«Martha Heinrich Acht, Dresden 1944/45»

20. Juni 2016

«Martha Heinrich Acht, Dresden 1944/45» lautet der Titel eines Bildbandes, im Verlag der Kunst Dresden herausgegeben von Matthias Neutzner von der «Interessengemeinschaft 13. Februar 1945». «Ausgewählte Briefe aus jener Zeit, umfangreiche Erinnerungen der Augenzeugen und Tausende ausgewerteter Dokumente bilden die Basis einer Darstellung aus der Sicht der vom Krieg und Bombenkrieg Betroffenen.», heisst es im Vorwort. «Martha Heinrich Acht» war die Codebezeichnung für Dresden, «Synonym für ein Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Voralarm und Entwarnung, für ein Leben im Bombenkrieg.»

Ein erschütterndes Buch, bei dem man das Weinen verlernen kann. Ein schreckliches Buch, weil es zeigt, was Bombenkrieg ist. Ein wichtiges Buch aber auch, beklemmend aktuell, gerade angesichts der heutigen schrecklichen Bombenkriege. Das Buch über Dresden lässt aus der unmittelbaren Betroffenheit miterleben, was Bombenkrieg war und ist. Wer es an sich herankommen lässt, beginnt zu denken, denn er fühlt mir, beginnt innerlich zu schreien: Nie wieder!

1984 wurde bei einer Wohnungsauflösung in Dresden ein Brief von Marie Johanna M. aus dem Jahre 1957 gefunden, worin diese ihre Erlebnisse während des ersten Angriffs auf Dresden am 13. 2. 1945 schildert. Dort heisst es mahnend: «Nie und nimmer werde ich das Grauenvolle vergessen, was wir auf unserem Fluchtweg gesehen haben. … Die Zeit, die man erleben musste, war schrecklich. Haben wir das alles vergessen? Viele Menschen ja, aber ich nicht. Ein Mann im Luisenstift sagte: ‚Alles im Leben ertragen, aber niemals wieder einen Bombenkrieg!‘ Ob die Menschen durch all das Elend wohl klüger geworden sind? Manchmal sieht es nicht so aus. Es heisst immer, man muss vergeben und vergessen. Vergeben vielleicht, aber vergessen? Das kann niemand, wenn er halbwegs Ehre in sich hat. Ich glaube, unter der Sonne ist keiner, der vergessen könnte, was ihm Bitteres, Schmerzvolles und Böses widerfahren ist. Es müsste denn ein ganz harter und schlechter Mensch sein.»

Dieses Buch erinnert uns gerade angesichts der heutigen Bombenkriege an dieses Vermächtnis dieser Frau, die stellvertretend spricht für unsere Eltern, vor allem auch für unsere immer weniger werdenden Väter, die während des Zweiten Weltkrieges sechs Jahre töten mussten und getötet wurden und die über ein halbes Jahrhundert danach sechs unendlich lange Jahre Töten und Getötet-werden, den unendlichen Schrecken, die Angst und die Schuld einsam auf ihrem Gewissen trugen und es keinem, nicht einmal ihren Kindern, erzählen konnten, weil man sie nicht verstehen konnte und weil man sie nicht verstehen wollte und weil sie nicht reden konnten. Die keine Seelsorger fanden, weil diese selbst Angst hatten, sie würden die Täter allzu rasch entschuldigen.

Die heutigen Kriegsfürsten wollen die Welt für dumm verkaufen und den Menschen weismachen, ihre Bombenkriege seien «präzise», «chirurgisch sauber», «punktgenau» usw. Der Irak-Krieg, heisst es, sei mit wenig Opfern zuende gegangen, als man gedacht habe. Als gäbe es einen Unterschied zwischen sauberem und dreckigem Töten. Als hätten wir vergessen, dass die «sauberen» Morde die schlimmsten sind! Als wüssten wir seit der Auslöschung von Hunderten von Städten auf der ganzen Welt durch Bomben und Feuersturm während des Zweiten Weltkrieges nicht, was Bombenkrieg ist. Als wüssten wir nicht, dass schon die Nazipropaganda versuchte, die Morde an den Juden als von der Geschichte aufgezwungenen, chirurgischen Eingriff in den Volkskörper darzustellen ‑ um das Gewissen des Volkes zu töten und es wie Hammel zur Schlachtbank führen zu können. 60 Jahre technischen Fortschritt, machen wir uns keine Illusionen, haben das Verderben, das vom Himmel fällt, nur verheerender und gemeiner gemacht. Wieso soll auf einmal das «präzise» Verderben das bessere sein?

Jeder Bericht aus dem vorliegenden Buch ist ein Beitrag gegen das Vergessen. Jeder Brief, jede Schilderung daraus kann das Bewusstsein und das Mitgefühl wecken, vor allem auch derer, die Dresden gar nicht mehr kennen, deren Lehrer nichts mehr davon zu erzählen wussten, deren Geschichtsunterricht zu oberflächlich war. Ja, dieses Buch über den Bombenkrieg ist doppelt aktuell, weil Dresden eben auch daran erinnert, dass kurz darauf Hiroshima und Nagasaki folgten und dass Bombenkrieg heute auch Atomkrieg heisst. Die USA sind schon lange wieder bereit, den atomaren Erstschlag zu führen. Das Gespenst des atomaren Overkills schwebt drohend wie nie über der Menschheit.

Wissen, was die Geschichte uns lehrt, können wir nur durch solche Bücher, die das Erleben des Menschen im Mittelpunkt stellen. Was unterscheidet das zerfetzte irakische Kind auf den Armen seines starr blickenden Vaters von jenem erstickten Kind aus einem brennenden Dresdner Keller? Andere Kleider, andere Technik, andere Gesichter – aber Menschen, Kinder, Frauen, Grossväter, Grossmütter, Väter, Söhne, Brüder und Schwestern – Menschen, von denen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sagt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren.“ Menschen, nach biblischem Verständnis Ebenbilder Gottes, von denen Kant sagte, sie dürften nie Mittel zum Zweck werden.

Das Buch dokumentiert und macht begreiflich die unendlichen Leiden der Menschen im Feuersturm Dresdens und der vielen anderen in den vielen Städten des Zweiten Weltkrieges, die im Bombenkrieg erstickten und verbrannten, während ihre Väter und Brüder auf den Schlachtfeldern einsam verreckten. Die Toten und namenlos Verscharrten aller Kriege, vor allem aber unsere von uns unverstandenen Väter, die sechs Jahre durch die Hölle gingen und alles verloren, die uns am nächsten stehen und standen Sie mahnen uns, und rufen uns selbst aus den Gräbern zu, dass wir mit ihnen nicht fertig sind. Sie haben uns etwas hinterlassen, mit dem wir nicht fertig sind. Sie haben uns ihr Schweigen hinterlassen, dass wir erzählen, was sie gelitten haben. Dass wir in ihrem Namen schreien. Denn wenn wir es nicht tun, kann sich bald niemand mehr daran erinnern, und dann ist es, als wäre es nicht geschehen. Dann ist ihr Leiden vergessen. Und dann ist es so, als wäre alles nicht geschehen.

Wer weiss, was der Zweite Weltkrieg war, wer weiss, was Bombenkrieg heisst, der weiss, was heute in den kriegsüberzogenen Ländern – überall, wo im Namen des Friedens gebombt wird. Ein Buch daher gegen das Vergessen und gegen die Lüge der heutigen Kriegspropaganda.

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