Der berühmte Schweizer Zoologe und Anthropologe Adolf Portmann (1897 – 1982) schrieb 1971 das Essay «Naturschutz wird Menschenschutz». Eine wohltuend ausgewogene und tiefgründige Stellungnahme zum Naturschutz. Gerade in der heutigen öffentlichen Debatte um den Klimawandel und den Artenschutz wäre sie eine wissenschaftliche Stimme, die etwas mehr Besonnenheit und Ruhe in den von Ideologen mit Medienmacht aufgeheizten Macht- und Meinungskampf tragen könnte.
Denn am meisten fällt doch bei dem herrschenden Klima- und Naturschutzreden in den Massenmedien eine sich immer mehr gegen den Menschen richtende Tendenz auf: Die Artenvielfalt in der Natur wird reklamiert, aber nur für Bär, Luchs, Wolf & Co. Als wäre die Art Mensch nicht Teil der Natur. Der Mensch, der «grösste Reichtum des Erdballs», wo wird er geschützt? Der Un-Geist macht sich immer breiter, dass der Mensch als angeblicher Feind der Natur («Krebsgeschwür» der Erde, so ein Tiefenökologe) bekämpft werden müsse. Wir seien zu viele, daher leide die Erde und «schlage zurück», in Form von Unwettern und Naturkatastrophen. Für die Tiere sei «jeden Tag Treblinka» schrieb ein Zyniker. Weg mit dem «Anthropozentrismus» predigt uns Peter Singer! Radikale Tiefenökologen[1] und grüne Philosophen fordern ein «Zurücksterben» (so der US-amerikanische Tiefenökologe Aiken) der Menschheit, und sie haben seit den 80er-Jahren totalitäre Lösungen zum Schutz der «Demokratie in der Natur» entwickelt, was immer sie auch darunter verstehen. Es lohnt sich wieder einmal Jean-Christophe Rufins Buch «100 Stunden» aus dem Regal zu nehmen. In dessen wissenschaftlichen Anhang beschreibt er die weltweit agierende radikale bis militante Ökoszene.
Wo aber bleibt ein Naturschutz der Hand in Hand geht mit dem Menschenschutz? Hand in Hand mit dem Schutz vor Krieg, atomarer Bedrohung und Verseuchung, vor millionenfachem Hunger-Tod und vor krassester wirtschaftlicher Ausbeutung durch den neoliberalen Totalitarismus, wie wir ihn nie zuvor erlebt hatten? Hand in Hand mit Schutz davor, dass man dem Menschen seine schützenden Gemeinschaften nimmt, was um jene Zeit so radikal wie nie einsetzte, als 1981 Margaret Thatcher verkündete: «Who is society? There is no such thing!» – «Wer ist die Gesellschaft? So etwas gibt es nicht!»[2] Der Mensch, ist hier gemeint, dessen Natur Kultur ist (Portmann) und der ohne Gemeinschaft und Gesellschaft gar nicht überleben kann, wird damit seiner Natur beraubt und zum Robinson denaturiert.
Manche sagen, die Welt sei durch die Digitalisierung zum Dorf geworden. Mag ja sogar im gewissen Sinn so sein. Doch dann stellt sich doch die Frage noch schärfer: Was machen wir mit dem Menschen, der nun nicht mehr «weit hinten in der Türkei» lebt? Vor den Hütten unseres Dorfes spielt sich ein schamloser Angriffskrieg der westlichen Kapital- und Machtallianzen nach dem anderen ab, wird eine Kultur nach der anderen ausradiert. Wir wissen um das millionenfache weltweite Hungern und Hungersterben, wir kennen die politisch gewollten Drogenepidemien, wir wissen um das Totenhaus Afrika, wir kennen die Völkermorde und, und, und – und in unserem «Viertel» des «globalen Dorfs» geht das Leben weiter, als wäre kaum etwas geschehen. Die Schreckensmeldung von heute darüber, dass das angloamerikanische Imperium aus allen Atomschutzverträgen austritt und eine neue angloamerikanische Atomallianz schmiedet: Schlimmste atomare Hochtechnologie – die allein durch ihre Existenz das Leben aller Menschen, aller Tiere, überhaupt allen Lebens auf der Erde täglich noch mehr bedroht als je zuvor – wird von den USA noch gezielter und noch weiter verbreitet. Das wird heute kaum als Schreckensmeldung wahrgenommen – und ist morgen vergessen, wenn der bessere Schutz der Aquarienfische in allen Blättern und Sendern gefordert wird. Keine der mit Kapital- und Medienmacht dominierenden Naturschutzgruppen und -parteien nimmt den Schutz des Menschen vor Krieg und Ausbeutung in ihr Programm auf. Für wen von den Bewerbern um die Macht, welche unsere Stimmen herauslocken wollen, ist Naturschutz auch Menschenschutz? Wer sonst soll denn überhaupt schützen!?
Was also sagte Adolf Portmann 1971?
«Unser Problem ist im Abendland entstanden – die heutige Verwüstung der ursprünglichen Welt und deren Umbau in eine Welt des Menschen ist von der Technik des Abendlandes ausgegangen.» Der Aufschwung und die globale Verbreitung dieser historisch zuvor nie gekannten neuen Technik ist das Werk des christlichen Zeitalters. «Niemand kann die tragische Situation dieser heutigen Zeit bedenken und ihr begegnen, ohne sich mit dieser fundamentalen Tatsache auseinanderzusetzen.» Bedenke man aber das ungeheure Aussmass der globalen Verwüstungen durch die moderne Technik, dann sei man «nicht ohne weiteres bereit, den Befreiungskampf des abendländischen Geistes von dogmatischen Fesseln der Kirche einseitig nur im Bild des Aufstiegs von Nacht zum Licht darzustellen […]. Niemand wird aus der Sicht unserer Zeit und trotz der neuen Bedrohungen durch die Technik den Kampf der Kirche nun rückblickend gutheissen. […] Doch das Wissen darum, dass es einer grossen geistigen Macht möglich war, den Kampf gegen die wissenschaftliche Neugier während Jahrhunderten in der Lebenspraxis wirksam zu führen, lenkt den Blick der heute ratlosen, bedrohten Menschen auf ein zentrales Problem unserer Zeit: Wo ist heute die Macht, wo sind heute die Mächte, die eine weithin erkannte Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bedrohung durch die Technik tatkräftig führen könnte? […] Bezeichnend für die Verwirrung der Gemüter beim Forschen nach den Ursachen des Heraufkommens der Technik ist der Versuch von seiten amerikanischer Soziologen, von Theologen sekundiert, diejudeo-christliche Weltsicht dafür verantwortlich zu erklären. Schuld am Hochkommen der Technik ist nach dieser Ansicht die von der altbiblischen und christlichen Lehre verbreitete Auffassung des Menschen als höchstes Wesen der ganzen irdischen Schöpfung, das Wesen, das zur Herrschaft berufen und für sie geschaffen sei! Diese Behauptung übergeht völlig die viel wichtigere Tatsache, dass trotz dieser Einstellung zum Menschen die judeo-christliche Dogmatik 2000 Jahre lang jede explosive Entwicklung der Forschung und Technik nach Kräften verhindert hat aus der klaren Einstellung gegen die Wissbegierde. […] Die Gestaltungen [Portmanns Begriff für Lebensformen, MN] um uns, ohne uns und vor uns in Jahrmillionen geworden, sind Glieder einer lebendigen Welt, die wir nicht selbst machen können und deren Komplexität und Rätselhaftigkeit um so deutlicher vor uns steht, je mehr wir durch die Forschung vom Mikrokosmos des Lebensstoffs erfahren. Diese vertiefte Einsicht muss in uns das Gefühl der Ehrfurcht vor diesem ohne uns Gewordenen wecken, eine neue, vom Wissen geförderte Ehrfurcht, ein Wissen nicht nur um neue Fortschritte der Forschung, sondern um die Verantwortung unserer Nachwelt gegenüber, die das Recht auf ein Dasein inmitten der Fülle des Lebens hat, die uns Heutige noch umgibt. Nur der Aufbau solcher Ehrfurcht […] kann für die Zukunft die Legitimation einer neuen Haltung der Natur gegenüber geben […], aus der heraus Wille und Macht wirksam werden können, um den heutigen grenzenlosen Egoismus des Gewinns oder des technischen Ehrgeizes einzudämmen, zu beherrschen. […] Der Schutz aussermenschlichen Lebens ist Schutz unseres eigenen Daseins vor entsetzlicher seelischer Verödung. So erhält heute das Wort Naturschutz einen neuen erweiterten Sinn: als Umweltschutz für die Erhaltung der Voraussetzungen der menschlichen Existenz – als Bewahrung des Lebendigen, das wir nicht selbst machen können. […] Es wird nicht lange gehen, und Naturschutz als Menschenschutz wird auch für die Orientierung der Forschung ein Leitmotiv von grösster Bedeutung sein. – Die neuen Normen der Mässigung zu finden […], das ist ein grosse Aufgabe der Erziehung auf allen Stufen des menschlichen Wirkens.»
So zieht der Anthropologe Adolf Portmann im Rückblick auf seine mehr als ein halbes Jahrhundert dauernde reiche Lehr-, Forschungs- und Lebenserfahrung die Schlussfolgerung für einen echten humanen Naturschutz. Diese Schlussfolgerung endet weder in der Frontstellung der Tiefenökologen und Malthusianer gegen den Menschen: Schutz der Natur vor dem Menschen durch «massenhaftes Zurücksterben» («massive die back»). Noch im Diktaturgehabe grüner Populisten.
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[1] Eine mystische Naturphilosophie, welche nicht die wirklichen Naturzerstörer bekämpft (Giftmüllproduzenten, Düngemittelindustrie, Atomindustrie usw.), sondern die Gattung Mensch selbst, die sie auf eine Milliarde reduzieren will, um die Erde (Gaia) zu retten. Hat mit Ökologie als wissenschaftliche Disziplin nichts zu tun, entleiht sich aber deren Begrifflichkeit.
[2] Thatcher, Margaret. «Interview für ‘Woman’s Own’ (‘No Such Thing as Society’).» In: Margaret Thatcher Foundation: Speeches, Interviews and Other Statements. London 1987 [Übersetzung Moritz Nestor] URL: https://www.margaretthatcher.org/document/106689 (eingesehen am 17.8.2021)