Mit «Sorgfalt» töten?

November 1994 Moritz Nestor

Die niederländische Regierung betont, «Euthanasie» sei trotz des neuen Gesetzes weiterhin strafbar. Es gebe lediglich «Notstände», in denen ein Arzt nur noch «helfen» könne, indem er tötet. Nur in solchen Fällen werde von Strafe abgesehen. Damit kein Missbrauch mit dieser «Erlaubnis» zum Töten betrieben werden könne, wurde ein Meldeverfahren eingeführt, welches vor Missbrauch schützen soll. Wieviel dies wert ist, zeigt ein Fall, der sich wirklich ereignet hat.

Das niederländische Kabinett war nach der ersten Abstimmung über das neue «Euthanasie»gesetz in der Zweiten Kammer des Parlaments im Februar 1993 verärgert über ein Interview, das Mgr. Sgreccia, Sekretär des Päpstlichen Rates für die Familie, am 22. März 1993 Radio Vatikan gegeben hatte:

 

«Für Hitler waren die Juden oder die Geisteskranken nicht zweckdienlich, und für diesen Typ von Gesellschaft, die im Vergleich zu der Zeit Hitlers hedonistisch [dem Lustprinzip gehorchend, d. Verf.] ist, gilt die gleiche Überlegung.»

 

Mgr. Sgreccia wurde ins niederländische Aussenministerium zitiert, und man erklärte ihm, er habe die Gesetzesvorlage «falsch interpretiert»! Allerdings gibt selbst die staatliche Untersuchungskommission mehr als dreitausend Patiententötungen mit und ohne eine Willensäusserung des Patienten pro Jahr öffentlich zu!

Die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) in Deutschland meldete im Februar 1993 zu Recht: Es «muss befürchtet werden, dass früher oder später – in Holland oder anderswo – der zweite Schritt folgen wird, die Freigabe der Tötung des lästigen, ‹unwerten› Lebens unheilbarer Geisteskranker. Die Deutschen hatten das ja schon. Sie schämen sich noch immer dieses tiefdunklen Kapitels ihrer Geschichte.» – Die Warnung der KNA ist leider bereits grausame Wirklichkeit geworden.

 

Damals . . .

Hitler wusste offensichtlich, warum er die «Euthanasie» nie öffentlich thematisierte. Nie wäre im «Dritten Reich» die Tötung eines Psychiatriepatienten in einer Zeitschrift für Volksgesundheit oder einem öffentlichen Bericht beschrieben worden. Als trotzdem Informationen durchsickerten und Unruhe und Proteste aus der Bevölkerung immer mehr zunahmen, wurden den Beunruhigten in Filmen wie «Ich klage an!» sogenannte Gnadentötungen vorgeführt, bei denen der Tod als etwas Schönes dargestellt wurde. Daneben betrieb man das Töten weiter, nur noch versteckter.

Viele der 4261 holländischen Ärzte, die 1941 einen Protestbrief an den deutschen Reichskommissar im besetzten Holland unterzeichneten, worin sie sich offen zum Leben als höchstem Wert bekannten, kamen ins Konzentrationslager. Die nationalsozialistischen «Euthanasie»pläne konnten in Holland daher nie durchgeführt werden. Auch unterzeichnete damals kein holländischer Arzt eines jener Arbeitsfähigkeitszeugnisse, die den Transport in ein Lager bedeuteten.

 

. . . und heute

Niederländische «Euthanasie»befürworter müssen heutzutage nicht vorsichtig sein. Im «Maandblad Geestelijke Volksgesondheitd» Nr. 7/8 aus dem Jahre 1993 veröffentlichte der niederländische Psychiater Chabot den Fall der Tötung einer psychiatrischen Patientin. Der Artikel behandelt die Tötung unter dem schönfärberischen Begriff «Euthanasie» (eu thanatos = schöner Tod), und dies knapp ein halbes Jahrhundert nach den nationalsozialistischen Morden an Anstaltspatienten! Chabot ist ein hochaktiver Vertreter der niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie. Es handelte sich um eine magersüchtige junge Frau, die schon seit ihrem achten Geburtstag Nahrung verweigert und in der Folge von 30 auf 19 kg abgenommen hatte. Mit neun Jahren war von ihrem Kinderarzt die Diagnose «Anorexia nervosa» (Magersucht) gestellt worden, und das Mädchen wurde in den folgenden Jahren immer wieder zur Sondenernährung in eine Klinik eingewiesen. Als sie etwa achtzehn Jahre alt war, liessen sich die Eltern scheiden, und ihr Bruder geriet in eine Depression. Ab etwa ihrem zwanzigsten Lebensjahr hatte sie erste Todeswünsche, denen sich der Bruder etwas später anschloss. Sie besprachen während der nächsten vier Jahre zusammen immer wieder die Frage, wie sie sich gemeinsam umbringen könnten. 1990 erstickte sich der Bruder schliesslich, und die Schwester wollte ihm ins Grab folgen. Im Oktober 1991 sah der behandelnde Arzt «keine weitere Behandlungsmöglichkeit mehr». Er fürchtete sich «vor einem Suizid nach der Art des Bruders oder erneuter Magersucht, bei der sie Sondenernährung und Einweisung in die Klinik verweigern würde». Weder der daraufhin vom behandelnden Arzt zugezogene Kollege noch der Klinikpastor sahen einen Ausweg, und so «half» er der Frau, sich umzubringen.

Die «Euthanasie»befürworter aus der Königlich niederländischen medizinischen Gesellschaft stehen auf dem Standpunkt, es sei gleichgültig, welche Motive einen Arzt bewegen. Wenn die Resultate zweier Handlungen gleich seien, dann könne man diese nicht mehr unterscheiden. Ob die vorgestellte Patientin also daran starb, dass ihr der Arzt die tödliche Spritze gab, oder ob sie starb, weil der Arzt ihr ein Medikament reichte, welches sie dann selbständig einnahm, ist also nach niederländischem Verständnis nicht entscheidend. Chabots Fallbeschreibung spricht denn auch nur von «Euthanasie» und sagt nicht, wie die Patientin zu Tode kam. Ein Magersuchtspezialist, ein Internist und ein Ethiker hatten dem Gericht gegenüber als Sachverständige ausgesagt, dass es vom wissenschaftlichen Standpunkt aus «keine echten Alternativen mehr gegeben habe und dass Doktor A allen Sorgfaltspflichten Folge geleistet habe». Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass der Arzt «nach den Sorgfaltsgeboten gehandelt habe und Berufung auf Notstand gerechtfertigt sei». Sie verzichtete auf Berufung, und das Verfahren wurde eingestellt, obwohl Tötung oder Beihilfe zur Tötung offensichtlich vorlagen.

 

Berufsethik in Gefahr

Man steht erschüttert vor diesem Zeugnis einer «Kultur des Todes». Nach dem regierungsamtlichen Bericht aus dem Jahre 1990/91 erfolgen in den Niederlanden jedes Jahr rund vierhundert «Beihilfen zum Suizid»! An jedem dieser Getöteten ist ein schreiendes Unrecht begangen worden. Zynischerweise wird im Bericht jedoch nicht etwa von Tötung, sondern von «Hilfe» gesprochen. Den Ärzten werden – seit Jahren – Patiententötungen als «normales» Mittel für «aussichtslose» Fälle vorgeführt. Kann man ermessen, welch gewaltige Folgen diese Praxis auf die Behandlungsethik ganzer Generationen von Ärzten, Psychiatern und Psychologen haben wird?

Ein Arzt, der so weit geht, einen Patienten zu töten (ob dabei der Arzt oder der Patient die entscheidende Handlung vornimmt, ist sekundär), weil er nicht mehr weiterweiss, wird diese hoffnungslose Haltung – bewusst oder unbewusst – auch gegenüber schwierigen gegenüber schwierigen therapeutischen Problemen zeigen. Dadurch wird er aber gleichsam zum Multiplikator der Hoffnungslosigkeit. Man muss sich fragen, ob ein solcher Arzt überhaupt noch in der Lage ist, wirklich Helfer zu sein, oder nicht eigentlich seinen Beruf quittieren müsste.

Denn ihm fehlt das Wichtigste: der lange Atem, die nie versiegende starke Hoffnung, vielleicht doch noch helfen zu können, vielleicht doch noch einen Weg zu finden. Woran soll sich beispielsweise ein Psychiatriepatient aufrichten können, wenn nicht an der unerschütterlichen Zuversicht des Helfenden, dass eine Wendung zum Besseren immer möglich ist, auch wenn sie bis anhin noch nicht in Sicht sein mag? Die Not vieler Patienten besteht gerade darin, dass sie keine Hoffnung mehr haben, dass ihnen das Leben aus der Hand gleitet. Ihnen können nur Persönlichkeiten weiterhelfen, die solch breite emotionale Schultern haben, dass sie den Patienten so lange stützen können, bis dieser wieder «Land» sieht, seinen Mut wiedergefunden hat und erste Schritte wagt, wieder selbst laufen zu lernen.

Einem Elektriker, der nicht weiss, was Strom ist, würde man – zu Recht – wegen Unfähigkeit die Lizenz entziehen. Und wie ist das bei einem Psychiater, der einen Patienten tötet, weil er nicht mehr weiterweiss, oder bei einem Arzt, der Magersucht als Tötungsgrund hinnimmt?

 

 

Aus dem Wörterbuch der «Euthanasie»liberalisierer

Die folgenden «Sprachregelung» verwendet die KNMG, die politisch tonangebende niederländische Ärzteorganisation, und das niederländische Justizministerium:

 

 

(Zeit-Fragen Nr. 12, Nov./Dez. 1994, Seite 15)

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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