienten, die viel unterwegs sind. Aber es senkt die Kosten für die Versicherung.

 

Keine freie Arztwahl

Die von den Managed-Care-Firmen unter Vertrag genommenen Spezialärzte sind nicht immer die besten. Die Versicherungen haben pro Fachrichtung meist nur einen Arzt auf der Liste.[4] Dies wird beim Vertragsabschluss oft nicht bedacht, doch wenn eine entsprechende Situation eintritt, kann es entscheidend sein. Bei lebensbedrohlichen Eingriffen wie etwa Herz­chirur­gie wollen manche Patienten vom besten ihnen bekannten Arzt behandelt werden. In solchen Fällen übernimmt die Versicherung nur einen Teil der Kosten. Dasselbe gilt für teure Spezial­kliniken. Die meisten Managed-Care-Firmen haben Verträge mit Spezial­klini­ken, doch auch diese sind nicht immer die besten.

 

Der Regenmacher

Vor Jahren lief ein Film mit dem Titel „The Rainmaker“. Im Film verweigerte eine Managed-Care-Versicherung einem jungen Mann die Bezahlung einer Krebsbehandlung. Der junge Mann starb. In der darauf folgenden Gerichtsverhandlung legte der Chef der Versicherungs­firma als Verteidigung ein Versicherungsreglement vor. Daraufhin legte ein ehemaliger Angestellter der Firma ein zweites Exemplar vor, in dem eine Textpassage stand, die im Exemplar des Chefs gefehlt hatte: die Anweisung an die Angestellten, Zahlungsforderungen von Patienten zuerst einmal einfach in den Papierkorb zu werfen.

Das tönt übertrieben. Tatsächlich aber kommt es auffällig oft vor, dass Zahlungsforderungen von Versicherten „in der Post verloren“ gehen oder als „nicht leserlich“ zurückgeschickt werden. Ausserdem sind die Formulare oft so kompliziert und unverständlich, dass das korrekte Ausfüllen schwierig ist. Sind sie nicht exakt ausgefüllt, werden sie nicht bearbeitet. Zuweilen dauert es Wochen bis Monate, bis die zurückgewiesenen Formulare zum Arzt gelangen. Zahlungen werden auch verweigert, weil Formulare nicht „termingerecht“ einge­reicht wurden, beispielsweise mehr als drei Monate nach der Behandlung. Umgekehrt kommt es vor, dass die Versicherungen Forderungen überprüfen, die sie bereits vor Jahren ausbezahlt haben. Manchmal kommen sie zum Schluss, die Vergütung sei nicht gerechtfertigt gewesen und verlangen das Geld zurück. Nicht selten zögern Versicherungen ihre Zahlungen drei bis sechs Monate hinaus. Diese „Zahlungen in Bearbeitung“ sind im einzelnen vielleicht nicht gross, doch zusammengerechnet belaufen sie sich auf beträchtliche Summen. Dies ist für die Firmen von erheblichem finanziellem Vorteil.

 

Erzeugen von Spannungen zwischen Ärzten, Patienten und Spitälern

Bei Spannungen zwischen Ärzten, Patienten und Spitälern werden medizinische Leistungen weniger in Anspruch genommen. Das spart Kosten. Bis vor wenigen Jahren haben Ärzte und Spitäler gut zusammengearbeitet. Inzwischen haben Managed-Care-Firmen die Bezahlung von Spitaltagen begrenzt. Damit schufen sie einen künstlichen Interessengegensatz zwischen Spitälern und Ärzten. Wenn ein Arzt den Patienten nicht vorzeitig aus dem Spital entlassen will, muss ihn das Spital behalten, aber für die Kosten selbst aufkommen. Das führte dazu, dass Spitäler angefangen haben, Fallmanager anzustellen, die Ärzte beeinflussen sollen, die Patienten früher zu entlassen. Tut der Arzt  dies nicht, können Spitäler Massnahmen gegen ihn ergreifen wie seine Qualifikation neu überprüfen, eine Zusatzausbildung verlangen oder ihn als Belegarzt ausschliessen.

Auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wird von den Managed-Care-Firmen unterminiert. Wenn Patienten während eines Spitalaufenthaltes einen Brief von der Versicherung erhalten, in dem steht, ihr weiterer Spitalaufenthalt sei vielleicht gar nicht nötig und sie müssten ihn möglicherweise selbst bezahlen, beginnt mancher am Urteil des Arztes zu zweifeln.
Die Weigerung der Krankenversicherungen, Spitalaufenthalte in ihrer vollen Länge zu bezahlen, führt dazu, dass Patienten Rechnungen nicht bezahlen. Nicht bezahlte Rechnungen führen zu Inkassoverfahren. Dadurch kann ein allgemeines Misstrauen in der Gemeinde gegenüber dem Spital entstehen – zum Vorteil der Managed-Care-Firma. Denn wenn die Patienten ihren lokalen Spitälern misstrauen und sie meiden, entstehen weniger Behand­lungs­kosten.

 

Ärztedossiers

Gewisse Managed-Care-Firmen führen Patientenbefragungen durch und legen Dossiers von Ärzten an, um sie im Sinne der Kostensenkung zu beeinflussen. Die Patienten werden über Punkte wie Erreichbarkeit, Pünktlichkeit und Freundlichkeit in der Arztpraxis befragt. Die Ärztedossiers können auch Angaben darüber enthalten, wie oft der Arzt Patienten an Spezial­ärzte überweist, wie oft er teure Medikamente verschreibt und wie viele Spezial­untersuchungen er anordnet. Anschliessend wird er darüber informiert, wie er bezüglich der verursachten Kosten im Vergleich zu seinen Kollegen abschneidet. Solche Vergleiche dienen als Warnung für Ärzte, die höhere Kosten als der Durchschnitt verursachen. Dabei wird nicht berücksichtigt, wie sich die Patientenpopulation eines Arztes zusammensetzt oder wie schwer die von ihm behandelten Krankheiten waren.

 

Patientenverfügungen

In Patientenverfügungen bestimmen Patienten, wie sie behandelt werden wollen, wenn sie nicht mehr entscheidungs­fähig sind. Die Versicherungsgesellschaften haben sich dafür eingesetzt, dass ein Gesetz erlassen wurde, das Spitälern vorschreibt, alle Patienten beim Eintritt zu fragen, ob sie eine Patienten­verfügung haben. Ausserdem muss das Spital den Patienten entsprechende Formulare zur Verfügung stellen, falls sie dies wünschen.

Der Zweck dieser Verfügungen ist es, aufwendige und kostspielige Behandlungen wie Wiederbelebungsmassnahmen, künstliche Beatmung oder künstliche Ernährung für Patienten einzuschränken, die sie nicht wünschen oder die als „hoffnungslos“ gelten. Viele Patienten sind nicht in der Lage, solche Fragen angemessen zu beurteilen. So überlegte sich eine Frau, eine Patientenverfügung zu unterzeichnen, in welcher der Einsatz eines Beatmungsgerätes verboten wurde. Ihr Arzt machte sie darauf aufmerksam, dass man sie aufgrund dieser Verfügung im Falle einer schweren Lungenentzündung nicht beatmen dürfte, was zu ihrem Tod führen könne, obwohl Lungenentzündungen in der Regel heilbar seien. Sie war entsetzt und unterzeichnete die Patientenverfügung nicht. Es gibt viele ähnliche Beispiele.

Der Vorteil dieser Verfügungen liegt einzig in der Kosteneinsparung für die Manged-Care-Firma. Es ist schwer zu verstehen, warum Patienten Versicherungsprämien für ärztliche Behandlung zahlen und gleichzeitig bestimmte lebensrettende Behandlungen ausschliessen, es sei denn, sie hätten eine unheilbare Krankheit mit nur noch sehr kurzer Lebenserwartung. Doch selbst unheilbare Krebspatienten haben ein Recht auf jede Behandlung, die ihren Gesundheitszustand und ihr Wohlbefinden verbessert.

 

Das widersinnigste Gesundheitswesen der Welt

Die obige Darstellung zeigt die Auswirkung des Managed-Care-Modells auf die Patienten und die Behandlung. Es sollte klar geworden sein, dass die Motivation der Managed-Care-Firmen bei praktisch allen ihren Massnahmen rein finanzieller Natur ist. Diese Firmen tauschen Behandlungsqualität und letztendlich Krankheit und Tod gegen Dollars ein. Die Geldgier dieser Firmen kann gar nicht überschätzt werden. Das Managed-Care-System setzt finanzielle Anreize für schlechte Behandlungsqualität. Aufgrund der Richtlinien und Beschränkungen der Versicherungen ist es zuweilen unmöglich, qualitativ gut zu behandeln.
In den Vereinigten Staaten hat dieses Problem zum widersinnigsten Gesundheitswesen der Welt geführt. In diesem Land mit 240 Millionen Menschen sind 45 Millionen nicht gegen Krank­heit versichert. Schätzungsweise 20’000 Menschen in den USA sterben pro Jahr, weil sie keine Krankenversicherung haben. Viele sterben auch aufgrund von Behandlungs­fehlern. Wie viele dieser Todesfälle ein direktes oder indirektes Resultat der Managed-Care-Richtlinien sind, ist eine offene Frage.

 

 


 

Der Text basiert auf einem Referat von Dr. Nahas, das er 2005 in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor medizinischen Fachgremien, Bürger- und Patientengruppen hielt. Dr. Nahas’ Ausführungen zeigen in erschütternder Deutlichkeit, wohin die sogenannten «Reformen» führen, die in den USA bereits bittere Realität sind. Sie werden – unter ähnlichen oder anderen Bezeichnungen – auch bei uns einge­führt.  So propagierte der BAG-Vizedirektor und frühere FMH-Präsident Hans Heinrich Brunner, der sich innerhalb der FMH für die Einführung des fragwürdigen «Tarmed» eingesetzt hat, nun das Managed-Care-Modell als erfolgreiche «kostensenkende» Massnahme. Man müsse, so Brunner, auch in der Medizin stets die Kosten-Nutzen-Rechnung machen, bis hin zur Frage, wie viel Geld am Lebensende noch auszugeben sei. [Medizin gegen wachsende Gesundheitskosten. Berner Zeitung, 13. Oktober 2004] Unter einlullenden Schlagworten wie «Qualitätskontrolle» oder «effektives Manage­ment» werden solche Gedanken in die Diskussion eingeführt. Die verführerischen Worthülsen sollen darüber hinwegtäuschen, dass eine Zweiklassenmedizin am Volk vorbei installiert wird, unwürdig einer demokratischen Gesellschaft.

 


Erstpublikation: Zeit-Fragen Nr. 17 vom 25. April 2005


 

Dr. med. Frederick John Nahas, Allgemeinchirurg und Gefässchirurg

Vor der ärztlichen Laufbahn studierte er Ingenieurwissenschaften an der University of Pennsylvania und arbeitete während zwei Jahren als Elektroingenieur bei der General Electric Company am Apollo Moon Projekt und bei der Entwicklung von Biosatelliten und Wettersatelliten mit. Nach seinem Zweitstudium in Medizin und einer chirurgischen Weiterbildung führt er seit 1978 seine eigene Praxis als Allgemeinchirurg und Gefässchirurg: Er ist Belegarzt am Atlantic City Medical Center und am Shore Memorial Hospital, seit 2002 auch am Kessler Memorial Hospital. Dr. Nahas ist Mitglied mehrerer medizinischer Fachgesellschaften. 2001 wurde ihm die Auszeichnung als bester Gefässchirurg von South Jersey verliehen.

 


 

Anmerkungen

[2] Damit ist die freie Arztwahl aufgehoben. Die Versicherung und nicht mehr der Patient entscheidet, welcher Arzt ihn behandeln darf. Dies wäre in der Schweiz auch der Fall, wenn der «Kontrahierungszwang» (Vertragszwang) aufgehoben würde, wie gewisse Kreis propagieren [Anm. d. Übers.]
[3] Prof. Dr. med. H.R. Baur, Chefarzt Medizinische Klinik Spital Bern Tiefenau: Kritische Bemerkungen zum Modell «Ärztenetzwerk mit Budgedverantwortung». In: Schweizerische Ärztezeitung; 2003; 84: Nr. 40, S. 2081
[4] Vgl. Fussnote 2

Autor

Dr. med. Frederick John Nahas

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