Michael Landmann. Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur

15. Oktober 2024

Michael Landmann
Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur

München 1961 

 

Es ist historisch noch nicht lange her, dass die Kulturanthropologen und Soziologen erkannten, dass der individuelle Mensch als Geschöpf seiner Kultur erzogen und gebildet wird, ehe er als eigenständiger Schöpfer denken kann. Vor dieser Erkenntnis herrschte im europäischen Kulturraum die Sicht vor, dass Gesellschaften und Gemeinschaften, wie ein Haus aus Ziegel gemauert wird, durch Zusammensetzung aus «Seinsbausteinen» (Landmann) entstünden. Bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein herrschte in unserem Kulturkreis das Denken vor, dass der einzelne Mensch der voraussetzungslose Anfang allen Denkens sei.

Man verstand zu wenig, dass ein menschliches Individuum erst dadurch eigenständig denken lernt, indem er zum Geschöpf seiner Kultur gebildet worden ist. Geborenwerden und in Familie, Gemeinde und Schule alles zu übernehmen, was die Kultur ausmacht, wird dem Kind auferlegt. Aber nicht als Zwang, sondern das ist Normalität. Der einzelne Mensch wird in jeder Kultur in eine Gemeinschaft hineingeboren, die vor ihm schon da ist. Ohne diese vorangehende Gemeinschaft ist kein Individuum. Sie ist die. Das Denken des Heranwachsenden hat immer die Kultur als Voraussetzung. Am Anfang des individuellen Lebens steht die es prägende Kultur.

Die grossen Humanisten und Pädagogen erkannten aber zu allen Zeiten, dass der Mensch nur Mensch werden kann durch den Menschen: dass für das Individuum die «Gesellschaft das Ursprüngliche, der einzelne dagegen das Nachträgliche ist.» (Landmann, 9) Am Anfang eines jeden menschlichen Lebens steht ein kleiner Mensch mit einer sozialen Präadaption, einem Streben nach Bindung zu seinen Eltern, den ersten Mitmenschen, und einem nahezu grenzenlosen Nachahmungs- und Lernvermögen, was Beobachtungslernen durch Identifikation ermöglicht. In einem langen Erziehungs- und Bildungsprozess lernt das Kind erst zu Denken in einem Prozess des »reifenden Lernens und lernenden Reifens». Die gesamte Kultur mit ihrer Geschichte ist in die Familie und in die verschiedenen kleineren oder grösseren Gemeinschaften innerhalb der grösseren Gesellschaft hineinverflochten, durchzieht alle Mitglieder eines Volkes, einer Kultur und formt sie und bringt so auch das Denken eines jeden neuen Kindes erst hervor.

Was der heranwachsende Mensch als unumstössliche Wahrheit vermittelt bekommt und lernt, ist das, was die Menschen seiner Kultur, zusammen mit allem anderen Kulturbesitz von Generation zu Generation tradiert haben und was nun auf ihn überging.

Erst im späteren Teil des ersten Lebensabschnitts, wenn der Heranwachsende erlebt, dass er erwachsen, aber noch nicht ganz erwachsen ist, dass die Welt nicht nur aus dem besteht, was er in seiner Kinderstube in sich aufgenommen hat, entdeckt er auch, dass es auch ganz anderes Denken gibt, als er gedacht hatte, es sei das «natürliche» Denken. Er beginnt, sich losgelöst von seiner Kultur sehen zu können. Was ihm bisher ewig schien wird zeitlich relativ. Was absolut schien, wird relativ. Wir Menschen merken dann, «wie sehr wir ihre Geschöpfe sind» und halten nicht mehr «naiv die ‘Kultur in uns’, […], für unser angestammt-natürliches menschliches Sein.» (10) Der junge Mensch entdeckt, dass es eine Welt ausserhalb der seinen gibt. «Mit dem sich steigernden Gefühl für die geschichtliches Mannigfaltigkeit und radikale Unterschiedenheit der kulturellen Systeme, in denen sich der ein und derselbe bleibende Mensch bewegt, wird aber endlich die Doppeleinsicht reif, dass sie […] etwas von ihm Loslösbares, Eigenes, ihm Gegenüberstehendes sein müssen; und dass sie gleichzeitig von tiefster prägender Gewalt für ihn, dass sie sein Fundament und Schicksal sind.» (10)

«Alle Anthropologie, die den Menschen auf Vernunft oder Freiheit, auf Person oder Existenz gründen, setzen zu hoch ein. Sie starren einen einzelnen Gipfel und übersehen das Bergmassiv, aus dem er sich erhebt.» (10)

Wir leben in der «Illusion des mit sich beginnenden Ichs».(11) Diese Illusion

«muss die Philosophie erst mühsam abtragen und zerstören, um das durch sie unterdrückte und verstellte wahre Wissen ans Licht zu heben. Längst ehe der subjektive Geist zu ‘konstituieren’ sich anschickte, wurde er schon durch den objektiven vorkonstituiert, der als noch ein anfänglicherer Anfang ist als er.» (11)

Das menschliche Erkennen und «ebenso unser Fühlen und unser ganzes Sein» vollziehen sich «in den Formen des objektiven Geistes».(11) Er ist allem Denken, Fühlen und Handeln «von Urbeginn beigemengt» (11) und ist die «Grundschicht, durch die hindurch und in deren Färbung allein wir alles haben und tun.» (11) Es gib kein zeit- oder geschichtsloses Ich. Die Kulturanthropologie umfasst daher heute Ethnologie und philosophische Anthropologie und berührt Ethik, Erkenntnistheorie und Psychologie gleichermassen. Die Geisteswissenschaften finden in der Kulturanthropologie ihr Fundament. (11)

Der

«ursprüngliche Mensch denkt und handelt nicht primär gemäss seiner eigenen inneren Überlegungen, sondern gemäss den Traditionen der Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde. Um nur das für wahr und für gut zu halten, was sich vor seiner individuellen Vernunft bewährt, […], dazu muss der Mensch schon Distanz zu den Traditionen und muss er schon zu seiner Vernunft Vertrauen gewonnen haben.» (13)

Die Griechen prägten das Ideal des «nur sich selbst verantwortlichen und «sich selbst genügenden» Einzelnen. Die «erkennende und gestaltende Vernunft» mache den Menschen zum Menschen. (13)

Das Christentum sieht den Menschen ebenfalls als Vernunftwesen mit einer «von Gott ihm ebenbildlich geschaffenen» Seele und betont ebenfalls die «Einzelhaftigkeit» der Seele, löst sie aber «aus allen weltlichen Verflechtungen heraus und stellt sie […] Gott gegenüber.» (13)

In Renaissance und Sturm und Drang kommt es zum «Kult des alles aus sich selbst schöpfenden Genies und der in sich geschlossenen Persönlichkeit.» (13f.)

Wilhelm von Humbold sagt richtig, dass «die Persönlichkeit sich nur bildet in der verstehenden geistigen Begegnung mit andern Persönlichkeiten».(14) Um aber die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu sichern, will er

«die Ansprüche der Gemeinschaft an sie ausdrücklich beschränken. Jetzt ist es gerade die unwiederholbare Besonderheit des Individuums, seine Einzigartigkeit, die gesehen und bejaht wird und die es entfalten soll. Stets droht hier […] Abgleitung in individuelle Willkür und Selbstvergottung.» (14)

Die moderne philosophische Anthropologie der zwanziger Jahre verstand sich (unter dem Druck der alten falschen menschlichen Selbstdeutung des «voraussetzungslosen Ichs») zunächst auch nur als Individualanthropologie. Als solche erfüllte sie jedoch nicht die Hoffnung, «eine Grunddisziplin für die Kulturwissenschaften, die ‘Menschheitswissenschaften’, sein» zu können. Sie fand keine Verbindung zur Kulturphilosophie. (14)

So wurde der Kulturanthropologie von der Existenzphilosophie das Wasser abgegraben, während die Anthropologie durch das Übergewicht der «individualphilosophischen Tradition» im Alten befangen blieb. Die Existenzphilosophie wolle aber nur «dem Menschenbild, wie es schon in Ethik und Religion lebte, ein modernes Gewand leihen», dass nämlich

«der Mensch frei ist, sich selbst zu seinen höchsten Möglichkeiten zu entscheiden, dass sein Durchbruch zur Eigentlichkeit in seine eigene Hand gelegt ist. Dass aber der Mensch nicht nur selbst entscheidet, sondern dass auch über ihn entscheiden wird, davon weiss die Existenzphilosophie zwar auch: jeder von uns bringt nach Heidegger ein ‘Erbe’ mit – was wir jedoch aus diesem Erbe machen, das ist dann doch wieder Sache des Einzelnen. Auch dass der Mensch ‘geschichtlich’ sei, bedeutet in der Existenzphilosophie nicht etwa, dass er durch geschichtliche Mächte im Innersten bestimmt und geprägt, sondern nur, dass er, der mit seinem Kern ausserhalb der Geschichte steht, jeweils in eine (ihm jedoch äusserlich bleibende) geschichtliche Situation hineingeworfen ist.» (14)

Die Existenzphilosophie «weckt unser Verantwortungsgefühl für uns selbst, […] aber eine Erkenntnis der menschlichen Gesamtwirklichkeit stellt sie nicht dar.» (14) Der Mensch ist aber ist mehr als ‘Existenz’. Er ist ‘Kulturwesen’.

«Man wird seinem Spezifischen nur gerecht, wenn man ihn als Erzeuger und als Erzeugnis seiner Kultur begreift. Für die Sphäre der objektiven Kultur aber ist die Existenzphilosophie – wie Bolnow in seinem Buch über die ‘Stimmungen’ überzeugend dargelegt hat – notwendig blind.» (14)

II.      Sozialanthropologie und Kulturanthropologie

Dass der Mensch nicht als solitäres Wesen verstanden werden kann, ist ein altes Wissen. Nach Aristoteles bedarf der Mensch der Gemeinschaft, sonst wäre er «entweder ein Tier oder ein Gott».(15)

Die Goethezeit sei von dem Gefühl erfüllt gewesen, dass das Individuum mit seiner Gemeinschaft verbunden ist, als solitäres Wesen verkümmere er. Fichte schreibt:

«Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch. Sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht der Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar.» (15)

Eine ‘verdünnte’ Variante davon sei Marx’ Satz, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein des Menschen bestimme. Gegen die ‘Exzesse’ des Marxismus habe man zu recht betont, dass es «eine Sondersphäre des Einzelnen gibt, dass er auch als Einzelner Rechte (die ‘Menschenrechte’) und dass er eine Kraft zur Selbstbestimmung besitzt.» (15)

Aber dennoch gelte, dass der «der vor- und aussergemeinschaftliche Mensch noch gar nicht im vollen Sinne Mensch ist.»(15) Der Mensch «kann also nicht […] erst sekundär […] sich zur Gemeinschaft zusammentun», sondern «von vorn herein ist sein Hineingestelltsein in sie [die Gemeinschaft] konstitutives Anthropinon.»(16)

Die «Trägerin» der kulturellen Traditionen, welche die Einzelnen formen und «gängeln», sei die Gemeinschaft, «sie ist es, die die Kultur bewahrt und weitergibt. Um daher Kulturwesen zu werden, müssen wir auch Gemeinschaftswesen werden.»(16) Es reicht aber nicht, «immer nur die Angewiesenheit des Menschen auf die Gemeinschaft … betonen». ‘Sozial’ sei «nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit ‘kulturell’.» Glieder einer Gemeinschaft zu sein, sei «nur die Vorbedingung und die Aussenseite dessen, dass wir Vertreter einer Kultur sind. […] Der zentrale Punkt wird erst durch die Kulturanthropologie getroffen.» (16)

III.     Tier und Mensch

Man wisse heute, dem Menschen fehle sowohl die «Eingepasstheit» in eine bestimmte Umwelt als auch die Instinktivität des Tieres. Er besitze vielmehr «Weltoffenheit», «die ihm die Dinge objektiv und allseitig vor Augen rückt».(17) Statt starrer Instinkte besitzt er «schöpferische Phantasie und Freiheit, vermöge deren er die Eigenschaften der Dinge erfindungsreich für sich nutzen und sein Verhalten selbst bestimmen und immer wieder anders bestimmen kann» [Landmann übernimmt damit Portmanns Bild, MN].

«Was nur von den Tieren her gesehen als ein Mangel des Menschen erscheinen könnte, das erweist sich so in Wirklichkeit gar nicht als ein Mangel, sondern der Mensch lebt eben von vorn herein aus einem ganz anderen ‘Bauplan’ heraus, der dem tierischen entgegengelagert ist. Das Tier könnte man sagen, wird von der Natur selbst bereits vollendet. […] Der Mensch dagegen ist eine von der Natur nur halbvollendet Schöpfung […]. Dafür macht ihm die Natur ein grösseres Geschenk, als sie es ihm auch mit der höchsten Vollendung hätte machen können: sie lieh ihm selbst einen Teil ihrer Schöpferkraft, so dass er sich nun selbst vollenden kann.»(17)

In welcher Form der Mensch sein Leben gestaltet, ist bei ihm nicht «gattungsmässig festgelegt und geregelt».

Selbst das «Elementarste und Notwendigste ist ihm selbst überlassen, muss er selbst jeweils erst […] ersinnen und entscheiden. Der Mensch […] findet an sich selbst eine Aufgabe vor, und das ist aber kein Mangel, sondern die höchste Auszeichnung, denn ‘wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch’: weil er an sich eine Aufgabe vorfindet, deshalb verfügt er zugleich über die Kraft, diese Aufgabe jeweils zu bewältigen, und durch diese Kraft ist er allen von vornherein in sich geschlossenen Wesen überlegen.» (17)

Doch das alles aber reiche noch nicht aus zu einem Gesamtbild des Menschen. «Der Mensch hat dem Tier etwas ganz anderes voraus als bloss Fähigkeiten. Seine Anlagen und Kräfte sind nur eine Hälfte, die noch durch eine andere ergänzt wird.» (17)

IV.    Der Mensch als Kultur- und Traditionswesen

Die Fähigkeit, für sein Gemeinschaftsleben eine Form zu finden, trage der Mensch in sich. Doch müsse er davon nicht dauernd Gebrauch machen. Einmal entwickelt, gewinnen diese Formen eine gewisse Festigkeit. Jeder einzelne Mensch übernehme nachgeburtlich solche Formen und brauche «sich ihrer bloss zu bedienen». (18)

«Das von Früheren Gewonnene wird zur Institution, auf die der Spätgeborene sich stützen darf. Auch in der Erkenntnissphäre muss ja nicht jeder wieder dieselben Erfahrungen neu machen, sondern jedes Volk verfügt bereits über einen angesammelten Schatz von Erfahrungen. Ganz analog in der Sphäre des Handelns. Um seine mangelnde Anpassung an die Welt auszugleichen, macht der Mensch Erfindungen: Geräte, Kleider, Wohnungen, und diese Erfindungen gehen aber nicht sogleich wieder unter, sondern sie werden zum dauerhaften Besitz. Überall bilden sich ferner perseverierende technische und sittliche Praktiken heraus, wie man etwas macht und wie man sich verhält. Wir fassen all dies unter dem Begriff der Kultur oder auch des objektiven Geistes zusammen. Wiewohl die kulturellen Gebilde vom Menschen geschaffen sind und auch als geschaffene weiterhin darauf angewiesen sind, dass sie wieder ins menschliche Leben hineinwirken und von ihm gleichsam durchpulst werden, haften sie dennoch nicht unmittelbar am Menschen selbst, sondern sie haben etwas wie eine eigenständige Seinsweise neben dem Menschen. Und auf eben dieser Eigenständigkeit beruht es nun auch, dass sie vom jeweiligen Leben ablösbar sind und von Generation zu Generation übertragen werden können. Erlebnisse und Begebenheiten vergehen, Kulturelles aber wird traditionalisiert und wird in Tradition bewahrt. Und es muss bewahrt werden, denn das zu Form und Festigkeit niedergeschlagene Schöpfertum der Vergangenheit ist für den Menschen ebenso kostbar und ebenso lebenswichtig wie das Aktualschöpferische der Gegenwart. Nicht nur seine spezifischen Fähigkeiten, sondern auch sein Kulturbesitz ist es, der beim Menschen an die Stelle der tierischen Welteingepasstheit und Instinktausstattung tritt. Mit all seinen hervorragenden Fähigkeiten würde der Mensch sogleich wieder zugrunde gehen, wenn er, um das Leben zu meistern, allein auf sie angewiesen wäre. Was der Einzelne hervorbringen kann, ist ja immer nur vergleichsweise wenig im Vergleich zu all dem, dessen er zum Bestehen bedarf. Er muss dies aber auch gar nicht alles selbst hervorbringen, denn jeder Mensch, auch schon der dem primitivsten Stamme Angehörige, wird nicht nur mit der menschlichen Begabung des Hervorbingens geboren, sondern er wird immer bereits in die getreulich festgehaltenen und den Folgegeschlechtern weitergegebenen Hervorbringungen früherer Geschlechter hineingeboren, die sich ihm hilfreich zur Verfügung stellen. Immer sind wir bereits Erben einer Vorwelt, die ihrerseits schon Kenntnisse erworben und lebenserleichternde Einrichtungen geschaffen und sie in einem langwährenden kumulativen Prozess angehäuft hat.  Die gesammelte Fülle dieses Reichtums der Generationen, wie der Einzelne ihn in seinem kurzen Leben niemals erarbeiten könnte, findet der Nachgeborene nun vor, er ist der Nutzniesser dieses Reichtums, er braucht bloss in die ihm schon seit alters vorbereiteten Ordnungen und Bahnungen hineinzuwachsen, in denen dann auch sein Leben verlaufen wird. Und nur weil er dies darf, nur weil er ausgetretene Pfade benützen darf, die ihn von sich auch lenken und ihn wie von selbst seinem Ziel zuführen, nur deshalb, und nicht aus seinen nur eigenen Kräften und Fähigkeiten heraus, vermag er sich einmal überhaupt einmal am Leben zu erhalten und sodann sein Leben auf eine immer höhere Stufe zu steigern.»(18f.)

Das Tier brauche dagegen keine ‘schöpferische Freiheit’ und keine ‘kulturellen Traditionen’,

«denn das gattungstypische Verhalten bricht in jedem Individuum von selbst auf Grund ererbter Instinktanlagen durch. Der Mensch dagegen kennt kein gattungstypisches Verhalten: die Gleise, in denen sein Leben sich jeweilen vollzieht, sind sein eigenes Werk. Eben deshalb aber ist der Einzelne, dessen Schaffenskräfte ja begrenzt sind, notwendig darauf angewiesen, dass andere ihm schon vorgearbeitet haben und dass er von dem von ihnen Geleisteten mit profitieren darf. Neben seinem mitgebrachten subjektiven Geist bedarf er, um sich zu behaupten, das ihm von seiner eigenen Geschichte dargereichte und von der Gemeinschaft, in der er steht, gehegte Geschenk des objektiven Geistes, den er bloss zu resubjektivieren und wieder zu verlebendigen braucht. Als Kulturwesen ist er notwendigerweise Traditionswesen.» (19)

So gesehen, sei der Mensch ‘Geschöpf’ der Kultur. Während er vorhin als ‘Schöpfer’ der Kultur betrachtet worden sei. Das ‘Schöpfertum’ aber ist «das Fundamentalere»:

«nur weil er eine Kultur zuerst hervorgetrieben hat, kann er ja dann seinerseits von ihr abhängen. Und betrachten wir den Menschen makroskopisch, betrachten wir die Menschheit, die Völker und die Zeiten, dann tritt dieser Fundamentalcharakter des Menschen auch gebührend in den Vordergrund, dann erkennen wir in ihm den, der Kulturform um Kulturform aus sich erzeugt hat. […] betrachten wir den Einzelmenschen innerhalb einer dieser Kulturformen, dann dreht sich das Verhältnis genau um, dann zeigt er sich uns nicht mehr so sehr als das die Kultur hervorbringende, sondern als das rezeptiv durch sie beeinflusste und geformte Wesen.» (19)

Als ‘Schöpfer’ der Kultur sei der Mensch produktiv. Dazu passe «seine Plastizität». Der Einzelmensch könne selbstverständlich «neues Kulturelles begründen». Dies könne er aber «sinnvoll nur dann, wenn er es an passender Stelle in das bisher Gewonnene einfügt. Er muss also zunächst einmal das Bisherige in sich aufnehmen.» (19) Ehe der Einzelmensch «mit Eigenem hervortreten kann, ist immer schon die ältere Kultur dagewesen und hat ihm ihren Willen aufgedrückt.»(19) Das «Eigenschöpferische des Einzelnen» bleibe aber «dem Umfang nach doch immer gering[,] verglichen mit all dem, wozu seine Umkultur ihn ihrerseits geschaffen hat.» (19f.) Das «grösste Genie ist in weit höherem Masse von ihr bewirkt als ihr Bewirker.»(20) «Angesichts der immensen Vorgeprägtheit, die wir der Kultur verdanken, kommt unsere eigene Fähigkeit, selbst etwas aus uns hervorzubringen, kaum in Anschlag.»(20) Diese «Vorgeprägtheit, die wir der Kultur verdanken», durchwalte «uns bis ins Innerste hinein».(20)

«Unser gesamtes Denken und Handeln, und selbst das Allerintimste, selbst unser Beten und unser Lieben, alles gewinnt […] erst durch sie seine Gestalt. Die Menschen sind wie die Bärenjungen des von Plinius überlieferten Volksglaubens, die amorph zur Welt kommen und denen die Bärenmutter den rechten Umriss erst mit der Zunge anlecken muss.»(20)[1]

V.     Subjektiver und objektiver Geist

Daraus folgt: Die ‘Individualanthropologie’ begreife den Menschen «allein von seinen somatisch-psychischen Eigenschaften aus».(20) Diese Auffassung geht zu sehr nur von der «der Naturausstattung des Menschen» aus.(20) Zur ‘Gesamtwirklichkeit’ des Menschen gehöre aber

«nicht nur Leib und Seele […], sondern […] ebensosehr, dass wir Methexis [Teilhabe] gewinnen am überindividuellen, über uns als Einzelne hinausgehenden und allen gemeinsamen Reich des objektiven Geistes.»(20)

Er ist auserhalb von uns und in uns. «Wie die Kultur nichts wäre ohne den Menschen, so wäre auch der Mensch nichts ohne die Kultur.»(20) Der Mensch «besitzt in der Kultur gleichsam noch ein zusätzliches integrierendes Organ seiner selbst, mit dessen Hilfe allein er leben kann; trennt man dieses Organ von ihm ab, so bliebe er als unvollständiger zurück.»(20) Wir teilen die Kultur «mit allen Angehörigen unserer Gemeinschaft und unseres Zeitalters.»(20) «Wir sind nur partiell Individuen, mit einem anderen Teil unseres Wesens atmen wir aus einem allen Gemeinsamen heraus.»(20) Mit

«unseren körperlichen und seelischen Eigenschaften sind wir, wiewohl jeder sie nur für sich alleine besitzt, dennoch zugleich Exemplare der Gattung Mensch, und niemand wird uns deshalb unsere Individualität abstreiten. Die Wiederkehr des Gattungsmässigen am Individuum steht seinem Individuumsein nicht entgegen, im Gegenteil, es ist es selbst eben nur als Verwirklichung seiner Gattung.»(20f.)

Als Geschöpf der Kultur gebe der Mensch nun aber keineswegs seine Individualität preis. Der Grund-Fehler der älteren Anthropologie sei,

«dass sie übersehen hat, wie sehr der Einzelne jeweilen bloss Repräsentant seiner Umkultur ist, […], deshalb hat sie freilich das, was der Einzelne aus sich selbst nimmt, bei weitem überschätzt.»(21)

Ein Kunstwerk zum Beispiel wurde lange Zeit «lediglich als Ausdruck der persönlichen Schaffenskraft des Künstlers aufgefasst. Das kunstgeschichtliche Verstehen habe sich nun «unendlich vertieft», seitdem wir berücksichtigen, dass der Künstler in Wirklichkeit in sein Werk «nicht nur sein Persönliches» legt; «schon in der Wahl seines Themas ist er abhängig von den künstlerischen Gepflogenheiten seiner Zeit».(21) Der Künstler ist

«ausführendes Organ ihres [der Zeit] spezifischen ‘Kunstwollens’. Eben dadurch aber ist ihm die Arbeit zugleich ungeheuer erleichtert im Vergleich zu den modernen Künstlern, die aus allen Traditionen herausgerissen sind, ja er kann vielleicht sogar paradoxerweise auch sein Persönliches in Abhebung gegen das Allgemeine noch besser zur Geltung bringen als jene, bei denen alles nur persönlich sein soll.»(21)

So sind auch die Werke der Philosophen

«nur Verdichtungspunkte breiterer, umfassenderer Strömungen, nur Überkreuzungspunkte älterer und weitergehender Problemlinien, und werden daher nur von diesen her, nur aus diesen heraus richtige verstanden. Wie die Kunstgeschichte eine höhere Stufe erreichte, seit sie aus der Künstlergeschichte zur Stilgeschichte wurde, so auch die Philosophiegeschichte als Geschichte der philosophischen Traditionen und Problemzusammenhänge, innerhalb derer die individuellen Philosophen nur noch wie Beispiele oder Stützpunkte sind. Wer dagegen auf den Thron der Philosophie Seine Durchlaucht des Text erhebt und vor ihm die Proskynese [Anbetung, Unterwerfung] der Interpretation übt, der beraubt sich nicht nur der wichtigsten Kategorien für die Interpretation selber, sondern er macht zugleich die Philosophie aus einem Menschheitsanliegen zu einer uninteressanten Privatangelegenheit der spekulativen Hochbegabung. Statt mit dem, was alle bewegt, befasst er sich nur damit, wie ein Einzelner es um- und weitergebildet hat.»(21f.)

Texte stehen also «ebenso in Denktraditionen wie Individuen in Kulturtraditionen»(22). Sie sind wie die Individuen

«nicht aus sich allein, sondern platonisch nur von ihrem ‘Allgemeinen’ her verständlich. […] Und genau dasselbe, was wir hier vom Künstler und vom Philosophen zu sagen hatten, gilt nun […] auch vom Menschen überhaupt in seinem gesamten geistigen und tätigen Verhalten.»(22)

Der Mensch ist

«in seinem gesamten Bau auf das umhüllende Medium der Kultur hingeordnet, er ist in sie gewissermassen ähnlich eingebettet wie der Fisch ins Wasser und der Vogel in die Atmosphäre. Nur dank der Gehaltenheit durch sie steht er aufrecht, nur weil sie ihn trägt, wird er lebensfähig. Und deshalb kann man ihn eben doch nicht aus sich heraus allein begreifen, sondern nur in seiner Bezogenheit auf dieses über ihn hinausliegende Medium. Wie man beim Fisch bei einer anatomischen Sektion kein Wasser finden wird, und ihn dennoch nur verstehen kann als Wassertier, und ebenso den Vogel als Luftwesen, so auch den Menschen nur als Kulturwesen.»(22)

VI.    Das Geschaffene als Hemmnis und Steigerung des Schaffens

Dass wir «nur Repräsentanten unserer Umkultur» sind, steht nun im Widerspruch zu dem, dass «der Mensch als einziges Wesen nicht bloss gattungsmässig bereitliegende Seins- und Verhaltensschablonen befolgt, sondern solche Schablonen fehlen ihm ja gerade»(22), und der Mensch muss sich «selbst erst vollenden».(22) Deshalb stellt beim Menschen «der Einzelne gegenüber der Gattung notwendig etwas Eigenes und Neues dar.»(22)

«Aber dieses ihm durch seinen Bauplan vorgezeichnete Postulat der Besonderheit und des freien Schöpfertums wird nun sogleich wieder durchkreuzt dadurch, dass sich in die Lücke der nicht vorhandenen Erbschablonen die Kulturschablonen schieben, und der zunächst nicht zum blossen Nachvollzug vorhandener Muster bestimmte Mensch wird so sekundär doch auch zu einem Nachvollzieher: zum Nachvollzieher der Muster, die seine eigene Kultur vor ihm aufrichtet.»(22)

Dabei sind diese Muster, diese «Kulturmuster»,

«derer wir uns bedienen, alle ihrerseits früher einmal originäre Leistungen des Menschen selbst gewesen. Seine Kraft zur freien Gestaltung hat sich an ihnen bewährt, ist in ihnen gleichsam investiert. Die gesellschaftliche Ordnung, die wir einhalten, die Sitte, die wir befolgen, der Gott, an den wir glauben, der Stil, in dem wir unsere Geräte anfertigen, die Sprache, die wir sprechen, all dies ist geronnenes Schöpfertum unserer Ahnen. Worauf das Leben des Spätlings basiert, das wurde von ihnen seinerzeit hervorgebracht und hat sich dann institutionalisiert.»(23)

Aber «das von Früheren Vorgeschaffene [schränkt] die Schaffenskraft der Nachfolgenden ein.»(23) Das «menschliche Prinzip der individuellen Selbstvollendung stösst damit zusammen»(23), dass jedes Individuum in eine bereits vorhandene Kulturtradition hineinwächst und die ihn empfangende Kultur «ihm die Vollendung vorweg- und abnimmt.»(23)

«Damit wird er zwar mit einem Schlag (auch als Schaffender, denn jedes Geschaffene ermöglicht wieder neues Schaffbares) auf eine höhere Stufe gehoben, als er sie alleine je erklimmen könnte, ja er ist ganz darauf angewiesen, sich nach ihr zu richten und von ihr modeln zu lassen. Und doch ändert das nichts daran, dass ihm die Kultur eben damit einen Teil seines ursprünglichen Auftrags aus der Hand schlägt.» (23)

Für die Erfindungsgabe, den Scharfsinn und den Geist des Einzelnen «bleibt jedoch ein Spielraum übrig. Die kulturellen Vorbahnungen regeln ja das Leben nicht bis in jede Einzelheit hinein», (23) sondern lassen genügend Spielraum, in dem «jeder Herr im eigenen Haus ist.»(23) Nicht jede künftige Situation kann von den kulturellen Vorbahnungen vorbedacht werden. Die kulturellen Vorbahnungen haben Lücken und sind nicht immer eindeutig. Daher müssen die kulturellen Vorbahnungen für künftige Situationen «von Fall zu Fall neu interpretiert werden»(23) und so «kommt doch immer wieder der Augenblick, in dem der Mensch sich seinen Weg aus eigenem Ermessen und aus eigener Kraft selbst erst bahnen muss und darf.» (23) Das Wichtigste aber ist: Auch wenn

«die Kulturtradition beim Menschen […] an die Stelle der biologischen Instinktvererbung tritt, so unterscheidet sie sich doch von der Vererbung durch ihre sehr viel höhere Plastizität. Sie ist nicht bloss gewissermassen eine geistige Vererbung. Denn die Vererbung ist starr, die Tradition dagegen kann, so wie sie vom Menschen geschaffen wurde, von ihm auch wieder umgeschaffen werden. Die contrainte [Belastung, Druck] […], die sie auf uns ausübt, ist nicht absolut, es liegt immer grundsätzlich in unserer Macht, gegen sie zu rebellieren und vom ihr abzuweichen.»(23)

Humbold hat das für die Sprache schön beschrieben:

«Die vorhandene Sprache arbeitet uns zwar vor, setzt aber eben dadurch der Freiheit ‘Grenzen innerhakb eines gewissen ihr allein gewährten Spielraums’. Sie ist ‘eine gewissermassen tote Masse, diese Masse trägt aber den lebendigen Keim nie endender Bestimmtheit in sich’. ‘Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere [denkt], und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinadergehen. In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modifiziert, offenbart sich […] eine Gewalt des Menschen über sich.’(23f.)

Man könnte meinen, dass zu früheren Zeiten weniger Kulturgut angehäuft war und daher der Einzelne sich ungehemmter habe entfalten können. Das wachsende Kulturerbe habe dagegen die Produktivität des Einzelnen immer mehr eingeengt. (24)

«Wie Alexander seinem Vater Philipp neidvoll gram war, weil er fürchtete, er werde ihm nichts mehr zum Erobern übrig lassen, so ist überhaupt leicht […] der sich an einer zu reich gedeckten Tafel beengt und steril fühlt, dem Früheren gram, dass er ihm dort schon alles vorweggenommen habe, und gerne möchte er seinen Standort in der Zeit mit der nach seinem Glauben noch schöpfungsbegnadeteren Frühe vertauschen.» (24)

Doch der Nachfolger ist gegenüber dem Vorgänger in Wirklichkeit nicht eingeschränkter, sondern «im Gegenteil der Schaffensfreiere».(24) Je weiter wir zurückblicken in der Geschichte, desto strenger wird die bewährte Tradition eingehalten, da jede Abweichung Unheil heraufbeschwören könnte.

«Erst mit steigender Kulturhöhe dagegen baut der Mensch die Angst vor dem Neuen allmählich ab […], gewinnt zu seiner eigenen Kraft zum Neuen den Mut und lernt diese Kraft als seine höchste Gnade zu schätzen. Die Kultur gibt uns zurück, was sie uns genommen hat. Mit ihrer eigenen Steigerung steigert sie auch den Menschen und gibt ihm seine eigene höchste Gabe erst frei. Erst jetzt darf Kulturelles, das verändertem Wissen und Fühlen nicht mehr entspricht, intentionell umgebogen werden, erst jetzt können grosse Einzelne hervortreten, die, indem sie das Bisherige für sich nicht mehr anerkennen und es durch ein Selbstgeschaffenes ersetzen, damit  für alle eine Richtungsänderung des Verhaltens einleiten, und in denen daher die Menschheit gleichsam die Kristallisationspunkte ihrer eigenen Schöpferkraft verehrt.»(24f.)

Auf der philosophischen Ebene haben

«die Griechen, haben Renaissance und Goethezeit am Vorbild solcher nur sich selbst pflichtiger, nur aus sich selbst schöpfender Persönlichkeit ihr Bild des Menschen überhaupt orientiert. Was jedoch die Philosophie von ihren Anfängen an und allzu ausschliesslich im Menschen gesehen hat, das ist als Faktizität eine menschheitsgeschichtlich erst sehr späte Errungenschaft. Und doch drängt im autonom gestaltenden Einzelnen nur eine Kraft zu Selbständigkeit und Bewusstheit, die als anthropologisches Urerbteil schon immer in uns lag, der alle Kultur sich verdankt und die nur durch die dann zunächst überstarke Gegenpressung der Kultur selbst überdeckt und zurückgedrängt war.»(25)

VII.   Der Mensch als Geschichtswesen

Wenn der Mensch «sich erst selbst schaffend vollenden» (25) muss, «dann ist das nicht in dem Sinn gemeint, «als ob etwas wie ein apriorisches Bild dieser Vollendung schon in uns läge und als ob unsere Aufgabe nur darin bestünde, dieses Bild zu finden und zu verwirklichen.»(25) So wäre das aber kein echtes Schöpfertum.

«Immer wieder hat man versucht, Kulturformen zu finden, die sich mit Notwendigkeit aus dem Wesen des Mensch selbst ergäben. Man sprach etwa von einem ‘natürlichen Staat’, einer ‘natürlichen Religion’ usf. In Wirklichkeit ist dieser Gedanke einer ‘natürlichen Kultur’ ein Widerspruch in sich. In defr Natur des Menschen liegt nur das Dass, nicht aber das Wie der Kultur vorgezeichnet. ’Kunst ist des Menschen Natur’ (Burke). Dass wir uns selbst vollenden sollen, das heisst nicht, dass wir eine schon in uns angelegte Vollendung bloss entfalten sollen, sondern es heisst, dass wir sie auch inhaltlich selbst erdenken und bestimmen sollen. In uns angelegt ist nur das notwendige Hintendieren auf eine Vollendung als solche, aber wie sie beschaffen sein soll, darin haben wir freie Hand.»(25)

Der Mensch «schafft nicht die Kultur, sondern er schafft jeweils eine Kultur, er schafft Kulturen.»(25) «In jeder anderen Kultur ist er auch wieder ein anderer Mensch.»(25) Ein «zeitlos gleichbleibendes Wesen des Menschen ist ein Wahn, den das geschichtliche Bewusstsein zerstören muss. Es ist ein gemeinsamer Wahn des Naturalismus»(26), der das Wesen des Menschen «von unten, vom biopsychologischen Substrat» her deuten will. So wie der «Supranaturalismus» es «von oben, von der gottgeschenkten Seele her deuten will.»(27) Der Einfluss der Kultur erstrecke sich aber «bis ins Innerste des eben selbst wandelbaren Menschen hinein. Erst durch sie wird er, was er jeweils ist. Deshalb ist der Mensch als Kulturwesen zugleich das geschichtliches Wesen: die Zeitstelle, an der er steht, […] konstituiert ihn. […] er hat nicht nur Geschichte, sondern er ist Geschichte. Geschichtliche Variabilität ist sein Schicksal.»(27)

«Bricht aber damit nicht geradezu die Einheit des Menschseins auseinander? Sie tut es nicht, denn worin wir variieren, das ist nur das Inhaltliche, wozu wir uns jeweils schaffen. Darunter aber verbirgt sich doch etwas wie ein perennierend-konstantes Wesen des Menschen, wenn auch dieses Wesen freilich mehr nur in einem formalen Prinzip besteht: es besteht eben in der Aufgabe und in der Fähigkeit des Sich-schaffens selbst. […] Der Mensch ist das Offene, das sich selbst schliesst, das Problem, das sich selbst löst. Aber er hat nicht nur eine Lösung, sondern tausende, […] [er nimmt] bald diese, bald jene Lösungsgestalt an und tritt uns immer nur in der Gestalt einer bereits geschichtlich besonderen Lösung entgegen. Als nacktes Problem vermag er ja nicht zu existieren; das Problem trägt in sich die Notwendigkeit seiner Überwindung. […] wenn wir seine gleicbleibende Struktur freilegen wollen, dann müssen wir durch alle Lösungen wieder durchstossen zum Urgestein der über sich selbst hinausdrängenden Problematizität.»(26)

Schon in der Goethezeit sah man, dass

«es keine naturgewollte oder vernunftgefolgerte einzige Kulturnorm gibt, sondern dass alles Kulturelle notwendig pluralistisch auftreten darf und dass alle die vielen geschichtlich gewachsenen Kulturformen grundsätzlich gleichberechtigt sind […] Aber dieser mehr nur geschichtsphilosophischen Einsicht fehlte damals noch das anthropologische Fundament; man zog aus ihr noch nicht die anthropologische Konsequenz […]: wenn der Mensch nicht für eine einzige Kulturform bestimmt ist, wenn ihm ihrer viele gleichermassen gemäss sind, dann ist offenbar der Mensch selbst nichts bis ins Letzte Festgelegtes, dann ist er nur eine unvollendete offene Frage, auf die er sich selbst in den Kulturen ebensoviele Antworten erteilt.»(27)

Damit kommt Landmann zur Absage an eine wissenschaftlich beschreibbare Menschennatur: Die Vielheit der Kulturen sei

«die äussere Folge seiner Uneindeutigkeit. Damit kommen wir auf dasselbe Menschenbild heraus, zu dem auch die moderne Anthropologie (die Existenzphilosophie) gelangt ist. […] dass bei ihm der Existenz keine Essenz vorhergehe (Sartre), darin kulminiert ja das moderne Wissen um den Menschen. […] Dasselbe Grundwissen, das damals [in der Goethezeit] Geschichtsphilosophie wurde, wird heute Anthropologie.»(27)

Kulturphilosophie

I.       Umfang des Kulturbegriffs

«Unter Kultur verstehen wir den Innbegriff alles dessen, was die Menschheit nicht schon von Natur als Anlage mitbekommen, sondern durch eigene Schöpferkraft hervorgebracht hat, und zwar nicht nur die objektivierten Werke der artes et inventa – wie schon Bacon zusammenfasste –, sondern auch alle sozialen Einrichtungen und Sitten, die gesamten Verhaltens- und Verlaufsformen des Lebens von den technischen Praktiken bis zur in Sprache und Religion eingelagerten weltanschaulichen Vorbahnungen des Denkens. Dass all diese in sich so heterogene Domänen sich dennoch sinnvoll unter einen gemeinsamen Begriff fassen lassen, setzt nicht nur eine hohe Abstraktion, sondern auch eine bejahende Hinwendung zu diesem rein weltlichen und von uns selbst erschaffenen regnum hominis voraus.»(189f.)

[1]    Dass die Bärin die Jungen, die anfangs ungestaltetes Fleisch, etwas größer als eine Maus sind, durch Lecken gestalten, berichtet Plinius in: naturalis historia, VIII, liv, S. 126: «hi sunt candida informisque caro, paulo muribus maior, sine oculis, sine pilo; ungues tantum prominent. hanc lambendo paulatim figurant.»

 

 

 

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